Isolde Kurz
Der Despot
Isolde Kurz

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Der erste Mensch, der mir in der kleinen Musenstadt am Neckar begegnete, war Kuno Schütte. Er schwamm hoch auf den Wogen der vaterländischen Bewegung und verwünschte tausendmal seine bis dahin so gleichmütig ertragene Krüppelhaftigkeit, die ihn aus den Reihen der Kämpfer ausschloß. Nicht mitzudürfen, wo alles ausrückte ein Deutschland zu schaffen! Armer Kuno, so ungleich teilt das Schicksal aus. Als er von Gustav Borck das Unfaßliche hörte, schüttelte er sprachlos den Kopf und ging lange 122 schweigend neben mir her, als horchte er gespannt auf die Worte eines unsichtbaren Begleiters.

Er nachtwandelt, sagte er auf einmal, man muß ihn wecken.

Laß das, antwortete ich, er hört dich nicht. Laß du ihn seine Geisterschlacht schlagen. Der deutsche Boden hat Arme genug, die für ihn kämpfen.

Aber Kuno gab sich nicht zufrieden.

Warum hast du ihm denn nicht gesagt: Um ein ganzer Dichter zu sein, sei erst ein ganzer Mensch. Wer wird noch Poesie schreiben, wenn er sie leben kann. Hat nicht Byron, den er verehrt, den Nur-Dichter verachtet und gab er nicht sein großes reiches Leben für ein Volk hin, das ihn nichts anging, in dem er nur seine längst vermoderten Vorfahren lieben konnte?

Ich zuckte die Achseln; das alles hatte ich ihm ja fast wörtlich so gesagt.

In der kleinen Universitätsstadt ging das alte Leben weiter. Nur die Hörsäle wurden früher als sonst geschlossen, da doch der größte Teil der studierenden Jugend ins Feld gezogen war. Ich fand es drückend, Geschichte zu studieren, während drüben überm Rhein lebendige Geschichte gemacht wurde. Und noch etwas anderes lag schwerer auf mir, als ich mir selbst gestand. Der Ring an meinem Finger beengte mich, als ob er mir nicht paßte. Ich nahm es als ein Symbol. Denn die Briefe meiner Verlobten enttäuschten mich tiefer und tiefer, seit ihre bestrickende Nähe nicht mehr wirkte. Ich sah ein, daß wir in völlig getrennten geistigen Welten lebten und daß sie nicht eine meiner Neigungen teilte. Sie ihrerseits fühlte sich gekränkt, daß ihr verwöhntes Ich mir vor 123 den Weltbegebenheiten in die zweite Reihe gerückt war. Am schwersten traf es mich, daß sie, das Kind deutscher Eltern, keinen Schimmer von Anteil für ihr kämpfendes Vaterland zeigte, sondern eher nach der andern Seite zu neigen schien. Es trieb mich rastlos um und ließ mich meine Freiheit zurückwünschen, doch fühlte ich mich nicht berechtigt, selber das Band zu lösen, das keine harmonische Zukunft versprach. – Als die ersten Siegesbotschaften einliefen, strömte jung und alt beim Bahnhof zusammen, alle Augen glänzten, alte Widersacher drückten sich gerührt die Hände, und hoch über allen Menschenstimmen klang es immerzu in den Lüften wie Posaunenstöße der Erzengel: Zum Rhein, zum freien Rhein! Ich schämte mich, als junger Mann tatlos dabeizustehen.

Nach Wörth kam Schütte aufgeregt auf mein Zimmer und sagte:

Ich halte es nicht mehr aus, es zersprengt mich, hier stillzusitzen. Ich fahre morgen nach Stuttgart und stelle mich dem Kriegsministerium zur Verfügung; irgendwo werden sie mich schon brauchen können, sei's bei der Sanität oder beim Proviant, meinetwegen sogar in der Schreibstube. Wenn ich nur mit ins Feld komme.

Wir haben einen Weg, alter Junge, sagte ich, aber ich breche schon heute abend auf. Wenn du dich sputest, können wir zusammen fahren.

Ich hatte nämlich ein paar Stunden zuvor aus Neuyork ein Kabeltelegramm erhalten, das meinem tiefsten Wunsch entgegenkam. Der Kriegsberichterstatter des »Herald«, der das große Hauptquartier begleiten sollte, war am Typhus erkrankt, man 124 bot mir seine Stelle an. Ich hatte schon mein Ja zurückgekabelt – diesen Schritt konnte mir auch die Liebe, oder was ich dafür hielt, nicht verargen – und war eben dabei, mein Zelt abzubrechen. Auch Schütte beschleunigte seine Anstalten, wir fuhren zusammen nach Stuttgart, wo ich mich mit Geld und Papieren zu versehen hatte. Dort trennten wir uns. Aber die Wellen des Krieges wirbelten uns in unerwarteter Weise wieder zusammen.

Nachdem ich meinen schwererkrankten Vorgänger im städtischen Spital von Mainz aufgesucht und die Besorgung wichtiger Aufzeichnungen von ihm übernommen hatte, reiste ich unter häufigem Aufenthalt und Hindernissen aller Art dem Großen Hauptquartier nach. In der Nähe eines pfälzischen Dörfchens, wo ich den Anschluß erwartete, traf ich auf eine von Johannitern geführte Sanitätskolonne, die auf einer Baumwiese rastete, weil sie unversehens in einen Fuhrpark hineingefahren war und Truppenmassen ihr nach vorwärts den Weg versperrten. Im Schatten eines mit herrlichen Früchten behängten Birnbaums lagen ein paar Leute mit dem Gesicht im Gras und schienen zu schlafen. Es ging auf Mittag, ich hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts genossen und verschmachtete vor Durst. Also näherte ich mich dem nächsten, über dessen Haupt ein paar Birnen von auserlesener Größe hingen, und bat ihn, ein wenig auf die Seite zu rücken, damit ich mich laben könne.

Ich bin müde, brummte dieser, ohne sich zu regen. Tritt auf meinen Rücken, da bist du deinem Glück näher.

Die Stimme kenne ich ja, sagte ich verwundert, mich niederbeugend.

125 Richtig, es war schon wieder Schütte, der alte Überall und Nirgend. Er zeigte aber nicht die geringste Überraschung, sondern versicherte, daß er mich hier, genau an dieser Stelle, erwartet habe.

Er ermunterte sich rasch, und wir saßen plaudernd und Birnen essend im Grase, während rings um uns her weitergeschlafen wurde. Ich erfuhr, daß man ihn in Stuttgart sehr gut aufgenommen und seiner genauen Ortskenntnisse wegen einer Sanitätskolonne mitgegeben habe.

Und hätten unsere Leute auf mich gehört, setzte er hinzu, so säßen wir nicht hier fest, denn ich sah es kommen. Dann hätte freilich unsere Begegnung auch nicht stattgefunden. Aus der Ferne tönte Geschützdonner.

Hörst du? Das ist Thors Hammer, womit er uns ein Deutschland schmiedet, sagte der Freund mit seiner dunklen Stimme. Und ich Krüppel bin dabei und darf es erleben. Denk' es, Harry! Noch unsere Kindeskinder werden uns anstaunen, wenn wir ihnen sagen: ich war dabei, als Deutschland geboren ward.

Ehe ich aufbrach, zeigte er mir einen von Gustav empfangenen Brief. Es war die Antwort auf ein Schreiben von ihm, worin er den Freund an alle Sänger groß und klein, die zugleich Helden waren, von dem Dichter der »Perser« bis zu Theodor Körner erinnert hatte.

Rege dich nicht weiter auf, mein guter Kuno, schrieb dieser zurück. Ich bin kein Mensch, der nach berühmten Mustern lebt, ich gehe den Weg meines eigenen Gewissens. Mein Vater hat mir ein Kästchen zugeschickt mit der Aufschrift »Eilt!« Ich brauche es nicht zu öffnen, ich kenne den Inhalt. Es ist ein 126 Familienerbstück, die Pistole, mit der schon einmal ein unsres Namens Unwürdiger sich ausgelöscht hat aus der Reihe der Lebenden. Nein, armer alter Mann, es eilt nicht so sehr, wie du denkst. Noch habe ich andere Schlachten zu schlagen. Wenn ich besiegt werde, mag es sein. Aber ich sehe es anders kommen. Unterdessen bitte ich die Freunde, sich nicht um mich zu sorgen, mich ganz zu vergessen, bis ich mein Wort eingelöst habe.

Er hat recht, sagte ich, stören wir seine Kreise nicht weiter und decken wir, was uns jetzt fremd an ihm ist, mit Schweigen zu.

Allein der Dichter hatte nicht mit dem Ehrenpunkt seines Erzeugers gerechnet, und das Schicksal sorgte dafür, daß wir noch im Laufe des Krieges auf erschütternde Weise an ihn erinnert werden sollten.

*

Es war bei der Belagerung von Metz. Die Schlachten von Mars-la-Tour und Vionville waren geschlagen, die von Gravelotte noch zum Teil im Gang, als mein Kollege von der »Times« und ich beim Großen Hauptquartier, dem wir folgten, die Ermächtigung erwirkten, das Gefechtsfeld der vergangenen Tage zu besichtigen. Man gab uns einen jungen Generalstabsoffizier als Führer mit. Wir durchritten das wellige lothringische Flachland mit seinen langen Hügelzügen und seinen niederen Gehölzen, aus denen noch immerzu die Leichen von Freund und Feind herausgetragen wurden. Ich hatte schon geglaubt etwas zu wissen von den Schrecken des Krieges, aber was waren meine einstigen jugendlichen Erlebnisse in Virginien gegen die Todesernte, die ich hier einbringen sah. »Aufräumungsarbeiten« nannte das der Offizier mit der schaurigen Sachlichkeit des Fachausdrucks, 127 der alles, was keinen Gefechtswert mehr hat, zur bloßen Sache herunterdrückt. Aus den Folgen des Kampfes, die vor uns lagen, ließen sich die Züge der Gegner auf dem großen Schachbrett ablesen, wie man nach einem gewaltigen Sommergewitter aus der Lage der gebrochenen Halme die Wege des Sturmwinds erkennen kann. Dabei rollte fast noch ununterbrochen der Geschützdonner von Norden und Osten über uns hin. Die Welt hat seitdem Schlachten gesehen, neben denen diese ein Spiel waren; damals haben sie mir in der Erinnerung manchmal die Nachtruhe gekostet.

Lange danach, als ich in Philadelphia lebte, fiel mir einmal bei deutschen Freunden ein Liederbuch in die Hand mit dem überraschenden Vers:

Doch was ist dies? In Frankreich hat
Es im August geschneit.
Da liegt das halbe Halberstadt
Im weißen Waffenkleid.

Auch diesen Schneefall im Hochsommer habe ich damals in Vionville mit eigenen entsetzten Augen gesehen.

Am 19. August, als die Geschütze schwiegen, betraten wir Gravelotte, die »Graue Lotte«, wie der Galgenhumor der Soldaten das Todesfeld vom gestrigen Tag nannte.

Am Eingang des zerschossenen Dorfes lag oder liegt vielleicht noch heute auf kleiner Erhöhung ein Schlößchen mit dem seltsam berührenden Namen: Le Repentire. Dort hatten die Preußen in der Eile ein Feldlazarett eingerichtet – eine gar passende Lage, denn es war von da nur wenige Schritte zu dem hart über der 128 Waldschlucht liegenden kleinen Friedhof. Unsere Hoffnung, in dem Schlößchen aufgenommen zu werden, erwies sich als trüglich, es war überfüllt von Verwundeten, und immerzu wurden neue hergeführt, die noch auf den Verbandplätzen zurückgeblieben waren. Auch über den zwei nahe gelegenen Pachthöfen La Poste und Gloriette wehte die Flagge mit dem Genfer Kreuz. In einem sollte ich, im andern der Kollege nach Unterkunft trachten. Da trat mir unter der Tür des Lazaretts ein Engel im Schwesternkleid entgegen. Sie trug eine Schüssel mit Blut, um es eilig auszugießen in den Boden, der dessen schon mehr als zuviel getrunken hatte. Nur auf den Bruchteil einer Sekunde sah sie mich an, dann war sie schon ins Haus zurückverschwunden. Aber der Blick hatte mich bis auf den Grund der Seele getroffen, wie ein Wiedererkennen aus fernen Geburten her.

Ich stand noch wie angewachsen und sah ihr nach, als mir eine Hand auf die Schulter schlug und ich in dem vor mir stehenden Unterarzt – Lazarettgehilfen hießen sie dazumal – Heinrich Sommer erkannte. Ich wußte ja, daß er sich auf diesem Abschnitt des Kriegsschauplatzes befand; aber auch er wunderte sich gar nicht, mich zu sehen; das Kriegsleben hatte ihn schon an die merkwürdigsten Begegnungen gewöhnt.

Schön, daß du da bist, sagte er, als hätten wir uns zufällig bei Molfetta getroffen, es fehlt an Händen für die viele Arbeit. Ich weiß, daß du zu brauchen bist. Komm gleich mit und verdiene dir die Nachtherberge.

Nur zu willig ließ ich mich in den weißen Kittel stecken, und ehe ich mich's versah, fand ich mich mit Waschbecken und Verbandzeug im Operationssaal. Gab es noch einen gräßlicheren Anblick 129 als das Schlachtfeld, so war es dieser! Nur die rasche, umsichtige, anhaltende Tätigkeit konnte dem Ungeschulten das ertragen helfen. Aber an meiner Seite schaltete der Schwesterengel, der mir beim Eintritt erschienen war, sicher und erfahren, und die schweigenden, geschwinden Handreichungen, die zwischen uns hin und her gingen, waren mir wie stumme Geschwistergrüße der Seele. Schwester Angela nannten sie passend die Anwesenden.

Auf dem Operationstisch lag ein Mann des Jammers mit furchtbar zerschmettertem Oberschenkel, der ihm unterhalb der Hüfte abgenommen werden mußte, natürlich ohne Narkose. Er litt gräßlich und bäumte sich gegen den Schmerz, daß ihn drei Männer nicht zu halten vermochten. Da warf plötzlich Schwester Angela die Arme um ihn und legte ihre flaumige Wange an die verwilderte, bärtige des fremden Soldaten.

Ertrag' die Schmerzen, Bruder, lieber Bruder, flehte sie, um deiner Mutter willen, damit du leben kannst, oder für deine Braut, wenn du eine hast.

Sie umschlang ihn fest mit den Engelsarmen, und er hielt auf einmal still, ergriffen und dankbar, um sie nicht durch Jammerlaute zu betrüben. Und als er verbunden auf dem Strohsack lag, kam ein zweiter Schmerzensmann an die Reihe, dann ein dritter, und jeden nannte sie ihren Bruder und schlang die schwesterlichen Arme um seinen Leib, wie um durch geheimnisvolle Ausströmung heiliger jungfräulicher Naturkräfte die körperlichen Schmerzen zu lindern, und da war auch keiner, der nicht für die wohltätige Berührung empfänglich und dankbar gewesen wäre. Der ganze Raum schien von einem Leuchten himmlischer Liebe erfüllt, daß ich alles vergaß, den schrecklichen Anblick abgesägter Gliedmaßen, 130 das Aufräumungsfeld vom Vortag und – die Bedeutung des Rings an meinem Finger, denn ein neuer, schönerer hatte sich unsichtbar daneben geschoben als jählings erkanntes Glied einer Kette, die sich rückwärts und vorwärts in die Ewigkeit verlor.

Das geht nun so Tag um Tag, Stunde um Stunde, sagte Heinrich Sommer, als wir vorübergehend von dem blutigen Geschäft rasteten, wir wüßten nicht, wie auskommen ohne sie. Und sie ist ein Grafenkind, aus verarmter Familie freilich, und Krankenschwester von Beruf. Man versteht nur nicht, wie derselbe Gott, der eine Schwester Angela erschaffen konnte, solche Greuel zulassen soll.

Mittlerweile gewann mir mein Kollege, ein fischblütiger Engländer, den die Not ringsum nichts anging und der nur seine eigene Aufgabe im Auge hielt, einen erheblichen pressedienstlichen Vorsprung ab. Er begab sich nach dem Pachthof St. Hubert. Um den Wackeren nicht in ein falsches Licht zu rücken, füge ich gleich hinzu, daß er in dem kameradschaftlichen Sinn, der immer zwischen uns gewaltet hat, die Ausbeute des traurigen Tages mit mir teilte.

*

Jetzt erzähle ich die Begebenheiten nicht in der Reihenfolge, wie ich sie selbst erlebte, sondern nach Berichten der Augenzeugen so, wie sie sich allem Anschein nach abgespielt haben müssen.

Die Ferme St. Hubert lag auf halber Höhe eines jener langen lothringischen Hügelrücken hart an der nach Metz fahrenden Heerstraße, dem von unseren Truppen besetzten Gravelotte östlich gegenüber. Sie war die westlichste vorgeschobenste Stellung der Franzosen vor Metz und von ihnen zur kleinen Festung 131 ausgebaut, deren Batterien das ganze Gelände beherrschten. In einem nordseits anstoßenden Wäldchen staken obendrein starke Chassepotabteilungen, weitere Batterien waren nach Süden zu in Steinbrüchen versteckt, um die Feuerwirkung von St. Hubert zu verstärken. Diese Stellung zu nehmen war für die Deutschen eine unbedingte Notwendigkeit, und das 67. Regiment Magdeburg erhielt den tödlichen Auftrag. Den ganzen Nachmittag des 18. wurde darum gerungen, aber der letzte Akt des blutigen Dramas erfolgte nicht auf Befehl, sondern durch plötzlichen unwiderstehlichen Sturmtrieb der Soldaten.

Man muß wissen, daß östlich von Gravelotte sich die Straße als tief eingeschnittener Hohlweg einen jähen dichtbewaldeten Abhang hinuntersenkt in die Schlucht, die der Mancebach durchfließt. Dann überquert sie die Talsohle auf einem hohen und engen Steindamm und steigt am andern Ufer ebenso steil wieder empor, um an den Steinbrüchen hin den Hügelkamm zu erreichen. Sobald die Truppen auf dem Dammweg sichtbar wurden, empfing sie wütendes Feuer aus den Waldungen zur Rechten und Linken, die vom Feinde besetzt waren; zugleich begannen die Batterien von St. Hubert und aus den Steinbrüchen zu spielen. Die Preußen erstiegen den Hang unter schwersten Verlusten, kämpften um den Besitz der Steinbrüche und um jede kleinste Bodenfalte, die eine vorübergehende Deckung bot. Aber die Aufgabe schien menschliche Kräfte zu übersteigen, denn auf engem Raum zusammengepreßt, konnten sie sich nicht entfalten und boten dem ringsum in der Höhe aufgestellten Feind ein allzu bequemes Ziel. Entsetzlich war das Blutbad unter den Siebenundsechzigern: allein auf der kurzen Strecke zwischen Pachthof und Steinbrüchen 132 las man am Abend sechzehn gefallene Offiziere diesem Regiments auf.

In einer Füsilierkompagnie diente ein alter Mann mit scharfgeschnittenem weißem Kopf, der als Freiwilliger eingetreten war. Sein Aussehen ließ auf gute Herkunft schließen, er hielt sich immer peinlich sauber, das Gesicht trug er glatt bis auf den starken weißen Schnurrbart, und die Nägel gepflegt, soweit Marsch- und Gefechtsleistungen es gestatteten. Im übrigen unterschied er sich durch nichts von den Kameraden, nur daß er in den Ruhepausen meistens für sich blieb. Briefe schrieb und erwartete er keine, denn er fragte niemals nach der Feldpost. Im Dienste zeigte er eine außerordentliche Umsicht und Erfahrung und war trotz seiner Jahre der Eifer und die Pünktlichkeit selbst. Auf Befragen gab er zu, schon mehr »dabei« gewesen zu sein, ließ sich aber auf keine Angaben über seine bürgerliche Stellung ein. Nach Spichern erhielt er die Litze des Gefreiten, die ihm eine besondere Genugtuung zu gewähren schien. Den Unteroffizieren war er eine große Stütze, weil er überall, wo es not tat, mit dem Beispiel voranging. Es hieß, er habe ein steifes Bein, was ihn jedoch beim Marschieren nicht hinderte, nur klettern konnte er nicht, da halfen ihm die Kameraden. Auch der Kompagnieführer erkannte in dem diensteifrigen alten Mann etwas Besonderes, und die Soldaten ehrten ihn wie ihren Vater. Wo sein weißer Kopf aufleuchtete, folgten ihm die Leute wie einem Wunderzeichen nach. Am Morgen des 18. hatte er schon geholfen eine Waldecke vom Feinde säubern. Auf dem schrecklichen Dammweg hatte er durch seine Seelenruhe die anderen ruhig gemacht. Als sich nun die Emporklimmenden in dem furchtbaren Geschützhagel, der alles 133 niederriß, vergebens nach einer Schutzwehr umsahen, feuerte er sie mit dem Rufe: »Vorwärts, Kinder, vorwärts! Deckung gibt's nur drinnen im Gehöft!« zum Stürmen an und pflanzte selbst als erster sein Bajonett auf. Inzwischen hatte schon der Vortrupp von selbst begriffen, daß nur unter des Feindes eigenem Dach noch Rettung aus dieser Hölle war. In aufgelösten Schwärmen stürmten sie den Hügel hinan, doch die Welle flutete ebenso schnell unter furchtbaren Verlusten zurück, weil das Gehöft nach dieser Seite gar keinen Eingang hatte. Wütend geworden, warf sich jetzt die Masse, deren Führer schon gefallen waren, zur Rechten und drang mit plötzlicher Eingebung von der Südseite, wo die Türen lagen, in das Gehöft. Eine Abteilung aber folgte dem alten Gefreiten, der nach der linken Seite winkte, und warf sich mit Umgehung des Hauptgebäudes von Norden her auf den Garten, den eine nur kniehohe Mauer einfaßte. Dem doppelten Angriff hielt der Gegner, den schon das ununterbrochene Geschützfeuer von Westen her zermürbt hatte, nicht länger stand, er entwich mit Hinterlassung von gegen hundert unverwundeten Gefangenen. Das Gehöft blieb in den Händen der Deutschen, die sich mit Mühe dort hielten, bis am Abend die feindlichen Batterien verstummten. Als man zum Sammeln blies, kam der alte Mann nicht mehr zum Vorschein und fehlte auch in der Frühe beim Namensaufruf. Unter den Toten und Verwundeten, die man sogleich aufgelesen und in dem Schuppen untergebracht hatte, befand er sich auch nicht. Nun erinnerte sich einer, daß er ihn beim Überklettern der Mauer mit seinem steifen Bein hatte straucheln sehen. An dieser Stelle fand sich eine Blutlache, von der ein lange Spur bis zu einem mächtigen Nußbaum führte. 134 Dorthin war er gekrochen, um im Schatten des alten Baumes, fern von den Kameraden, Auge in Auge mit den Sternen, seine Seele auszuhauchen. Er atmete noch, war aber bewußtlos, als man ihn aufhob. Gegen Mittag brachten ihn die Träger nach La Gloriette. Auf seiner Brust fand sich neben der Erkennungsmarke ein Eisernes Kreuz mit der Jahreszahl 1813 und ein mit Blut durchtränkter Brief mit Überschrift an den Kompagnieführer, der aber schon selber gefallen war.

In dem Schreiben, dem die Bitte beigefügt war, es vor der Kompagnie verlesen zu lassen, hieß es:

»Kameraden! Der alte Mann, der mit euch marschierte und Posten stand, war Offizier und preußischer Edelmann, seine Vorfahren haben auf allen preußischen Schlachtfeldern geblutet und halfen auch 1813 den deutschen Boden von dem Korsen befreien. Sein alter Name stirbt mit ihm. Denn sein einziger Sohn ist ein Ehrloser, der die Fahne verließ, und hat kein Recht mehr ihn zu führen. Um die Schmach mit meinem eigenen Blute abzuwaschen, habe ich mich freiwillig als Gemeiner gestellt, es gab für den invaliden Oberst keinen anderen Weg, um an den Feind zu kommen. Meldet meinem alten Kriegskameraden, dem General – –«

Alles weitere, auch die Namensunterschrift war vom Blut unleserlich gemacht, nur noch die Worte »Gott schütze –« ließen sich entziffern.

Das Blatt ging von Hand zu Hand, und jeder versuchte daran seinen Spürsinn.

Ich wußte noch nichts von dieser Entdeckung, ich saß schreibend im Obstgarten von La Gloriette auf dem Strunk eines zerschossenen 135 Baumes, vor einer Kiste, die ich mir als Tisch aufgerichtet hatte.

Da stand plötzlich Sommer vor mir mit der erregten Frage:

Wo befindet sich Gustav Borck?

Ich weiß es nicht, sagte ich beklemmt, denn mir schwante von ferne ein Unheil.

Du weißt es nicht? Du, sein anderes Ich? Aber du weißt vielleicht, daß er – daß er nicht dabei ist?

Ich weiß von gar nichts, beharrte ich in dem dunklen Bestreben, den Freund zu decken.

Bitte, komm mit mir.

Mit schwerem Herzen, aus dem Unbewußten widerstrebend, folgte ich ihm.

In einem niederen Anbau, Strohbündel an Strohbündel, lagen die neu herzugebrachten Verwundeten, in weißen Hemden, dem Rang nach nicht mehr unterschieden, nur noch Menschen, die der Tod berührt hatte. Schwester Angela ging helfend und zusprechend von einem zum andern.

Vor einem Schwerverletzten, der die Augen geschlossen hielt, blieb Sommer stehen.

Sieh ihn an, fällt dir keine Ähnlichkeit auf? – Hast du ihn nicht im Bild schon gesehen?«

Mich hatte es auf den ersten Blick durchzuckt: Gustavs Vater!!

Es war das Gesicht, das ich von dem zerbrochenen Familienbild her kannte, der Kopf mit dem dichten weißen Haar und den zusammengewachsenen Brauen, die Züge, die sich so auffallend in Gustav wiederholten. Ich stand lange ihn zu betrachten und stellte mir die Reihe soldatischer Vorfahren vor, die mit ihrer altpreußischen Gradheit und Strenge diese Züge so knapp und 136 regelmäßig gemeißelt hatten. Unter dieser Stirn ließen sie nur für die eine vererbte Leidenschaft Platz: soldatische Pflicht und Ehre, und den Doppelstern, der darüber stand: König und Vaterland. Und weiterwirkend hatten sie auch des Sohnes Gesicht gemeißelt. Aber da war dann von weither etwas andres, Leuchtendes hergeflogen, das sich auf dem verjüngten Abbild niederließ und in bewegten Ausdruck umgestaltete, was in den Zügen des Alten unbeweglich blieb wie Holzschnitzwerk.

Das waren meine Gedanken beim Anblick des Verwundeten, denn die Ähnlichkeit war für jeden, der Gustav kannte, unwiderleglich. Noch wußte ich nichts von dem tragischen Zusammenhang und hatte noch keine Zeit gehabt, mich zu wundern, wie der alte invalide Oberst unter die Frontsoldaten gekommen war. Aber schon klopfte mir das Herz und weissagte irgendein Äußerstes.

Da gab mir Sommer das blutverwischte Blatt, an dem noch immer herumgerätselt wurde, und ein Leichtverwundeter erzählte von dem Weißkopf, der der Kompagnie wie ein Stern vorgeleuchtet hatte, wenn er auch nur die Litze des Gefreiten trug.

Weißt du jetzt, ob Gustav dabei ist? fragte mich Heinrich Sommer, und ich habe nie ein haßerfüllteres Gesicht gesehen als das seine bei diesen Worten.

Der alte Mann zerrte unterdessen mit den kraftlosen Fingern an den Verbänden, wie um sie abzureißen, und bewegte in einem fort den fiebernden Mund, ohne zu sprechen.

Schwester Angela trat hinzu, und der traurige Ort leuchtete auf von ihrem Licht.

Herr Oberst, sagte sie mit ihrer Himmelsstimme dem Sterbenden ins Ohr, indem sie seine Lippen feuchtete, halten Sie sich 137 ruhig. Ihr König besucht eben das Lazarett, er will Sie sehen und Ihnen danken. Gleich wird er da sein.

Es war die fromme Lüge eines Engels, aber für Heinrich Sommers Haß verkehrte sie sich zur diabolischen Eingebung.

Er beugte sich über den Verwundeten: Herr Oberst!

Heinrich, flüsterte ich empört, denn ich fühlte was kommen würde, du bist hier, um Wunden zu verbinden, nicht sie aufzureißen.

Ich muß es wissen, flüsterte er zurück. Er erlebt den Abend doch nicht mehr. Schwerer Lungenschuß. – Herr Oberst, sagte er lauter.

Zu Befehl, Majestät, fuhr jener auf und machte eine Bewegung, wie um zu salutieren.

Sommer drückte ihn in die Kissen zurück.

Liegenbleiben! Ich will es. – Sie hatten einen Sohn – wie heißt er?

Das Gesicht des Sterbenden arbeitete, aber er brachte den Namen nicht heraus; es war als ob ein Krampf ihm den Mund verschlösse.

Was ist aus ihm geworden?

Fahnenflucht – vor dem Feind, Majestät, röchelte es mühsam aus der durchlöcherten Brust. – Degradiert und erschossen – habe selber Feuer kommandiert.

Es war schauervoll. Ich suchte den Peiniger wegzuschieben.

Du siehst, daß du auf falscher Spur bist. Der, den du meinst, ist außer Bereich des Kriegsrechts.

Der alte Mann liegt im Fiebertraum, war die Antwort, er träumt, wonach er gedürstet hat. Aber der Vater deines Götzen ist er doch.

138 Der Oberarzt trat eilig ein und rief mit den Worten: Kollege Sommer, wo stecken Sie denn? Wir brauchen Sie! den Unbarmherzigen hinaus.

Der Verwundete lag wieder mit geschlossenen Augen teilnahmlos. Nur seine Finger zuckten noch und schienen etwas zu suchen. Da schob Schwester Angela ihm das Eiserne Kreuz von 1813 hinein. Sehen konnte er es nicht mehr, aber er erkannte mit den Fingerspitzen was es war, und es verband sich seinen letzten Träumen.

Majestät – murmelte er beseligt, Dank – Dank – ich habe ja nur meine Pflicht getan –. Aber das Auge, das er noch einmal aufschlug, war schon blicklos und gläsern. Dann ging es rasch zu Ende.

Der Tod konnte dieses Gesicht nicht starrer und strenger machen als die Natur es gemacht hatte, aber er wischte alles Kleine, Kommißhafte daraus hinweg. Und in dieser heldischen Erhabenheit, die das Unversöhnliche seines Ausdrucks wunderbar adelte, trat die Ähnlichkeit mit Gustav nur noch mehr hervor.

O Gott und Herr, laß es nicht wahr sein! flehte ich in meiner Seele. Es wäre zu jammervoll.

Aber das Schwere mußte sich enthüllen und erfüllen. Die Kunde von dem Obersten, der als Gemeiner gefochten hatte und in St. Hubert gefallen war, pflanzte sich von Mund zu Mund fort, von den verschiedensten Heeresteilen fanden sich an diesem Ruhetag die alten Feldwebel und Unteroffiziere ein, um seine Persönlichkeit festzustellen. Und endlich kam einer, der in dem Toten seinen Major vom schleswig-holsteinschen Feldzug erkannte, und er sprach den Namen aus, den ich zu hören fürchtete. Nun erschienen auch die jungen Offiziere vom Regiment, soweit sie noch lebten, und 139 traten barhäuptig zu dem Alten, dem an Rang weit Überlegenen, der vor ihnen strammgestanden und jedem Befehl unverbrüchlichen Gehorsam geleistet hatte. Man hatte auf seinem Leib auch die alte Schußstelle gefunden, wo die dänische Kugel eingedrungen war, was den letzten Zweifel beseitigte. Die Erschwerung des Dienstes durch den alten Leibschaden entlockte den wenig rührsamen Ärzten manchen Ausruf erstaunten und hochachtungsvollen Bedauerns, mit was für Anmerkungen für den Sohn, brauche ich nicht zu sagen und lasse gern den Schleier über diese mir so schrecklichen Stunden sinken, in die nur ein teilnehmendes Wort Schwester Angelas, die alles mitzufühlen schien, was ich nicht aussprach, einen Schimmer des Trostes warf.

Gegen Abend begruben wir den alten Mann. Einen Sarg konnten wir ihm nicht geben, wir legten das Eiserne Kreuz vom Jahre Dreizehn auf seine Brust und ein paar Blumen in seine Hand, wickelten ihn in seinen Mantel und ließen ihn so hinab. Der Feldprediger, den die dringende Arbeit bei den Sterbenden verhinderte, eine Rede zu halten, von der jedes Wort ein Brandmal für den Sohn eines solchen Vaters gewesen wäre, sprach ein Gebet, die Soldaten sangen: Jesus, meine Zuversicht! und Ich hatt' einen Kameraden, und die Feindesgeschütze von St. Privat, wo das große Sicheln weiterging, donnerten ihm die Ehrensalven. Ein rohes Holzkreuz wurde zurechtgezimmert, worauf der Name zu lesen war, den das preußische Heer von Alters her zu seinen Besten zählte. Mir aber war es zumut, als hätten sie nicht den Vater, sondern den Sohn begraben.

Mein Abschied von Sommer war kühl und kurz. Es war mir ein Charakterzug an ihm aufgegangen, den ich vorher nicht so recht 140 erkannt hatte: die kalte Gehässigkeit des Neides. An unsern Studentenabenden bei Molfetta hatte er immer hinter Gustav zurückstehen müssen, dessen Überlegenheit er nur widerwillig anerkannte und mit dessen Schöpfergaben er nichts anzufangen wußte, da seinem verneinenden Wesen der Sinn für alles Künstlerische versagt war. Weil Gustav dies wohl wußte, hatte er ihn von der Teilnahme an seiner Dichtung ausgeschlossen und den Verletzlichen damit noch schwerer gereizt. Dann las er der stummgewordenen Adele ihr Liebesleid aus der Seele, und der Neid bohrte sich ihm tiefer und tiefer ein. Zuletzt sah er den Allbegünstigten noch Selma Hanusch davontragen, auf die Sommer, wie es scheint, schon früher ein Auge geworfen hatte, als die Künstlerin für studentische Huldigungen noch zugänglich war. Sommer hatte mich ja oft während unserer Studienzeit durch sein selbstgerechtes, absprechendes Gehabe gegen den gemeinsamen Freund ungeduldig gemacht. An jenem Abend begriff ich, aus welcher Quelle das alles floß.

Dem, der nicht verstehen will, ist auch nichts verständlich zu machen, und wer keine feinere Scheidung zuläßt, der ist schnell mit dem Urteil fertig. Er verschloß all meinen Versuchen, ihm Gustavs Handlungsweise, wenn nicht zu rechtfertigen, so doch zu erklären, sein Ohr. Freilich mußte ihm auch bei seinem völligen Mangel an Phantasie ein ganz von der Phantasie Beherrschter zur unlesbaren Schrift werden.

Erst hat er mit seiner unmenschlichen Selbstsucht die arme Adele getötet, sagte er, dann kam sein Vater an die Reihe, sein nächstes Opfer wird Selma sein, denk' an mich.

Plötzlich lachte er hämisch auf und griff sich an die Stirn:

141 Fahnenflüchtig, um eine Hermannsschlacht zu dichten, das geht allerdings über den Horizont so eines Alltagsmenschen wie ich bin.

Das Leben ist das Reich des Widersinns und keine Rechenaufgabe für Schüler, antwortete ich ungeduldig. Wenn alles so glatt aufginge, wie du verlangst, so gäbe es freilich keine Tragödie auf der Welt, aber gewiß wäre auch schon längst dem lieben Gott vor all der Selbstgerechtigkeit das Zusehen verleidet.

Dem lieben Gott! dem lieben Gott! sagte er, grimmig auf das neue Stichblatt losgehend. Ins Feldlazarett muß man kommen, um ihn zu suchen. Solche Verstümmelungen und ein lieber Gott!

Mit diesem Freund war ich fertig und suchte nur noch Schwester Angela auf, um Abschied zu nehmen. Ich fand sie am Bett eines Schwerverletzten, den eben der Priester verlassen hatte. Sie reichte mir über das Haupt des Sterbenden die Hand und sagte mit einem Blick, der mein Innerstes zu lesen schien:

Sie haben heute einen schweren Tag gehabt, Gott schütze Sie und sei mit Ihnen.

Ich ritt mit dem Kollegen nach Flavigny zurück, woher wir gekommen. Der frühe Mond ging auf und beleuchtete ein endloses Totenfeld, Kreuz an Kreuz, die Arbeit dieses Ruhetages. Und wo wir vorüberkamen, sahen wir Leute beschäftigt, die rasch noch zwei rohe Bretter kreuzweise übereinander nagelten, Hammerschläge begleiteten uns auf dem ganzen Weg. Die weite lothringische Ebene – Gräber, Gräber für Freund und Feind. O Menschenbrüder! Traurigkeit überwältigte mich, wie ich noch keine gefühlt hatte, und hinter mir blieb der neuaufgegangene Stern 142 meines Lebens verdämmernd zurück. Der schlechtsitzende Ring aber, der infolge der Kriegsstrapazen zu weit geworden war, muß unterwegs verlorengegangen sein, denn ich fand ihn später nicht mehr an meinem Finger.

Die nächste Feldpost brachte mir zwei Zeilen von Kuno, den ein Zufall bald nach mir in jenes preußische Lazarett verschlug. Er schrieb mir nur tröstend die Schlußworte aus Hölderlins Lied an das Vaterland:

Und zähle nicht die Toten, dir ist,
Liebes, nicht einer zuviel gefallen.

*

Da ich nicht meine, sondern Gustav Borcks Geschichte erzähle, überspringe ich die zwei nächsten Jahre, die ich dauernd in Amerika verbrachte. Das Deutsche Reich stand nun herrlich aufgerichtet und leuchtete wie eine Gralsburg über die Wasser herüber. Ich lebte in Philadelphia als Schriftleiter einer neugegründeten deutschen Zeitung, durch die das Deutschtum Pennsylvaniens unter Einem Zeichen zusammengefaßt werden sollte, wie es die deutschen Stämme auf dem Mutterboden waren. Und mein kleines Lebensschifflein war in den seligsten Hafen eingelaufen.

Dir wird sich nie das Schicksal tragisch verknoten, weil du gar keine Begabung zum Unglück hast, hatte mir einmal Gustav gesagt. Denn wie einer beginnt, ob mit dem Rhythmus des Ganzen oder gegen ihn, so wird er enden.

Diese Worte des Freundes, die für ihn selbst keine glückliche Vorschau enthielten, sollten sich an mir zum Heile bewähren! Denn 143 als ich nach dem Friedensschluß Europa verließ und mich mit zerspaltenem Gefühl meinem Porzellanprinzeßchen vorstellte, um das gegebene Wort einzulösen, da hatte die Vorsehung schon gnädig eingegriffen und ihr einen Industriellen zugeführt, der ihre Ansprüche in jeder Hinsicht besser befriedigte. Gerade um die Zeit, wo mir der Ring vom Finger verschwand, war das geschehen, und sie hatte nur meine Rückkehr abgewartet, um das Verhältnis friedlich und freundschaftlich zu lösen. Dann trat sie schönheitstrahlend und von der ganzen Stadt bewundert vor den Altar, ich aber führte wenige Monate später den Engel von La Gloriette in mein Haus. Wir waren miteinander in Fühlung geblieben, nicht durch Sommer, von dem ich mich innerlich lossagte, sondern durch Schütte, den Unbegreiflichen, der die Zwillingschaft unserer Seelen erriet, und ihre schönen, tapferen Briefe hatten mir bewiesen, daß ich diesmal nicht einem nur äußeren Reize erlegen war. Und so wie sie mir bei der ersten Begegnung erschien, ist sie an meiner Seite durchs Leben gegangen, als schirmender, in Liebe unbezwinglich starker Engel für alle, die der Liebe und des Schutzes bedürftig waren. Doch wem, der sie gekannt hat, brauchte ich das zu sagen!

Deutschland blieb meine ferne Liebe, mein Wunsch- und Wahlland. Meine ganze Kraft an die Verbreitung deutscher Bildung, deutschen Wesens zu setzen, war mir eine köstliche Aufgabe. Das einzige, was mich betrübte, war, daß es mir nicht gelang, die persönlichen Fäden festzuhalten. Alle Bemühungen, brieflich an Gustav Borck zu gelangen oder auch nur seinen Aufenthalt zu erfahren, blieben unbelohnt. Der einzige von den näheren Freunden, der mir schrieb, war Schütte, aber seine Briefe oder vielmehr 144 Zettel waren sprunghaft und dunkel wie seine gebrochenen Worte und jedesmal von einem anderen Orte abgesandt, so daß ich nicht antworten konnte. Um so froher war die Überraschung, als er eines Tages, eilfertig und geheimnisvoll wie immer, über meine Schwelle trat. Er war zu einer Theosophenversammlung, die in Neuyork stattfand, herübergekommen und wollte sich nur schnell, wie er sagte, bei uns den Kuppelpelz holen. Nicht meinem, aber Frau Angelas Zureden gelang es, den aus dem Rohr Geschossenen wenigstens für eine Nacht festzuhalten. Er war äußerlich seltsam verändert, sein immer schon spärlicher Haarwuchs war fast ganz verschwunden, eine fahlbraune Hautfarbe gab den weißen Zähnen etwas Bleckendes, das durch den großen Zwischenraum von der Nase zum Mund noch auffallender war, und die tiefliegenden Augen glühten wie angezündete Lichter in einem Totenkopf. Er stand nun vollends ganz im Banne der Mystik, so daß er alles auf sie bezog. Aber sein Freundesherz war das alte geblieben, und wir verbrachten zu dreien einen schönen Abend, der ganz der Erinnerung an die Universitätszeit gewidmet war und an dem Gustav Borck und Olaf Hansen, beide der Zuhörerin keine Fremden, mitten unter uns saßen.

Meine erste Frage hatte natürlich dem Dichter und seinem Werke gegolten. Kuno zog zuerst die Schultern hoch und schwieg.

Er lebt in Zürich, sagte er dann. Selma ist dort am Stadttheater angestellt und entzückt in ihren oberflächlichen Glanzrollen die Züricher wie zuvor die Stuttgarter. Sie hat sich aber ins künstlerische entwickelt, Dank dem Einfluß ihres Mannes.

Du sprichst von Selma, sagte ich verwundert. Aber Gustav?

145 Was willst du, er hat im Ausland keinen leichten Stand. In der Schweiz weht für uns Deutsche eine etwas kühle Luft, zumal für Norddeutsche. Und dabei ist man doch den mit der Heimat Zerfallenen nicht gewogen.

Und seine Dichtung?

Nun erfuhr ich etwas Merkwürdiges, das Kuno nur zufällig aus der Zeitung wußte. An einem Berliner Theater war bald nach dem Friedensschluß ein Hermannsdrama aufgeführt worden unter dem Titel »Der Befreier«, dessen Verfasser sich Max Berka nannte, das aber nach der Inhaltsangabe und den darin vorkommenden Namen nichts anderes sein konnte, als die stark zusammengezogene und verstümmelte »Varusschlacht« von Gustav Borck. An jenem Abend war es zu einem Theaterskandal gekommen, der sich vom Zuschauerraum in die Presse fortsetzte. Was in unseren Augen der höchste Adel des Stückes gewesen, die homerische Gerechtigkeit gegen Freund und Feind, das gereichte ihm in der Nachkriegsluft bei einer erfolgberauschten Mehrheit, die ohnehin für die poetischen Schönheiten blind war, zum Vorwurf, während eine politisch unzufriedene Minderheit die reine parteilose Kunst für ihre Zwecke umdeutete und dem Dichter Absichten unterschob, die er erst recht nicht hatte. Der angebliche Verfasser erhielt durch spitze Erklärungen und Gegenerklärungen den Streit aufrecht, bis sein Name oft genug durch die Blätter gegangen war, um im Gedächtnis der Reichshauptstadt zu haften und ihm einen literarischen Anhang zu sichern. Aber das Stück wurde schon nach der zweiten Aufführung vom Spielplan abgesetzt, und bald danach verschwand der Herr, der sich Dr. Berka nannte, nachdem ihm verschiedene literarische Diebstähle und 146 andere unsaubere Machenschaften nachgewiesen waren. Mit ihm verschwand auch das Werk, von dem nun mit einemmal die Rede ging, daß es einen ganz anderen Verfasser habe. Kuno hatte das alles festgestellt und sich dann nach Zürich gewandt mit der Anfrage, ob dem Dichter diese Vorgänge bekannt seien, hatte aber gar keine Antwort erhalten.

Berka? Berka? Woher kenne ich diesen Namens ging es mir durch den Kopf. Da stellte sich plötzlich ein Gesicht, an das ich seit Jahren nicht gedacht hatte, vor mein inneres Auge, ein unruhiges und unerfreuliches Gesicht, über das es von Zeit zu Zeit wie ein Kribbeln von Ameisen lief, und jener Geistesschmarotzer, der sich in der Stuttgarter Zeit in Gustavs Künstlertum eingefressen hatte, stand wieder vor mir.

Er hat die Handschrift gestohlen, fuhr ich heraus.

Das nicht, war die Antwort. Ich weiß aus sicherer Quelle, daß Gustav mit ihm einverstanden war. Er wagte als Fahnenflüchtiger nicht, das Werk unter seinem Namen auf die Bühne zu bringen.

Weiß er denn, was in St. Hubert geschah? fragte ich zögernd.

Ich glaube nein, und möge er es nie erfahren. Er hat keine Beziehungen zu seiner Heimat und zu seinen ehemaligen Kameraden. Und Selma umgibt den Traumwandler unermüdlich mit Schutzwehren. Höre, dieser Frau habe ich Unrecht getan und bitte es ihr im stillen ab. Solch ein stündliches Opferbringen und Aufgeben der eigenen Persönlichkeit für einen, der es nicht einmal bemerkt, solch ein immerwährendes Sorgen und Behüten macht manche Torheit gut. Und war sie nicht im Recht, als sie ihm riet, die Pflicht des Genius über die des Alltagsmenschen zu stellen? 147 Jetzt aber steht er heimatlos und rechtlos im Leeren und kann sein Werk nicht durchsetzen. Hätte er das bedacht, so wäre er doch vielleicht den anderen Weg gegangen, wandte ich ein.

Das Große setzt sich bei uns nie auf Einen Schlag durch, dafür hat es auch Zeit zu warten, sagte er. Die Hauptsache war doch, daß es entstand, besser gesagt, daß es aus den Tiefen geholt wurde, wo es fertig lag und wohin kein anderer den Schlüssel hatte. Ich glaubte ja auch einmal ihn meistern und lehren zu können und tappte selber im Dunkeln. Damals hatte ich die Weihen noch nicht. Jetzt sehe ich anders. Er sah von jeher anders, weil er auf einer anderen Ebene lebte. Jeder hat Recht auf der Ebene, wo er steht. Die Ebenen liegen stufenweise übereinander.

Ich wunderte mich, den Mann, dessen Vaterlandsgefühl sonst immer bis zum Überkochen erhitzt war, so reden zu hören.

Wie kann der Geistesjünger sein Herz an ein einziges Land hängen, war seine Antwort, wenn er doch weiß, daß er in jedem Land der Erde schon einmal geboren war oder es werden kann, und daß jeder Menschenbruder sein gewesener oder künftiger Landsmann ist?

Mir wurde bei dieser Rede zumut, als stürzte ich häuptlings ins Leere. Unter einfacheren Seelen lebend, war ich gewohnt, daß auf diesem Boden der großen Völkermischung ein jeder zu seinem eigenen Volkstum stand, und es war mein Stolz und meine Freude gewesen, für die Meinen tun zu können, was ich alle andern selbstverständlich für die Ihrigen tun sah. Darüber hatte ich ganz vergessen, daß der deutsche Genius seine Höhe immer nur ersteigt, um sich selber aufzulösen und zu verneinen, als ob sein 148 Kreis sich niemals runden sollte, als ob ihm niemals eine irdische Erfüllung bestimmt sei.

Auch Kuno hatte die Stufe des Volkstums überflogen und schwebte ohne Pol im Unbegrenzten. Alles Geformte war ihm entglitten, und nur die Teilnahme am Geschick der Freunde schien an ihm noch irdisch zu sein.

Als er gegangen war, sprach mein zweites Ich die Worte aus meiner Seele:

In Zürich bedürfen sie deiner. Laß uns die Herbstferien in Europa verbringen.

*

Als wir wieder deutsche Luft atmeten, fanden wir dann freilich, daß nicht alles Gold war, was so hell über die Wasser herübergeglänzt hatte, und es ging uns allmählich auf, was Kuno durch Schweigen und halbe Worte hatte ahnen lassen. Das Reich war teuer bezahlt. Die wenigen Jahre seit der Tübinger Zeit hatten genügt, einen ganz anderen Deutschen auf die Bildfläche zu bringen; Gründer und Streberwesen standen in Blüte. Der Durchschnitt beugte sich vor dem goldenen Kalb, die einen in satter Befriedigung, die andern in ungestillter Gier. Die Besseren standen trauernd und hilflos beiseite oder waren verbitterte Nörgler geworden. Anderwärts war es ja bei der Allgemeinheit gewiß auch nicht besser bestellt, aber Deutschland, das Land der Poesie, die feste Burg des Geistes, von demselben Taumel ergriffen zu sehen, das traf ins Herz. Unersetzliches, sonst nirgend Vorhandenes, war dahin, und mein Herz füllte sich mit Trauer. Eine Luft wie im Kaffeehaus Molfetta gab es nun nicht mehr. Weder bei den Verwandten meiner Frau noch bei meinen eigenen, die noch da 149 und dort verstreut lebten, fanden wir die Welt, nach der wir uns so tief gesehnt hatten. Wir standen auf deutschem Boden und suchten Deutschland! Und wieder einmal schwebte das Ewigmorgige vor uns her wie die Fata Morgana. –

*

– – In Zürich fand ich nächst nur Selma. Gustav hatte die letzte, schon kalte Herbstsonne benutzt, um noch für zwei Tage in die Berge zu gehen. Das Mädchen kannte mich noch und ließ mich ohne weiteres eintreten. Die Künstlerin stand halbseits mit dem Rücken gegen die Tür, daß ich sie zuerst im Profil erblickte; sie neckte sich zärtlich mit einem Kinde, das sie auf einen Bücherschrank gesetzt hatte, von wo es lachend und strampelnd nach ihr hinstrebte. Ein Mops beteiligte sich durch Emporspringen und Bellen an diesem Spiel. Sie schien mir größer geworden, was auf Rechnung einer fast asketischen Schlankheit kam.

Als sie mich erkannte, stieß sie einen Schrei aus, riß das Kind auf den Arm und stürzte mir mit einem Ungestüm entgegen, worin ich ganz die alte Selma erkannte.

Der Mohikaner! Endlich! endlich! O nun wird alles gut. Sie Böser, wo haben Sie so lange gesteckt?

Dieser Empfang verriet, wie verloren sie sich beide in der Fremde fühlten trotz Selmas Erfolgen, von denen man uns schon im Gasthof erzählt hatte.

Es brach auch gleich mit der alten Aufrichtigkeit aus ihr heraus:

Lieber, lieber Freund! Sie glauben nicht, wie mir Ihr Anblick wohl tut. Wir frieren hier an Leib und Seele. Das heißt: ich, setzte sie schnell mit wehmütiger Schalkheit hinzu, denn Er will 150 es nicht Wort haben. Ich müßte ja dankbar sein, weil es uns äußerlich wohl geht, aber in unsrem guten Schwabenland wehte doch eine andere Luft.

Ich hielt das Kind, das sie während des Sprechens immerzu hätschelte, für ihr eigenes, da brach sie in Tränen aus.

Es ist ein Nachbarskind, das ich mir herüberhole, wenn Gustav fort ist. Ich darf ja kein eigenes haben. Ach, und ich wäre eine gute Mutter gewesen; dies eine Lob darf ich mir geben, es ist das höchste für eine Frau. Aber auf mich kommt es nicht an, er kann den Kinderlärm nicht ertragen.

Kaum hatte sie diese Worte herausgesprudelt, als sie sich erschrocken über ihre Offenherzigkeit in der ersten Minute des Wiedersehens auf den Mund schlug.

Nun erzählen Sie mir, Selma, sagte ich ablenkend, was denn eigentlich mit der entwendeten Handschrift geschah. Ich möchte gern eingeweiht sein, bevor ich Gustav spreche. Es ist mir von der Sache erzählt worden, doch konnte ich nichts Bestimmtes erfahren.

Dieser Schurke, dieser Berka! rief sie, rasch die Augen trocknend. Welchen Giftwurm haben wir uns da herangezogen. Sie durchschauten ihn ja gleich, ich weiß es noch wohl. Aber wir beide waren ganz von ihm eingenommen. Er überredete Gustav, ihm die Niederschrift der Trilogie zu überlassen, damit er sie auf das neugegründete Theater bringe, und wußte ihm einzureden, daß Gustavs Name zunächst nicht genannt werden dürfe. Es könnte doch nach der Persönlichkeit geforscht werden und herauskommen, wer hinter dem Gustav Borck stecke. Das sollte erst nach einem großen Sieg enthüllt werden. Unterdessen sollte die 151 Dichtung Berkas Namen tragen. O welche Hoffnungen habe ich auf die Aufführung gesetzt. Ich glaubte, danach würde der Verfasser ins Vaterland zurückgerufen werden und alles verstanden und verziehen sein. Er glaubte es auch, wenn er gleich nicht davon sprach, sein Schiff ging auf den höchsten Wogen. Aber in Berlin meinten sie, wegen sachlicher Schwierigkeiten eine Aufführung des Ganzen zunächst nicht wagen zu können. Man wollte es fürs erste mit dem Mittelstück, der Varusschlacht, die auch für sich bestehen könne, versuchen. Und an dieser sollten noch Änderungen angebracht werden. Gustav willigte in alles, er war so nachgiebig, so zugänglich in seiner Freude. Nun gab es ein beständiges Hin- und Herfahren des bewußten Herrn, versteht sich, auf Gustavs Kosten, bis alles so weit war. Das letztemal fuhr er selber mit und wohnte unerkannt der Aufführung bei. Im Theater geriet er fast von Sinnen. Über seinen Kopf hinweg hatten sie Striche gemacht, die ihm sein ganzes Stück verhunzten. Auch so, verstümmelt und fast entmannt, hätte es noch einen starken Eindruck machen müssen, wäre nur eine Hörerschaft da gewesen, die starker Eindrücke fähig ist. Aber was bringt sattes Großstadtpublikum der hohen Kunst entgegen? Eine höfliche Langeweile, wenn sich's um bekannte Größen handelt, bei unbekannten ein offenes Gähnen. Freilich, es gab auch feinere Geister, die hingerissen waren, und es wurden Worte geschrieben, die ihn wohl hätten über die Gleichgültigkeit des Haufens trösten können, wenn er damals irgendeinem Lichtstrahl zugänglich gewesen wäre. Aber es muß wohl auf jener Reise noch ein anderes Unheil ihn ereilt haben, denn er blieb danach lange Zeit in einer Art von Erstarrung, die allen auffiel.

152 Was könnte das für ein Unheil gewesen sein? forschte ich.

Ich weiß es nicht, irgendeine böse Entdeckung, er spricht nicht darüber. Aber es hat ihn furchtbar geschüttelt, er hatte bei seiner Rückkehr keinen Blutstropfen mehr im Gesicht und hat auch die frühere frische Farbe nie zurückbekommen. Er ging dann in die Berge und war wochenlang verschollen. Ach, was habe ich gelitten! Als er wiederkam, war's wie nach einem Kampf mit Höllengeistern. Sein Gesicht war zerfallen, er hatte weiße Haare. Aber es ging vorüber, er stürzte sich in neue Arbeit, die riß ihn heraus, die rettete ihn. Und als es sich zeigte, daß er sein Vertrauen einem Betrüger geschenkt hatte, der nach allerlei Schurkereien mit seinem Werk verduftete, da nahm er den neuen Schlag merkwürdigerweise ganz gelassen.

Er hat ohne Zweifel eine Abschrift zurückbehalten.

Ich weiß es nicht genau. Das alles wird er Ihnen ja selber sagen. Welch ein Labsal für ihn, daß Sie da sind. Ihr Stillschweigen hat ihn mehr gequält, als er gestehen mochte; er glaubte, Sie hätten ihn absichtlich fallen lassen.

Wie konnte ich denn schreiben, wenn ich nicht wußte, wohin? antwortete ich. Ein Brief nach Heiden kam als unbestellbar zurück.

Ich sagte immer: Der Mohikaner läßt nicht von dir; wenn er nicht schreibt, so ist es, weil er nicht schreiben kann. Gib acht, er taucht eines Tages plötzlich auf und wird dann ganz der Alte sein.

Und hier ist er, um zu beweisen, daß Sie recht hatten, sagte ich. Aber jetzt muß ich aufbrechen, denn ich werde im Gasthof erwartet.

153 Als sie erfuhr, daß ich nicht mehr allein sei, sondern ihr eine Freundin und Schwester mitgebracht habe, blickte sie zuerst betreten. Sie schien zu fürchten, daß Gustav dabei einen Verlust erleide. Aber schnell besiegte sie die Anwandlung und sagte, meine Hände fassend:

Gott segne Sie und mache Sie so glücklich, wie Ihre Freundschaft für uns es verdient. Es war an der Zeit, daß Sie endlich auch an das eigene Glück dachten, statt einzig für das der Freunde zu sorgen. Also Angela heißt sie? Ein lieber Name. Aber warum haben Sie sie nicht mitgebracht? Holen Sie sie nur gleich. Nein, warten Sie, wir gehen zusammen. Sie müssen beide heut abend meine Gäste sein. Meine, wohlverstanden, denn morgen wird Gustav seine Rechte an Sie geltend machen, da habe ich mich auszulöschen, aber heute bin auch ich ein Mensch.

Sie ging an meinem Arm die Bahnhofstraße hinunter. Im Freilicht erkannte ich, daß ihre Schönheit viel von dem lockenden Reiz verloren hatte, dafür aber feiner, geistiger geworden war. Die ehrerbietigen Grüße, die ihr zuteil wurden, und die Blicke, die ihr folgten, sagten mir, wie ihr Name gefeiert war. Daß sie einen Zeugen ihrer künstlerischen Geltung neben sich hatte, mochte ihr wohltun, da Gustav augenscheinlich keine Kenntnis davon nahm.

Aber als ich sie vor mir her ins Gasthofzimmer schob, blickte die bewunderte Künstlerin unter ihrem Prachthut verschüchtert auf die vornehme Einfachheit des Grafenkindes. Doch kaum hatte sie den ersten Laut von ihren Lippen vernommen, als sie auch schon an ihrem Halse lag.

Mit einer solchen Stimme kann man nur sein, was der holdselige Name sagt.

154 Die Beiden küßten sich schwesterlich und schlossen von Stund an Freundschaft. Wir verbrachten einen frohen Abend, wobei in Selma die alte Glücksnatur wieder durchbrach, die sie ihrem ernsten Gefährten zuliebe bis zum Verlöschen abgedämpft hatte. Als wir heimgingen, zog ein spätes Gestirn mit wunderbar farbigen Strahlen gerade über der Spitze ihres Daches auf. Ich meinte in hoffnungsvoller Verblendung, daß es vielleicht doch noch einen Glücksstern für den verfemten Mann und seine mittragende Gefährtin gebe. Aber Angela, die beim Durchschreiten der Wohnung die weitgetrennten Räume gesehen hatte, wo die beiden jetzt hausten, sagte beklommen:

Dies ist kein Haus des Glücks. Dein Freund ist wieder Junggeselle geworden, ein einsamer, verbitterter, und Selma trägt schwer an ihrer Witwenschaft; sie bricht ihr langsam das Herz. Auch ist die Arme ja lungenkrank und sollte sobald wie möglich in ein besseres Klima verpflanzt werden. Hast du das Gehüstel nicht bemerkt und die jähen Hitzen? Ihr Mann muß ein Nachtwandler sein, wenn er daneben hinlebt, ohne zu sehen und zu hören.

Gustavs Anblick, als wir uns wiedersahen, zerschnitt mir das Herz, daß ich ihm nicht böse sein konnte für das, was er Selma antat. So hatte ich sein Aussehen nicht erwartet. Sein Gesicht war ganz starr, beinahe maskenhaft, wie von jähem Schrecken versteinert, und durch das schöne dichte Haar zogen sich Silberfäden. Am meisten ergriff mich seine freudige Rührung über meinen Besuch, die er kaum zu beherrschen wußte, sie bewies mehr als alles seine tiefe Vereinsamung. Aber er kam erfrischt aus den Bergen und trug sich, wie ich sah, mit neuen großen Plänen.

155 Diesmal hab' ich meine Flügel von Pella bis nach Babylon und an den Indus ausgespannt.

Ich erschrak. Ein Alexanderdrama. Das war wieder ein Stoff, um die halbe Welt hineinzustopfen, und ich zweifelte nicht, daß er schon einen Grundriß angelegt hatte, wo Orient und Okzident mit Waffen und mit Geistern aufeinanderprallen konnten. Aber würde der gewaltige Wurf je den Tag der Vollendung sehen? Der Dichter war so erfüllt von der neuzuströmenden Erfindung, daß er mir gleich die großartige und tiefsinnige Szene vorlas, worin der Brahmane vor Alexanders Herrschersitz und dem versammelten Heere allen Vorstellungen und selbst der Bitte des Königs zum Trotz den Scheiterhaufen besteigt, um durch freiwilligen Feuertod den Wert aller irdischen Macht wie Asche zu zerblasen.

Der alte Geisterbeschwörer berauschte mich wiederum ganz und gar, und wir saßen bis zum Abend über seinen neuen Papieren, bevor ich zagend nach dem Schicksal des »Befreiers« fragte.

Er blieb ganz ruhig.

Ich glaube nicht, daß Berka von Anfang an die Absicht hatte, mir das Werk zu stehlen. Er wollte es nur als Sprungbrett in die Öffentlichkeit benützen und hätte später gern oder ungern den wahren Verfasser genannt. Doch nachdem er in einen Prozeß wegen Plagiats, begangen an einem wenig bekannten verstorbenen Schriftsteller, verwickelt worden war und die Sache einen für ihn schmählichen Ausgang zu nehmen drohte, verschwand er plötzlich und nahm meine Dichtung mit.

Aber diese ist doch gerettet? Du hattest eine Abschrift?

Ja und nein. Ich konnte sie aus Zetteln wiederherstellen, aber 156 nicht in der alten Fassung, denn ich besaß nur eine fertige Niederschrift.

Welche Unvorsichtigkeit! fuhr ich heraus.

Du hast recht, aber die Sache eilte, und damals regte sich schon ungeduldig der Alexander in mir.

Was wirst du jetzt mit der neuen Fassung anfangen? beharrte ich.

Er lachte bitter: Warten, bis sie in Deutschland das Große ertragen lernen und unterdessen erfolglos weiterschaffen, wie es alle Starken, Einsamen gemußt haben.

Die Berliner Aufführung ist zur Unzeit gekommen, tröstete ich. Vor dem Krieg wäre die Dichtung verstanden worden, sie wird später verstanden werden, wenn die Geister sich beruhigt haben.

Eine hohe Kunst wird bei uns immer zur Unzeit kommen, entgegnete er schneidend. Wäre es um das deutsche Selbstgefühl, so wollte ich mich gar nicht beschweren. Aber hindert das deutsche Selbstgefühl die Berliner, Abend für Abend dem jämmerlichsten französischen Trödel nachzulaufen? Höhnen sie nicht als rückständig jeden, der den armen Flitter verachtet und von echter deutscher Dichtung überhaupt spricht? – Sie lehnten meinen »Befreier« ab, angeblich weil ich zu menschlich mit den Römern verfuhr. Sie werden ebenso meinen Alexander ablehnen, ich sehe es kommen, weil ihre Gehirne für solche Maße überhaupt nicht eingerichtet sind.

Schilt mir nicht die Deutschen, sagte ich, als ob es anderwärts besser wäre. Bei ihnen macht das Große langsam seinen Weg, es macht ihn doch. Anderwärts können Werke von solchem Tiefgang nicht einmal entstehen.

157 Unglücklicherweise setzte sich dieses Gespräch an Gustavs Stammtisch, wohin er mich führte, fast ohne mein Zutun fort.

Ich bringe dich jetzt unter Menschen, für die dein Freund nicht nur der Gatte Selma Hanuschs ist, sondern auch selber etwas gilt – nämlich als Bergsteiger, hatte er mir unterwegs mit bitterer Selbstironie gesagt. – Ja, staune nur, so weit habe ich es im Leben gebracht, ich könnte jeden Tag ein Führerzeugnis erlangen, und solche Vorzüge weiß man hier zu schätzen.

Es war ein literarischer Zirkel, der sich wöchentlich einmal beim Weine traf, zum großen Teil Landsleute, die sich von der inneren Entwicklung des Reiches unbefriedigt ins Ausland begeben hatten, wo sie sich nun gegenseitig in ihrem Mißmut bestärkten. Gustav trat herb und hochfahrend auf, wie immer, wenn er sich unterschätzt fühlte, und war doch auf diesen Verkehr angewiesen, wollte er nicht ganz erstarren. Er hielt alle im Abstand, und man konnte wohl sehen, daß er mehr gefürchtet als beliebt war. Kein Wunder, man kannte ihn nur als witzigen und spitzigen Kritiker, der für eine Reihe von großen Blättern Literaturberichte schrieb, von seinen schöpferischen Kräften schienen die wenigsten der Anwesenden zu wissen.

Unter den Deutschen waren Menschen von Geist, aber mit dem verengten Gesichtsfeld derer, die vom eigenen Gemeinwesen losgerissen sind ohne Anschluß an das fremde, und die sich nun auf ein unfruchtbares allgemeines Neinsagen beschränken. Trotz meiner eigenen Enttäuschung über so manches, was ich im Reich gesehen hatte, quoll der Schmerz in mir hoch, eine ganze Anzahl feingebildeter Geister vor mir zu haben, die so gar nichts von jener Selbstbehauptung in sich trugen, ohne die ein Volk sich nicht auf 158 die Dauer groß und frei erhalten kann, und die sich nicht entblödeten, vor ausländischen Ohren eine Kritik am Vaterlande zu üben, wie sie nur in den engen Kreis der Landsleute gehört. So kam es, daß ich eine Reihe von Fragen ins Gespräch warf, auf die es im Grunde keine Antwort gibt.

Wie kommt es, sagte ich, daß der Deutsche alle fremden Volksgebilde um ihre Geschlossenheit bewundert, daß er ihre Seelen in die seine aufnimmt und für ihre Rechte eintritt, und daß er der gleichen starken Empfindung für sein eigenes großes fast strotzendes Volk so wenig fähig ist? Oder wenn er sie in Augenblicken aufschwellender Inbrunst gehegt hat, warum verleugnet er sie gleich darauf und scheint sich ihrer zu schämen, als ob er damit einer höheren, nur ihm selber auferlegten Sendung untreu geworden wäre? Angegriffen, wehrt er sich jedesmal wie ein Berserker, aber sobald der Sturm vorüber ist, verwirrt sich sein Gefühl; er zerfällt wieder mit sich und tut das Gegenteil von dem, was ihm an den andern schön ist: er gibt seinen Mittelpunkt auf, um ohne Pol im Leeren zu schweben. Liegt dieser Einstellung ein Unvermögen zugrunde, das vielleicht mit dem Mangel starker Landschaftsprofile und mit den allseitig offenen Grenzen zusammenhängt? Oder ist es vielmehr das Ahnen eines Weges zu höherer planetarischer Zukunft, den keiner als der Deutsche mit dieser Besonderheit finden kann und soll?

Die Unzufriedenen verstummten eine Weile. Dann sagte Gustav:

Es sind Geheimnisse. Goethe mag etwas davon geahnt haben, aber er durfte es nicht sagen. Immer muß ja die letzte Wahrheit stumm bleiben wie am Ostermahle des Herrn: Ihr könnet es für jetzt nicht tragen.

159 Diese Worte aus dem Johannisevangelium waren ganz offenbar mit Anführungszeichen gesprochen. Aber jetzt geschah etwas völlig Widersinniges und Unbegreifliches: Einer der Anwesenden, der ohnehin gegen Gustav geladen schien, bezog sie auf sich selbst und seine Umgebung. Es war einer jener poetischen Dilettanten, die sich an die Berufenen herandrängen, und wenn sie nicht die erwartete Aufmunterung finden, sich gern durch heimliche Feindseligkeit für den aufgewandten Weihrauch rächen. Gustav, bei seiner Unerbittlichkeit gegen sich und andere, mochte ihm ein besonders strenger Richter gewesen sein.

Als hätte er nur auf einen Anlaß gewartet, fuhr er heraus:

Was wir tragen können oder nicht, haben Sie nicht zu entscheiden. Wir sind hier keine Schulkinder, die sich ihre Fähigkeiten vom Herrn Oberlehrer bezeugen lassen müssen.

Gustav, der sich niemals zum Einlenken und Begütigen herbeiließ, auch nicht, wenn man ihn augenscheinlich mißverstand, sagte nur von oben herab:

Es wird mir wie jedem andern gestattet sein, meine Meinung über allgemeine Fragen zu äußern.

Aber jener, der seinen bisher stummen Groll schon stark mit Wein begossen hatte und daher nur die Schärfe des Tones, nicht den völlig arglosen Sinn der Rede faßte, wurde dadurch noch mehr gereizt, und als ich mich vermittelnd dazwischenlegte, warf sich der Störenfried plötzlich auf mich, indem er zornig rief:

Und von Ihnen lass' ich mir keine undeutsche Gesinnung vorwerfen. Wenn ich am Reich zu tadeln finde, so ist es meine Sache: Ich hab' es machen helfen. Ich habe mit der Waffe in 160 der Hand meine Schuldigkeit getan, ich bin kein Drückeberger und Ausreißer.

Die letzten Worte schrie er plötzlich aufkochend so laut in das Stimmengewirr, daß es für einen Augenblick verstummte. Gustav erblaßte bis über die Stirn. Ob die Worte einen Ausfall gegen ihn enthielten, möchte ich bei dem angedunkelten Zustand des Schreiers nicht einmal entscheiden. Jedenfalls nahm Gustav den mutmaßlichen Handschuh auf, indem er kalt und spöttisch sagte:

Leier und Schwert. Sie täten besser, Ihr umnebeltes Dichterhaupt in die Kissen zu legen, als uns mit Ihren Waffentaten zu unterhalten.

Das Wetterglas stand an jenem Abend augenscheinlich auf Sturm. Denn jetzt sagte eine hämische Stimme von der anderen Seite herüber:

Sprechen Sie für sich selber, aber nicht für uns, wir haben keinen Grund, Erinnerungen an das große Jahr zu meiden.

Ich weiß heute nicht mehr, wie der gänzlich sinnlose Streit, den ich nichtsahnend mit entfacht hatte, im einzelnen weiterging; sein jäher Ausbruch bezeugte einen schon lange aufgehäuften Zündstoff. Die Angriffe gegen Gustav vermehrten sich, die Fernersitzenden schienen ihn für den Schuldigen zu halten. Er schleuderte Jupitersblitze nach rechts und links, aber ich hörte nicht mehr, was er sagte, denn einer der Anwesenden, dem meine Reden vorzugsweise gegolten hatten, verwickelte mich in ein Einzelgefecht, dem ich nicht ausweichen konnte. Ich merkte nur, wie Gustav sich trotz seiner Selbstbeherrschung allmählich doch erhitzte, das Durcheinander der Stimmen wurde größer. Ein anwesender Schweizer, der zuvor auf Deutschland mitgestichelt und dadurch 161 hauptsächlich meine Verwahrung veranlaßt hatte, nahm plötzlich sein Glas und wanderte damit an einen Nebentisch aus, indem er halblaut erklärte, daß es kein Vergnügen sei, unter Renegaten zu sitzen. Die Beleidigung ging im allgemeinen Lärm unter, Wohlgesinnte schlugen sich ins Mittel und drängten zum Aufbruch, wodurch sie die Erzürntesten auseinanderschoben und alle zum Ausgang geschwemmt wurden. Nur der wein- und wehselige Dichterling blieb mit aufgestützten Ellbogen am Tisch zurück und weinte.

Nach diesem Auftritt war nicht ans Schlafengehen zu denken. Wir gingen die halbe Nacht am Seeufer auf und nieder, bald sturmgeschwind, bald mit stockenden Schritten, je nachdem seine Gedanken den unglücklichen Mann vorwärtspeitschten oder festhielten. Er sprach von »Genugtuung fordern«, aber eigentlich lag dazu kein zureichender Grund vor, denn nichts zwang ihn, die Anzüglichkeiten, die gefallen waren, als solche anzusehen, das Wortgefecht war wie ein Gewitter, das sich nur halb entladen hat. Man konnte nicht einmal wissen, wieviel diesen Menschen von Gustavs Schicksalen bekannt war; was ich am meisten zu hören gezittert hatte, der Name St. Hubert war nicht gefallen: Entweder sie wußten nichts von diesem Äußersten, oder Scham hielt auch die Berauschten zurück, die gräßliche Wunde roh zu betasten. Daß er selbst sie kannte, erfuhr ich nun.

Ihr hattet damals recht, du und Kuno, brach es auf einmal ohne Übergang aus ihm heraus. – Es wäre besser, ich faulte in der stillen Grube bei Gravelotte, und mein Arminius ginge, wenn auch nur als Torso, über die Bretter; als Werk eines Gefallenen hätte er vielleicht seinen Weg besser gemacht.

162 Ich weiß nicht, ob wir recht hatten, sagte ich. Auch Kuno hat unterdessen umgelernt. Du unterstehst einem anderen Richter als unsereiner. Wie du nicht frei bist in deinen Entschlüssen, sondern so mußt wie dein Herr und Despot gebietet, so bist du letzten Endes auch nur ihm Rechenschaft schuldig. Dein Werk ist dein Freispruch.

So dachte ich auch, aber auf eines war ich nicht gefaßt, und die Toten behalten immer das letzte Wort.

Es gibt kein letztes Wort, Gustav, sagte ich. Solche Dinge wechseln ihr Gesicht mit jedem neuen Standpunkt, aus dem man sie betrachtet. Das Leben ist ein endloses Umgestalten, wo jedes neugesprochene Wort das vorangegangene aufheben kann. Jener Tote war groß, er stand auf seinem Boden wie ein Vorzeitriese. Steh' du so fest und groß auf dem deinigen, so kann er dir nichts anhaben!

Du vergissest nur, und ich hatte es selbst vergessen, daß ich vom gleichen Blute bin und daß die Gefühlswerte unserer Vorfahren immer von Zeit zu Zeit in uns erwachen. Was ist es andres als das Ahnenblut, was jetzt in mir tobt und nach einem Kugelwechsel mit jenen Tröpfen lechzt, weil es sonst keine Ruhe finden kann. Und doch hast du recht: Ich wüßte eine Herausforderung nicht einmal zu formulieren.

Sie gäbe das allerschädlichste Ärgernis und brächte eine ganze Lawine ins Rollen. Du mußt jetzt zeigen, daß du von deiner Höhe auf die Meinung der Welt herabsehen kannst, wie du es auf deiner grünen Alp überm Bodensee tatest.

Gustav starrte in das Wasser, das spiegelnd im hellen Mondlicht lag.

163 Mein alter Widerdämon ist von neuem am Werk, sagte er düster. Immer lauert er dann, wenn ich des inneren Lebens am vollsten bin, um es mir zu rauben. Ich kam so erfrischt aus der Balsamluft der Höhen. Mein Alexander war mir so nahe, ich konnte ihm in die Augen sehen, er sprühte von Macht und Lebensfülle. Und im Hintergrund regte sich schon ein Friedericus, ganz leibhaft, Mensch und Halbgott, ich mußte ihn zurückbannen, damit er mir nicht den Alexander störe, aber zuvor hielt ich noch sein Persönlichstes fest.

Er wurde endlich ruhiger und willigte zuletzt in meinen Vorschlag, noch auf einige Tage mit mir ins Hochgebirge zu gehen; ich erbat es mir als Freundschaftsbeweis für mich, da ich seit so langem keinen Berg bestiegen hätte und körperliche Bewegung mir ein Bedürfnis sei. In aller Frühe fuhren wir ab, Selma, die am Abend aufzutreten hatte und deshalb ihren Teil vorwegschlief, erfuhr unser Fortgehen erst mehrere Stunden später.

*


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