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Mein Geschäft in Amerika war schnell erledigt, doch trat dort ein Ereignis ein, das für mein Leben folgenreich wurde. Bei einem Gartenfest in Philadelphia hatte ich ein reizendes Prinzeßchen kennengelernt und mein Herz so unbedacht verloren, daß ich durch einen Ring gebunden war, bevor wir Zeit gehabt hatten, unsere Naturen aneinander zu prüfen. Nun hieß es vor allem, eine feste und einträgliche Stellung schaffen unter Verzicht auf das höhere Ziel, das 104 mir vorgeschwebt hatte, die akademische Laufbahn. Ich stellte mich auf der Schriftleitung des »Herald« vor, wo ein Freund von mir einen einflußreichen Posten einnahm, und wo ich schon durch wiederholte Beiträge empfohlen war, besonders nachdem ich zum Besten seiner Leser heimlich im Münchner Theater einer jener Sondervorstellungen anzuwohnen gewagt hatte, die keine Zuschauer haben sollten als den einsamen jungen Romantiker in der Königsloge. Als Berichterstatter des »Herald« für alle wichtigen Neuerscheinungen in Kunst und Leben kehrte ich noch einmal nach Deutschland zurück, um neben dem neuen Beruf noch ein Semester weiterzustudieren, bevor ich endgültig in den Dienst der Presse trat. Dieses Zugeständnis hatte ich meiner Verlobten, die nicht recht einsah, wozu das gut sein sollte, noch abgerungen.
Das war im Sommer 1870. Kein Wölkchen stand am politischen Himmel, ja nicht einmal die Bewerbung des Hohenzollernprinzen um den spanischen Thron war bekannt geworden, als ich mich wieder nach Europa einschiffte. Das Wetter war stürmisch, wir brauchten bei hohem Seegang fast das Doppelte der gewohnten Überfahrtszeit. Als ich in Hamburg den Fuß an Land setzte, flog eben die Emser Depesche in die Welt. Noch immer wußte ich von nichts; erst auf der Eisenbahn zwischen Hamburg und Berlin erfuhr ich aus Gesprächen der Mitreisenden, was vorging. Berlin fieberte schon. Ich erlebte dort den begeisterten Empfang des Königs, das Eintreffen der französischen Kriegserklärung, all die unvergeßlichen weltgeschichtlichen Augenblicke. Der Norden Deutschlands stand da wie ein Mann. Die Gegner von Sechsundsechzig versöhnten sich; der entthronte Herzog von Nassau bot dem König von Preußen seinen Degen an. Auch die alten Achtundvierziger 105 vergaßen ihren Groll. Ein Jugendfreund meines Vaters, der mich liebte wie einen Sohn, kabelte aus Boston seinen Glückwunsch, daß ich die Erfüllung des deutschen Traumes aus der Nähe schauen dürfe. Ende Juli war ich in München, wo ein Freund und Landsmann mich erwartete. Dort gingen die Wogen fast noch höher als in Berlin; schon am 16. hatte der junge König zum Zeichen der Bundestreue die Mobilmachung befohlen und den ganzen Süden Deutschlands in einem Sturm der Begeisterung mitgerissen. Der Norden kämpfte, weil er mußte, denn er war der Angegriffene, der Süden kämpfte aus Herzensdrang als Bruder mit, die Freiwilligkeit des Opfers erhöhte seine Freudigkeit. Die wenigen Stimmen der Neinsager gingen im brausenden Orkan des Volkswillens unter. So sollte jetzt vor meinen Augen das Große werden, das durch Jahrhunderte Ersehnte, Niegewesene, das einige Deutschland! Als ich dann die ersten Truppenschübe mitansah, wäre ich, obwohl Bürger eines anderen Staates, am liebsten mitmarschiert, so fuhr mir das in die Glieder. Der Sohn des Achtundvierzigers war in mir erwacht, der das Land seiner Väter erschaffen helfen wollte, und zugleich der kleine Abenteurer, der einstmals seine noch schwachen Knochen gegen die Sklavenstaaten eingesetzt hatte.
In Kriegszeiten sind besondere Wellen in der Luft, deren Schwingungen den davon Ergriffenen seltsam verwandeln, daß er dem Kaltgebliebenen unverständlich wird und seinerseits auf diesen als auf ein Wesen niederer Ordnung heruntersieht. Bei romanischen Völkern führt dieser Zustand zu blindwütiger Tollheit, die einmal entfesselt nicht mehr zur Ruhe kommt, den Germanen ergreift er nur vorübergehend, aber er ist unwiderstehlich, solange er dauert. 106 Ist es eine göttliche Neubeseelung, ein »Stirb und Werde« oder ein Rückfall ins Dämonisch-Naturhafte? Nur der Dichter kann es in Worte fassen, dieses Sichhingebenmüssen um jeden Preis, das Verglühenwollen auf dem Scheiterhaufen, Sichauflösen ins Ganze, Nichtsmehrseinwollen als auftauchende Wellenkrone im bewegten Ozean. »Das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu«, nennt es der Seher unter Deutschlands Dichtern.
Auch ich sehnte mich so in jenen Tagen, und wenn ich heute in kühlgewordener Luft dieses Gefühl nicht mehr nachfühle, so möchte ich es nicht um alles in meiner Erinnerung missen; mein Leben wäre um eine große Menschheitserfahrung ärmer. Mein Landsmann ließ sich von der Welle fortreißen und bot sich dem bayrischen Heer als Kriegsteilnehmer an; ich kämpfte dabei einen schweren Kampf. Aber gewissenhaft, wie es dem Durchschnittsmenschen zukommt, gedachte ich meiner Verpflichtungen gegen meine Braut und hielt am Schreibtisch aus, indem ich dem »Herald« eine Reihe von Stimmungsberichten schrieb, worin das Erlebte weiterzitterte.
Als ich fertig war, überkam mich mit einemmal die bisher zurückgedrängte Sorge um die Stuttgarter Freunde. Gleich nach meiner Ankunft in Berlin hatte ich eine Zeile an Gustav geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Ich vermutete, daß ihn mein Schreiben schon nicht mehr erreicht habe, da er sich beim ersten Kriegslärm bei seinem Truppenteil gemeldet haben mußte. Aber von Selma erwartete ich eine Nachricht, und ihr Schweigen wurde mir, je länger es dauerte, desto unheimlicher. Was mußte die leidenschaftliche Frau, die keine Macht auf Erden anerkannte als ihre Liebe, beim Abmarsch gelitten haben, und wie trug sie es jetzt? Gewiß 107 befand sie sich in einem verzweifelten Zustand und hatte niemand, der sich ihrer annahm, denn um Gustavs willen war sie ihrer ganzen Umgebung entfremdet. Ich war ihr vereidigter Ritter und mußte, daß der Freund sie mir scheidend empfohlen hätte, wäre ich zugegen gewesen. Die Briefbeförderung war infolge der Truppendurchzüge sehr verlangsamt, also setzte ich mich auf die Bahn und fuhr selbst nach Stuttgart, wo ich Selma bestimmt vermuten mußte. Denn was sollte sie noch allein in der Schweiz, während ihr Gatte gewiß schon über der französischen Grenze stand! Die kleine Reise nahm zwei volle Tage in Anspruch, ich lag bald in Augsburg, bald in Günzburg, bald in Ulm fest, um die Soldatenzüge vorüberzulassen. Und überall dasselbe Bild: Militärwagen mit Eichenlaub bekränzt, Eltern, die von ihren Söhnen, Mädchen, die von ihren Liebsten Abschied nahmen, Mützen und Tücherschwenken, »Deutschland über Alles« und stillfließende Tränen. Als ich auf den von Marschtritten und Rädergerassel dröhnenden Straßen in die stille Vorstadt kam, stutzte ich schon von weitem. Die Gartenwohnung des Dichters träumte mit ihren grünen geschlossenen Läden im tiefsten Sommerfrieden. Die böhmische Köchin öffnete. Auf meine Frage nach der gnädigen Frau antwortete sie, die gnädige Frau sei noch immer in der Schweiz. Genau konnte sie mir aber den Aufenthalt nicht nennen, sie hatte den Auftrag, alle Postsendungen nach Heiden aufzugeben, von wo sie durch einen Boten abgeholt würden.
Und der Herr?
Der Herr ist bei ihr.
Das ist doch nicht möglich. Ist er denn krank?
108 Darüber konnte das Mädchen keine Auskunft geben. Sie wußte nur, daß die Herrschaft jedenfalls noch längere Zeit fortbleiben würde, weil sie erst gestern einen vergessenen Gegenstand ihnen habe nachschicken müssen.
Wenn Gustav nicht abmarschiert war und Selma noch auf eine längere Abwesenheit rechnete, so mußte er krank sein und sie in hilfloser Lage. Wozu war ich ihr Freund? Unter Schwierigkeiten aller Art erreichte ich den Bodensee und fuhr nach Heiden über. Dort auf der Post ermittelte ich erst ihren Wohnsitz und wanderte dann, nachdem ich die Lage des Gehöfts erfragt hatte, zu Fuß den steilen Waldweg hinauf. Nach anderthalb Stunden kräftigen Steigens hatte ich den Hof erreicht, der, von unten nicht sichtbar, halb in eine Senke geduckt und durch hohe Bäume verborgen lag. Das erste, was ich sah, war Selma. Sie stand im weißen Kleide unter einem Baum, die Hände ineinandergekrampft, und starrte unbeweglich wie ein Steinbild in die Landschaft hinaus. Als sie meinen Schritt hörte, fuhr sie auf wie ein gescheuchtes Tier. Ich rief sie mit Namen, da erkannte sie mich und flog mit einem unterdrückten Schrei auf mich zu, erfaßte heftig meine Hände und wäre vor mir auf die Knie gestürzt, wenn ich sie nicht gehalten hätte.
Ich fragte nach Gustav, sie deutete nach dem Haus und legte mit flehendem Ausdruck den Finger auf den Mund.
Er arbeitet und darf nicht gestört werden, flüsterte sie, indem sie mich heftig weiter weg unter die Bäume zog.
Ich glaubte ihn krank oder ausgerückt, schon über der Grenze drüben und wollte Ihnen meine Dienste anbieten. Nun bin ich also ganz überflüssig hier, antwortete ich, irregemacht durch ihr Gebaren.
109 Sie hörte nicht, was ich sagte. In ihrem Gesicht kämpfte das Bedürfnis, sich an einen Freund zu klammern mit dem deutlichsten Schrecken über mein Erscheinen. Auf meine Frage, was ihr denn sei, wand sie sich wie unter einer unerträglichen Qual.
Es ist nämlich – nämlich – ein Papier angekommen – schon vor einiger Zeit, stammelte sie mit angstverzerrtem Gesicht. Ein gelbes Papier.
Der Gestellungsbefehl? fragte ich.
Sie nickte. Er weiß es nicht, sagte sie leise.
Selma, Selma, was haben Sie getan!
Wir wissen nichts von der Welt hier oben, wir haben seit einem Monat keine Zeitung gesehen. Der Knecht sagt, es gebe Krieg. Aber es ist nicht wahr, es darf nicht wahr sein! Sagen Sie, Harry, daß es nicht wahr ist!
Aber sie ließ mir gar keine Zeit zu antworten und von der Weltlage zu reden, sondern unterbrach mich gleich mit Leidenschaft:
Gustav darf nichts erfahren! Er darf nicht gestört werden! Er ist in allen Himmeln, ihn jetzt aus der Arbeit reißen, wäre ein Verbrechen an ihm, an seinem Genius, an der ganzen deutschen Dichtkunst.
Da rief es vom Hause herüber: Selma!
Gleich, gleich, Liebster! rief sie zurück und faßte mich dabei flehend an beiden Armen, mir jede Bewegung hindernd.
Mit wem sprichst du, Selma?
Sie wollte mir die Hand auf den Mund legen. Ich machte mich sanft von ihr los und rief zurück:
Ich bin's: Ewers, der Mohikaner!
Ein Freudenruf, dann klirrte das Fenster, er kam herabgeeilt.
110 Ich stürze mich von diesem Felsen herab, wenn Sie reden. Sie wissen, ich halte Wort! raunte mir Selma zu. Er darf es nicht wissen, er muß sein Werk vollenden!
Selma, sagte ich, Sie wissen nicht, was Sie tun, das ist eine Verantwortung, die wir beide nicht tragen können.
Ich werde sie tragen – ich ganz allein, flüsterte sie leidenschaftlich.
Da stand er schon vor uns, im leichten Hausrock, mit bloßem Kopf, an Haar und Bart ein wenig verwildert, aber mit einem Ausdruck überirdischen Glücks.
Mein schöner Gustav ist ein Bärenhäuter geworden, scherzte Selma erzwungen mit angstverzerrtem Gesicht, das er nicht bemerkte.
Die Hand nicht wäscht er,
Das Haar nicht kämmt er,
Bis zum Holzstoß er brachte
Balders Mörder,
rezitierte er nach seiner Gewohnheit.
Das war wieder der ganze Gustav Borck. Er wunderte sich nicht, woher ich kam, da er mich doch in Amerika vermuten mußte, er fragte nicht, was mich in diese Einöde führte. Der äußere Zusammenhang war wieder einmal nicht für ihn vorhanden. Ich war zur Stelle, ich mußte zur Stelle sein, weil meine Anwesenheit gerade jetzt ihm erwünscht war, weil der Augenblick gekommen war, wo seine übervolle Seele einer Aussprache bedurfte. Die schöpferische Raserei besaß ihn ganz.
Wir hatten uns im Haus auf einer Holzveranda mit Glasfenstern niedergelassen, gegenüber einer Gruppe hoher Bäume. Mir war 111 entsetzlich zumute, lieber wäre ich wieder auf hoher See gewesen, von den Ozeanwellen im Ungewissen herumgeworfen, als hier auf der friedlichen sonnigen Alm, dem Freunde gegenüber, dem ich sein Schicksal zu verkünden hatte. Er schwamm auf der höchsten Woge seines Glücks. Die Stille in der Natur und Selmas völlige Selbstverleugnung hatten ihm den Genius zurückgeführt, seinen Herrn und Despoten.
Jetzt erst verstehe ich, wie elend ich gewesen bin, wie ich mich quälen mußte ohne Ihn. Aber wir wissen nicht, wie gut wir geführt werden. Es war mein Glück, daß ich damals durch Jurisprudenz und Heirat unterbrochen wurde, mein guter Geist legte mir die Hand auf den Mund, weil ich noch nicht reif war. Jetzt ist Er erst ganz dabei, und jetzt geht es wie im Traum.
Mein beklommenes Schweigen sagte ihm nichts, er redete immer weiter:
Das Werk ist weit über seine erste Anlage hinausgewachsen. Du wirst über den zweiten Teil staunen, wie anders das alles geworden ist, wie stark, wie reif. Aber der dritte Teil, der dritte Teil wird die Krone von allem. Noch ein paar Wochen Stille und Bergluft und solches Wetter wie heute, so haben wir wieder eine deutsche Tragödie.
Man konnte, wenn man sein begeistertes Auge sah, für Stunden vergessen, daß drüben überm See der Boden vom Tritt ausrückender Truppen bebte, und sich in unsern stillen Anrichtwinkel bei Molfetta zurückversetzt glauben, wo es keine Ereignisse gab als die der Kunst. Noch ein paar Wochen für sein Werk. Ich hätte mein Blut gegeben, sie ihm zu schaffen. Aber was war zu tun? Jede Stunde, die verrann, stempelte ihn mehr zum 112 Fahnenflüchtigen. Volle zehn Tage war der Gestellungsbefehl auf dem Postamt liegengeblieben. Durch Zufall glaubte ich zuerst, allein Selma hatte diesem Zufall nachgeholfen. Das war nicht schwer gewesen, sie brauchte bloß nicht mehr zur Post hinunterzuschicken, seitdem sie das erste Gerücht vom Krieg vernommen hatte, das sie ihm verschwieg. Damit hatte sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst in künstlicher Unwissenheit erhalten bis zum gestrigen Abend, wo Gustav einen Brief aufgeben ließ und der Knecht einen ganzen Stoß liegengebliebener Postsendungen heraufbrachte, darunter auch das verhängnisvolle Blatt; die hatte sie gleich alle miteinander unterschlagen. Dem Knecht war strengstens eingeschärft, dem Herrn kein Wort zu sagen von dem, was in diesem Augenblick die halbe Erde erschütterte. Auch das konnte sie durchsetzen, denn die beiden sprachen kaum je miteinander; alle Befehle Gustavs gingen durch sie. So bildete die Ärmste sich wirklich ein, ihm auf die Länge die Weltereignisse verheimlichen zu können. Und in diesem Augenblick mußte das Schicksal mich daher führen! Sie mochte wohl zuerst gehofft haben, an mir, ihrem alten Tröster und Berater, auch jetzt einen Beistand in ihrem Sinne zu finden, aber seit wir die ersten Worte gewechselt hatten, betrachtete sie mich als ihren schlimmsten Feind und Widersacher. Ich machte nicht minder schreckliche Augenblicke durch als sie, da ich mich vor die Notwendigkeit gestellt sah, sein wiedergefundenes Schöpferglück zu zerreißen und sie in Verzweiflung zu stürzen.
Sie stand hinter seinem Stuhl, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte, und ihre Augen drohten mir – ich wußte aus Erfahrung, daß sie auch imstande war, ihre Drohung wahr zu machen, so schwieg ich noch verworren. Gustav hatte sie schon wiederholt 113 gebeten, eine Flasche Wein und ein paar Gläser zu bringen, aber Selma sagte nur: »Gleich, gleich!« und blieb wie angekettet stehen, mich mit ihren Blicken im Banne haltend. Wir redeten kein Wort miteinander, nur unsere Augen führten einen heimlichen Krieg.
Mir ist alles gleich, ich frage nur nach Gustav, sagten die ihrigen.– Ich auch, Selma, gerade deshalb! antworteten die meinigen. Während dieser stumme Zweikampf noch dauerte, sprang Gustav in die Höhe und sagte wohlgelaunt:
Wenn du dich gar nicht von seinem Anblick losreißen kannst, so werde ich selber nach einer Erfrischung gehen.
Kaum hatte er sich entfernt, so stürzte Selma auf mich zu:
Erbarmen, wenn Sie sein Freund sind! Ist Ihnen sein Dichterberuf heilig, so haben Sie die Pflicht zu schweigen.
Ich suchte ihr begreiflich zu machen, daß es um seinen guten Namen und ganze Zukunft ging, daß er sich das Vaterland für immer verschließe, daß er bürgerlich tot sei, wenn er nicht wie jeder andere Heeresangehörige sich unverzüglich bei seinem Regiment stelle. Ich erinnerte sie an die Tausende und aber Tausende von Frauen, die alle in der gleichen Lage waren:
Was sollte aus dem angegriffenen Lande werden, wenn alle dächten wie Sie?
Ich hatte gut reden.
Mich hat man nicht gefragt, ob Krieg sein soll, antwortete sie trotzig, man hat kein Recht, mir meinen Mann zu nehmen.
Doch sie verdarb sich mit ihrer Heftigkeit selbst das Spiel. Gustav, der im eigenen Haus Bescheid wußte wie auf dem Mond, war ungeduldig mit leeren Händen zurückgekehrt.
114 Was geht hier vor? fragte er mit gerunzelter Stirn. Was soll ich nicht erfahren?
Selma schrie laut auf bei seinem Eintritt und rannte kopflos von einer Ecke in die andere.
Sie wollte es dir vorenthalten. Aber das ist eine Unmöglichkeit. Also je rascher, desto besser: Der Krieg ist ausgebrochen! Frankreich hat an Preußen den Krieg erklärt! Ganz Deutschland hat sich einmütig erhoben, die verbündeten Heere stehen schon jenseits des Rheins.
Starr, entgeistert, weiß wie Kreide hörte er an, was ich von den Weltbegebenheiten erzählte. Krieg! sagte er in fassungslosem Erstaunen vor sich hin – und ich soll mit! – dann brach es plötzlich wie eine Raserei an ihm aus.
Der Dämon! Der Dämon! schrie er. Er will mich nicht vollenden lassen. In allen Formen kommt er und stellt sich zwischen mich und mein Werk. Nur so weniges fehlt zur Vollendung, ein paar Wochen hätten genügt. Er gönnt sie mir nicht, er schickt mich in den Krieg. Was wird aus meiner Dichtung, wenn ich fort muß!
Du wirst sie nach der Rückkehr wieder aufnehmen und sie wird danach noch heller strahlen, wollte ich trösten, aber meine Worte versetzten ihn nur in Erbitterung.
So, meinst du? sagte er wild. Eine Dichtung ist wohl eine Handarbeit, die man nach Belieben weglegt und wieder vorholt. Ich sage dir, jedem Kunstwerk schlägt nur einmal die Stunde. Bin ich, wenn der Tag zu Ende ist, denn noch ganz derselbe, der ich am Morgen gewesen? Sind die Eingebungen von heute noch genau wie die gestrigen? O nein, es gibt nur eine Stunde für 115 jegliches Tun, immer nur gerade die eine vorbestimmte. Ihr ahnt ja nicht, wie voll des herrlichsten Lebens meine Gestalten jetzt vor mir stehen. Wie der Held nach verlorener Schlacht über die Weser herüber zu seinem Bruder, dem Römling, spricht, nachdem er unkenntlich durch Blut die feindlichen Schlachtreihen durchbrochen hat. Man sieht ihn nicht, man hört nur seine Stimme von drüben. Aber die Stimme allein ist wie ein unbesiegtes Heer, das den Abtrünnigen niederschlägt. Das alles werde ich nie wieder so sehen, wie ich es jetzt sehe, da es eben in mir reif geworden ist und noch nicht überreif.
Du hast mich einmal um das Starke in meinem Leben beneidet, antwortete ich traurig, du sprachst von der lebendigen Poesie, die höher sei als die geschriebene, erinnerst du dich nicht mehr? Jetzt tritt sie in das deinige, so groß du sie nur wünschen kannst. Ein neuer Germanikus zieht gegen den Rhein heran, sei selbst Arminius, wenn du keinen Arminius mehr dichten darfst.
So redet einer, der nicht weiß, was dichten ist.
So denke an den Größten, sagte ich, der ohne Not bei Valmy in den Kugelregen ritt, nur um es nicht anders zu haben als die andern, und das zu einer Zeit, wo der Faust noch nicht vollendet war.
Er mag wohl auch seine Stunden des Zweifels gehabt haben, war die düstere Antwort. Hätte uns Napoleon vor einem Jahr den Krieg erklärt, was hätte es mir damals ausgemacht? Mit Freuden war' ich ausmarschiert, was lag mir damals an meinem Leben? Ich habe auch bei Königsgrätz nicht damit gegeizt. Aber jetzt, jetzt wo meine Gesichte mich greifbar wie die Lebendigen umstehen! Es kann nicht sein, es ist ein böser Traum!
116 Der stolze Mensch hatte alle Fassung verloren, er legte den Kopf auf den Tisch und weinte wie ein Kind.
Selma lag schluchzend zu seinen Füßen.
Mußt du denn, Gustav! Gustav! Du mußt nicht. Höre nicht auf Harry. Tausendmal hörte ich dich sagen: Kein Mensch muß müssen. Warum mußt du jetzt, wo dein Höchstes auf dem Spiele steht?
So kann ein Weib reden, sagte er, schmerzvoll den Kopf erhebend. – Den Ausreißer, den Feldflüchtigen versenkten unsere Alten in den Sumpf.
Aber die Versucherin ließ nicht ab von ihm.
Du stehst untere einem anderen Gesetz. Was nützt es deinem Lande, wenn dich die erste französische Kugel trifft? Du hast der Nation andere Siege zu erfechten, als die mit der Zündnadel.
Ein preußischer Offizier und fahnenflüchtig vor dem Feind. Mein unglücklicher Vater! Der Schlag wird ihn treffen. Und auf mich wartet der bürgerliche Tod, sagt er verzweifelt.
Armer Gustav! Hätte er in jenem Augenblick deutsche Luft geatmet, hätte ihn auch nur ein Hauch des Feuerstroms erreicht, der alle Herzen drüben überm See in eine glühende Masse zusammenschmolz, er wäre mitgerissen worden und hätte nichts anderes gedacht, als wie jeder schlichte Sterbliche, mit der Waffe in der Hand vor sein bedrohtes Haus zu treten. Aber da oben in der tiefen Hochsommerstille, wo die Grillen schmetterten und die Bienen summten, hatte das Wörtlein »Krieg« etwas so Fremdes und Unwirkliches. Als er heraufzog fiel noch kein politischer Schatten auf den Weg, der ihn hätte vorbereiten können. Zeitungen hatte er sich keine nachschicken lassen, er las sie ja ohnehin nicht, 117 und so hatte ihn die schöpferische Phantasie in einen undurchdringlichen Dunstkreis eingehüllt. Was in diese Stimmung nicht paßte, das blieb ihm fern, das drang nicht in sein Bewußtsein.
Schon zehn Tage, sagst du? fragte er zum zwanzigstenmal, und zum zwanzigstenmal erklärte ich ihm das Wie und Wann.
Nun ist es ja doch zu spät, rief Selma dazwischen. Er könnte ja sein Regiment gar nicht mehr erreichen.
Es ist nicht zu spät, sagte ich, er macht es, wie er kann, es gehen noch täglich Truppenzüge. Packen Sie ihm zusammen, was er braucht, wir begleiten ihn beide nach Lindau. Seine Dichtung versiegelt er bis zu seiner Heimkehr. Für alles andere werde ich Sorge tragen, und sein Liebstes bleibt in der Obhut eines Bruders zurück.
Meine Dichtung! sagte er verzweiflungsvoll.
Alles andere war ihm gleichgültig. Ich drängte. Aber er blickte aus starren Augen und regte sich nicht.
Barmherziger Gott, schrie es aus ihm heraus, nur dieses eine laß mich vollenden, dann sei es aus mit mir, dann fordre ich nichts weiter und will es mit meinem Blut bezahlen.
Ich wandte mich an die Frau um Hilfe.
Seien Sie tapfer, bedenken Sie sein wahres Heil und heißen Sie ihn ziehen.
Aber das arme Geschöpf zischte gegen mich auf wie eine getretene Schlange.
Sie, Sie haben das Unheil unter unser Dach gebracht, gestern saßen wir noch so glücklich und friedlich hier oben.
Gustav hielt sie beschwichtigend fest. Dann fragte er:
Du wirst also den Fahnenflüchtigen verachten?
118 Nein, Gustav, wozu du dich entschließest, immer werde ich dich ehren und werde suchen, dich zu verstehen. Ich habe keinen Genius in mir und kann nicht ermessen, was er von dir zu fordern hat. Du bist kein Feigling, und wahrlich zum Bleiben gehört in deinem Fall mehr Mut als zum Gehen. Aber bedenke, daß du nie wieder nach Deutschland zurückkehren kannst, daß du deines Arminius Siegeszug über die Bretter nicht mit Augen sehen wirst.
Schreibe ich ihn denn, um mich hinter der Rampe vor dem Publikum zu verbeugen? Verächtlich sei ich, wenn ich in diesem Augenblick irgend an mich denke! Wenn mein Arminius lebt, was braucht's, daß ich ihn sehe? Schriebe ich für meinen Ruhm, so würde ich die Verachtung verdienen, die meine Verwandten und Kameraden überreichlich auf meinen Scheitel häufen werden. Ich schreibe ihn, weil ich muß, weil ein Anderer, Höherer neben mir steht und jedes Wort einsagt und weil niemand außer mir diese Stimme hören kann.
Nun suchte ich ihm von einer anderen Seite beizukommen.
Du sagtest mir immer, die Dichtkunst müsse sich am Leben nähren. Komm mit mir über den See hinüber. Da hörst und siehst du die Volksseele in ihrer unmittelbaren Ergriffenheit. Das verpflichtet dich zu nichts. Niemand kennt dich dort, du kannst ungehindert zurückkehren, wenn es dich nicht selber mitreißt; es werden dann wenigstens deine Hörner und Kriegsdrommeten davon stärker und voller tönen.
Geh nicht, geh nicht, schrie Selma dazwischen.
Die tönen am vollsten in meiner eigenen Brust, antwortete er ruhig und selbstgewiß. Ich war ein Tor, wenn ich dir je 119 dergleichen sagte. Der Dichter kann nichts lernen, als was er von je gewußt hat. Alle Erfahrungen, die er machen kann, sind schon mit ihm geboren.
Er zog mich geheimnisvoll ans Fenster. Siehst du auf dem Eichbaum gegenüber die bogenförmige Durchsicht ganz nahe dem Wipfel, die durch eine seltsame Verbiegung des Gezweigs entstanden ist? Von dorther kommen mir die Eingebungen, diese Durchsicht ist meine Bühne. Da treten sie auf und ab, da reden sie und handeln, meine Gestalten. Dorthin kommen sie aus dem Raum, wo mein Werk war, bevor ich wurde. Wenn meine Gesichte versagen, unter diesem Torbogen, der nach Walhall führt, erhasche ich sie wieder. Ich blicke so lange hinüber und sollte ich darüber blind werden, bis sie sich verdichten und mir Rede stehen. – Glaube mir, das Leben zeitigt nur blasse, verkümmerte Abbilder. Alles Leuchtende, Dauernde kommt aus der Überwelt.
Ich war geschlagen. Selma wollte ihm jubelnd wie einem Geretteten um den Hals fliegen, aber er hielt sie mit beiden Armen von sich.
Armes Weib, nicht für dich bleibe ich zurück. Du hast keinen Mann mehr.
Er streifte leicht an ihrer üppig schmiegsamen Gestalt herab, die bei seiner Berührung leise schauderte, und schob sie von sich mit Hamlets Worten: Geh, geh in ein Kloster.
Sie kauerte sich wieder in ihre Ecke auf den Schemel nieder und sagte:
Ich verlange ja nichts als dir zu dienen.
Ich brach auf, denn ich hatte hier nichts weiter zu suchen. Man hielt mich nicht zurück. Selma, die schon ihr leichtes Herz 120 wiedergefunden hatte, eilte mir ein paar Schritte nach und bat mich wegen ihrer Heftigkeit um Verzeihung. Sie dankte mir sogar, daß mein Erscheinen die lange gefürchtete Entladung brachte, die nun ohne Schaden, wie ihr schien, vorübergegangen war!
Selma, sagte ich, Sie haben ein gewagtes Spiel gespielt. Sind Sie sicher, daß nicht eines Tages in Gustav der preußische Offizier wiedererwacht mit den empfindlichen Ehrgesetzen seines Standes?
Sagen Sie mit seinen engbrüstigen Vorurteilen. Ja, davor bin ich Gott sei Dank sicher.
So wissen Sie eben nicht, daß niemand völlig und für immer mit seiner Vergangenheit und seiner Überlieferung brechen kann.
Unser Unkas ist eine Unke geworden, spottete sie freundschaftlich.
Ich nahm einen letzten Anlauf.
Denken Sie auch daran, daß Sie sich von Gustav trennen müssen, wenn Sie Ihren Bühnenvertrag halten wollen?
Kontrakte kann man brechen, antwortete sie obenhin.
Wovon wollen Sie denn den Lebensunterhalt bestreiten?
Sorgen Sie um nichts, wenn ich nur ihn behalten darf. Meine Kunst ist freizügig.
Aber Sie sind an die Sprachgrenze gebunden.
Es gibt ein Österreich und eine Schweiz.
In großer Verwirrung fuhr ich über den See zurück. Ich kam nicht zurecht mit dem, was ich erlebt hatte. Gustav Borck, unser stolzer, edler Gustav fahnenflüchtig in der Stunde der Gefahr!
Freilich, sagte ich zu mir selber, im Bestreben ihm gerecht zu werden, Deutschland hat Streiter genug, die seinen Boden 121 verteidigen, es hat vielleicht in diesem Augenblick keine zweite schöpferische Kraft von solcher Tragweite. Doch es half nichts, ich konnte den Eindruck mit meinem schlichten Menschenverstand nicht verarbeiten. Daß in einer Zeit wie dieser ein Einzelner, und wäre er auch der Größte, sich und sein Werk für so überschwenglich wertvoll halten konnte und das Weltbild, das er in sich trug, für wichtiger als die gewaltigste Wirklichkeit, das ging nicht in mein nüchternes Hirn. Aber die Höhe seiner Gesinnung konnte ich nicht mißkennen. So empfand ich nur eine unbegrenzte Verwunderung und eine dumpfe Besorgnis. Zuviel war jetzt aufs Spiel gesetzt, wehe, wenn nun gar der Wurf mißlang! Beim Abschied hatte er mir gesagt:
Ich weiß, daß du mich in diesem Augenblick nicht verstehen kannst. Darum sage ich dir nur eins: Wenn ich mein Wort nicht einlöse, wenn ich nicht ein Werk schaffe, das mein Tun rechtfertigt, so bin ich freilich nichts als ein gemeiner Auskneifer. Dann werde ich selber Kriegsgericht über mich halten. Bis dahin verschiebe auch du das Urteil über mein Handeln.
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