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In jenen Sommer, der ein rauher und stürmischer war, fiel Olafs schwere Erkrankung. Er hatte sich eben von einem Lungenkatarrh kümmerlich erholt, als ihn eine Rippenfellentzündung aufs neue 61 niederwarf. Ein Wunder, daß der zarte Körper dem doppelten Angriff standhielt. Seine Mutter, die ihm auf die Universität nachgezogen war, pflegte ihn; eine zarte Frau, aber von stählerner Spannkraft. Sie glichen sich im Äußern merkwürdig, beide hatten den gleichen edlen Schnitt der Augen und das ährengelbe Haar, durch das der Jüngling von weitem auffiel. Die Freunde halfen bei der Pflege, und das sonnige Krankenzimmer war ein Ort stiller Erhebung für alle. Sogar Gustav, der immer mit sich selbst Beschäftigte, widmete dem kranken Olaf manche Stunde. Er las die ausgearbeiteten Szenen des dritten Aktes, so wie sie fertig wurden, an seinem Bette vor, und der Kranke lebte und webte mit ihm in dem entstehenden Werk. Immer zwingender entwickelte sich die Persönlichkeit des Helden und seine dämonische Macht über den Varus, den Segest vergeblich zu retten sucht, indem er den eigenen Schwiegersohn in Ketten legt, denn der Götterverblendete macht selbst seinen Vertilger frei. Auch dieser Zug war der römischen Überlieferung entnommen, von der Gustav sagte, daß sie tiefsinniger und dichterischer sei als alle spätere Dichtererfindung.
Unablässig wurden jetzt die Charaktere und Verwicklungen durchgesprochen, die wir zuerst nur so überwältigt hingenommen hatten wie etwas Gegebenes, wirklich Vorhandenes. Und der Eifrigste bei diesen Erörterungen war der Dichter selbst; seitdem das Eis gebrochen war, strömte ihm das Herz fortwährend über. Nachträglich muß ich mich wundern, wie eine werdende Dichtung so viel Beschreien vertragen konnte; Gustav war darin anders als alle andern schaffenden Geister, denen ich im Leben nähertrat. Unser Anteil hob und trug ihn, die Eingebungen strömten ihm stärker zu, wenn sie gleich auf andere wirkten, und kritische 62 Einwände störten ihn nicht nur nicht, er forderte sie geradezu heraus. Dabei vergaßen wir alle, und er selbst am meisten, daß das Drama, dessen Wurf uns fortriß, großenteils noch gar nicht auf dem Papier stand, denn der Dichter pflegte zwischen Lesen und Erzählen abzuwechseln, und seine feurige Phantasie lief der Gestaltung weit voraus. Er arbeitete immer unter einem Wust von Zetteln, auf denen er seine Einfälle, wie sie ihm kamen, niederschrieb, aber das kunstmäßige Verwenden dieses Vorrats machte ihm eine unsägliche Mühe, weil er immer noch mehr hineinziehen wollte als der Rahmen faßte und doch viel zu feinfühlig war, um nicht die Überlastung augenblicklich zu empfinden. So arbeitete er viel schwerer, als man bei seiner wogenden Fülle hätte glauben sollen. Aber in seinen gehobenen Stunden vergaß er diese Hindernisse und ließ das Werk, das so gut wie fertig vor seinem Geiste stand, auch vor uns als fertig erscheinen.
Olaf hatte sich beim Vorlesen in die griechische Flötenspielerin verliebt, die er sich unter Adeles Zügen vorstellte.
Sie ist schön, hörte man ihn zärtlich sagen. Die Haare wachsen ihr rund um die Stirn, ihre Augenbrauen sind gerade – ach, und ihre Haut duftet nach Veilchen, setzte er mit geschlossenen Augen und einem tiefen, saugendem Atemzug wie in plötzlicher Entraffung hinzu.
Es schien ihm ein häßlicher Flecken im Charakter des Helden, daß der Dichter ihn das anmutige Kind, das sich von ihm geliebt glauben konnte, bei der Erstürmung des Lagers dem eifersüchtigen Zorn Thusneldens preisgeben ließ. Er wünschte sie durch ihn gerettet, und in der Tat brachte Gustav diesen weicheren Zug vorübergehend in sein Werk, um ihn später wieder auszumerzen, denn er 63 schien ihm mit der dämonischen, allvertilgenden Wildheit, von der er seinen Armin besessen zeigte, nicht vereinbar.
Was wird aber aus deinem Helden, wenn er gesiegt hat? fragte Olaf einmal nachdenklich. Wie wird dem ehemaligen römischen Ritter, der die Kunst der Griechen kennt und über den Platon mitredet, das Leben im germanischen Urwald wieder munden?
Eine wohlberechtigte Frage, lächelte Gustav. Der Dichter wird dafür sorgen müssen, daß dem Helden keine Zeit bleibt, sie sich vorzulegen. Erst muß er die Römer unter Germanikus ein zweites Mal verjagen. Dann kommt der deutsche Dank. Die germanischen Stämme wollen ja gar kein gemeinsames Oberhaupt, am wenigsten eins aus eigenem Blute. Lieber römisch als cheruskisch, murrt es um ihn her. Das Murren wächst mit seinen Erfolgen. Und wofür sind die Verwandten da, der Oheim Ingomar und der Schwiegervater? Sein Weib den Römern ausgeliefert, sein ungeborener Sohn ein Sklave, um ihn selbst die Fallstricke der Verschwörung! und über seiner Leiche fallen die geeinten Stämme wieder auseinander.
Gustav, Gustav, was machst du? Das ist jammervoll, sagte Olaf.
Es ist Heldenlos, und vor allem deutsches. Oder weißt du es anders, Olaf? antwortete dieser.
Die langen Krankheitswochen reiften den Jüngling mehr als seine vier Semester Universität. Er redete jetzt ohne zu stocken über die höchsten und tiefsten Dinge, und aus seinen großen blauen Augen strahlte schon ein Licht aus anderen Welten. Er wußte, daß sein Tag sich neigte, aber er sprach nicht darüber. Nur einmal sagte er zu mir:
64 Gustav Borck wird ein ganz großer Dichter werden, und ihr alle werdet den Siegeszug seines »Befreiers« miterleben. Nur ich werde nicht dabei sein. Dann klatschet auch für mich, und du, Harry, schicke ihm in meinem Namen einen Lorbeerkranz.
Es war zum Lächeln und zum Weinen, wie der kindliche Mensch mir aus einem Beutelchen ein eingewickeltes Goldstück übergab und dazu den Finger an den Mund legte.
In einem milderen Klima wäre er vielleicht genesen. Aber an dergleichen dachte man in den damaligen engen deutschen Verhältnissen wenig. Man nahm den Ort, an den man vom Zufall gestellt war, als etwas Gottgegebenes, das nicht in Frage gezogen wurde.
Dennoch kehrte er noch einmal auf die Erde zurück und saß wieder die Abende im kleinen Stübchen neben der Anrichte, wo Adele, fühllos gegen sein stummes Liebeswerben, nur mit den Augen an Gustav Borck hing.
Dieser aber war in einer fürchterlichen Laune. Der reiche Gönner, der die Vorschüsse gab, bestand darauf, daß er im Herbst die erste juristische Prüfung ablege, und Gustav mußte gehorchen, denn es handelte sich um Sein oder Nichtsein. Über den Ausgang brauchte er sich bei seinem glänzenden Kopf keine Sorge zu machen, er hatte ja auch trotz dem poetischen Fieber, das ihn verzehrte, gewissenhaft seine Studien fortgetrieben. Aber der Arminius mußte ins Schubfach zurückwandern und die Gesichte verblaßten. – Man begriff seine Mißstimmung, und niemand verargte es ihm, wenn er als stummer Gast am Tische saß, mit finsterem Gesicht Rauchkringel in die Luft blies und Adeles köstliches Gebräu mit einer Miene schlürfte, als ob es Gift wäre. Aber geheuer war es in 65 seiner Nähe nicht, und einer nach dem andern blieb weg. Zuletzt kam außer ihm und mir nur noch Olaf, und jeder las schweigend ein Stück der ausgelegten Zeitung, in die wir uns teilten. Auch in seinem verdüsterten Zustand zog es Gustav Borck zu Olaf Hansen, als ob bei ihm, bei seinem inneren Blühen, allein noch Frieden und Harmonie zu finden wären. Und Olaf, der gar nichts vom Leben forderte, genoß die letzten Atemzüge, die ihm noch verstattet waren, wie ein Geschenk der Götter.
Da brachte der dümmste, gemeinste aller Zwischenfälle das Verhängnis.
Eines Abends, als Olaf allein im Stübchen saß, kam ein Korpsstudent in angetrunkenem Zustand aus dem oberen Gelaß herunter und begann Adele in ihrer Anrichte auf täppische Weise zu belästigen. Olaf erhob sich bebend, um ihm entgegenzutreten, aber der Rohling, der ihn nicht kannte und wahrscheinlich für einen Knaben hielt, warf den Kranken lachend an die Wand. In diesem Augenblick trat Gustav herein, er stürzte sich auf den Angreifer und gab ihm einen Schlag ins Gesicht. Ein Lärm entstand, die Kommilitonen des Geschlagenen, der blindlings um sich hieb, eilten herunter und führten den Wütenden weg. Ein Zweikampf war unvermeidlich. Die Kartellträger gingen hin und her, der Geohrfeigte ließ Gustav auf Säbel fordern, dieser aber erklärte, obwohl er ein gewandter Fechter war, sich nur auf Pistolen zu schlagen. Vergebens suchten seine Freunde ihn anderen Sinnes zu machen im Hinweis auf das höhere Ziel, dem sein Leben gehörte.
Gerade deshalb, antwortete er und bestand auf seinem Willen.
66 Als wir nach dem Ort des Zweikampfes, einem Wäldchen bei Lustnau, fuhren, zeigte er eine Heiterkeit und Aufgeräumtheit, die man seit langem nicht an ihm kannte. Später gestand er mir, er habe das Duell als ein Gottesurteil zwischen sich und seinem Genius, der ihn verlassen zu haben schien, betrachtet.
Alles verlief streng nach dem Herkommen: die vorgeschriebenen Versöhnungsversuche der Sekundanten, das Laden der Pistolen usw. Beim zweiten Kugelwechsel erhielt Gustav einen Streifschuß in den linken Oberarm, denn er war mit der linken Seite vorgetreten, da er, wie ich erst jetzt entdeckte, ein Linkshänder war. Damit war der Zweikampf beendet. Die Wunde wurde verbunden, die Gegner versöhnten sich und wir fuhren in der glücklichsten Stimmung in die Stadt zurück zu einem Frühschoppen. Als ich nach Hause kam, hörte ich, Olafs Mutter habe nach mir geschickt. Die Aufregung hatte den Halbgenesenen aufs neue niedergeworfen, obwohl der Beleidiger so ritterlich gewesen war, ihn, ehe er zum Kugelwechsel mit Gustav Borck antrat, um Verzeihung bitten zu lassen. Ich eilte in Olafs Wohnung und fand die erste medizinische Größe an seinem Bett, die dem Kranken und seiner Mutter tröstliche Worte sagte, mir aber im Hinausgehen keinen Zweifel ließ, daß sein Zustand hoffnungslos war. Und doch wehrte sich die zarte Natur mit wunderbarer Widerstandskraft noch durch eine Reihe von Tagen. Auch Gustav und die andern Freunde kamen, denn er wollte alle noch sehen. Es schien uns unfaßbar, ihn zu verlieren, und daß das Schöne, das jetzt war, aufhören sollte zu sein. Denn je mehr seine Kräfte schwanden, desto blühender und seraphischer wurde sein ganzes Wesen.
Eines Tages, als es besonders schlecht mit ihm stand, las ich 67 mehr in seinen Augen als von seinen Lippen die Frage nach Adele.
Blitzschnell dachte ich mir eine fromme Lüge aus.
Willst du sie sehen, Olaf? Sie kommt täglich nach dir fragen.
Sie kommt hierher? Zu mir?'
Sie wäre glücklich, dich zu sehen.
O bringe sie her. Bald, bald!
Ich ging ins Nebenzimmer, mich mit Gustav Borck zu besprechen, denn nun ward mir bange, ob sich sein Wunsch erfüllen lassen werde.
Bleib, sagte Gustav, der sehr blaß war, ich werde sie holen.
Willenlos, zitternd folgte ihm Adele. Er hatte ihr nicht einmal die Zeit gelassen, den Hut aufzusetzen und das Mäntelchen umzunehmen. Bloß ein schwarzes Schleiertuch lag auf ihren dunklen Haarwellen, als sie kam und in das Sterbezimmer trat, wie aufgelöst in Liebe für den Scheidenden. Wir gingen alle aus der Stube, auch die Mutter, während Adele sich am Kopfende des Bettes niederließ. Sie sprachen gedämpft, einige Minuten vergingen, dann hörte man den Stuhl rücken.
Bleich und schön wie ein Engel des Todes glitt sie hinaus. Die Mutter trat wieder zu Olaf.
Sie liebt mich, sie hat mich geküßt, flüsterte er mit seligem Lächeln, wandte sich zur Seite und verschied.
Das Lächeln aber blieb auf seinem Angesicht stehen und wurde in den nächsten Stunden noch immer strahlender, als ob ein übermenschliches Glück ihn mehr und mehr durchdringe. Wir hatten sein Ende beschleunigt, aber den letzten Augenblick zum schönsten 68 seines Lebens gemacht, und die Mutter selber wünschte es nicht ungeschehen.
Es war ein rauher Herbsttag, verfrühte Flocken wirbelten durch die Luft, als wir unsern Olaf begruben. Der Zug, an dem sich die halbe Studentenschaft beteiligte, ging beim Läuten der Glocken die steile Neckarhalde herauf und gerade an dem Haus vorüber, wo seine Liebe wohnte. Adele stand im schwarzen Kleid unter der Tür und weinte heftig. Junge Mädchen sahen aus dem Fenster und warfen Blumen auf den Sarg.
In dem schönen stillen Totengarten, nicht weit vom Grabe Hölderlins, den er vor allen geliebt hatte, war sein Bett bereitet. Als der Geistliche geendet hatte, trat Gustav Borck, der den Arm noch in der Schlinge trug, ans offene Grab.
Olaf Hansen! begann er, –und dann noch einmal: Olaf Hansen! daß es uns durchlief. – Wir haben dich in unserer Mitte gehabt und können es nicht fassen, daß du von uns gegangen bist, denn es müßte immer einen Olaf Hansen geben, damit die Menschen an die Sonne und den Frühling glauben. Alles Schöne scheint wertlos geworden, seit wir es nicht mehr mit dir teilen, denn du selber warst das Schönste der Erde. In deiner Unschuld kanntest du dich selber nicht und wußtest nicht, welches Licht von dir ausstrahlte. Wir aber kannten dich, wenn wir auch nicht sein konnten wie du. Und ein Prüfstein warst du, denn nichts Unechtes, Gemeines konnte in deiner stillen Gegenwart bestehen. Dein reines Licht verzehrte alles Trübe. Ein niedriger Gedanke konnte nicht einmal zufällig durch deinen Geist huschen: er fand keine Tür, die ihn einließ. Aber du warst noch mehr als das, denn du hattest das Ohr des Dichters: wie den Wanderer um 69 Mittsommer durch die Felder ein leises Summen von unzähligen unsichtbaren Wesen begleitet, so ging mit dir auf Schritt und Tritt ein leiser Gesang, in dem alle Stimmen der Natur zusammenflossen. –
Olaf Hansen, weißt du, welches Wort Odin dem toten Balder ins Ohr raunte, als sie ihn aufs Scheitergerüst hoben? Wiederkehren! Olaf Hansen, der Schnee fällt auf dein Grab. Wenn der Frühling kommt, werden wir dich in jeder Blüte grüßen. Toter Olaf, kehre wieder!
Am Abend saßen wir wie sonst im Stübchen beisammen, wo Adele mit verweinten Augen in tiefem Schwarz ihren Dienst versah. Niemand sprach ein Wort, bis Gustav eintrat. Da hob Kuno Schütte sein blasses Gesicht aus den Händen, seine Augen waren wie rotglühende Kohlen.
Wie meintest du das mit dem Wiederkehren, Borck?
Frage nicht, war die unwirsche Antwort. Es sprach aus mir heraus.
Mir schien es, als spreche Borck so, weil er nicht daran erinnert sein wollte, daß er von der Rührung übermannt worden war. Aber der andere faßte es augenscheinlich im mystischen Sinne.
Es sprach aus dir heraus! sagte er mit Ehrfurcht.
Es war eine schöne stille Totenfeier, die wir an jenem Abend begingen. Olafs Geist war unter uns, alle sahen wir ihn jetzt so, wie Gustav Borck ihn mit wenigen Strichen gezeichnet hatte, ein Jeder wußte irgendeinen bedeutsamen Zug von ihm zu erzählen. Sein Wesen, nicht mehr von der Beleuchtung des Augenblicks abhängig, war auf einmal in die feste Form geronnen, in der es 70 uns alle durchs Leben begleiten sollte. Gustav fand aber auch das abschließende Wort.
Wir haben die lebendige Poesie, die unter uns wandelte, verloren, sagte er aufbrechend, wir müssen eilen, die Welt mit neuen Wunschbildern zu bevölkern.
*
Die juristische Prüfung war mit Glanz bestanden, aber von der Trilogie war auf einmal nicht mehr die Rede. Dagegen wurde ihm von anderer Seite eine angenehme Überraschung zuteil: sein Lustspiel war von der Stuttgarter Hofbühne zur Aufführung angenommen und sollte gleich zu Anfang des Winters die Lampen sehen. Die Proben waren schon im Gang und er fuhr jetzt des öfteren nach der Hauptstadt hinüber. Doch nahm er dieses Glück ziemlich gelassen auf und zeigte keine Spur von Unruhe über den Ausgang.
Es kann nicht schlecht gehen, äußerte er, da Selma Hanusch die Hauptrolle spielt; das Stück ist eigens für sie geschrieben in meinem ersten hiesigen Semester, als ich anfing um die Bühne zu werben, und sie hat sich auch persönlich dafür eingesetzt.
Selma Hanusch war die gefeierte jugendliche Liebhaberin, der Abgott der damaligen Theatergäste, ein bildschönes Wiener Kind. Wenn sie in einer ihrer Glanzrollen auftrat, so gab es einen Einbruch der studierenden Jugend in der Hauptstadt, wobei man dann meistens, um Geld zu sparen, durch den Schönbuch zu Fuß nach Stuttgart wanderte. Eine reizendere Minna von Barnhelm habe ich nie gesehen. Nur das Heroische lag ihr nicht, selbst die Thekla gab sie als Naive, nebenbei gesagt, die einzige wirklich lebenswahre 71 Thekla, die ich je gesehen habe, wenn auch gewiß nicht die Thekla, wie Schiller sie gedacht hat.
Kuno Schütte und ich durften ihn mehrmals auf die Proben begleiten, was eine ganz neue Strömung in unser Leben brachte.
Dem Lustspiel selber konnte ich nicht viel Geschmack abgewinnen; wenn auch die Handlung gut erfunden war, so schien mir doch der Ton mehr geschraubt als witzig; die heitere Muse war unserem Dichter überhaupt nicht hold. Aber Selma Hanusch entfaltete in der Hauptrolle eine so entzückende Munterkeit, daß man die Mängel des Stücks vergaß, und daß auch die andern Gestalten durch sie verlebendigt wurden. Die erste Aufführung, zu der die Freunde vollzählig erschienen, war denn auch ein Sieg, in den sich eine heimliche Niederlage verkleidete, denn nur Selma hatte das Stück durchgerissen, das über die üblichen drei Vorstellungen nicht hinauskam.
Der Verfasser nahm sich die Schlappe nicht zu Herzen.
Ich sagte dir ja gleich, äußerte er gegen mich, daß das Stück nichts taugt, weil mein bestes Herzblut der Cherusker trank.
Schon während der Proben waren mir besondere Blicke aufgefallen, die zwischen der jungen Künstlerin und dem Dichter hin und her gingen. Als die beiden schönen Gestalten nach dem letzten Akt auf die Bühne traten, um für den Beifall zu danken, wurde mir's zur inneren Gewißheit, daß ich ein verbundenes Paar vor mir sah. Die Natur hatte gesiegt, der Frauenverächter war ein Mensch geworden wie andere.
Am späten Abend hielten wir zu Dreien noch eine kleine Nachfeier, und bei dieser Gelegenheit wurde ich in die Verlobung eingeweiht. Gustav wollte mit der Heirat warten, bis er seinen 72 Dr. jur. gemacht und damit vor Verwandten und Gönnern sein Wort eingelöst hätte. Dann dachte er, sich neben Selma, die natürlich am Theater bleiben sollte, seine Stellung als Bühnendichter zu begründen.
Aber als er für ein paar Minuten weggerufen wurde, wandte sich Selma, die ganz in ihr Glück aufgelöst war, mit bittendem Gesicht an mich:
Sagen Sie ihm, daß er mich bald heiraten soll. Gleich! Wozu noch kostbare Jahre der Juristerei opfern, bei der er doch nicht bleiben will? Ich habe eine große Wohnung, wo für beide Raum ist, und ich werde ihn in nichts stören. Der Mann schreibt die Rollen, die Frau spielt sie. Und die Nähe des Theaters wird ihn viel rascher vorwärtsbringen, als die einsame Studierlampe im Türmchen über dem Neckar.
Es kam allerliebst mit leisem Wiener Anklang aus dem Munde des verwöhnten jungen Wesens, dieses verliebte Drängen, und überzeugend klang es auch; ich mochte mich aber doch nicht in so kitzliche Dinge mischen. Allein es war leicht zu sehen, daß Selma nicht ruhen würde, bis sie ihren Willen erzwungen hatte. Sie zeigte sich, wo sie nur konnte, an seiner Seite und setzte geflissentlich alle Zungen in Bewegung, um ihn zu einem rascheren Entschluß zu nötigen. Im ganzen Lande sprach man von der Wahl der gefeierten Künstlerin. Er brachte auch schon die meiste Zeit bei ihr in Stuttgart zu. Als er einmal ganze acht Tage zu Hause und bei der Arbeit blieb, kam sie selbst im Schlitten herübergefahren und versetzte mit der Pracht ihres Pelzwerks und dem reizenden Gesicht, das daraus hervorsah, das kleine Städtchen, das solchen Glanz noch nicht kannte, in wahren Aufruhr.
73 Grenzenlos war der Neid, den Gustavs Glück erregte.
Soll denn Einer alles habend sagte Heinrich Sommer voll Ingrimm, als er die Beiden am Gasthofstisch beisammen sitzen sah. Denn Gustav weigerte sich aus Ritterlichkeit, die schöne Braut auf sein Turmzimmerchen zu führen, wonach sie heftig verlangte.
Nur Kuno Schütte war aus entgegengesetzten Gründen außer sich über die Verlobung, die er Gustavs Abfall von seinem Genius nannte.
Diese Ehe wird sein Unglück werden, sie ist gegen seine Bestimmung, sagte er, und als ich erwiderte, daß sie vielmehr seiner Bestimmung entgegenkomme, weil sie für ihn der kürzeste Weg zur Bühne sei, erwiderte er düster:
Nein, nein, ich weiß es anders.
Fanatisch besorgt, wie er war für des Freundes Wohl, verlangte er von mir, ich sollte Gustav von der Verbindung mit Selma abraten, und da ich die Zumutung ablehnte, sagte er:
So bleibt mir nichts übrig, als selber mit ihm zu reden. Ich bin bestellt ihn zu warnen, aber es geschähe schonender durch dich.
Auf meine Frage, woher er denn das Recht ableite, sich gewaltsam in das Schicksal eines Freundes einzudrängen, antwortete er, es gebe besondere Fälle, die jede Unzartheit rechtfertigten, ja geböten.
Weißt du, was es ist, sagte er, das dich plötzlich mit unwiderstehlicher Gewalt zu einem Menschen zieht und dich für immer an ihn fesselt? Er hat dir vielleicht vor unvordenklichen Zeiten – sind's Jahrtausende, sind's Jahrmillionen? – einen 74 ungeheuren Dienst geleistet, den du jetzt vergelten sollst, auch gegen seinen Willen. Du fühlst, daß du mußt, und fragst nicht weiter. So diene ich Gustav Borck und kann nicht anders. – Auch Gustav Borck hat solche Erinnerungen, von denen er nichts weiß. Warum schlug er sich für Olaf Hansen? Warum hieß er ihn wiederkehren? Denkst du noch an dieses Wort »Wiederkehren«, und wie es mich durchrieselte? Es sprach aus ihm heraus, er selber wußte es nicht.
Der seltsame Mensch ließ sich auch wirklich nicht abhalten und bestürmte den Freund, seine Verlobung rückgängig zu machen.
Die Kleinen mögen eilen sich ein kleines Glück zu schmieden, sagte er. Aber wer Großes will, muß einsam sein. Nur wenn du allein bist, gehörst du dir selbst und der Gottheit, der du dienen sollst.
Es scheint auch, daß seine Worte an eine zugängliche Stelle in Gustavs Gemüt rührten. Aber er war zu verliebt, und Selma zog zu stark, um ihn schwankend werden zu lassen.
Olafs Tod und Gustavs Verlobung hatten unsern schönen Kreis zersprengt. Es gab keine Sitzungen mehr bei Molfetta. Wenn ich ab und zu noch einmal aus alter Gewohnheit abends im Anrichtstübchen eintrat, fand ich nur Heinrich Sommer, der jetzt an Olafs Stelle Adele mit sehnsüchtigen Blicken ansah, was sich zu seinem groben blatternarbigen Gesicht recht komisch ausnahm. Adele aber achtete so wenig auf ihn, wie sie einst auf Olaf geachtet hatte. Sie ging jetzt immer ganz schwarz und hatte tiefumränderte Augen, in deren Blick etwas seltsam Starres lag. An ihren freien Tagen machte sie lange einsame Spaziergänge; man sah sie oft auf dem oberen Neckarsteg stehen und mit verschränkten 75 Armen unverwandt ins Wasser blicken. Ich glaubte, daß sie so tief um Olaf traure, denn sie trug sein Bild in einer goldenen Kapsel um den Hals und trieb einen reuigen Kult mit seinem Andenken. Nach Gustav schien sie nicht mehr zu fragen, er setzte auch niemals wieder den Fuß ins Haus.
Als das Eis ging und die Frühjahrsgewitter kamen, trat plötzlich der Neckar aus seinen Ufern und überschwemmte weithin die flache Gegend zu seiner Rechten mit gelbbraunen Wassermassen, denen die sonst beinahe trockene Steinlach gewaltigen Zuwachs aus dem Gebirge brachte. Die dreifache Reihe der Baumstraßen ragte nur mit den kahlen Spitzen aus der Überschwemmung, auch der ferner gelegene Bahnhof stand tief im Wasser. Der hölzerne Steg war über Nacht eingebrochen, und die ehrwürdige Neckarbrücke wurde der Sicherheit wegen für den Verkehr abgesperrt, denn der tollgewordene Fluß brachte mächtige Tannenstämme mit, die er unterwegs einem unglücklichen Floß entrissen hatte, und berannte mit diesen die Brückenpfeiler. Während zweier Tage konnte man gar nicht zum Bahnhof gelangen, das Wasser hielt uns eingeschlossen wie ein Belagerungsheer. Aber es war ein großartiger Anblick, besonders von Gustavs vorgeschobenem Türmchen aus, gegen das die Wellen Sturm liefen.
Mit einemmal stand Kuno Schütte im Zimmer.
Wißt ihr, daß Adele verschwunden ist?
Gustav erblaßte auffallend.
Sie soll sich gestern abend spät entfernt haben, um dem Steigen des Wassers zuzusehen, und ist nicht mehr nach Hause gekommen. Die Ihren fürchten, daß sie mit dem Steg eingebrochen sei.
Die ganze Einwohnerschaft geriet in Bewegung, die Studenten 76 voran, und man suchte mehrere Tage lang vergeblich die Ufer des schon wieder gefallenen Neckars ab. Erst, als die Wasser sich ganz verlaufen hatten, zog man sie bei Wannweil aus dem Rechen einer Mühle. Wir bestatteten sie zur Ruhe, nur wenige Schritte von Olafs Grab. Ihr Tod, der mit dem Einsturz des Steges in Verbindung gebracht wurde, galt für einen Unglücksfall. Gustav aber schien etwas anderes zu denken, es trieb ihn um wie ein böses Gewissen, daß er sein Stübchen kündigte und die Stadt verließ.
Später erfuhr ich durch Selma, die ihr eine herzliche Teilnahme widmete, das unglückliche Mädchen habe sich nach dem Duell in fesselloser Leidenschaft in Gustavs Arme stürzen wollen und sei von ihm, der keine Bindung wollte, herb zurückgewiesen worden. Sie fürchteten beide, daß sie durch Scham und Kummer in den Tod getrieben worden sei. Andere meinten, eine verspätete Liebe zu Olaf Hansen sei der Grund ihres Trübsinns gewesen. Die Wahrheit hat man nie erfahren, sie ruht mit ihr unter dem südlichen Myrtenbäumchen, das die dankbaren Gäste des Molfetta auf ihren Hügel pflanzten.
Nach Gustav Borcks Wegzug war auch meines Bleibens nicht mehr in Tübingen. Es zog mich nach Basel, wo damals Jakob Burckhardt lehrte.
Gustav gab dem Drängen Selmas nach, hing die Jurisprudenz an den Nagel und heiratete, was nun auch den äußeren Bruch mit seiner Familie nach sich zog. Im Sommer traf ich mit dem jungen Paar am Vierwaldstätter See zusammen, wo sie die Theaterferien verbrachten.
Ein Los der Götter schien den zwei Jungen, Schönen, 77 Zukunftsreichen bereitet. Die Künstlerin, jetzt Frau Hanusch-Borck – nach dem letzten Zerwürfnis mit den Seinigen hatte der Dichter den bürgerlichen Decknamen angenommen, unter dem ich ihn eingeführt habe – strahlte von Glück und Liebe. Üppig blühend, doch mit schlanken Hüften, im blaßblauen Sommerkleid und bauschendem Reifrock, denn die Mode stand damals noch im Zeichen der Kaiserin Eugenie, so kam sie mir an der Dampfschifflände in Luzern entgegen. Ihr Haar war von dem Gelb des reifen Gerstenfeldes, und sie trug es wie einen Ährenkranz um das Haupt geflochten, dazu die dunkelblauen Kornblumen auf dem Florentiner Strohhut und der mohnrote Sonnenschirm, der mit seinem durchfallende Schein ihr Gesicht verklärte; eine jugendliche Ceres!
Gustav sah noch männlich schöner aus als früher im Hochgefühl seines aufgehenden Dichterruhms. Der Winter hatte ihm die erste ausgereifte Frucht getragen, ein bürgerliches Drama, dessen Hauptrolle abermals seiner Gattin auf den Leib geschrieben war. Es hatte darum bei der ersten Aufführung einen stürmischen Erfolg gehabt und sich den ganzen Sommer über auf dem Spielplan halten können; nur es auf auswärtige Bühnen zu bringen, mißlang, weil eben die Darstellerin fehlte, die ihm erst das rechte Leben gab. Dankbar erkannte er an, was er seiner Frau schuldete, und schrieb ihr sogar den Löwenanteil an seinem Erfolge zu, denn das Glück machte ihn immer gut und bescheiden. Mit mitleidigem Lächeln dachte ich an Kuno Schüttes Unglücksprophezeiungen. Konnte man sich eine schönere Eheharmonie und ein höheres Künstlerglück denken? Der Mann dichtete, die Frau verkörperte seine Träume, und die Hörerschaft warf ihnen Kränze zu, die jedes mehr dem andern als sich selber gönnte. Auch brauchte er nicht 78 mehr ängstlich den Groschen zu sparen, denn Frau Selma bezog ein ansehnliches Gehalt, er selber nahm seine Gewinnanteile ein. Das war der höchste Stand, den Gustav Borcks Glücksstern äußerlich jemals erreichen sollte.
Nur nach der Trilogie wollte er nicht gefragt sein. Als ich von dem unvergeßlichen Eindruck jener ersten Szenen sprach und ihn an die Erfüllung des großen Versprechens mahnte, wurde er unruhig und gestand, daß er jetzt nicht zu so hohen Dingen gestimmt sei.
Selma, die fraulich sorgend ab und zu ging, blieb stehen und sagte vorwurfsvoll:
Wie? Eine Tragödie, von der ich nichts weiß?
Ich sagte ihr, daß sie den echten Gustav Borck noch gar nicht kenne, ehe sie seine »Norne« und den Eingang der»Varusschlacht« gelesen habe, und bat sie, dafür zu sorgen, daß er das Hauptwerk seines Lebens nicht versäume.
Aber Gustav wehrte ab und sagte ihr:
Laß das. Ich kann jetzt nichts dichten, was sich nicht auf dich bezieht. Du bist keine Thusnelda.
Die Schauspielerin streichelte ihn zärtlich ohne Ahnung von der gefährlichen Tragweite dieses Wortes. Eine Thusnelda war sie freilich nicht. Man konnte sie sich in keiner Rolle denken, deren Inhalt über die Liebe hinausging. Der Hauch der sinnlichen Leidenschaft erfüllte ihren ganzen Luftkreis wie schwerer Duft der Orangenblüte, dessen berauschender Wirkung man sich nicht entziehen konnte. Man wäre am liebsten gleich hingegangen, um selber zu heiraten, wenn man diese glücklich Liebenden sah.
So besaß nun Gustav, was er nie gesucht und woran er nicht 79 geglaubt hatte: die Frau, die nicht bloß den schönen Mann, sondern ebenso den Dichter in ihm liebte. Frau Selma war seine Hörerschaft, seine anbetende Gemeinde; sie lag vor allem, was er schrieb, auf den Knien, und ich mußte mich oft leise fragen, wie lange wohl ein Sterblicher solche Vergötterung ohne Schaden ertragen könne. Er hatte zwar den guten Geschmack, ihr die allzu theatermäßige Sprache, wenn sie ihn etwa ins Gesicht ihren Dichterfürsten nannte, zu verweisen, er sagte dann wohl auch, sein Fürstentum müsse erst erobert werden, aber schon war er unduldsamer gegen Widerspruch geworden und behandelte alles, was sich nicht auf ihn selbst und sein Schaffen bezog, mit noch größerer Gleichgültigkeit als früher.
Hätte die Frau ihn nur etwas weniger geliebt oder mehr Zurückhaltung besessen, es wäre für beide Teile besser gewesen. Wenn sie bei Tische ein ernsthaftes Gespräch mit ihrem stets wiederholten: »Liebst du mich?« unterbrach, so hätte ich ihre zu ihm hinübergestreckte Hand fassen und zurückziehen mögen, weil er nur zerstreut damit tändelte oder sie mit flüchtigem Drucke von sich schob.
Des Morgens, während Gustav arbeitete, ging ich mit Selma am Seeufer spazieren, sie trug mir Stellen aus seinem neuen Drama vor und ließ mich versprechen, daß ich nächstens einer Vorstellung in Stuttgart beiwohnen und darüber an amerikanische Zeitungen berichten würde. All ihr Denken und Wollen drehte sich in steter Bewegung um den einen Angelpunkt: ihren Gustav.
Ich liebe ihn ja so grenzenlos, so grenzenlos, rief sie einmal übers andere. Wenn ich fühlte, daß ich ihm zur Last würde oder 80 wenn ihm mein Tod etwas nützen könnte, augenblicklich stürbe ich.
Wenn er von ihr redete, so war der Ton auch ein zärtlicher, aber er klang doch völlig anders:
Das gute Weibchen, hieß es da. Je näher man sie kennt, desto mehr muß man sie schätzen. Sie ist ja ein Theaterkind und hat keine andere Bildung als die Rollen ihres Fachs, aber sie läßt sich so gern belehren.
Er trieb es jedoch etwas weit mit dem Belehren und Hofmeistern, und es war nicht immer ganz zartfühlend, wie er sie in meiner Gegenwart darauf aufmerksam machte, daß das betonte Sprechen und das bewußte Gebärdenspiel, das ihr von der Bühne her anhaftete, im täglichen Leben störend wirkte. Ich wunderte mich über die gute Laune und Geduld, mit der sie die Zurechtweisungen ihres gestrengen Herrn und Liebhabers hinnahm.
Am letzten Abend fuhren wir zusammen über den See. Der Mond war voll, der Himmel hoch und sternenlos, ein eigener Zauber spann über den Wassern, die wir stille durchglitten, denn das Mondlicht verwandelte See und Ufer in eine fremde Feenlandschaft, in die Axenstein und Rotstock vergeistert hereinblickten. Ich ruderte und tauschte halblaute Reden mit der jungen Frau, die mir an diesem Abend von einer wogenden Unruhe beherrscht schien, sei's, daß zwischen ihr und Gustav etwas vorgefallen war, sei's, daß sein Verhalten sie ängstete. Denn er lag der Länge nach auf der Bootsbank ausgestreckt, die Augen emporgerichtet, und bewegte die Lippen, ohne auf unser Gespräch im mindesten zu achten. Redete sie ihn an, so machte er eine abweisende Kopfbewegung. Dann begann er vor sich hinzusprechen:
81 Musik und Rhythmus ist alles. Form und Farben zerfließen. Die Erde ist nicht und war nicht. Das Leben löst sich in Klang.
Wir schwammen jetzt in dem breiten Flimmerstreifen, den der Mond über das Wasser zog. Ich legte die Ruder bei und ließ das Boot schaukeln, ganz dem Zauber hingegeben, der von oben niedertroff. Gustav fuhr fort in seinem halbsingenden Tone zu sprechen:
Wir fahren nach Traumland. Legt die Ruder nur bei, das Schifflein findet schaukelnd den Weg.
Gustav! rief Selma und beugte sich über ihn.
Gewappnete Riesen walten des Eingangs. Ihre Schilde rasseln, sie neigen sich uns. Weiße Schleier wallen grüßend, weiße sternendurchwebte Schleier, fremde, sternengeborene Töne fallen herunter. Und Musik ist alles.
Sie wollte ihn rütteln, ich faßte ihre Hand und bat: Lassen Sie ihn.
Still, gleich wird es geschehen, hörte man ihn geheimnisvoll sagen. Gleich, gleich jetzt, das Wunder ist nahe.
Gustav! sagte sie ganz laut, was tätest du, wenn ich ins Wasser spränge?
Er richtete sich halb auf und sagte noch immer in seinem verträumten Ton:
Ich ließe dich sinken und sänge weiter. Dem Leid entblühte das schönste Lied.
Würde das dich glücklich machen, Gustav? fragte die leidenschaftliche Frau.
Gesang ist Glück, es gibt kein anderes. Schön ist das Leben, schön ist die Liebe, doch der schönste Sang ist der Sang vom Tod. So stirb, Geliebte, daß ich ihn singe.
82 Noch hatte er nicht ausgesprochen, so lag Selma im Wasser, das hoch aufrauschte.
Ich dachte: Träume ich das oder sind wir alle drei wahnsinnig? – denn einen Augenblick sah ich sie mitten in ihren gebauschten Röcken auf der Flut sitzen wie eine Wasserlilie in ihrem Blattwerk. Dann versank sie.
Ich hatte schon die Ruder fahren lassen und sprang ihr nach. Neben mir tauchte Gustav unter. Wir zogen sie herauf, aber sie hatte Wasser eingeatmet und schien am Ersticken, denn sie gab schreckliche, keuchende Töne von sich und schlug mit den Armen, daß wir sie kaum halten konnten.
Gustav klammerte sich mit ihr an die Bootswand, ich schwang mich über Bord und half von innen nach, so brachten wir sie glücklich ins Trockene. Ich ruderte aus allen Kräften zurück, während er die Besinnungslose rieb und klopfte und sich verzweifelt um sie bemühte. Die Atmung hatte sich zwar von selbst wiederhergestellt, aber die Frau lag todesblaß und regungslos mit geschlossenen Augen auf der Bank ausgestreckt, wo kurz zuvor Gustav in seinen Träumereien gelegen hatte.
Dieser war wie verwandelt.
Stirb nicht, Selma, stirb nicht, flehte er geängstet.
So trugen wir beiden Triefenden die Triefende in den Gasthof zurück. Ein Arzt wurde gerufen, man entkleidete sie, wärmte sie und brachte sie zu Bette. Gustav war in solcher Aufregung, daß ich im Nebenzimmer, das sein Arbeitsraum war, die halbe Nacht mit ihm verbringen mußte, um ihn zu trösten, während er angstvoll auf und ab ging, sich selbst mit Anklagen überhäufend.
83 Ich mache sie unglücklich. Aber ich kann es nicht ändern. Ich hätte nicht heiraten dürfen, Kuno Schütte hat es mir vorausgesagt. Ich kann ihn ja nicht abwerfen, den Zwang meines Despoten. Wie soll je ein Weib sicher an meiner Brust ruhen? Ich bin ein schlechter Sohn, ein schlechter Gatte, ein schlechter Staatsbürger, denn alles Leben hat für mich nur Wert, soweit es sich in Dichtung verwandeln läßt. Ich habe Stunden, wo ich dem Nero nachfühlen kann, wie er Rom in Brand steckt, um die Flammen von Troja zu singen. Ich kann zum Unhold werden. Aber sie wußte es ja. Sie hätte mich nicht nehmen dürfen.
Schließlich bist du doch für solche Überspanntheiten nicht verantwortlich, entgegnete ich trocken, denn ich hatte mich über Selmas Unverstand herzlich geärgert.
Oh, du weißt nicht, welch grausame Worte ich oft zu ihr gesprochen habe, war seine Antwort. Das arme Weib! Sie liebt mich zu sehr. Es tut nicht gut.
So sich anklagend und sein Inneres unbarmherzig bloßlegend, wühlte er rastlos umher, bis er sich überzeugte, daß die Kranke nebenan gesund und ruhig schlummerte. Da legte er plötzlich am Tischchen, wo ich saß, den Kopf auf die Arme und entschlief gleichfalls.
Als ich mich am Vormittag verabschiedete, lag Selma blaß, aber glückselig lächelnd in dem tiefen Lehnstuhl. Eine Aussprache zwischen den Gatten mußte vorangegangen sein, denn beide hatten verweinte Augen und waren zärtlicher als je zusammen.
Ich bin so glücklich, sagte sie, als Gustav sich auf einen Augenblick entfernte. – Es war eine harte Probe. Ich war schon gestorben, und Sterben ist fürchterlich. Aber ich weiß es jetzt sicher, 84 daß er mich liebt. Ich will ihm ja gewiß nie wieder einen solchen Schrecken verursachen. Und sehen Sie, auch mein Talisman ist unbeschädigt aus dem Bade gekommen.
Sie meinte Gustavs Kinderbild und ein Löcklein seines hellen Kinderhaars, das heimliche Geschenk seiner Mutter, das sie zur Hochzeit von dieser erhalten hatte. Es war das einzige freundliche Zeichen, das ihr von seiner Familie zuteil wurde, denn aus Vorurteil gegen die Schauspielerin schrieben sie ihr auch die Schuld an seinem zweiten Berufswechsel zu und hatten jeden Verkehr von vornherein abgelehnt. Um so höher schätzte sie dieses Angebinde; es war ihr das Teuerste, was sie besaß, und sie trug es an dem dünnen, goldenen Kettlein in der goldenen Kapsel, wie sie es erhalten hatte, unter dem Kleide auf der Brust.
Im Frühjahr rief mich eine Familienangelegenheit nach Amerika zurück, aber ich wollte Europa nicht verlassen, ohne mein den Freunden gegebenes Versprechen wahrzumachen und sie in ihrem jungen Heim in Stuttgart zu besuchen. Ich kam von einer Fußwanderung im Hegau her und stieg zuerst in der alten Universitätsstadt aus. Dort fand ich nur noch Kuno Schütte, der eben dabei war, seinen philosophischen Doktor zu machen. Alle die lieben Orte suchten wir noch einmal zusammen auf und schmückten auch die Gräber Olafs und Adelens.
Als ich aber das Endziel meiner Reise nannte, verfinsterte sich Kunos Gesicht; er war noch immer nicht mit des Freundes Heirat ausgesöhnt.
Der Dichter muß ein blinder Bettler sein, der nichts besitzt als seine Lieder, sagte er. Dann ist er allmächtig, dann wird er unsterblich. Ein wohlgepflegter, gehätschelter Ehemann, der zwischen 85 zwei Mahlzeiten behaglich seine Dramen schreibt, ist kein Dichter mehr. Was hat er denn geschaffen, seit er die Ehre hat, Frau Selma Hanusch-Borcks Gatte zu heißen? Ich habe sein jüngstes Stück gesehen – das hätte ein Anderer auch gekonnt! Sind das Aufgaben für einen Gustav Borck? Man spürt noch die Löwenklaue, ja, aber wo bleibt der Löwe?
Er wird wiederkommen, wenn der erste Rausch verflogen ist, tröstete ich.
Den Teufel wird er! war die unwirsche Antwort. Dieses Stuttgart ist sein Kapua. Was stellt sich Selma unter einer vollkommenen Ehe vor? Den Mann entwaffnen, ihm die Simsonslocken abschneiden, daß er über dem Tändelspiel sein Werk vergißt. Um ihm die Freunde zu entfremden, schmeichelt sie ihm, bis er sich für den Mittelpunkt des Erdkreises ansieht und keinen Umgang mehr erträgt, der diese Tonart nicht aufnimmt. Ich sah es ja kommen. Täglich trinkt er aus dem vergifteten Becher und merkt es nicht. Selbst die unglückliche, schmachtende Adele wäre eine bessere Frau für ihn gewesen.
Der arme Kuno fängt an zu verknöchern, dachte ich. Und natürlich fand ich seine Schwarzseherei wieder sehr übertrieben. Auch sonst war er mir unheimlich geworden. Studium und Abtötung hatten ihn in der Zwischenzeit noch mehr ausgezehrt und das Geisterhafte seines Gesichts trat stärker hervor.
Ich weiß jetzt, wofür ich in seiner Schuld bin, teilte er mir geheimnisvoll mit, aber ich darf es nicht sagen.
Ich wollte es gar nicht wissen, denn ich fühlte immer, wie mein Kopf ins Wanken kam, wenn Kuno Schütte von übersinnlichen Dingen sprach. Ich hielt mir selber auch gern eine Tür ins 86 Unbekannte offen, aber seine Gewißheit dem Unwißbaren gegenüber erfüllte mich mit Grauen.
In einer grünen Vorstadt hatte Gustav sich den reizendsten Dichterwinkel geschaffen, wo die gute Selma der doppelten Aufgabe oblag, ihre Kunst weiterzubilden und dem Gatten eine angenehme Häuslichkeit zu bereiten. Durch abgetönte, leise Farben und gedämpftes Licht, durch Teppiche und Vorhänge waren seine Arbeitsräume zu Stille und Schaffensseligkeit gestimmt; eine Menge kleiner Bequemlichkeiten sollte die Arbeit erleichtern. Dieses Studierzimmer war Gustavs eigenstes Werk, denn Selma hatte keinen entwickelten Geschmack, wie die von ihr bewohnten, mit lauter Flitter behängten Zimmer bewiesen. Dagegen war sie mit fraulicher Sorgfalt beflissen, dem Geliebten jede Störung fernzuhalten; kein Mäuschen durfte sich rühren, während er arbeitete. Die gefeierte Schauspielerin, die vor der Öffentlichkeit in dieser Ehe die Hauptperson war, trat im Hause so gänzlich vor den Bedürfnissen und Gewohnheiten des Mannes in den Hintergrund, wie man es kaum von der unbedeutendsten aller Frauen hätte erwarten können. Es war ein freiwilliges Liebesopfer, das er als etwas Selbstverständliches hinnahm. Wer die Umstände nicht kannte, hätte nie vermuten können, daß die Frau es war, die die Mittel zu dem sorgenlosen Dasein schaffte. Im Hause verkehrten nur Freunde und Bekannte des Mannes; mit ihren Kunstgenossen pflegte sie außerhalb der Bühne keinen Umgang. Es war geradezu, als ob sie ihren Stolz darein setzte, die Künstlerin ganz hinter der liebenden Frau verschwinden zu lassen.
Damals lernte ich einen gewissen Dr. Berka, einen Buchmenschen kennen, der Borck wie sein Schatten begleitete. Was sein 87 eigentlicher Beruf war, habe ich nicht erfahren; im Hause hatte er die Aufgabe, die Brosamen aufzulesen, die vom Tische des Reichen fielen. »Unsern Eckermann« nannte ihn Selma, die glücklich war, daß ihr Mann einen so ergebenen Bewunderer gefunden hatte.
Selten hat mir ein Mensch auf den ersten Blick mißfallen wie dieser Berka. Er war von kleiner, unansehnlicher Gestalt, mit übergroßem Kopf und fahlem Gesicht, über das es fortwährend wie Ameisenkribbeln lief. Der Aussprache nach mußte er irgendwo an der polnischen Grenze zu Hause sein. Augenscheinlich war er sehr belesen und besaß ein ungewöhnliches Gedächtnis für anderer Leute Gedanken, die er jeden Augenblick mit überraschender Schlagfertigkeit ins Feld führen konnte.
Er ist ganz Hirn, sagte Gustav von ihm, er hat weder Sinne noch Seele, alles nimmt bei ihm den Weg über das Denken. Dafür ist es aber auch in seinem Kopfe so hell, wie in keinem andern Menschenkopf, den ich kenne, und diese Naturerscheinung beschäftigt mich immer aufs neue.
Da ich gewohnt war, mein Urteil dem Urteil Gustavs unterzuordnen, nahm ich mir vor, den unerfreulichen Gesellen unter allen Umständen erträglich zu finden.
Am zweiten Abend sollte Selma in einem neu eingeübten französischen Stück auftreten. Gleichwohl hatte sie darauf bestanden, ich müsse auch diesen Mittag ihr Gast sein. Aber sie litt an unerträglichem Lampenfieber und konnte nicht ruhig auf dem Stuhle sitzen, deshalb zogen wir beiden Männer nach der Mahlzeit uns gleich in Gustavs Arbeitszimmer zurück, wohin uns der Kaffee nachgebracht wurde. Selma in einem gelbseidenen Hausgewand von orientalischem Schnitt, die schönen Haare einfach 88 aufgewunden – wenn sie abends spielte, blieb sie den ganzen Tag im Morgenrock –, ging in ihrer Unruhe rastlos aus und ein. Bald setzte sie sich ganz nahe zu uns, wie wenn hier Schutz vor der Aufregung zu finden wäre, bald sprang sie jählings auf und eilte hinaus, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. Ich begann mich mit ihr und für sie zu ängsten, da ich dachte, sie fühle sich vielleicht in ihrer Rolle nicht sicher, Gustav aber saß mit übergeschlagenen Beinen und rauchte gelassen.
Sei ganz ruhig um ihretwillen, sagte er. Es ist das beste, du gibst auf ihren Zustand gar nicht acht. Ich habe mich schon daran gewöhnt. Es ist jedesmal so, wenn sie auftritt. Das wächst jetzt von Stunde zu Stunde, und wenn heute abend der Wagen kommt, sie abzuholen, so wird es sein, als ob eine Todkranke weggeführt würde. Aber es dauert nur so lange, bis sie auf der Bühne steht. Beim ersten Wort, das sie spricht, fällt die Angst von ihr ab und sie ist völlig Herrin ihrer selbst. Das heißt: wenn ich nicht zugegen bin, denn meine Anwesenheit macht sie immer unsicher, ich begreife nicht, warum.
Ich hätte es ihm sagen können, es war das viele Hofmeistern und Bildenwollen, womit er die Arme um ihre Unbefangenheit brachte.
Das geht so weit, fuhr er fort, daß ich jedesmal zu Hause bleiben muß, wenn sie in einer neuen Rolle auftritt. Aber heute abend wollen wir sie Beide bewundern. Ich habe mir heimlich zwei ganz versteckte Logenplätze neben einer Säule verschafft, wo sie uns nicht vermutet. Sie darf keine Ahnung haben, daß wir da sind. Ich bin gewiß, sie wird hinreißend sein. Wir haben das Stück zusammen durchgenommen, ich finde es abgeschmackt, aber 89 ich muß zugeben, es »liegt« ihr. Ich werde nie ein Stück schreiben, das ihr so liegt wie dieser neue Sardou.
Es ging ganz so, wie Borck vorhergesagt hatte. Selma trat heraus, von einer freudigen Bewegung im Zuschauerraum begrüßt. Von ihrer Angst war ihr nichts mehr anzusehen, sie war strahlend schön und spielte mit einer inneren Wahrheit, die aus der öden Rührigkeit ihrer Rolle ein unmittelbares menschliches Fühlen machte, und steigender Beifall dankte ihr nach jedem Aktschluß. Wir beide waren in völliger Selbstvergessenheit hinter der Säule hervorgetreten, um besser zu sehen. Da stockte sie mitten im Spiel und sah einen Herzschlag lang wie angewurzelt zu uns herüber, sie war Gustavs ansichtig geworden. Um sie anzufeuern, machte er ganz leise die Gebärde des Händeklatschens, die wie ein Signal auf die Nebensitzenden wirkte, denn plötzlich erhob sich aus unserer Reihe ein Beifall, der von Galerie zu Galerie lief und am Ende alles mitriß, so daß gegen jede Gewohnheit der Schauspielerin mitten im Auftritt eine brausende Huldigung dargebracht wurde. Ihr guter Genius hatte es so gefügt, daß jenes Zusammenfahren und Erstarren gerade auf den Augenblick paßte und als ein Gipfelpunkt ihrer Kunst erschien. Nach dem Aktschluß wurde ihr ein mächtiger Lorbeerkranz mit flammendroten Bändern auf die Bühne gereicht.
Selig wandelte sie an jenem Abend an Gustavs Arm nach Hause, ich mußte noch helfen, ihren Triumph, der ihr erst durch seinen Beifall zu einem vollständigen geworden war, in Champagner zu feiern. Als die Gläser leer waren, ließ sie sich durch das Mädchen den schweren Lorbeerkranz hereinholen und zerpflückte ihn auf ihrem Schoß zu tausend Blättern. Diese schüttete sie dann, sich 90 plötzlich erhebend, aus den Falten ihres Kleides alle dem Manne zu Füßen und sagte, indem sie bei ihm niederkniete:
Der Lorbeer ist für den schaffenden Künstler, dessen Gebilde dauern. Ich kann nur nachgestalten, und was ich gebe, das ist im nächsten Augenblick nicht mehr. Deshalb verlange ich auch keinen Ruhm als den, sein Weib zu sein.
In ihren schönen Augen, die trunken waren vom Erfolge dieses Abends, glänzte die tiefere Wollust, so von ihrem Thron herabzusteigen und ihr Haupt auf die Knie des geliebten Mannes zu legen.
Was aber hatte seit seiner Heirat der Dichter geleistet? Wo waren die verheißenen Werke? Wo war vor allem die Trilogie, die ihn in die Reihe der großen Unsterblichen stellen sollte? War diese liebliche Stadt, die schöne Häuslichkeit mit Selma wirklich der Zaubergarten, wo die Amoretten den Geharnischten vom Rosse ziehen und ihm die Waffen verstecken? Fast wollte es mir so scheinen, wenn ich den Feuergeist, der noch vor kurzem flüssige Lava ausgeströmt hatte, neben dem reizenden Weibe sitzen sah, das ihm schmeichelnd diente. Nach dem »Befreier« wagte ich gar nicht mehr zu fragen, denn ich hatte gleich gemerkt, daß er hastig ablenkte, wenn das Gespräch nur in die Nähe dieses Gegenstandes kam. Zur Zeit war er damit beschäftigt, die letzte Hand an ein neues Schauspiel zu legen. Aber er sprach nicht davon mit der überschwenglichen Zuversicht wie einst im Hölderlinsturm von seinen Plänen, sondern es klang etwas Gepreßtes, fast Kleinlautes in seinen Worten durch, als ob er mit sich selber nicht im Einklang sei. Ehe er es der Intendanz einreichte, wollte er seine Wirkung im engen Kreise erproben, deshalb wurde einer der letzten 91 Abende meines Stuttgarter Aufenthalts für die Vorlesung bestimmt. Außer mir war auch der unvermeidliche Berka und ein anderer literarischer Hausfreund namens Ruhland geladen. Das Stück spielte zur Zeit der französischen Revolution auf einem Herrensitz in Südfrankreich; der wilde geschichtliche Hintergrund mit Sansculottenhaufen und brennenden Burgen gab ihm eine warme Tönung. Am Schlusse erschien unter Trommelwirbeln und den Klängen der Marseillaise ein junger Artillerieoffizier mit Namen Napoleon Bonaparte auf den Brettern als das menschgewordene Weltgeschick, was von starker, aber rein äußerlicher Wirkung war. Die Fabel des Ganzen wollte für mein Empfinden nicht so recht zusammenhalten. Der Schwerpunkt lag auf einer Frauengestalt, in der die völlige Selbstentäußerung der Liebe zum Ausdruck kommen sollte. Ruhland erhob Einwände, er fand das Liebesopfer der Heldin, einer Adligen, die sich einem Plebejer geschenkt hat und jetzt mit der alten feudalen Ordnung untergehen will, um dem Geliebten nicht im Wege zu sein, überspannt und unbegründet. Gustav verteidigte sich mit Feuer, von Berka unterstützt, und was er sagte, war bedeutender als alles was im Stücke stand. Selma hatte während der ganzen Vorlesung nach ihrer Gewohnheit auf einem Schemel am Boden gesessen und andächtig zugehört. Sie war augenscheinlich ganz mit dem Gedanken beschäftigt, wie sie die etwas blutleere Gestalt der Heldin zum vollen Leben bringen wolle. Als auch ich mich zu der Meinung Ruhlands bekannte, daß diese Gestalt keine innere Notwendigkeit habe, rief die Künstlerin: Sie hat! Sie hat!, sprang von ihrem Schemel auf, und dicht vor ihren Gatten tretend sprach sie mit hinreißendem Ausdruck die beanstandeten Worte: Geh' deinen sicheren 92 Weg zur Höhe. Wer bin ich, daß ich dich hemmen dürfte usw., bis der Verfasser sie entzückt in die Arme schloß, und wir anderen in lauten Beifall ausbrachen.
Aber als wir zusammen nach Hause gingen und ich meinem Gasthof zustrebte, fing Ruhland, sobald Dr. Berka in einer anderen Richtung abgeschwenkt war, über Gustav zu reden an.
Ich weiß, er trägt sich mit großen Plänen. Es ist Gefahr, daß er sich zu lange damit trägt und den rechten Augenblick versäumt. Drängen Sie ihn, ich tue es auch. Jetzt sucht er sich selbst herabzustimmen, sich anzupassen. Das soll er nicht, er soll seine Umwelt mit sich hinaufreißen. Dieses heutige Stück, ja das wäre ein ganz guter Wurf für einen Kleineren. Aber er denkt und fühlt eigentlich immer darüber hinaus. Wer weiß, ob nicht einer von den Dramenschreibern, die er nicht für voll nimmt, es besser gemacht hätte? Ein solcher hätte dem Stoff sein Bestes gegeben, und wenn das auch nicht viel wäre, so wäre es doch immer alles was er vermag, eine eingesetzte ganze Kraft. Daß Borck sich nicht völlig einsetzt für das, was er jetzt schreibt – mag es auch das Geschreibe der andren immer noch weit an Geist überragen –, das ist's, was der Hörer fühlt und was ihn kalt läßt gegen den Dichter, der selber nicht mit der Seele dabei ist. Ihm liegt nun einmal die mittlere Gattung nicht. Auch tragische Einzelschicksale geben ihm noch nicht den genügenden inneren Auftrieb. Ihn reizen nur Völkergegensätze, ja mehr als das: zusammenprallende Zeitalter. Ich habe Bruchstücke von einem Alexander, einem Konstantin, einem Montezuma in seinen Papieren gesehen. Das ist die rechte Lust für ihn. Vor allem aber seine große Trilogie. Mahnen Sie ihn, daß er die zu Ende führt. Wenn 93 man Gustav Borck ist, so soll man sich mit nichts Halbem begnügen.
Nach einigem Schweigen setzte er hinzu:
Es ist auch für das Glück dieser Ehe besser, wenn er sich zu einem großen Schlag zusammenrafft. Unser Freund Borck, wie ich ihn kenne, wird sich nicht lange bequemen, den Triumphwagen seiner Frau zu ziehen. Leistet er nicht bald etwas, wodurch er ihren Ruhm überstrahlt, wie der Jupiter da oben seine Nachbargestirne, so dürfen Sie sicher sein, daß er sich für all die Liebe und Anbetung, in die sie ihn einwickelt, noch grausam rächen wird.
Rächen für Liebe und Anbetung! sagte ich entsetzt.
Ach, bester Herr Ewers, war die Antwort, glauben Sie mir, es gibt kein Verbrechen, worauf eine härtere Strafe steht als auf diesen beiden.
Solche Reden, die mich an Kuno Schüttes böse Ahnungen erinnerten, gaben mir in der Stille zu denken.
Gustav war augenscheinlich sehr verliebt in seine Frau, noch mehr als in den ersten Zeiten ihrer Ehe. Man sah es an den trunkenen Mienen, mit denen er jeder Bewegung ihrer biegsamen Gestalt folgte, an den Blicken, die sie heimlich tauschten. Es herrschte eine tropische Lust um dieses glücklich genießende Paar, die den Eintretenden bis auf die Knochen sengte. Wenn ich des Abends aufbrach, schien es, als warteten sie nur den Augenblick des Alleinseins ab, um sich mit bacchantischem Jubel in die Arme zu stürzen. So war es in Luzern noch nicht gewesen, von seiner Seite nicht. Seitdem hatte die Leidenschaft ihn mächtiger hingerissen. Zugleich aber hatte sich auch der Zwiespalt in seiner Natur, der schon 94 damals vorhanden war, vertieft. Eine verhaltene Unruhe ließ ihn des gefundenen Glücks nicht innerlich froh werden. Es war, als ob er es nur mit schlechtem Gewissen genösse.
Er ist so reizbar, klagte mir Selma.
Ich kannte das ja von früher her, aber jetzt war es ein dauernder Zustand geworden. Oft ging es durch seine Reden wie ein Ton der Erbitterung gegen die Frau, die ihm diente, und man konnte sich sagen, daß dieser Ton unter vier Augen mitunter noch schärfer klingen mochte. Selma suchte sich auf heitere Weise damit abzufinden.
Ich möchte eine Preisfrage ausschreiben, sagte sie einmal. Warum sind Liebende so gehässig? Sagen Sie mir's, Unkas, wenn Sie es verstehen.
Ich fürchte, ich weiß zuwenig von der Liebe um mitzureden, antwortete ich. Als Siebzehnjähriger habe ich eine um sieben Jahre ältere Verwandte in ehrfürchtiger Anbetung geliebt und wurde von ihr ausgelacht. Dann verliebte ich mich in ihre zehn Jahre jüngere Schwester mit derselben ehrfürchtigen Anbetung und mit demselben Erfolg, und das gleiche Gefühl hatte ich jedesmal, wenn ich mich wieder verliebte. Ich begreife nicht, wie Liebe gehässig sein kann.
Laß ihn, er versteht nichts von der Liebe, sagte Gustav. Die amerikanischen Männer haben Fischblut. Die Liebe ist grausam und muß es sein. Quälen, Qualen erleiden, das ist ihre Wollust. Warum versengt Eros Psyches Flügel mit der Fackel? Warum verfolgt der wilde Jäger im Pinienwald von Ravenna ohne Rast die nackte Jungfrau und reißt ihr das Herz aus der Brust? Das ist Liebe.
95 Quäle mich, mein Eros, sagte sie, jage mich, wilder Jäger, ich will es nicht anders.
Die beiden Hausfreunde waren auch wieder anwesend und begegneten sich mit kühler Höflichkeit, aus der die gegenseitige Abneigung sprach.
Dieser Berka ist auch kein Glück für unsern Borck, sagte mir Ruhland offen, als wir uns allein fanden. Seine Art von Witz trocknet Herz und Leber aus, die Sonne verliert an Glanz, wenn er sie ansieht. Und haben Sie bemerkt, wie er unter dem Tisch heimlich ins Merkbuch schreibt? Die Reporterseele. Es ist für den Fall, daß Borck später ein berühmter Mann wird, um gleich mit Gustav-Borck-Erinnerungen aufzuwarten. An Borcks Stelle würde ich ihn an die Luft setzen. Aber ihm kommt die Schmarotzerpflanze gelegen, weil er den Abstand von ihm zu sich genießen kann. Es ist Zeit, daß eine Freundeshand ihn rüttelt und ihm die Ziele weist, die ihm zu entgleiten drohen. Und Sie, Herr Ewers, sind der Nächste dazu.
Ich versprach's. Aber als ich mich nur von weitem und mit Vorsicht der Frage näherte, da war es, als ob man ein übervolles Gefäß angestoßen hätte, und es brach aus dem Armen hervor wie ein lange angesammelter, unerträglich gewordener Schmerz!
Nicht ich verlasse meine Ziele, sagte er, sie verlassen mich! Seit meiner Heirat ist es so. Die glückliche Liebe verträgt sich nicht mit der Kunst, wenigstens nicht mit der tragischen. Wer stark sein will, der bleibe allein. Du fragtest mich einmal in Luzern: Was hast du deiner Frau vorzuwerfen? – Nichts, nichts, als daß sie mir die Götter vertrieben hat. Nein, nicht sie, die Arme, versteh' mich recht, nicht ihre Person, es ist die Ehe, das ständige 96 Zusammensein mit einem anderen Wesen, was die starken Gesichte nicht aufkommen läßt, die Gemeinsamkeit des Lebens. Aus meiner ärmlichen Studentenbude im Türmchen des irren Dichters, wo ich manchen Tag ohne Essen saß, da kamen die Götter zu mir. Hier in dem schönen Studierzimmer, das alle bewundern, fliegt mich nur das Geringwertige an.
Nichts Geringwertiges, beschwichtigte ich. Etwas Geringwertiges wirst du niemals machen. Nur ist es nicht das, was du selber von dir forderst.
Laß es gut sein, antwortete er. Es bedarf keiner Beschönigung. Meinst du, ich wüßte nicht, was unser allweiser Ruhland gestern abend über mich zu dir geredet hat, als ihr zusammen wegginget? Es ist mir, als wäre ich dabeigewesen. Und er hat ja recht, ganz recht. Das sind wahrhaftig keine Adlerflüge, was auch Freund Berka sagen mag. Es ist überhaupt kein Fliegen, nur ein Flattern mit gebundenen Schwingen. Aber was soll ich denn machen? Mit zusammengelegten Händen sitzen und warten, bis eine große Eingebung sich meiner bemächtigen will und mich unterdessen von meiner Frau ernähren lassen? So bin ich wenigstens ein fleißiger Arbeiter geworden. Ich sitze meine Stunden am Schreibtisch gewissenhaft ab wie ein Beamter und beschreibe unendliche Stöße von Papier. Davon wandert dann freilich die größere Hälfte in den Ofen und die andere – du hast es ja gesehen – die taugt auch nicht viel.
Es war der strahlendste Apriltag, wir gingen in den frischbelaubten Anlagen gegen Kannstatt hin. Durch die dichten Zweige der Kastanien fielen die Jubeltöne der Amsel herunter, die roten Blütenkerzen leuchteten, und hier verzweifelte einer, weil er zu glücklich war.
97 Wenn du wieder einmal die Blätter der Trilogie hervorholtest, warf ich ein, und dich in die Stimmung vom Hölderlinsturm zu versenken suchtest?
Er lachte bitter.
Wenn ich meine alten Blätter hervorhole, so sieht mich ein Stoß Papier mit schwarzen Buchstaben an. Das ist alles. Aber die Gesichte, die uns viere damals berauschten, wo sind die? Fort, fort, verflogen!
Er hatte den Hut abgenommen, um sich die gerötete Stirn zu lüften. Jetzt riß er auch den Hemdkragen auf, als ob er am Ersticken wäre.
Das kann doch nicht sein, sagte ich. Gehen sie ja mir, der ich nicht ihr Erzeuger bin, durchs Leben nach. Denke nur gleich an die Szene, wie Armin den Varus in Cheruska beglückwünscht.
Und ich begann aus dem Gedächtnis die Stelle, wie sie mir einfiel, ihm vorzusagen. Die zwei steinernen Rossebändiger mitten im Grünen, die aussahen wie ein nach Thuiskoland versetztes Stück Rom, gaben den rechten Hintergrund dazu, und als ich mit den Worten schloß:
Walhalla lächelt, weil Romas Götter unsre Gäste sind, – da stand er still und horchte, horchte noch lange fort wie auf das ferne Rauschen eines Wasserfalls.
Ja, sagte er endlich, so war es. Wenn ich den Faden wiederfinden könnte.
Ei was, rief ich, du mußt ihn finden! Denk' an den, der die Worte sprach: So kommandiert die Poesie!
Er konnte sie kommandieren. Er war ihr König, gab er zur 98 Antwort. Und selbst Er, – wenn er etwas Großes vorhatte, so flüchtete er in sein Gartenhaus, und Christiane – durfte ihm das Essen schicken.
In seinem Gesicht arbeitete es grimmig, wie wenn Welten sich bekämpfen.
Ich muß sie brechen, ich muß sie brechen, diese Fesseln! Ich muß, ich muß! hörte ich ihn vor sich hin sagen, und als wir an den Schwanenweiher kamen, war er plötzlich von meiner Seite verschwunden.
Da hast du was Schönes angerichtet, sagte ich voller Angst zu mir selber, er ist imstande und verläßt sie.
Und mein böses Gewissen erlaubte mir nicht, Selma an diesem Abend vor Augen zu treten, da ich überzeugt war, es müsse heute irgend etwas Entscheidendes zwischen den Gatten vorgehen.
Am andern Morgen, der für meine Abreise bestimmt war, packte ich eben meine Wäsche in das Handköfferchen und überlegte wieviel Zeit mir bis zur Abfahrt des Zuges bleibe, um von den Freunden, denen mein Hiersein doch nur Verwirrung stiftete, Abschied zu nehmen, als Gustav bei mir eintrat. Er sah ganz verwandelt, strahlend aus, als ob er sich über Nacht verjüngt hätte, und sagte schnell:
Liebster, bester Freund, ich komme mit der dringenden Bitte, heute noch nicht abzureisen.
Dabei fuhr er mit einem mutwilligen Griff in den Haufen schön gefalteter Gegenstände, die ich zum Einpacken zurechtgelegt hatte, und streute sie auseinander.
Du weißt, daß am 15. mein Schiff in Hamburg abgeht, sagte ich.
99 Ein Tag verschlägt nichts, ich bitte dich nur um einen. Du hast mir gestern einen so großen Dienst erwiesen, daß du heute fortfahren und mir den zweiten erweisen mußt. – Als du mir gestern meine eigenen Verse vorsprachst, da kam es auf einmal über mich wie im Turmstübchen des irren Dichters. Darum verließ ich dich so rasch, ich mußte allein sein. Und denke dir, in der Nacht stellte sich plötzlich der Cherusker wieder ein und Varus mit seinen Römern und die reizende Atthis, die unsern Olaf entzückte, alle die alten Freunde aus der Junggesellenzeit. Das war ein Fest. Ich brachte die ganze Nacht im Studierzimmer zu, mir eilige Aufzeichnungen machend. Sie hatten mir nach der langen Zeit so viel zu sagen, daß ich mit Schreiben kaum nachkommen konnte. Und es brauste und wogte um mich her wie Weltgerichtsposaunen. Die Nachtstunden, die waren immer meine beste Arbeitszeit. Das muß wieder so werden. Meine arme Frau hat sich geängstet, natürlich, ich kam ja nicht zu Bette. Ich hörte sie mehrmals vor die Tür schleichen, aber sie rief mich zum Glück nicht an. Hätte ich geöffnet und nur ein Wort gesprochen, so wären die Gäste vielleicht entflohen, wer weiß wohin! So ließ ich sie stehen. Diese glückliche Nacht der Empfängnis danke ich dir. Und mein Stück soll nichts dabei verloren haben, daß ich unterdessen um Jahre älter und reifer geworden bin. Es soll ihm bekommen wie dem Helden, der nenn Jahre an der Mutterbrust sog, um stark zu werden.
Und was soll ich jetzt für dich tun?
Jetzt sollst du zu Selma gehen und sie trösten und ihr begreiflich machen, daß sie mich weder heute noch morgen, noch im Laufe der nächsten Tage, vielleicht der nächsten Wochen erwarten darf.
100 Du willst fort? fragte ich erschrocken, und die schöne Freude fiel schwer zu Boden. Wußte ich doch von Luzern her, wessen die Frau in ihrer Leidenschaft fähig war.
Wie ich stehe und gehe, war die Antwort. Ich muß wieder einmal allein sein. Das ist's, was mir bisher gefehlt hat. Aber ich gehe nicht weit fort. Ich nehme gar nichts mit als meine Papiere (er klopfte auf die Tasche seines Rocks, die prall gefüllt war). Von deiner Freundschaft erbitte ich mir, daß du heute noch hier bleibst, während ich mich heimlich empfehle, und daß du mein armes Weibchen beruhigst. Sie hat es, weiß Gott, nicht leicht mit mir. Aber sie ist so gut und verständig. Sage ihr, sie solle nur fein fleißig ihre neue Rolle üben. Vielleicht reift sie mir doch noch einmal zur Thusnelda heran. Jedenfalls wird sie einen besseren Gatten zurückbekommen, als sie ihn heute verliert. Wenn ich wieder ich selber bin, so werde ich sie auch besser schonen und hegen. Sag' ihr das.
Aber warum sagst du es ihr nicht selbst?
Nein, nein, es gäbe Szenen und Tränen, und darüber verflögen mir die schönsten Gedanken. – Leb' wohl, Harry, und Dank!
Damit stürmte er die Treppe hinunter.
Ich fand Selma in großer Erregung, wie ich gefürchtet hatte.
Gustav ist krank, rief sie mir schon an der Schwelle entgegen. Er hat die ganze Nacht sich nicht gelegt, und heut ist er in aller Frühe fortgegangen, was er niemals tut.
Nein, Selma, sagte ich. – Jetzt wird er erst gesund. Bisher hatten Sie einen heimlichen Kranken im Haus, aber nun wird er genesen.
Ich richtete ihr Gustavs Auftrag aus, den sie ganz entgeistert mit 101 stockendem Atem anhörte. Ich beschwor sie mit aller Beredsamkeit, die ich aufbringen konnte, ihn nicht zu suchen noch zurückzurufen, auch wenn er wochenlang ausbleibe, sich nicht zwischen ihn und sein Werk zu drängen.
Die leidenschaftliche Frau brach in Tränen aus.
Also ich bin schuld, wenn sein größtes Werk stockte? rief sie bitter.
Nicht Sie, er erkennt es ausdrücklich an. Nur das übergroße Glück, das an die Erde kettet und die Lust zu hohen Flügen lähmt.
Sie beruhigte sich allmählich.
Solang er nur keine andere Frau mir vorzieht, will ich mich in alles schicken, will mit allem zufrieden sein, sagte sie, ihre Tränen trocknend.
Ich beteuerte ihr mit gutem Gewissen, daß sie von anderen Frauen nichts zu fürchten habe, denn ich kannte meinen Freund und wußte, daß es für ihn im Grunde gar keine Liebe gab als die zur Kunst, was ich sie natürlich nicht merken ließ.
Sie wollte wissen, wie lange dieses Werk ihn in Anspruch nehmen würde, ob es in vier, in sechs Wochen fertig sein könne. Ich setzte ihr auseinander, daß das Ganze eine Sache von Monaten, bei Gustavs unberechenbarer Arbeitsweise vielleicht von Jahren sei, und daß es viel von ihr abhänge, wie rasch oder wie langsam er die Aufgabe löse, daß er aber ganz gewiß, sobald er nur mit dem Gröbsten fertig sei, zu ihr zurückkehren werde, um sein Werk im einzelnen durchzuarbeiten und auszufeilen.
Gleich begann sie nun zu überlegen, wie sie ihm bei der Arbeit den größtmöglichen Vorschub leisten könne. Zunächst, sagte sie, müßte nun schon der Haushalt in der Stadt weitergehen, an 102 die sie durch ihre Verpflichtung gebunden sei, Gustav solle aber, wenn er zurückkomme, ganz für sich sein, sie wolle noch mehr als bisher jede Störung fernhalten und gar keine Ansprüche mehr an ihn stellen. Er solle sie nicht einmal sehen, unsichtbare Hände sollten ihn bedienen, er solle bei Nacht arbeiten und am Tage schlafen, wenn ihm das lieber sei. Für den Hochsommer aber, für die Zeit der Theaterferien, wisse sie einen Platz wie geschaffen für ihn: hoch über dem Bodensee ein einsames Gehöft in entzückend schöner Einöde, das zu vermieten sei. Dorthin finde kein Besuch, nicht einmal die Zeitung den Weg. Briefe und Vorräte müsse man einmal die Woche aus Heiden heraufholen lassen. Ein Knecht sei dort, der die Botengänge besorge und dem man auch die Bedienung übertragen könne. Sie wolle nicht einmal ihr Mädchen mitnehmen, wolle selber kochen, damit er durch keinen Laut gestört werde und glauben könne, der einzige Mensch auf einem ganz unbewohnten Gestirn zu sein.
In diesen guten Absichten bestärkte ich sie, so sehr ich konnte und schied voll Vertrauen in Gustav Borcks neu aufgehenden Stern. Sie nahm mir noch beim Gehen das feste Versprechen ab, daß ich ihr jederzeit, wenn ich mich in erreichbarer Nähe befände, auf den ersten Ruf zu Hilfe eilen würde, weil ich Gustavs einzig wahrhaft ergebener und verstehender Freund sei. Dr. Berka sei doch nur ein Schwamm, der seinen Geist aussauge, und Ruhland könne gegen Gustav nicht gerecht sein, denn er habe von allem Anfang an nur sie verehrt und sei ihr darum viel weniger lieb als ich, dessen Freundschaft schon immer ihrem Gatten gehört habe. In diesen Worten der guten, hingebenden Seele lag für mich die ganze Selma.
103 Gustav war übrigens, wie ich gleich vermutete, nur einige Bahnstrecken aufwärts gefahren, um sich in seinem alten Turmzimmer über dem Flusse, das zufällig gerade frei war, niederzulassen. Nach kurzem aber trieb ihn der Mangel seiner Bücher und anderer Hilfsmittel, die er vermißte, nach Hause zurück. Ich erfuhr es gleich durch Selma, die mir einen ihrer drolligen kleinen Zettel nachfliegen ließ, der mich noch vor Abgang des Schiffes in Hamburg erreichte:
Pst! pst! Er dichtet an der Varusschlacht. Das Frauchen geht auf Strümpfen durchs Haus und lernt ihre Rollen in der Waschküche.
Darüber stand mit Gustavs großer kühner Handschrift:
Sieg! Sieg! Das Lager ist gestürmt, die Legaten fallen. Wotan und die Siegsgötter kämpfen mit uns, die Adler sind erbeutet. Germanen und Römer gleich groß in Vaterlandsliebe und Todesverachtung.
Es klang fast wie eine Depesche vom Kriegsschauplatz. querdurch war noch geschrieben:
Wohl ist den Wahlgöttern, wißt ihr, was das bedeutet?
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