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Studententage! Fülle des Daseins, wie ich sie nirgends wiedergefunden habe. Äußerlich fast unbewegt, aber mit geheimnisvollen Schätzen in der Tiefe, wie ein glatter Seespiegel über kristallenen Wunderpalästen. Alles war unser im Diesseits und Jenseits, 25 wohin wir mit unseren Gedanken reichen konnten; Homer und Goethe, Platon und Schopenhauer, Kunst, Liebe, Unsterblichkeit. Durch Gustavs Nähe besaßen wir das alles. Mit seiner übermächtigen Phantasie zog er wie die thessalischen Zauberer Mond und Sterne zu sich herunter und hängte sie als Tafelbeleuchtung auf, daß wir oft nicht mehr wußten, in welcher Welt wir waren.
Vom Genius der Völker sprach er gern, und wie das eine sich vom anderen unterscheide. Wenn ich mich wunderte, woher er all diese Kenntnis eines Weitgereisten brachte, so lachte er mich aus:
Im kleinsten Teil ist das Ganze enthalten. Zeigt einem Künstler eine Hand, einen Fuß, er erkennt daraus die ganze Gestalt. Gebt mir ein einziges Dichterwerk eines Volkes, so weiß ich dieses Volkes Wesen und Wollen.
Frankreich lobte er, aber er liebte es nicht. Es war ihm das Land der großen Schriftsteller und der kleinen Dichter. Sein Schrifttum verglich er einem breiten, künstlich angelegten Berieselungsfeld, wo bei äußerster Ausnützung mäßiger Naturmittel eine reiche Ernte erzielt wird. Das war die Einleitung zu Anklagen feuriger Liebe gegen das eigene Volk.
Deutschland, du ewig morgiges, sagte er, du Widerspruch der Natur, Kind des Überflusses und der Not, das seine Fülle nicht beherrschen kann, die ihm immer überströmt, zerrinnt, daß es mit leeren Händen steht, und o Schmach! bei den ärmeren Nachbarn borgen geht.
Bei solchen Worten erhob sich dann wohl ein Sturm des Widerspruchs, aber er ließ sich nicht irremachen.
26 Welch ein Edelgut liegt verschüttet in unserem Boden: Kleist, Hebbel, Grabbe, Hölderlin! Wer nennt ihre Namen draußen in der Welt, und wer kennt sie bis heute im Vaterland! Und noch immer wächst die Zahl der Unverstandenen. Was wird das für ein Augenblick sein, wenn sie einmal alle aufstehen zur Geisterschlacht, ein Heer von lauter Feldherrn, um zusammen die Welt zu erobern.
Mit Kuno Schütte und Olaf Hansen begegnete er sich in dem Wunschtraum von einer kommenden Weltherrschaft des germanischen Geistes, der ohne Unterdrückung, ohne weltliche Macht alle anderen als ein großes Band der Einheit umschlingen sollte. Keine Erinnerung an die gemeine Wirklichkeit des Völkerlebens hemmte den Flug dieser Geister, von Weltbegebenheiten war nie die Rede; um die Luft rein zu erhalten, las man nur selten eine Tageszeitung, man lebte, dachte, sprach, als ob es gar keine Staatsgebilde gäbe, die eifersüchtig sind und wachsen wollen. Kein Schaumwein konnte erregender sein als Gustav Borck, wenn er einmal überfloß. Er war imstande, sich Abende lang mit Kuno Schütte, dem Eddabeflissenen, in Stabreimen zu unterhalten; es klang schaurig und geheimnisvoll wie dunkle Weissagungen einer nahenden Weltwende. Auch Olaf Hansen warf gelegentlich einen Spruch dazwischen, der noch ahnungsvoller und ureigener war, wie ein verwehter Ton aus unbekannten Reichen. Wir anderen konnten nur zuhören und staunen. Die dunkeläugige Adele saß, den Kopf in beide Hände gelegt, mit am Tisch und horchte andachtsvoll.
Andere Abende gab es, wo nur von Selbsterlebtem geredet werden durfte, das irgend den Stempel des Besonderen trug. 27 Kuno Schütte erzählte seine Geistergeschichten, an die er damals selber noch nicht völlig glaubte. Heinrich Sommer gab schaurig-schnurrige Anekdoten aus dem Seziersaal zum besten, Gustav spornte die anderen, doch er selber schwieg.
Unser rührender Olaf wollte zuweilen auch etwas erzählen, aber er stotterte, verwirrte sich und blieb stecken. Er wußte zwar, bevor er zu reden anfing, immer ganz genau, was er sagen wollte, aber sobald er damit vor die Menschen treten sollte, verstand er sich selbst nicht mehr. Wir deckten immer einmütig sein Mißlingen mit unserem Beifall zu.
An solchen Abenden war ich's, der den Vogel abschoß. Meine Tage bei den Indianern gaben allein schon einen unerschöpflichen Stoff. Da war unter anderem die Fest- und Friedensrede des großen Häuptlings, genannt »der fliegende Tod«, über den Unterschied zwischen dem roten und dem weißen Manne, die ich ihn selber hatte halten hören, als er inmitten befrackter Gäste in seiner Stammestracht dasaß, von oben bis unten mit Skalpen behängt, die auf den ersten Blick wie unschuldiges Pelzwerk aussahen. Diese Rede mit ihrem ungesuchten Bilderreichtum, voll natürlichen Adels und stellenweise von blumenhafter Anmut entzückte unseren Gustav so, daß ich sie für ihn niederschreiben mußte.
Glückliche Amerikaner, seufzte er voller Neid, ihr lebt die Poesie, wir anderen schreiben sie. Überall flutet euch das Leben frei wie eure großen Ströme. Heute Kaufmann, morgen Soldat, übermorgen Schulmeister, ihr taugt zu jedem Beruf, weil ihr euch keinem verschreibt, ihr kommt nicht als Angestellte zur Welt, sondern als Menschen.
28 In solchen Augenblicken konnte ich glauben, ihm innerlich ganz nahe zu sein, ich sollte ihn aber bald auch von einer völlig anderen Seite kennenlernen.
Am Ostersonntag war ich frühmorgens nach einem Ort im Schönbuch geritten, dessen Name mir entfallen ist, hatte mein Pferd im Wirtshaus eingestellt und war dann in den Wald hinausgewandert, wo schon die Knospen schwollen und zwischen den Pfützen des gehenden Schnees das erste Grün hervorsah. Auf einer Waldblöße sollte ich des Försters Töchterlein erwarten, ein keckes Blut, das bei den Studenten »das schwarzbraune Mädchen« hieß und das ich vom Eislauf her kannte. Da es aber noch früh war und die Kirche nicht zu Ende sein konnte, stieg ich seelenruhig – denn mein Herz war nur mäßig beteiligt, weil ich wußte, daß ich nicht der einzige war, der ihr gefiel – in den höheren Wald hinauf, wo die dünne Kruste noch harsch war. Da sah ich abseits vom Wege Gustav Borck auf einem Baumstamm sitzen, wie er ganz versonnen mit dem Stock allerlei Runen in den Schnee zeichnete. Er ließ mich herankommen, ohne den Kopf zu erheben; als ich ihn aber anrief und in unschuldiger Freude über die unerwartete Begegnung mich nähern wollte, fuhr er wütend auf:
Wer sind Sie? Was wollen Sie? Gibt es keinen anderen Platz im Wald, wo Sie sich niedersetzen können?
Ganz verdutzt rief ich ihn mit Namen und nannte ihm meinen eigenen, aber er sprang auf, sah mich mit völlig fremden Augen an, die wie aus Weltenferne herausblickten und sagte:
Wer gibt Ihnen das Recht, mich anzureden?
Er ist wahnsinnig, Gustav Borck ist wahnsinnig geworden, sagte 29 ich voll Entsetzen zu mir selber und trat langsam, unschlüssig zurück. Da rief er wild:
Bleiben Sie meinetwegen, ich trete Ihnen den Platz ab, – raffte ein Heft an sich, das neben ihm lag, und stürmte mit langen Schritten davon.
Ich blieb wie versteinert stehen, die würzige Morgenluft, die schwellenden Knospen, das schwarzbraune Mädchen, alles ward zunichte vor dem einen Gedanken: Gustav Borck ist wahnsinnig geworden! In die Stadt zurückgekehrt, war es mein erstes, Heinrich Sommer aufzusuchen und ihm den Vorfall mitzuteilen. Aber der Mediziner lachte mich aus.
Nicht geisteskrank ist er, sagte er grimmig, sondern der Hochmutsteufel reitet ihn. Glaubst du denn, er habe dich nicht erkannt? Wie oft ist er an mir vorbeigegangen, als ob ich Luft wäre, auch wenn wir noch den Abend zuvor beisammen saßen. Verwöhnt haben wir ihn, das ist seine ganze Krankheit, und nun läßt er sich in jeder Laune gegen die Freunde gehen.
Zwischen Borck und Sommer hatte nie ein rechtes gegenseitiges Verständnis geherrscht, deshalb überzeugten mich seine Worte nicht. Unser kleiner Kreis war der Ferien wegen auseinandergeflogen, nur Olaf und Kuno fanden sich noch des Abends am gewohnten Platze ein, Borck blieb schon seit geraumer Zeit aus, und Adele bekannte uns jetzt, daß sie lange vor uns die Anzeichen einer wachsenden Gemütsveränderung an ihm wahrgenommen habe. Sein Blick sei oft so fremd und gestört gewesen, als ob er etwas Verlorenes suche, und man habe ihm deutlich angesehen, daß er nur mit dem Körper in unsrer Mitte sei. Um ihr gefällig zu sein, zog Olaf bei Gustavs Hauswirtin, einer treubesorgten 30 Studentenmutter, die mit Begeisterung an ihrem schönen Mietsherrn hing, Erkundigungen ein, und diese erzählte, daß es allerdings mit Herrn v. Borck seit längerer Zeit nicht richtig sei, man höre ihn Nächte lang im Zimmer umherfahren, laut und heftig mit sich selber reden, daß es ganz schaurig durch die Zimmer töne, auch sei jeden Morgen die Lampe bis auf den Grund niedergebrannt. Die Tage verbringe er bei geschlossener Tür und wolle nicht an die Essensstunde erinnert sein; man dürfe überhaupt nicht mit ihm sprechen, und beim leisesten Geräusch gerate er außer sich. Er habe ja schon öfter solche Zustände gehabt, aber so schlimm wie diesmal sei es noch nie gewesen, man könne nichts tun, als ihn ganz sich selber überlassen, bis die Aufregung sich lege.
So machte denn auch niemand einen Versuch, über die Schwelle des Einsamen zu dringen, aber ich pendelte manche Nacht in der Platanenallee auf und ab, um zu seinen Fenstern hinaufzuspähen, die zu jeder Stunde erleuchtet waren und wo ab und zu ein Schatten unruhig vorüberfuhr. Einmal sah ich auch in später Nachmitternachtsstunde eine weibliche Gestalt am Flußufer stehen und nach dem erhellten Turmzimmer hinaufschauen. Bei meinem Näherkommen glitt sie wie ein Schemen hinweg, ich erkannte Adele.
Nun stehe ich eines Tages ganz vertieft vor der Auslage einer Buchhandlung, als sich von hinten leise eine Hand in die meine schiebt und ich mich beim Umdrehen dem alten Gustav Borck gegenüber sehe, der mir ernst und freundlich in die Augen blickt.
Was müssen Sie neulich von mir gedacht haben! fing er an. Aber wenn Sie wüßten, welchen Einsturz Ihre unvermutete Anrede in mir bewirkte, so würde Ihnen gewiß mein Betragen in milderem Lichte erscheinen.
31 Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: ich hatte ihn in einer Stunde der Empfängnis gestört, und alles, was wir für Anzeichen von Geistesverwirrung hielten, die Abkehr von den Freunden, die langen Nachtwachen, das Sprechen mit sich selber, das waren die Geburtswehen des Dichters. In meiner Unschuld war es mir noch nie eingefallen, daß die Kunstwerke mit Schmerzen geboren werden, und ich kam mir selber ganz wunderlich vor, als ich jetzt aus Gustavs Munde vernahm, wie es einem Schaffenden zumute ist.
Er sagte mit gerunzelter Stirne: Sie sehen in mir einen von der gequälten Menschengattung, die einen Despoten mit sich durchs Leben trägt, – ich weiß nicht, darf ich ihn meinen Genius oder muß ich ihn meinen Dämon nennen. Ich weiß nur, daß er mich hat, daß ich nicht frei bin wie ihr andern und daß ich doch meine Sklaverei nicht für alles Glück der Erde hergeben möchte. Er bestimmt gebieterisch jeden meiner Schritte. Zum Leben läßt er mir keinen Raum, wie ich auch danach dürste; die schönste Gegenwart zerrinnt mir ungenossen, weil er mich zwingt, fort und fort in die quirlende Urmasse hineinzuhorchen, aus der meine ungeborenen Geschöpfe sich mir mit halbem Leibe entgegenrecken. Wie kann ich ein gleichmäßig gestimmter guter Kamerad sein, wenn ich mich heute als ein Halbgott, morgen als ein Wurm empfinde, je nachdem der Despot mich ansieht und meine Träume ausfallen! Ich fühle es selber am besten, wie beschwerlich oft mein Wesen den anderen sein muß. Ich bin ja keiner von den Glücklichen, denen es leicht wird. Meine Wehen sind schwer und schmerzhaft. Wenn ich es gar nicht mehr aushalte, dann renne ich hinaus in die Wälder, denn die inneren Stimmen werden vernehmlicher, wenn 32 keine äußeren dazwischentönen. Wer mich da stört, wer mich da anrührt, der ist mir in diesem Augenblick der ärgste Feind, und wenn er mein Bruder oder meine Geliebte wäre. Ich weiß dann gar nicht, wen ich vor mir habe, denn ich bin ja nicht der Mann, den Sie kennen, Gustav Borck, ich bin die Traumgeburt, die mich gerade beschäftigt.
Dafür leben Sie das Menschenleben hundertfach, sagte ich, und lassen in guten Stunden Ihre Freunde daran teilnehmen. Wer möchte so kleinlich sein, mit Ihnen um Äußerlichkeiten zu rechten? Ich habe kein Talent als das zur Freundschaft, lassen Sie mich es ausüben in guten und bösen Stunden.
Oh, Sie kennen mich noch nicht ganz. Diese Äußerlichkeiten sind das geringste. Wenn Sie in mein Inneres blicken könnten, so würden Sie mit Entsetzen sehen, wie nutzlos Sie Ihre schöne Freundschaft verschwenden. In den Augenblicken, wo ich am meisten ich selber bin, d. h. wo Er mich ganz hat – denn ich bin nur, was ich sein soll, wenn ich mich völlig an ihn verliere –, da gibt es für mich gar keine menschlichen Bande. Ich würde alles, was andern heilig ist, Freunde, Eltern, Geliebte, Vaterland, unbedenklich dem Fürchterlichen opfern. Ich sähe mit Freuden meine Liebsten im Sarge liegen, wenn der Schmerz um sie mich meinem Ziel nur um eine Stufe näher brächte. Ich bin ein Unmensch, ich weiß es selber, und wenn Sie mir nach diesem Geständnis Ihre Freundschaft entziehen wollen, so darf ich Sie nicht tadeln. Aber glauben Sie mir, daß keiner in der Kunst etwas Großes erreichen wird, der nicht von dieser tödlichen Leidenschaft für sie besessen ist.
Du Märtyrer, dachte ich zwischen Bewunderung und Grauen. 33 Aber wenn mir auch bei seinen Worten ein Kartenhaus zusammenbrach, wie hätte ich ihm dafür gram sein können! Was wäre das für eine armselige Freundschaft, die täglich wie ein Kaufmann ihr Soll und Haben buchen wollte! Ja, und auch so wären wir noch immer als die Gewinnenden erfunden worden. Von ihm ging ja aller Reichtum aus, womit wir anderen unser Schatzkästlein füllten.
Ich bin kein Freund von großen Worten, sagte ich, aber ich glaube an Sie, wenn ich auch noch keine Zeile von Ihnen gelesen habe: ich bin gewiß, wenn ein Geist, wie der Ihre, der Welt etwas geben will, so kann es nur das Außerordentliche sein.
Wir saßen in Gustavs Zimmer auf dem durchgedrückten Kanapee, das schon dem irren Dichter zur Benützung gedient hatte, und es ergriff mich mit einem Schauer, daß in diesem Raum ein Großer in die Nacht hinabgestiegen war und vielleicht jetzt eben ein anderer Großer hier seinen einsamen Gang zur Höhe antreten sollte. Ob nicht an den Wänden oder an der rauchgeschwärzten Decke vielleicht noch etwas Geistiges haftete, das nach einem neuen Sinneswerkzeug verlangte, um zu den Menschen zu reden?
Ich selber habe schon mitunter Ähnliches gedacht, besonders zur Nachtzeit, wenn es mir plötzlich wie verwehte Rhythmen in die Ohren tönt, entgegnete der Freund auf meine Bemerkung hin. Am tiefsten empfand es Olaf, als er zum erstenmal hier eintrat: Hier also wohnte der Eine, der mit nichts Irdischem verwandt war; und er wohnt noch immer hier! sagte er mit einer Miene und einem Ton, die ich nie vergesse. Und hernach konnte er kein weiteres Wort mehr in dem Raume sprechen.
34 Warum sind Sie so unmitteilsam, fragte ich nach einer längeren Stille.
Ach, lieber Harry, sagte er, bei der Erziehung büßen wir alle ein Stück unseres natürlichen Wesens ein. In meinem Elternhause mußte ich mein Talent wie einen Aussatz verheimlichen. Das hat mich in mich selbst zurückgeschreckt, daß ich jetzt wie hinter einer Mauer lebe. Aber haben Sie Geduld, Sie werden vielleicht noch mehr von meinen Arbeiten hören müssen, als Ihnen lieb ist. Mit meinen Gedichten werde ich niemand mehr behelligen. Seit ich Olaf Hansen kenne, weiß ich erst, woran es mir fehlt. Dagegen habe ich jetzt ein fertiges Lustspiel druckreif im Pult, um das ich mit einer Bühne in Verhandlung stehe.
Der Ton, womit er dies sagte, klang aber so obenhin, fast geringschätzig, daß ich gleich fühlte, mit dem Besten hielt er noch zurück; sein Ziel, das er mir aus der Ferne andeutete, mußte ein viel höheres, mußte die Tragödie großen Stiles sein.
Er gab zu, daß ein gewaltiger vaterländischer Stoff ihn ganz ausfülle.
Was für ein Stoff? wagte ich zu fragen.
Er nahm einen schweren Gegenstand, der einen Stoß beschriebener Blätter zusammenhielt, vom Tisch und reichte ihn mir:
Wofür halten Sie dieses Ding?
Es war ein gebogenes, abgebrochenes Stück Eisen von rauher Oberfläche, stark verwittert.
Für ein Hufeisen des Pegasus, antwortete ich scherzend, das seinem Finder Glück bringen möge, wie sich's für ein Hufeisen gehört.
Er nahm es mir gleich wieder ab und wog es mit einem Ausdruck von Ehrfurcht in der Hand.
35 Wohl ist es ein Hufeisen, und zwei Menschenschicksale sind damit verknüpft. Das eine ist an dem Fund zugrunde gegangen. Welches Glück es dem andern bringen wird, muß die Zukunft zeigen. Ich war als grüner Junge mit dabei, wie man dieses Eisen mit vielen andern aus der Erde grub. Das geschah beim Bau einer Wasserleitung im Detmoldischen, als ich eben bei mütterlichen Verwandten dort zu Gaste war. Man fand ihrer so viele, daß sie in ganzen Karrenladungen beiseitegeschafft und als altes Eisen nach auswärts verkauft wurden. Von meinem Onkel Paul habe ich Ihnen schon erzählt, der ein feuriger Altertumsforscher war. Ich benachrichtigte ihn von dem Fund, und er kam zwei Tage später aus Paderborn herüber, um die Hufeisen zu sehen. Er war sehr erregt, denn er hatte schon vor Jahren einen ähnlichen Fund in dieser Gegend vorausgesagt. Es waren nur noch wenige im Ort zu finden, und ich mußte ihm alle von mir gesammelten überlassen, bis auf dieses hier. Er sprach die Hufeisen für römische an und die Auffindungsstelle für den Ort, wo die Reiterei des Varus unter Vala Numonius vernichtet wurde; auch deutete er auf andere Punkte in der Umgebung hin, wo noch weitere Ausbeute in der Erde harrte, die einige Jahre später auch wirklich zutage trat. Ich durfte ihn auf langen Gängen begleiten und begeisterte mich wie er für den Gedanken, daß die Gegend, in der wir uns befanden, der vielumstrittene Schauplatz der Varusschlacht sei. Mein Onkel Paul war ein Mann von hinreißender Überzeugungskraft, der erst in vorgerückten Jahren durch Eigenstudium zu germanischer Altertumskunde gekommen war und schon deshalb die Mehrzahl der Fachleute gegen sich hatte. Welche Genugtuung, als nach jahrelangen Zurücksetzungen der stumme Erdboden selber 36 sich auftat, um für ihn zu zeugen! Der Erfolg verzehnfachte seine Willenskraft, er ging wie mit einer unsichtbaren Wünschelrute umher und zog die verborgensten Dinge aus der Tiefe. Aus alten Urkunden brachte er vergessene Orts- und Flurnamen zutage, in denen die Spuren eines furchtbaren Völkergerichts fortlebten. Da gab es im westfälischen Platt einen »Knochenbach«, einen »Leichenhügel«, einen »Todesgarten«, nach seiner Ansicht lauter Erinnerungen an die Teutoburger Schlacht. Die beiden Lagerplätze des Varus, wie sie sich sechs Jahre nach der Schlacht den Legionären des Germanikus darstellten, die bleichenden Gebeine der Erschlagenen, die noch lagen, wie sie gefallen waren, die Altäre, an denen man die römischen Legaten geschlachtet hatte, die Anhöhe, von der herab der Sohn des Segimer seinen schrecklichen Gerichtstag hielt, – alles rief seine lebendige Einbildungskraft aus den friedlichen Wiesen und Moorgründen hervor. Ich will nicht behaupten, daß er in allem und jedem recht hatte, mein Onkel war eine Poetennatur, die sich von der Phantasie fortreißen ließ, aber daß man ihn seiner allzu raschen Schlüsse wegen als Narren und Nichtswisser behandelte, hat er nicht verdient.
Seine Untersuchungen über die Örtlichkeit der Varusschlacht entfesselten nämlich unter den Forschern einen heißen Streit, der mit vergifteten Waffen geführt wurde. Ihm sind seine Forschungen zum Unheil geworden, in mir aber weckten sie den schlummernden Funken. Damals trat mir der Cheruskerheld, dessen Gestalt mir vorher so dämmerhaft wie etwa Dietrich von Bern gewesen war, leibhaft aus dem Dunkel. Ich lernte ihn persönlich kennen, er ließ mich einen Blick in seine tief verschlossene Seele tun. Und seitdem ist er mir näher, als es jemals ein lebender Mensch sein wird. 37 Ich gelobte ihm meine ganze Kraft, wenn ich einmal reif sein würde. Ich wartete und schulte mich und nährte ihn still mit meinem Blut, und wenn ich mich da und dort künstlerisch versuchte, so war's nur, was ein Manöver ist gegen einen Schlachttag. Jetzt ist die Zeit gereift, für die mein ganzes bisheriges Leben nur die Vorbereitung war. Während meine Eltern mich tief ins Corpus juris versenkt glauben, schlage ich die Varusschlacht. Das gilt einen Sturm, der heißer ist als der auf die Düppler Schanzen. Ich denke, sogar mein Vater, so wenig er auf die Dichtkunst hält, wird aufhören müssen, mich als einen verlorenen Sohn zu betrachten, wenn einmal auf der ganzen Linie Sieg geblasen wird.
Er redete mit überstürzenden Worten und einer flackernden Röte im Gesicht, seine Augen brannten. Ich staunte seine Kühnheit an, aber ich war ein viel zu großer Verehrer Kleist's, um zu begreifen, wie man nach ihm noch eine Hermannsschlacht sollte dichten können.
Er sah mich groß an:
Kleist hat keine Hermannsschlacht gedichtet.
Wie? fragte ich verblüfft.
Kleist lebte in Tagen höchster vaterländischer Hochspannung, in seiner Seele brannte das Schandmal der Fremdherrschaft, er dichtete aus seinem eigenen grimmigen, unersättlichen Haß heraus. Und sein Racheschmerz gebar ein Gedicht, so groß wie Sie nur irgend wollen, aber keine Hermannsschlacht. Was war ihm das Deutschland vom Jahre 9 unserer Zeitrechnung? Was gingen ihn die Römer an? Er sah nur die Franzosen von 1806 und 7, er gab sich kaum die Mühe, ihnen ein römisches Mäntelchen umzuhängen. Und seine Germanen! Hören Sie einmal sein Bardenlied. 38 Mit Händen, die vor Erregung zitterten, riß er ein Buch vom Gestell, das er hastig durchblätterte, und begann die Strophe zu lesen:
Wir litten menschlich seit dem Tage –
Als er aber an die Stelle kam:
Wir übten nach der Götter Lehre
Uns durch viele Jahre im Verzeihn,
da warf er das Buch auf den Tisch und rief:
Ist das germanisch, sind das Wotanspriester? Sind das nicht vielmehr verkappte evangelische Pastoren? Wann hätten unsere alten Siegsgötter Verzeihung und Unterwerfung gelehrt? Und danach sollte kein andrer mehr nach dem Kranz aller Kränze greifen dürfen? Ich werde meinen Cheruskern einen Schlachtgesang in den Mund legen, in dem die Hammerschläge Thors dröhnen.
Er ging mit großen Schritten durchs Zimmer, seine Augen flammten. Dann blieb er vor mir stehen.
Mißdeuten Sie mich nicht. Kleist hatte als Dichter das Recht, zu verfahren, wie er verfuhr, und niemand bewundert ihn mehr als ich. Aber er hat noch Raum gelassen für meine Dichtung und dafür danke ich ihm mehr als für alles Große, was er selbst geschaffen hat. Und ich bin gleichfalls im Recht, wenn ich es völlig anders anfasse. – Mir sind wie dem Vater Homer Sieger und Besiegte gleich sangeswürdig. Der germanischen Heldengröße will ich die römische entgegensetzen. Den Zusammenprall zweier Welten will ich darstellen, einer reifen, höchst verfeinerten, mit allem Glanz und allen Lastern ausgestatteten, und einer rohen urtümlichen, die aber den Hauch der Jugend, die höhere sittliche Kraft und die keimende Zukunft für sich hat. Und beide will ich in solchen 39 Gestalten verkörpern, daß um Freund und Feind dieselbe tragische Glorie scheinen soll.
Um ihn selber, den schönen Menschen, lag es wie ein Glorienschein, als er im Zimmer auf und nieder gehend mir den Plan seiner Trilogie »Der Befreier« entwickelte. Ich war wieder ganz von ihm berauscht. Ist es möglich, dachte ich, daß ein Sterblicher soviel von der Natur empfangen hat, und wer bin denn ich, daß ein solcher Mensch sich mir hingibt! Noch ohne eine Zeile von seinem Werk zu kennen, war ich schon überzeugt, daß es den größten Dichtungen aller Zeiten zum mindesten ebenbürtig sein müsse, und nach dem Stolz zu schließen, der aus seinen Augen blitzte, teilte der Verfasser, wenigstens für diesen Abend, meine Überzeugung.
Der kürzere erste Teil »Die Norne« war schon fertig, der zweite »Die Varusschlacht« eben im Werk. Der dritte, der noch keinen Namen hatte, sollte dann den Helden zeigen, wie er nach dem Abzug des Germanikus und dem völligen Sturz der Römerherrschaft in Deutschland an dem Versuch, die Stämme unter einer starken Faust zu einigen, bei der Balderfeier am Sonnwendtag durch Verwandtenmord zugrunde geht.
Lassen Sie nur erst die Varusschlacht etwas weiter vorgerückt sein, sagte er, so sollen Sie einen Vorschmack vom Ganzen bekommen. Sie und Olaf und unsern treuen Schütte habe ich mir immer als meine ersten Zuhörer gedacht. Ihr seid auch meine heimlichen Mitarbeiter, Ihr drei, aber das wird Ihnen erst beim Lesen aufgehen.
Seine Aufgeräumtheit wurde immer fieberhafter, er ließ mich nicht mehr fort, und da ihm jetzt plötzlich einfiel, daß er seit dem 40 Frühstück noch nüchtern war, holte er aus dem Schrank eine Flasche Wein und etwas Zwieback, seine einzige Nahrung in jenen Tagen des Überschwangs. In der Aufregung stieß er ein Familienbild, das auf der Kommode stand, herunter, daß es klirrend zerbrach.
Ich nehme das böse Omen für sein Gegenteil, rief er mit wilder Lustigkeit, während wir die Scherben auflasen. Wenn die Götter eingezogen sind, müssen die Götzen fallen. Die Familie ist der Obergötze, der die Kindlein auf seine glühenden Molocharme nimmt, daß sie verkohlen. Wie anders wäre ich geworden ohne diesen rotgeheizten Bal. Betrachten Sie sich einmal den alten Herrn hier auf dem Bilde. Gleichen wir uns nicht wie zwei Wassertropfen, abgesehen vom Lebensalter? Sind das nicht dieselben Augenknochen, derselbe harte Schnitt von Kinn und Nase? Es ist die Folge der langen Züchtung und Zucht, daß ich kein anderes Gewand bekommen konnte, daß ich nun auch die vererbte preußische Uniform durchs Leben mit mir trage. Ebenso hätte man mir die Seele nach altem Familienmuster gemodelt, wäre ich nicht mit dem Geist des Widerspruchs geboren. Und doch, was machen Gewohnheit und Erziehung aus! Von meinem vierten Jahre an führte mich der alte Herr zu meinem Geburtstag jedesmal vor ein Glasschränkchen, worin zwei Familienstücke lagen: das Eiserne Kreuz, das der Großvater sich bei Leipzig geholt hat, auf rotem Sammetkissen, und auf einem schwarzen die Pistole, mit der sein eigner Bruder sich wegen unbezahlter Ehrenschulden auf väterlichen Befehl erschoß. Die nachträgliche gewissenhafte Tilgung der Schuld hat die Familie in Armut gestürzt und das Gemüt des Alten verhärtet. Die erste Stunde Müßiggang, pflegte er 41 mir mit erhobenem Finger zu sagen, ist der erste Schritt auf dem Weg zum Abgrund. »Müßiggang« war ihm alles, was nicht zum Dienst gehörte. Sollten Sie es glauben, daß ich noch jetzt unter dem Dichten plötzlich den Eindruck habe, als sähe der alte Herr mir drohend über die Schulter, und ich müßte schnell mein Blatt vor ihm verstecken, um irgendein Generalstabswerk oder das Corpus juris zur Hand zu nehmen. Ich werde noch Zeit genug brauchen, bevor ich mir für mein Werk das freie Gewissen erobere.
Er verschloß das beschädigte Bild im Schubfach und füllte die Gläser. Ich mußte mit ihm anstoßen auf die glückliche Geburtsstunde seines Cheruskers.
Schlagen Sie den Daumen ein, daß mir kein anderer zuvorkommt, sagte er. Seit ich im Zuge bin, meine ich, tausend Hände müßten sich nach diesem Stoffe ausstrecken, der der höchste Vorwurf unserer tragischen Muse ist. Wenn einer nachsinnend unter den Platanen da drüben auf und ab geht, so frage ich mich, ob er nicht eben an einer Hermannsschlacht dichtet. Ermorden könnte ich den Dieb, der das wagte, denn dieser Stoff ist mein. Er hat ja mich gewählt, nicht ich ihn. Sie sehen mich verwundert an? Wissen Sie denn nicht, daß die Kunstwerke ihr Eigenleben haben und immer lange vor ihren Schöpfern dagewesen sind? Echte Dichtung ist kein Menschenwerk, sie ist von Urbeginn vorhanden. Sie ist nur stumm, bis sich das rechte Saitenspiel findet, auf dem sie tönen kann. Erinnern Sie sich, was Kuno Schütte einmal vorbrachte von den ungeborenen Seelen, die im All umherstäuben, um sich ihre Erzeuger zu suchen? Er hat völlig recht, nur daß es auf die Kunstwerke geht, was er 42 von den Menschenseelen glaubt. Immer schweben die Flügel der ungeborenen Dichtungen um uns her, zuweilen hören wir ihr Rauschen, ein halbes Wort, ein wortloser Rhythmus dringt an unser Ohr, eine Gestalt wird zur Hälfte sichtbar, dann weiß ich, das sind die Meinen, die mich suchen, die ich suchen soll, weil sie ohne mich nicht leben können. Es war ja doch kein Zufall – und wo gibt es einen solchen? daß ich damals zu dem Fund der Hufeisen kam. Es war die ungeborene Arminiusdichtung, die mich an jene Stelle zog, um meinen Geist zu wecken. Meinen Freund und Erzieher hat mich das gekostet, den einzigen Führer meinem Jugend: er glaubte den Schatz in anderer Gestalt zu heben und wurde das Opfer seines Wahns, denn der Auserwählte, dem es galt, war ich.
Ist das Genie oder Wahnsinn oder beides? dachte ich, und um nur wieder den Boden unter den Füßen zu fühlen, fragte ich schnell:
Was ist aus Ihrem Blutsfreund geworden?
Der Unglückliche hatte sich mit seinen Untersuchungen über die Örtlichkeit der Varusschlacht auf ein Gebiet gewagt, wo er nicht von Hause aus zuständig war, und das verzeiht die schulmäßige Wissenschaft schwer. Da er gegen die Meinungen namhafter Gelehrter anstieß, wurden die seinigen geringschätzig abgetan und die Fachzeitschriften verschlossen seinen Entgegnungen die Spalten. Aber er war nicht der Mann, sich unterkriegen zu lassen, er verfaßte eine Reihe von Streitschriften, die er unentgeltlich versandte, und um sich ganz dem zu widmen, was er für seine Lebensaufgabe hielt, legte er sogar sein Amt nieder. Er ließ auf eigene Kosten Grabungen ausführen und nahm selbst den Spaten in 43 die Hand. Dabei kam eine Münze aus der Zeit Augusts und ein längliches, stark zerfressenes Eisenstück zutage, das er sofort für ein Römerschwert erklärte, das aber freilich alles andere ebenso gut sein konnte. Diese Funde bestärkten ihn in einer ganz vermessenen Hoffnung: er hatte sich nichts Geringeres vorgesetzt als jenen römischen Adler auszugraben, den an dem Schreckenstag der Adlerträger von der Stange brach, um sich mit ihm in den blutgetränkten Sumpf zu stürzen. Wehe dem, der ihm entgegenhalten wollte, daß nach einem späteren Bericht der Adler wieder aufgefischt und nach Rom zurückgeschickt worden sei. Lug und Trug ist alles, rief er mit rollenden Augen; ein freches Gaukelspiel des Germanikus, der den römischen Hochmut kitzeln wollte. Und er konnte gegen den Germanikus toben, als ob er sein Zeitgenosse wäre. Ohne den Spott der Einwohnerschaft und der Presse zu beachten, ließ er Sümpfe und Moorgründe des Teutoburger Walds durchwühlen und arbeitete trotz seiner Jahre immer selber mit. Den Adler fand er nicht, dagegen holte er sich den Keim eines schweren Typhus, der den alten Mann dem Tode nahe brachte. Zwar riß er sich durch, aber nicht zu seinem Heil: von der Krankheit blieb ihm eine Reizbarkeit und phantastische Sprunghaftigkeit, die ihm vorher ganz fremd gewesen war. Jeder Widerspruch brachte ihn außer sich, er konnte sich kaum noch mit den Nächsten vertragen und verbiß sich in längst widerlegte Irrtümer, die auch den wertvollen Teil seiner Forschungen in schiefes Licht setzten. Ich war der einzige Mensch, der ihn noch zu behandeln verstand, wenn ich auf Urlaub nach Paderborn herüberkam, und er hielt auch treu zu mir. Er verschaffte mir noch die nötigen Geldmittel, die ich sonst nirgends auftreiben konnte, als 44 ich meine Absicht wahr machte und den Soldatenrock auszog. Damals hat mich niemand verstanden als er, es waren die letzten schönen Tage, die wir zusammen verlebten. Wir durchwanderten noch einmal gemeinsam sein Arbeitsfeld, besuchten die alten, unbegreiflichen Externsteine, in die er die ganze germanische Götterwelt hineinrätselte, und er war so froh und hochgestimmt wie im Besitze eines glückbringenden Geheimnisses. Da konnte er im Wandern plötzlich stehenbleiben und in dunkel raunendem Ton die Eddaworte sprechen: Wohl ist den Wahlgöttern, wißt ihr, was das bedeutet? – Wenn ich aber fragte: Was bedeutet es, Onkel Paul? so legte er lächelnd den Finger auf den Mund. Später erfuhr ich, was mit ihm umging. Er hatte sich auf das Studium des Isländischen geworfen, um die Edda im Urtext zu lesen, und war zu einer ganz anderen Auslegung der dunklen Stellen gekommen als die Übersetzer. Er glaubte entdeckt zu haben, daß viele Lieder der Edda geheime Anspielungen auf den Untergang des Varus enthielten, und daß die Gestalt des Siegfried nur eine mythische Spiegelung des geschichtlichen Arminius sei, wie Dietrich von Bern die des großen Gotenkönigs. Siegfrieds Kampf mit dem Drachen auf der Gnitahaide war ihm die symbolische Umdeutung der Varusschlacht, und die Gnitahaide glaubte er, auf eine alte isländische Reisebeschreibung gestützt, in die Nähe von Paderborn verlegen zu dürfen, ebendahin, wo er sich von je das Schlachtfeld des Varus gedacht hatte. So suchte er eine gewagte Hypothese durch eine noch gewagtere zu stützen und hielt das Ineinandergreifen beider für die unanfechtbare Gewähr ihrer Richtigkeit. Aber als er mit diesen neuen Forschungen hervortrat, wurde die Ablehnung der Presse zum Hohngelächter; auch seine 45 Anhänger sagten ihm die Gefolgschaft auf. Das steigerte ihn nur noch mehr, seine Flugschriften, womit er die Gegner überschüttete, bekamen einen immer beißenderen Ton und zogen ihm noch kostspielige Beleidigungsklagen und andere Unannehmlichkeiten zu. Diese Aufregungen erschütterten ihn so, daß er zuletzt in Prozeßwut und Verfolgungswahn fiel und in geistiger Umnachtung endete. Sein beträchtliches Vermögen, das später einmal mir zufallen sollte, war fast ganz verpulvert, kaum, daß der Witwe die Mittel zum Leben blieben. Was schadet's? Mein wahres Erbe ist der Schatz auf der Gnitahaide, der Geist des Arminius, der von mir erlöst werden will. Es braucht nur wie für jedes Beschwörungswerk Ort und Stunde. Der Ort ist glücklich gefunden: das Stübchen des irren Dichters, aber die Stunden sind nicht alle gleichwertig und wehe, wenn die rechte ungenutzt verstreicht.
Ja, jetzt begreife ich, was es Ihnen sein muß, wenn ein Dritter sich zwischen Sie und Ihre Gestalten schiebt, antwortete ich.
Ort und Stunde, das ist's, fuhr er wie zu sich selber redend fort: das ist das einzige, was der Dichter selber dazu tun kann, alles andere ist Eingebung, kommt ihm von außen. Es heißt nur aufmerken, Augen und Ohren offen halten, unverwandt und treu und reinen Sinnes, damit nichts Unechtes sich eindrängt, nichts, was der eigene Verstand, der Stümper, gemacht hat, denn das ist Falschmünzerei. Nur das soll Einlaß finden, was von selbst zur Erscheinung ringt! Nicht bloß das Ganze des Werkes ist von Uranfang da, jeder kleinste Teil ist es auch bis zum einzelnen Wort herunter, das durch kein anderes ersetzt werden kann. Ich fühle es gleich, wenn auch nur an einer Stelle ein angeflicktes 46 Wort steht. Weg mit dem Einschiebsel! Wachen und harren, bis das rechte sich einstellt!
Ja, dieser ist wirklich ein Gefäß der Gottheit, sprach es in mir. Aber was macht er aus seinem reichen begnadeten Ich, was macht er aus seinem eigenen Leben!
Es war, als hätte ich laut gedacht, denn er fiel ein:
Das ist das Dämonische an den großen Dingen, daß, wer nur einmal ihr Angesicht aus der Nähe geschaut hat, ihnen für immer verfallen ist und keinen, aber auch keinen Genuß vom Dasein finden kann als durch sie. Welches schwächliche Strohfeuer ist dagegen die Liebe! Ich verlange nichts vom Leben als nur mein Werk. Ich verzichte im voraus auf Weib und Kind und alles, was man sonst Lebensglück nennt, ich will nur den »Befreier« vollenden, mag ich danach zugrunde gehen. Aber nicht eher, nicht eher! Ich wage kaum des Abends mich schlafen zu legen, aus Furcht, der Tod könnte mich unversehens im Schlaf überfallen und mein Werk könnte unfertig zurückbleiben. Mein tägliches Morgen- und Abendgebet heißt: Mein Gott, nimm mir alles, mache mich, wenn es sein muß, blind und taub, aber laß mich nicht sterben, bevor der Arminius vollendet ist.
Warum nennen Sie ihn immer mit seinem römischen Namen? fragte ich.
Er fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen. Weiß ich denn, wie er geheißen hat? stöhnte er. Weiß es irgendwer? Jeden Namen kann er gehabt haben, nur nicht den Namen Hermann. Das sagt unser Grimm, der am besten Bescheid wußte. Oh, ich möchte den frommen Ludwig, den Pfaffenkaiser, aus dem Grabe kratzen, um ihn zu martern, weil er mit den Heldenliedern 47 unserer heidnischen Väter auch den echten Namen des Befreiers vernichtet, der Vergessenheit überliefert hat. Nun ist von unserm deutschesten Ruhm die deutsche Schande unzertrennlich, daß wir ihn nur mit dem Namen nennen können, den ihm der Römer gab, und daß ohne das Zeugnis des Feindes jede Spur von ihm verweht wäre. Ehre sei den Römern, daß sie ihren Todfeind zu ehren wußten und mehr für ihn taten als sein eigenes Volk.
Aber da nun einmal der Name Hermann so angenommen ist, wandte ich ein, wäre es da nicht besser, es beim alten zu lassen wie Ihre Vorgänger, die doch wohl auch von diesen Bedenken wußten?
Was sie wußten oder nicht wußten, geht mich nichts an, sagte er, unruhig durchs Zimmer gehend. Ich kann nicht lügen. Wo ich nicht glaube, da erstarre ich. Der Name Hermann tönt nicht in meiner Seele, also kann er auch nicht echt sein. Und zudem haben ihn die Bierbankpatrioten längst zu Tode gebrüllt.
Freilich, setzte er lächelnd hinzu, Onkel Paul würde wüten wegen des Namens und nicht minder wegen der Rolle, die ich seinen Abgott spielen lasse. Für ihn war der Cheruskerheld eine ganz einfache Seele, blind und taub für die Schönheit einer höheren Bildung, ungerührt von allen Reizen und Lockungen Roms, inmitten aller italischen Herrlichkeit nur für die rauhen heimatlichen Wälder glühend, kurz, ein Mann wie er selber war, aus Einem niederdeutschen Eichenscheit geschnitzt. Mein Armin hat ein völlig anderes Gesicht, ein zerrissenes, aber ein größeres. Der römische Ritter, der unter den Edlen Roms als Gleicher stand und an all ihren Ehren teilhatte, konnte nicht verbissener Römerfeind von allem Anfang sein. Die Hermannsschlacht mußte 48 erst in dem Busen des Cheruskers geschlagen werden, ehe sie durch die Wälder von Teutoburg tobte. Er bewundert die Römer, aber er vernichtet sie. Das ist seine wahre Größe; daher sein dämonisches, erbarmungsloses Wüten, weil er gegen sich selber, gegen einen Teil seines eigenen Wesens wütet.
Seine Gedanken verloren sich allmählich ins Weite. Es gebe gar keine Vergangenheit, sagte er unter anderem, wir brauchten nur unser kurzes Sehfeld über den Horizont des Tages hinaus zu verlängern, so sei alles Gewesene noch vorhanden. Alles Schöne und Große, was je auf Erden geblüht habe, müsse wieder sichtbar gemacht und in den Kreislauf des Lebens zurückgeholt werden. Das sei die Aufgabe des Dichters und symbolisch im Orpheusmärchen vorgebildet.
Aber nur dem festen, nie wankenden Glauben gelingt das Wunder. Wehe, wenn er zweifelt und sich umschaut! Alsbald versinkt der beschworene Schatten, der ihm nur folgt, solange er glaubt.
Dann kam er auf Märchen und Symbole zu sprechen, hinter denen immer eine höhere Wahrheit stehe, denn der menschliche Geist als Ausfluß von Gottes eigenem Geist, behauptete er, könne sich niemals täuschen, und alles was er je geahnt habe, müsse sich einmal irgendwie auf Erden selbst erfüllen – ein Wort, an das ich oft zurückdachte, seitdem die großen Erfindungen der Technik das Leben immer märchenhafter umgestaltet haben.
Aber als er seine Kreise weiter und weiter zog und geheimnisvoll vom inneren Einssein aller Dinge zu reden anhub, das er die Grundselbigkeit nannte, da verging mir am Ende Hören und Sehen, und ich begann für meine eigene Selbigkeit bange zu werden.
49 Wir standen zusammen am offenen Fenster und schauten in die Frühlingsnacht hinaus; der Neckar rauschte leise am Fuß des Turmes vorbei, und die noch unbelaubten Platanen überm Flusse drüben neigten sich im Wind. Gustavs Stimme, die er dämpfte, um von den Nachbarfenstern nicht vernommen zu werden, war wie ein magisches Raunen um mich her. Unten glitt ein Boot mit unkenntlichen Gestalten, von denen eine die Mundharmonika blies, auf dem dunklen Wasser hin; mir war's als zögen Helden und Barden der Vorwelt, von ihm beschworen, leibhaft vorüber. – –
In den Flugschriften seines Verwandten, die er mir auf meine Bitte mit nach Hause gab, lernte ich gleichfalls einen merkwürdigen Menschen kennen, der mich in vielem an den Neffen erinnerte. Es war dieselbe rücksichtslose, fanatische Hingabe an die Sache beim einen wie beim andern. Besonders zog mich seine letzte Schrift über die Gnitahaide an. Sie trug das Motto: Wohl ist den Wahlgöttern, wißt ihr, was das bedeutet? Dieses dunkle Eddawort bedeutete nach ihm den Jubel der Germanenstämme über den Untergang der Legionen. Allmähliche Verdunkelung und Verwirrung der mündlichen Überlieferungen und die Furcht vor dem Fanatismus der christlichen Priester, in denen die Römermacht sich verkappt aufs neue eingeschlichen habe, um alle altheiligen Erinnerungen des Volkes auszutilgen, seien für die späten Sammler auf Island der Anlaß gewesen, die geretteten Reste der alten Heldenlieder in so geheimnisvolle Hüllen zu verstecken. Aber ein Merkmal hätten sie doch dem Siegfried angeheftet, das ihn als Armin verrate: das strahlende Auge, das Siegfriedsauge, dem niemand standhält, mache den Recken der Niflunge als 50 den geschichtlichen Stammeshelden kenntlich, dem nach dem Zeugnis des Todfeinds das ungewöhnliche Feuer der Seele aus Augen und Antlitz strahlte. Die Schrift war fesselnd geschrieben, und solange man las, stand man im Banne des Verfassers. Aber am Schlusse war man doch froh, wenn man sich schütteln konnte und Arminius wieder Arminius, Siegfried Siegfried war. Augenscheinlich war ein geistreicher Einfall, der den ganzen Untersuchungen zum Ausgangspunkt gedient hatte, in der Schrift so dargestellt, als ob er vielmehr deren Endergebnis wäre, und die Früchte einer seltenen Belesenheit waren willkürlich aneinandergereiht, um gewaltsam diesen Einfall zu stützen. Das mußte von vornherein den schroffsten Widerspruch der Fachleute herausfordern. Auch ließ der überreizte Ton das Verhängnis ahnen, dem der unglückliche Forscher entgegenging.
*
Dann kam der Abend, wo Gustav in seinem Stübchen mir, Olaf Hansen und Kuno Schütte bei verschlossener Tür den fertigen Teil seiner Dichtung vorlas. Armer Shakespeare, noch ärmerer Kleist, was wart ihr an jenem Abend gegen Gustav Borck! Unser Dichter war ja ein Jüngling und Jünglinge waren die Hörer; wo aber Jugend gibt und nimmt, da geht es überschwenglich her. Und wieviel wunderbarer in die Esse zu blicken, wo die rotdurchglühten Gestalten der Dichtung sich zu formen beginnen, als das schönste Werk fertig vor sich zu sehen. Denn das Fertige steht da, als wäre es von je gewesen, im entstehenden Werke glaubt man den heißen Hauch der Gottheit selber zu spüren. Mag aber auch zu unserem Rausch die eigene Jugend und der Glaube an den Verfasser das meiste getan haben, doch fühle ich noch 51 heute in der Erinnerung etwas von dem Zauber jenes Abends, wo ich glaubte, dem Aufgang eines neuen Zeitalters in der Dichtung anzuwohnen.
Wir lernten einen glänzenden, römisch gebildeten Arminius kennen, der den Römern unverdächtig ist, weil ihn nicht nur die hohe Auszeichnung des römischen Bürgerrechts und der römischen Ritterwürde, die ihm allein vor allen Barbarenfürsten verliehen ist, sondern mehr noch die eigene Anlage über sein Volk hinausgehoben und den Überwindern zugesellt hat. Aber als langjähriger Lagergenosse des Tiberius hat er von den Römern nicht nur die Kriegskunst gelernt, sondern auch die Kunst des Beobachtens und Abwartens, des leisen Auftretens und des harten Anpackens. Und das Römertum klebt ihm nicht auf der Haut wie seinem Bruder Flavius, der den Dienst bei den fremden Herrn als Ehre empfindet, es ist nur ein Mantel, der auch abgeworfen werden kann. Wird der junge Held ihn abwerfen? Diese Frage stellten die ersten Szenen in beklemmender Spannung auf. Zu der römischen Verführung hatte der Dichter noch eine andere Macht hemmend in seinen Weg gestellt: die Liebe. Segestes, der Römerknecht, durchschaut allein den Zwiespalt in der Brust des Jünglings, und um ihn fügsam zu erhalten, hat er ihm die herrliche Tochter anverlobt, aber die Hochzeit dem Ungeduldigen unter immer neuen Vorwänden verschoben. Für einen Augenblick scheint das Schicksal von Thuiskoland an der Dünne eines Frauenhaares zu schweben. Denn schon zieht Varus über den Rhein, und seine ersten Botschaften, die wie Befehle klingen, enthüllen dem Cheruskerfürsten die Absichten Roms und die Rolle, die ihm selbst als Vollstrecker zugeteilt ist. Und hier beginnt seine 52 entschlossene Umkehr zu den heimischen Altären. Doch der Held will nicht zwischen der Liebe und der Freiheit wählen, sondern beide besitzen. Aus ihrer väterlichen Burg an der Weser raubt er mit kühnem Handstreich die Braut und feiert seine Hochzeit mit ihr, während im Nachbarland die ersten Flammen der brennenden Dörfer aufprasseln, die Varus bei seinem Durchgang im Rücken läßt. Flüchtende Weiber und Kinder, der Rauch geplünderter Siedelungen kündet sein Kommen an. Der junge Fürst verbirgt seinen Zorn in tiefster Seele und verschließt den Hilferufen der Seinen das Ohr; als Freund zieht er dem Römerfeldherrn entgegen, der gleichfalls unter dem Deckmantel der Freundschaft kommt, um, von Segestes gerufen, die ewigen Grenzhändel der deutschen Stämme friedlich zu schlichten. Darüber sind auch dem Nachbarkönig Marbod die Augen aufgegangen, er sendet heimlich Boten, um den Sinn des Cheruskers zu erforschen. Dieser aber hält sie mit halben Worten in der Schwebe, denn schon wälzt er in der verschlossenen Brust Entwürfe, die keinen Marbod zum Mitwisser wollen. Mit dem Erscheinen eines spukhaften alten Weibleins, halb Seherin, halb Norne, das dem Helden einen Stab mit alten Runenzeichen überreicht, endigte der erste Teil, der nur ein kurzes Vorspiel darstellte.
Breit und mächtig, vielleicht nur allzu breit, war das zweite Stück, die Varusschlacht, angelegt. Die Handlung begann mit römischer Schwelgerei im Sommerlager des Varus, den seine ersten Worte als beschränkten, selbstgefälligen, in sein Römertum blind verliebten Gecken zeigten. Ohne einen Tropfen Soldatenblut im Leib und mit einer lächerlichen Juristenader behaftet, die ihn treibt, aus dem Schein des Gerichthaltens und Händelschlichtens 53 Ernst zu machen. Die Unterwerfung Germaniens, die das römische Schwert begonnen hat, soll nach seiner Meinung das römische Recht vollenden. Mit Todesurteilen und entehrenden Strafen sucht er die Freigeborenen heim, schamlose Erpressung geht nebenher. Wie das Volk beschaffen ist, in dessen Mitte er sich niederläßt, wie es denkt und empfindet, danach fragt er nicht, wenn es nur die Steuern zahlt, die er ihm auferlegt. Vergeblich warnt Segestes, dem das dumpfe Grollen der Unterdrückten nicht entgeht, Varus verschließt ihm das Ohr, denn neben dem verblendeten Prokonsul steht als sein Schicksal Arminius, der den Leichtherzigen, Sorglosen, ganz vom römischen Geist Erfüllten um so glücklicher spielt, als er nur darzustellen braucht, was er einmal in Wirklichkeit gewesen. Aus dem getäuschten Vertrauen ist ihm der wütende unversöhnliche Haß herausgewachsen. Mit raschen, leichten Schritten einer Tigerkatze umgeht er sein künftiges Opfer. Er bestärkt den Römer in jeder Maßregel, durch die er sich noch verhaßter machen kann, und während Varus seine Ränke spinnt, ist er selber schon von einem viel gefährlicheren Gespinst umstrickt. Die Cherusker, die er für halbe Tiere hält, umdrängen ihn mit gespielter Wildeneinfalt und tragen ihm erdichtete Händel vor, über deren Schlichtung er seine Feldherrnpflichten versäumt. Die knifflichsten Rechtslagen werden mit einem wahrhaft diabolischen Humor erörtert, wobei dem Dichter seine Kenntnis des Corpus juris zu statten kam, und der Spruch lautet jedesmal für Kläger und Beklagte: Zahlen! Arminius aber dankt für die Mühewaltung und preist die Weisheit römischer Rechtspflege, die jetzt Streitigkeiten schiedlich beilegt, für die es sonst nur den Austrag durch die Waffen gab. 54
Verwandelt sind die Menschen, seit du kamst,
Sie lernen Ordnung und Gesetz verehren,
Des Friedens pflegen. Und nicht sie allein:
Verwandelt selbst ist die Natur, mein Land
Erkenn' ich kaum, so milde Lüfte wehen,
So herrlich reift die Ernte unsrer Sichel.
Italiens Himmel brachtest du mit dir,
Die ältsten Leute in Cheruska sahen
Solch einen Sommer nie. Walhalla lächelt,
Weil Romas Götter unsre Gäste sind,
Und für die Menschen tagt ein neues Leben.
Und Varus, der an Verbindlichkeiten nicht zurückstehen will:
Sind denn die Cherusker Menschen? fragt er.
Nichts Menschenähnliches seh' ich an ihnen
Als Stimm' und Antlitz, und auch diese kaum,
So häßlich ist ihr Wuchs und ungeschlacht.
Ihr Gang braucht gleich des halben Heerwegs Breite.
Ein Taumeln ist's, kein Geh'n. – Sprichst du sie an,
Wie Klötze stieren sie minutenlang,
Eh' sich der träge Geist zur Antwort sammelt,
Und Dunst von Meth umweht sie wo sie stehen.
Das sollen Menschen sein!
Dann seh' ich dich,
Armin, den Roma liebt, und frage mich,
Ob du Cherusker bist.
Armin Wohl bin ich's, Varus! 55
Varus Du bist es nicht. Wie wär' dein Fuß so leicht?
Wie wär' dein Geist so rasch, daß er das Wort
Versteht, bevor die Lippen es gesprochen?
Armin Die Edlen unsres Volks erlernen früh
Den Waffentanz: durch aufgesteckte Schwerter
Die Leiber werfen mit verweg'nem Schwung,
Da heißt es flink und doch behutsam sein,
Das bildet mit dem Körper auch den Witz.
Dann üben wir die Kunst – 's ist unsre einzige –
Im vollen Rosseslaufe abzuspringen,
Zu Fuße, Speere werfend, Schritt zu halten
Und wieder aufzuspringen nach Bedarf.
Varus Das möcht' ich sehn.
Armin Ich brenn', es dir zu zeigen.
Varus Nein, nein, du bist nicht Sohn des Segimer.
Zu Drusus' Zeiten zogen die Legionen
Durch dies Gebirg', der schönste Reiteroberst
Gefiel der Fürstin – zwar dein Aug' ist blau,
Doch römisch ist der Geist, der ihm entstrahlt.
Armin Mein Feldherr, du verpflichtest mich zu tief.
Nach diesem Gespräch nehmen die markomannischen Gesandten eilends Abschied, um ihrem König zu berichten: 56
Wohl geht Armin mit schweren Taten schwanger,
Da er die Mutter lästern hört und lächelt.
Das Blättchen, worauf diese Worte von des Dichters eigener Hand stehen – er hatte sie doppelt geschrieben –, ist das einzige sichtbare Andenken an jene Zeit, das ich von Gustav Borck besitze.
Der Dichter las und las, bis alle Kerzen niedergebrannt waren, während wir unbeweglich saßen und kaum zu atmen wagten. Keiner von uns lebte mehr in der Wirklichkeit, wir waren ins Lager des Varus entrückt, in das sich vorbereitende Verderben. So oft Gustav eine Pause machte, waren drei Paar Augen auf ihn mit Spannung gerichtet und baten: Weiter! Nicht der aufdämmernde Morgen, nur der Umstand, daß das Geschriebene zu Ende war, zwang uns endlich aufzubrechen.
In dieser Nacht zerschmolz das letzte Eis zwischen ihm und seinen Freunden, wir durften ihn fortan in unsere Brüderlichkeit einschließen. Mit überwallendem Herzen dankte er seinen Hörern und erklärte sich für unsern Schuldner, indem er jedem von uns für einen Beitrag verpflichtet sein wollte: mir für die Züge indianischer Wildenschlauheit, die er seinen Cheruskern lieh, Kuno Schütte für den Seherton der Alraune, unserm Jüngsten, der mit seinem Kindergemüt überall kleine reizvolle Erlebnisse hatte, für die Gestalt eines von der achtzehnten Legion aufgelesenen und gehätschelten Germanenkindes, denn ein ähnlich reizendes Naturwesen, das er als Knabe kannte, hatte dieser in seinen Liedern besungen.
So schenkte er jedem großmütig einen Anteil an seinem Glück. Unmöglich, sich in dieser Stimmung zu trennen. Es wurde 57 beschlossen, Adele zu wecken, damit sie uns einen starken Kaffee braue, und unsere Sitzung bis Sonnenaufgang am Stammtisch fortzusetzen.
Unbarmherzig klingelten wir die Ärmste, die jede Nacht bis zwei Uhr auf den Beinen sein mußte, aus dem Morgenschlaf, und sie öffnete auch gehorsam, weil sie Gustavs Stimme vernommen hatte. Mit verschlafenem Gesicht, die dunklen Haare in kleidsamer Unordnung um den zierlichen Kopf geschlungen, erschien sie bald darauf mit dem dampfenden Kaffee. Aber keiner von uns, vielleicht Olaf ausgenommen, hatte einen Blick für diese verträumte Schönheit, so ganz standen wir noch unter dem Bann der heroischen Dichtung.
Niemals bis an mein Lebensende werde ich jenen frühen Maimorgen vergessen, wo wir vier mit übernächtigen Gesichtern und glühenden Augen, den Rausch der Dichtung noch in den Adern, in der kleinen Stube beisammen saßen. Eine so tiefe Spur hat er in mir zurückgelassen, daß noch heute der Duft von frischgebrautem Kaffee in der Dämmerfrühstunde genügt, ihn mir ins Gedächtnis zu rufen. In Gustav brannte das Feuer weiter, er sprach und sprach. Seine Gestalten wurden beim Reden noch lebendiger und durchsichtiger, als sie es während des Lesens waren, wir lernten wie von lebenden Menschen nach und nach jede Abschattung ihres Wesens kennen und sahen in das innerste Triebwerk ihres Seelenlebens hinein. Unsere Ungeduld fragte ihm auch die Fortsetzung ab, die erst im Szenarium entworfen war und die er uns bruchstückweise erzählen oder aus zerstreuten Aufzeichnungen seines Taschenheftchens lesen mußte. Beim Beginn des zweiten Aktes sahen wir römische Soldaten damit 58 beschäftigt, zu Bauzwecken unwissentlich einen hochheiligen Eichenwald zu fällen, aus dem ihnen ein altes, wirr und wüste aussehendes Weib, die Schicksalsfrau aus dem Vorspiel, entgegentritt. Ein Veteran erkennt in ihr dieselbe Unholdin, die ein halbes Menschenalter zuvor durch ihr Erscheinen den Drusus zur Umkehr aus Deutschland bewogen und ihm seinen nahen Tod verkündet hat. Der Soldat glaubt, daß sie das Pferd verhext habe, das kurz darauf seinen geliebten Feldherrn zu Tode schleifte, und in dem Wortwechsel, der sich entspinnt, wird die Hexe erschlagen. Sterbend murmelt sie eine furchtbare Weissagung, aber die barbarischen Laute werden von den römischen Soldaten nicht verstanden und verlacht. Zwar trifft die römische Mannszucht in Gestalt eines Zenturionen wie ein Wetterstrahl den Schuldigen, und der Feldherr, von Armin bestärkt, redet sich ein, daß mit dem Blut eines römischen Legionärs das Blut eines alten germanischen Holzweibleins mehr als bezahlt sei. Aber das Holzweiblein war die allverehrte Seherin des Stammes gewesen, und ihr Tod ist für den Fürsten der willkommene Hebel, das Volk zum Aufstand zu bewegen. Rasch läßt er Runen schnitzen und ihre Weissagung von einem nahen unerbittlichen Strafgericht über alle umwohnenden Stämme verbreiten. Bis dahin hat er noch der germanischen Trägheit und Uneinigkeit mißtraut, jetzt, wo die Seherin erschlagen, die Heiligtümer geschändet sind, kann er den heiligen Krieg entbieten, und jetzt verläßt er sich fest auf seine Landsleute. Jedoch Segestes durchschaut den Anschlag und entdeckt ihn dem Varus. Alles scheint verloren. Varus aber ist nicht zu warnen. Sein Vertrauen in Arminius hat etwas Schicksalhaftes wie das des Friedländers in den Pikkolomini. Er hält es 59 für unmöglich, daß einer, der die römische Ritterwürde trägt, seine heimischen Wälder und rohen Steinaltäre den vergoldeten Tempeln Roms und seinen geselligen Genüssen vorziehen sollte. Von allen Barbaren ehrt er nur diesen Einen als seinesgleichen. Auch der ergebene Segestes ist ihm nur der dummschlaue Wilde, dessen selbstische Absichten er durchschaut; in dem schönen, von Geist umleuchteten Cheruskerjüngling sieht er die wahre Stütze des Römertums und läßt sich ganz von seinen Ratschlägen leiten. Und völlig sicher, wie von einer höheren Macht geführt, geht der junge Held seine gefährlichen Wege. Er spielt noch in grausamer Lust mit den Römern, ehe er sie vernichtet. Varus hat ihm beim Gastmahl eine griechische Flötenspielerin an die Seite gelegt, und der Gatte Thusneldens tändelt mit dem schönen fremden Singvogel, von dem man ihn gefesselt glaubt, während schon alle Wälder und Schlupfwinkel von bewaffneten Cheruskern und ihren Verbündeten wimmeln. Thusnelda zürnt und fordert von dem Römergesetz die Scheidung, die ihr der germanische Brauch versagt, Armin beschwichtigt sie und verspricht ihr Sühne, doch in sein Geheimnis läßt er auch die Tochter des Segest nicht blicken.
Hier legte auf einmal Adele, das seltsame Mädchen, den Kopf auf den Arm und weinte. Vielleicht sagte ihr das weibliche Gefühl, daß ihr Dichter die Frauen nicht ernst nahm; weshalb auch die Liebesszenen immer die schwächsten Stellen des Dramas bleiben sollten. Man war übrigens Adeles Seltsamkeiten gewohnt und achtete nicht darauf. Am wenigsten Gustav, dessen Gedanken alle um den Cherusker kreisten. Er hielt ihm noch eine glühende Lobrede.
60 Zu denken, daß der deutsche Genius und die deutsche Sprache nicht mehr wären, daß es keinen Faust gäbe, daß nicht ein einziges deutsches Lied gedichtet werden könnte, wäre Er nicht gewesen, der unser Volkstum und unsere Muttersprache gerettet hat. Ohne ihn wären wir wie die unterworfenen Gallier zu Römern und Römeraffen geworden. Wenn einmal der deutsche Genius sein Weltreich antritt, zu dem er berufen ist, so dankt er es einzig dem Armin. Und seine Spur hat das siegreiche Christentum ausgelöscht mit allen großen Erinnerungen unserer Frühzeit. Die Lieder hat es vernichtet, die sein Volk auf ihn sang. Aber getrost, wir werden neue Lieder singen. – Und nun guten Morgen, Sie schläfrige Hebe, richten Sie den Kopf in die Höhe, die Sonne geht auf, da müssen auch die Blumenköpfchen sich heben.
Adele richtete sich folgsam auf und lächelte; sie glich nun wirklich einer Blume, die ihre betauten Kelchblätter dem Sonnenstrahl öffnet. Kuno und Olaf gingen heim, den versäumten Schlaf nachzuholen. Ich begleitete Gustav, der seinen heißen Kopf auf einem Frühspaziergang lüften wollte, nahm noch mit ihm ein Bad in dem eiskalten Flusse und sah ihn dann erfrischt ins Kolleg gehen, als ob er eben erst vom Bette aufgestanden wäre. Und die ganze folgende Nacht fiel wieder aus dem hohen Turmzimmer der Schein der Lampe über den dunklen Neckar.
*