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Auf der Villa Ehrland herrschte Bestürzung. Im Morgengrauen war der Konsul ganz leise aufgebrochen um nach Venedig vorauszureisen, wohin ihm die Familie in wenigen Tagen nachfolgen sollte. Das war von lange her so bestimmt, Franz Ehrland liebte die festen Bestimmungen. Frau Isa, die Langschläferin, hatte sich bei seinem Weggang nicht gerührt. Aber eine Stunde später – für sie immer noch ungewöhnlich frühe – erschien sie selber in Hut und Mantel, einen Brief in der Hand, und erklärte den verwunderten Dienstboten, sie habe ein Schreiben persönlich zur Post zu geben und noch ein paar andere Dinge zu machen, man solle unterdessen die Kinder gut versorgen. Ein kleines Täschchen trug sie auch unter dem Mantel, und so war sie ins Tal hinabgestiegen und nicht mehr zurückgekehrt. Die Kinder weinten nach der Mutter, als sie nicht zur gewohnten Stunde mit ihnen spielen kam, ein Aufwärter wurde zur Post geschickt sich nach ihr zu erkundigen, aber dort war sie nicht gesehen worden. Mit dieser wunderlichen Neuigkeit begab sich der Mann zu Mariannen. Allein diese war benachrichtigt. Sie hatte nach der schlechten Nacht in den hellen Tag hineingeschlafen und befand sich noch im Morgenbad, als ihr von unbekannter Hand ein Brief ins Zimmer gelegt wurde. Er kam von Isa, die sie um den schwesterlichen Liebesdienst bat, sich unverzüglich auf die Villa zu begeben und für ein paar Tage an ihren Kindern Mutterstelle zu vertreten. Sie habe das Bedürfnis, einmal fern von Hause und ganz mit sich allein zu sein. Sie bitte dringend ihr weder nachzuspüren, noch Franz von ihrem Schritt in Kenntnis zu setzen, sie werde nichts über ihre Kräfte unternehmen, erhebe aber als Mensch den Anspruch, endlich auch einmal sich selber zu gehören.
Marianne erschrak nicht im geringsten, sie begriff dieses Verlangen und billigte es, sie hatte es ihr ja selber des öfteren einzuflößen gesucht. Aber aus dem Umschlag fiel noch eine Nachschrift auf besonderem Zettel heraus:
»Du sprachst mir einst vom Rechte der Dämonen und daß man einmal sich selber verloren haben müsse um sich selber ganz zu besitzen. Ich verstehe dich jetzt besser als damals.«
Und auf der Rückseite, nur noch mit Bleistift hingekritzelt, stand:
»Ich rechne damit, daß bei meiner Rückkehr dein Freund, der die seltene Kunst versteht auf zwei Instrumenten zugleich zu spielen, abgereist sein wird. Du wirst mich, hoffe ich, nicht in die Lage versetzen ihn als Schwager begrüßen zu müssen.«
Marianne stand starr mit diesen Zeilen in der Hand. Dennoch war sie keinen Augenblick über ihren Zusammenhang im Unklaren. Durch den schimmernden Nebel ihrer jüngsten Bezauberung erkannte sie wieder deutlich den Ivo, vor dem sie geflohen war. Erst trieb es ihn, Wohlgefallen zu erwecken, dann sich der Menschen unmerklich zu bemächtigen und sie mit seinem Stempel zu prägen, und war das dann eine Weile schön und wohltätig gewesen, so mußte es mit Pein und Verwirrung endigen. Während er in sicherem Vertrauen auf den Endsieg bei ihr sein Ziel verfolgte, konnte die unersättliche Eitelkeit ihm nicht erlassen, daneben noch ein kleines Strohfeuerchen anzuzünden, an dem Isa sich versengen mußte. Wahrscheinlich hatte er nicht berechnet, wie weit das gehen würde und daß die reizende verhätschelte Frau ganz verdurstet war nach dem anregenden Neuen. Gewiß war nichts zwischen ihnen geschehen, was Franz Ehrland nicht hätte verzeihen können und müssen. Eher verließ ein Stern seine Bahn als Isa den Weg, den Rechtsgefühl und Sitte ihr vorschrieben. So kannte sie ihre Schwester seit den Tagen der Kindheit, wo man sich am besten kennt. Aber was jetzt in ihr wühlte und sie von Hans und Kindern wegtrieb, konnte keine kleine Ursache haben. Sie hatte offenbar einen köstlichen Besitz zu halten geglaubt, einen einzigen Seelenbund, an dem kein Dritter Teil hatte, und gestern Abend, als sie ihnen nacheilte und aus Ivos Verstimmung, die er nicht beherrschen konnte, begriff, daß sie ihm lästig war, da stürzte das Kartenhaus zusammen. Empörung gegen den Mann, der dieses frevelhafte Spiel treiben mußte, Mitleid mit der Schwester und Ärger über ihre Heimlichkeit gingen stürmend in Marianne auf und nieder. Jetzt war ihr auch der zugespitzte Ton klar, in den die ruhigwägende Schwester zuweilen ihr gegenüber verfallen war; er bewies, daß Isa im Herzen gegen sie Partei genommen hatte und persönliche Wege verfolgte. Gestern Abend mußte sie mitangesehen haben, wie Ivo seinen Arm vertraut unter den ihrigen schob und sie an sich zog wie ein wiedergefundenes Eigentum. Zorn- und Schamröte schlug ihr ins Gesicht beim Gedanken an diesen Waldgang.
Hastig steckte sie die Haare auf und vollendete ihren Anzug um sich nach der Villa zu begeben. Was sie dort für eine Erklärung vorbringen sollte, wußte sie noch nicht. Auf dem Flur fand sie zu ihrer Überraschung Marco, denn er war es, der den Brief gebracht hatte. Er trieb sich vor ihrer Tür herum, weil er auf ein Lob wegen des Feuerwerks hoffte. Sie zog ihn in ihr Zimmer um ihn auszuforschen. Er hatte sich nach der Abfahrt des Konsuls, der das Staatsauto nach Feltre benützte, auf die bis dahin gemiedene väterliche Villa begeben um ein Kleidungsstück für die kälteren Tage aus dem Schuppen zu holen, denn seit dem letzten Zerwürfnis mit der Familie nächtigte er unter dem Dach seines alten Freundes, des Bergführers. Da war ihm zu seinem Erstaunen die »Frau« begegnet, zum Fortgehen gerüstet. Sie hatte ihn freundlich hergewinkt und ihn gebeten, seiner Tante einen Brief zu bringen. Doch hatte sie ihm eingeschärft seinen Auftrag erst nach einer Stande auszurichten und sich nicht um ihre Wege und Stege zu kümmern. Das hatte er alles pünktlich ausgeführt, und wußte also nicht, wohin sie gegangen war.
Höre, sagte Marianne, ich muß dir etwas anvertrauen, wobei ich mich ganz auf deine Treue und Verschwiegenheit verlasse.
Der Knabe glänzte auf.
Deine Mutter ist von Hause fortgegangen um sich einmal allein vom Kinderlärm zu erholen. Sie hat ganz recht und ich verstehe sie vollkommen. Ich bin aber doch besorgt, weil sie nicht gewohnt ist, sich allein in der Welt herumzutreiben.
Du darfst nicht besorgt sein, antwortete der Knabe. Die Frau ist viel geschickter als du denkst. Sie findet alle Wege, auch solche, die sie nie gemacht hat.
Aber es kann ihr ein Schaden zustoßen, mein Junge. Wir sind deinem Vater verantwortlich. Du kennst jeden Hund und jede Katze im Umkreis von vielen Meilen, dir wird es nicht schwer sein zu erfahren, wohin sie gegangen ist. Du mußt es nur klug anfangen, damit kein Aufsehen entsteht.
Da kannst du ruhig sein, Tante Marianne, ich frage nur Hunde und Katzen und Bergführer, die sind alle drei verschwiegen, – er lachte treuherzig über sein ganzes breites Gesicht – bis in einer Stunde spätestens bringe ich dir die Antwort.
Das tue, mein Junge. Es genügt aber nicht zu wissen, in welcher Richtung sie sich entfernt hat. Ich möchte ihr einen unsichtbaren Begleiter mitgeben, der ihr im Notfall beispringen kann, von dem sie aber nicht ahnen darf, daß er ihr folgt. Und das kann niemand besser machen als du. Sieh zu, daß du ihr aus der Entfernung nachfährst, denn zu Fuße wird sie ja nicht ausgezogen sein. Hier ist Geld. Gib davon aus, so viel du willst, nur daß alles ganz geheim bleibt.
Er schob das Geld zurück. Ich brauche keins. Ich habe genug verdient, und die Frau wollte das Geborgte nicht zurücknehmen. Ich soll es behalten, sagte sie, es sei mir geschenkt. Die Frau ist immer gut zu mir gewesen. – (Unter dem Geborgten verstand er, was er aus Isas Kasse genommen hatte.)
Er versprach Marianne sein Bestes. Aber er zögerte noch ein wenig, ehe er ging.
Hast du gestern nach der Rosetta hinausgesehen, Tante Marianne? fragte er zaghaft.
Ja, ja, antwortete sie zerstreut, ohne zu wissen, was sie sagte. Mit dem Namen Rosetta verband sich ihr neuerdings nur noch die Vorstellung des Gasthofs wo Ivo wohnte.
Marcos ganze Freudigkeit fiel zu Boden. Das Feuerwerk, für das er so große Opfer gebracht hatte, war nicht nach ihrem Geschmack, die Huldigung, mit der er ihr danken und ihr seine ganze Anhänglichkeit ausdrücken wollte, hatte ihr nicht gefallen! Sie verlor nicht einmal ein Wort darüber, als ob es eine Sache wäre, von der man am besten schwiege! In tiefer Niedergeschlagenheit schlich er von ihr fort und sann vergebens, was er nur verfehlt haben könne. Um so größere Mühe wollte er sich geben ihr jetzt alles zu Danke zu machen.
Eine Stande später erhielt sie schon einen Zettel ihres treuen Caliban, den ein kleiner Junge auf die Villa brachte. Es war ein abgerissenes Stück Papier, worauf mit Marcos unbehilflichen Zügen geschrieben stand:
Die Frau ist bei Fratazza eingestiegen und fährt auf den Rollepaß. Ich werde früher dort sein als sie, mich nimmt ein Fahrer in seinem Auto mit.
Auf dem Weg zur Villa Ehrland war es unterdessen zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Marianne und Ivo gekommen. In dem kleinen Gehölze, das sie durchqueren mußte, hörte sie einen raschen Schritt hinter sich, und an der Wegbiegung fühlte sie sich plötzlich von hinten am Arm gefaßt.
Ich habe mit dir zu sprechen, herrschte Ivo sie erregt an, der ihr vom Torweg aus heimlich gefolgt war.
Und ich mit dir, antwortete sie in kaltem Zorn.
Er achtete aber nicht darauf, sondern fuhr fort:
Warum kamst du gestern nicht herunter? Du hörtest mein Zeichen und löschtest dein Licht wie um mich zu verspotten.
Ich wollte schlafen, antwortete sie kurz.
Er lenkte ein und sagte in gelinderem Ton: Was soll das heißen? Haben wir einander noch nicht genug gequält?
»Wir«? und »einander«? sagte sie stehenbleibend mit Entrüstung.
Noch einmal fiel er seiner Heftigkeit in die Zügel und machte eine geschickte Wendung: Du hast Recht, es waren nicht wir, die sich quälen mußten; es waren die Nervengifte der Großstadt. Das ist jetzt anders, und du hattest versprochen wieder gut zu mir zu sein. Woher nun dieser plötzliche Wechsel?
Sie sah ihn durchdringend an.
Weißt da, warum Isa fortgegangen ist?
Frau Isa? sagte er. Ich wußte nicht, daß sie fort ist und noch viel weniger weiß ich den Grund. Kann ich deiner Schwester Hüter sein?
So erkläre mir, was dieser Zettel meint. Das bist doch du, der Mann, der auf zwei Instrumenten zugleich spielt. Solche Fertigkeiten besitzt kein anderer, sagte sie schneidend.
Er gab den Zettel zurück: Wenn ich damit gemeint sein soll, so kann ich nur sagen: Ich verstehe es nicht. Zwischen deiner Schwester und mir war nichts, das einen solchen Ausspruch rechtfertigen konnte.
In der Tat, spottete sie.
Ja, in der Tat, sagte er bestimmt. Und nimm meinen Rat an, liebe Marianne, lege diesen ironischen Ton ab, er steht dir nicht, er macht dich häßlich.
Ich wünsche nicht mehr schön für dich zu sein. Das aber wünsche ich zu wissen, wodurch du die ruhige Isa so aus dem Gleise gebracht hast.
Deine Schwester leidet am allzu großen Gleichmaß ihrer Ehe, sagte er in einen gelassenen Ton fallend. Das ist das Geheimnis ihres Leidens und auch das ihres heutigen Abenteuers. Dein Schwager ist ein trefflicher Mann, aber – du verzeihst mir, wenn ich es ausspreche – er ist ein wenig – langweilig. Da hielt sie sich an mich. Und ich gutmütiger Narr gab mich dazu her, ihr die leeren Stunden durch Vorlesen und Schachspiel auszufüllen. Sie hatte mich auch eingeladen, ein paar Tage bei ihr in Venedig zuzubringen. Dein Schwager unterstützte die Bitte. Dabei stellte sie mir zugleich eine Grenze unserer Beziehungen auf. Als ob das nötig gewesen wäre. Als ob ich je etwas anderes als Mariannens Schwester in ihr gesehen hätte.
Aus Mariannens Seele schrie es und wurde wider ihren Willen zu Wort und Klang: Du lügst!
Marianne! Das ist zu stark. – Seine Augen blitzten. – Ich bin deiner Schwester nie zu nahe getreten.
Das glaube ich dir, antwortete sie kalt. Aber daß du an dem heutigen Vorgang unschuldig seist, glaube ich dir nicht. Du spieltest, du mußtest wieder einmal mit Frauenherzen spielen, denn ohne das kannst du, wie es scheint, nicht leben.
Ist das Marianne, die zu mir spricht? Dieselbe, die noch gestern Geist in Geist mit mir verschmolz, daß wir aufs Neue zu Einem Menschen zusammenwuchsen? Und heute muß ich solche Verzerrung über mich ergehen lassen? Ich weise sie zurück. War es denn ein Unrecht, wenn ich mir eine Fürsprecherin an deiner Schwester gewinnen wollte?
Du wolltest wohl noch etwas mehr, Ivo. Ich durchschaue alles. Du wolltest mich eifersüchtig machen um zu herrschen, wie du tausendmal die arme Ilona eifersüchtig gemacht hast und dich an ihrer Pein geletzt.
Gut denn, da du es selber aussprichst. Ja, ich wollte dich ein wenig eifersüchtig machen. Jedes Mittel muß mir recht sein, das dich mir wieder gibt. Zwischen uns ist ein Krieg, wo alle Waffen gelten.
Alles mag eine Frau dem Mann den sie geliebt hat verzeihen, nur nicht die Entdeckung, nach einem Rezept behandelt worden zu sein. Wie sie ihn nun mit einem raschen Blick streifte, flößte ihr die Bewegung seines Kopfes auf dem Halse einen jähen Widerwillen ein.
Klapperschlange, sagte sie leise.
Nun verließ auch ihn die Beherrschung. Er näherte ihr sein Gesicht mit einem grausamen Ausdruck:
So gut kennst du mich? Nun will ich auch sein was ich dir scheine. Ich will dich in meinen Ringeln preßen, daß dir der Atem ausgeht. Denn daß ich dich nicht freigebe und daß du gar nicht freigegeben sein willst, das wirst du seit dem gestrigen Abend eingesehen haben.
Er wollte sie mit einem zornigen Griff an sich reißen, aber sie schlug ihm mit der Hand ins Gesicht und floh, sein sprachloses Erstaunen benützend, auf den Ausgang des Gehölzes zu. Sie war schon im freien Talgrund, der vor aller Augen offen lag und wo die Kuhherden unter Aufsicht der Hirten weideten, als er sie mit grimmigem Lachen ereilte.
Ich wünsche keine weitere Begleitung, Herr von Geier, sagte sie sich zurückwendend.
Niemals konnte Marianne später mehr begreifen, wie diese so ganz unerwartete und hemmungslose Entladung zustande gekommen war, und Ivo, der plötzlich ein Spiel verloren sah, das er mit seinen tausend Feinheiten schon so gut wie gewonnen hatte, begriff es ebensowenig.
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