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Das alte bresthafte Staatsauto ratterte mit gründlicher Verspätung vor dem Posthaus von San Martino di Castrozza an, das um jene Zeit noch das Wahrzeichen des Doppeladlers trug. Die Fahrgäste sahen übermüdet und durchfroren aus, denn sie waren im Morgengrauen von Bozen aufgebrochen und hatten unterwegs einen kleinen Unfall erlitten, der sie zwang auf freiem Felde frierend und hungernd zu warten, bis der Ersatzwagen zur Stelle kam; dann waren sie auf dem Rollepaß bei schneidendem Wind unter einem Schneegestöber durchgesaust, das sich tiefer unten in eisigen Regenschauer verwandelte. Aber gerade im Augenblick, wo auf der grünen Matte das Kirchlein des heiligen Martinus mit dem frühmittelalterlichen Glockenturm auftauchte, tat das Gewölk in der Höhe einen Ruck und als sie über die Cismonebrücke donnerten, lagen schon die beschneiten Häupter der Palakette vom Cimone bis zum Saß Maor in strahlendem Licht. Nur um ihre Flanken wallte es noch von grauen Dunstmassen, aus denen die Bergwälder da und dort ihre Wipfel hervorstreckten. Wo sich das breite Tal nach Mittag senkt, da lachte der blauste Himmel die grünste Erde an, die nassen Wiesen funkelten, heitere Lärchen begleiteten den Wildbach in die Tiefe, und ganz unten im fernsten Hintergrund lagerten sich, fast durchsichtig vor Helligkeit, die edelgezeichneten Feltriner Alpen wie eine hohe, lichtumflossene Schranke vor dem Paradiesgarten des Südens.

Eine Reisende im Pelzkragen und langen, Mantel schlug ihren grauen Autoschleier zurück, um einen Blick müder Neugier auf die wildgezackte Rosettagruppe zu werfen, die wie eine Erscheinung über dem dampfenden Tale stand, und sagte:

Das also sind die Dolomiten!

Sie sagte es zu sich selbst, denn die Reisegefährten, die der Zufall zusammengewürfelt hatte, kümmerten sich schon nicht mehr um einander, sondern rafften eilig ihre Gepäckstücke zusammen und trennten sich nach flüchtigen, Gruß. Nur die Fremde zögerte ein wenig und suchte mit den Augen umher, ob niemand zu ihren, Empfang gekommen sei, bevor sie etwas enttäuscht dem gepäcktragenden Gasthofdiener den Rasenhang hinan zur »Alpenrose« folgte. Die Begegnenden tauschten bei ihren, Erscheinen rasche Blicke, und heimlich wurde der Name Marianne Sebald geflüstert, denn ihr Gesicht, das aus unzähligen Lichtbildern bekannt war, ging wie ein Steckbrief mit der berühmten Sängerin.

In ihren, Zimmer angekommen, öffnete sie die Balkontür und trat auf die hölzerne Vorlaube, die ganz in Licht gebadet war, hinaus. Da stand die Rosettagruppe in abenteuerlicher Wildheit, gelbgrau mit blendend weißen Gletschern und Firnen, so schreckhaft nahe über dem Tal, als wollte sie der Beschauerin zu Leibe rücken, daß diese in halben, Entsetzen die Augen schloß und ins Zimmer zurücktrat.

Also das sind die Dolomiten, sagte sie noch einmal zu sich selber, – fremdartig, irrsinnig; ob ich sie lieben werde, weiß ich nicht. Aber wenn ich mich an sie gewöhnen kann, werden sie mich vielleicht stark machen.

Kaum hatte sie ans Starkwerden gedacht, so mußte sie sich vor plötzlicher Schwäche niedersetzen, und Tränen drangen ihr in die Augen. Siehe da, ihr Herzeleid, das sie hinter sich zu lassen glaubte, war ihr über den Rollepaß vorausgeflogen und saß schon sicher eingenistet in dem neuen Raum.

Die Sängerin floh vor einer Liebe, die ihr kein Glück verhieß und ohne die sie doch nicht leben zu können glaubte. Mehrere Jahre eines leidenschaftlichen Verhältnisses, in dem die Entzweiungen und Versöhnungen wechselten wie Ebbe und Flut, hatten ihre Kraft zermürbt und am Ende auch dem Schmelz ihrer Stimme, diesem kostbarsten ihrer Kleinodien, Eintrag getan. Da war ihr keine Wahl geblieben, als der unerträglich gewordenen Lage zu entrinnen und eine Zeitlang ganz für ihre Wiederherstellung zu leben.

Die Stimme werde im alten Glanze wiederkehren, sobald die Nerven sich erholt hätten, denn es liege kein örtliches Leiden vor. tröstete der befreundete Facharzt, den sie zu Rate zog. Ortsveränderung, viel Schlaf und viel Bewegung in frischer Luft und alle trüben Gedanken verscheuchen, das sei das einzige was er verordnen könne. Und keinen Ton singen, ehe der verflogene Wundervogel sich von selber einstelle.

Daraufhin hatte sie einen langen Theaterurlaub genommen und zuerst an der Riviera, dann im Engadin ihr Heil gesucht, aber der Druck der Seele wollte nicht weichen. Nähere Freunde, zu denen sie flüchten konnte, besaß sie keine; sie büßte jetzt, daß sie zu lange und zu ausschließlich nur für Einen gelebt hatte. Die allverhindernden Ansprüche dieses verwöhnten Mannes hatten zwischen ihr und der Umwelt eine Entfernung geschaffen, die zur gähnenden Leere wurde, als sie sich von ihm losriß. Jetzt fühlte sich die gefeiertste Künstlerin der Kaiserstadt an der Donau inmitten der großen Welt, die ihr huldigte, einsam wie im Grabe. Da kam eines Tages von ihrer Schwester Isa, die in Venedig lebte und die Sommer mit Mann und Kindern in San Martino verbrachte, eine farbenglühende Postkarte, worauf die Palagruppe mit rosenroten Fingern in einen kobaltblauen Himmel griff und die Villa Ehrland inmitten giftgrüner Wälder mit einem Kreuz bezeichnet war. Und die Einbildung raunte ihr zu, wenn irgendwo, so müsse auf diesen hängenden Matten, unter diesem strahlenden Himmel in Isas Nähe der Friede wohnen. Bei ihrer schönen, stillen Schwester, die immer das Rechte sah und nie einen falschen Schritt im Leben getan hatte, wollte sie in die Schule gehen. Wenn das nicht half, so gab es keine Hilfe mehr. Ohne weiteres bestellte sie ein Zimmer in der »Alpenrose« und drahtete den Ihrigen: Ich komme.

Diese jüngere Schwester hatte früh und nach freister Herzenswahl geheiratet, einen Witwer zwar, aber einen jugendlichen, vielbegehrten, der sie in die Lagunenstadt führte, wo sie beim Wiegen der Gondeln ein halbverträumtes, ihren trägen Neigungen schmeichelndes Leben führte. Seit der Geburt des jüngsten Töchterchens schien sie zu kränkeln. Aber sie lag sicher im Arm der Liebe. Der Älteren war es nicht so leicht geworden. Einen Jugendgeliebten hatte sie begraben müssen und vieles Leid mit den Ihrigen erlebt, bevor der Wert ihrer Stimme entdeckt wurde, die ihr die Tür zu Ruhm und Reichtum und zu einer neuen Liebe öffnete. Aber nun war der Boden ihres Glücks zum zweitenmal unter ihr eingebrochen, und die Berühmte, Vielbeneidete kam, bei der letzten Blutsverwandten, die ihr geblieben war, das verwundete Herz zu heilen und Lebenskunst zu lernen, woran es ihr ganz gebrach.

Aber das fing nicht gut an. Sie hatte sich ihre Ankunft anders vorgestellt. Immer stellt man sich ja die Ankunft anders vor. Sie brauchte Liebe, viel viel verstehende Liebe um zu genesen, ein warmes Bad, in dem sie wohlig die Augen schließen und die Schmerzen versausen lassen konnte. Wo waren jetzt die zärtlichen Arme, die sich nach ihr ausstrecken sollten? Während des ganzen Wartens auf der frostnassen Wiese hatte sie vor allem gefürchtet, Schwester und Schwager durch die stundenlange Verspätung in Unruhe zu versetzen. Nun hatten die sich um die Stunde ihrer Ankunft überhaupt nicht gekümmert und warteten ruhig ab, daß sie an ihre Tür klopfe. Seit Jahren hatte man sich nicht gesehen, und Jene zeigten so wenig Eile, sie in die Arme zu schließen! Fast bereute sie schon ihr übereiltes Kommen; die starren, grausam nahen Berge vor ihrem Fenster erschienen ihr wie das Spiegelbild ihrer Herzenseinsamkeit und waren ihr so unleidlich, daß sie ihnen beim Niedersitzen den Rücken zudrehte.

Da klopfte es, und ein ungeschlachter Junge mit häßlichem, strohgelben, Haar und grobgenagelten Schuhen polterte ins Zimmer um ihr ein Brieflein auf den Tisch zu werfen. Es kam von ihrem Schwager, der sich entschuldigte, daß er wegen Isas leidendem Zustand nicht in Person erscheine; er hoffe, der teure und verehrte Gast werde sich unterdessen gut ausgeruht haben und ein bescheidenes Abendbrot in seinem Hause nicht verschmähen.

Jetzt schnellte die Freude des nahen Wiedersehens wieder hoch auf, und der Vorwurf war verweht. Der Sängerin, die nicht bloß Theaterstern, sondern durch und durch Musikerin war, erging es wie allen Kindern der Musik, daß sie im steten Wechsel der Gefühle lebte. Sie vergaß, daß sie nach der langen Fahrt noch nicht geruht und nichts genossen hatte, und ordnete nur rasch die Haare vor dem Spiegel, um dem Ruf der Ihrigen zu folgen. Noch einen Augenblick betrachtete sie aufmerksam den rassigen Frauenkopf im Spiegel, an dessen Schönheit das Leben mitgearbeitet, aber auch schon leise gerüttelt hatte, und fragte sich, ob Schwester und Schwager sie wohl sehr verändert finden würden. Dann stieg sie in die Vorhalle hinab, sich einen Führer nach der etwas entlegenen Villa Ehrland zu erbitten.

Unten tauchte der strohgelbe Junge, der nach Abgabe des Briefes grußlos wie er gekommen hinausgepoltert war, wieder auf und sagte verdrießlich: Hier.

Bist Du im Dienste des Herrn Konsuls? fragte sie. Ein Blick aus weitaufgerissenen Augen und ein ärgerliches Schütteln des Kopfes, dann stapfte er mit langen Bauernschritten voran. Sie folgte ihm über die Cismonebrücke einen breiten gepflasterten Abhang hinab, an großen Gasthofgebäuden vorüber und endlich durch den Torgang eines allen Klosters, das jetzt gleichfalls Gasthof war und die »Rosetta« hieß, hinaus ins Freie.

Ein herrlicher Fleck Erde. Vor ihr hob und senkte sich das Weideland, von kleinen dunklen Gehölzen durchschnitten und mit vereinzelten Hütten und niederen, grasbewachsenen Felsbrocken besät. Von den Bergen waren die letzten Nebelmassen gewichen, und sie reckten sich in ganzer Größe auf wie halbgeschleifte Riesenburgen himmelandrohender Dämonen mit zertrümmerten Bollwerken, halbeingestürzten Türmen und gräßlich klaffenden Breschen im nackten Gestein. Ernste Kiefern- und lichte Lärchenwälder stiegen unverzagt über das grauseste Steingeröll zu ihnen hinauf, jauchzend grüne Matten drängten sich an den Saum der Wälder heran, zwängten sich zwischen den Lichtungen durch, kletterten die wilden Berghänge empor und grüßten lachend da und dort von den steilen Felsbastionen nieder. Die Sängerin machte eine gewaltsame Anstrengung, um von der milden Erhabenheit dieses Anblicks, der ihr jetzt nicht mehr feindlich war, Besitz zu ergreifen. Aber noch war keine Verbindung zwischen dem was sie vor sich sah und ihrer Innenwelt, und sie wußte nicht, wie beides zusammenbringen.

Jetzt hatten sie ein leichtes Gehölz, das noch von Nässe tropfte, hinter sich und kamen an einen steglosen Wildbach. Der Junge patschte mit seinen grobgenagelten Schuhen ohne weiteres durch, und als Marianne zaudernd stehen blieb, wies er mit mürrischer Geberde auf die blaugezeichneten Trittsteine, die da und dort aus dem Wasser ragten. Dann nahm der offene Talgrund sie wieder auf.

Du gehst zu rasch, mein Junge, so komme ich nicht mit, sagte sie außer Atem, denn das Bürschlein stieg mit dem langausziehenden Gang der Bergbewohner vor ihr her, die auf jedem Schritt zu ruhen scheinen, während sie den Raum mit Siebenmeilenstiefeln durchmessen.

Er mäßigte seine Schritte ein wenig ohne umzusehen. Marianne hatte wiederholt versucht, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, aber es war immer nach wenigen Worten abgerissen. Nur daß er Marco heiße und sechzehn Jahre alt sei, konnte sie erfahren. Teilnahmslos betrachtete sie die derbe Gestalt, die vor ihr herschritt, die groben Nagelschuhe, die gewürfelten Wollstrümpfe, von den starken jungen Beinen prall gespannt, den kräftigen Körper im abgetragenen Samtanzug, dessen ursprüngliches Hellbraun ins Goldfarbene schillerte. Von hinten gesehen war er nicht einmal so übel. Aber das Gesicht! Wie konnte nur ein Mensch so abschreckend häßlich sein! Marianne dachte, daß man mit einem solchen Gesicht am besten täte, sich an dem nächstbesten Aste aufzuknüpfen, und wunderte sich, wie nur ihr schönheitliebender Schwager ihr dieses Ungetüm als Boten schicken mochte. Doch gleich darauf sanken Weg und Führer ins Wesenlose, denn beharrlich verfolgte sie ein schönes männliches Gesicht, ein Dichterkopf mit geistreichen Augen und begehrlichen Lippen, der schon manchen Frauenkopf verrückt hatte und endlich auch den ihrigen.

Aus dem ansteigenden zweiten Gehölz tauchten sie wieder über eine grüne Welle hinab. Ringsum weideten zerstreute Kuhherden mit dem Geklingel ihrer Glöckchen auf dem blumendurchwirkten Samt der Matten. Als naturfremde Tochter der Großstadt fühlte sich die Sängerin unter weidenden Herden nicht so ganz behaglich. Der Junge sah es, grinste ein wenig mit seinem breiten Mund und ging weiter, ohne ihr etwas tröstliches zu sagen.

Am Ende wurde sie ärgerlich:

Du führst mich ja nicht den schönen Waldweg, Junge. Ich weiß, die Villa liegt im Walde. Hier über die Wiesen gehen wir um.

Wald ist nässer – viel geregnet – komm' Sie, war die kurze Antwort.

Er sprach immer in der dritten Person der Einzahl mit ihr, was sich komisch ausnahm. Offenbar übersetzte er seine wenigen Reden aus der ladinischen Mundart, in der er mit dem begegnenden Landvolk ab und zu einige Worte wechselte. Sein Deutsch war abenteuerlich gebrochen und kam nur stoßweise mit fremder Betonung heraus. Marianne wollte aus Herablassung ein übriges tun und suchte ihr bestes Italienisch hervor, um sich mit ihm zu verständigen, aber der Junge antwortete:

Die Dame kann deutsch sprechen, wobei ein listiger Blick sein finsteres Gesicht aufhellte. Dann beantwortete er immer in dieser von ihm so sehr misshandelten Sprache beharrend, ihre Fragen nach den Namen der Berge.

Da wußte er so genau Bescheid, daß Marianne ihn fragte;

Du hast wohl einen Bergführer zum Vater?

Er schüttelte den Kopf, und wieder schoß es listig und beinahe lustig aus den dunklen Augen, die seltsam von dem strohgelben Haar, das heller als die Haut war, abstachen. Aber die Unterhaltung schien ihm nicht mehr zu behagen, denn er ging aufs neue mit seinen ruhigen und doch schnellen Schritten voran, daß sie sich nur mit einiger Mühe auf seinen Fersen hielt. Zu reden fand sich nichts mehr. Wozu auch sich um ein Gespräch mit dem stummen Lümmel den Kopf zerbrechen? So versank sie wieder in ihren drehenden Gedankenkreis.

Nach einer halben Stunde Wegs kam oben am Waldrand ein kleines Haus zwischen Lärchen zum Vorschein.

Was fällt dir ein? rief Marianne, als ihr Führer plötzlich den Pfad verließ und geradeswegs durch die Nässe den steilen Wiesenhang zu ersteigen begann. Es muß doch einen Weg da hinauf geben.

Weg ist nicht. Komm' Sie, war die mürrische Antwort.

Da war nichts zu machen, sie mußte ihm nachgehen. Mit hochgezogenem Kleide stieg sie über den Rasen, der zum Glück geschoren war, bergan. Aber die Sonne sengte, und bald wurde der Ungeübten das Atmen schwer. Da lag ein gewaltiger, grünbewachsener Felsbrocken, an Form den großen Dolomitgestalten ähnlich, auf dessen Haupt eine Lärche sproßte, auf dem Berghang. Der Junge deutete auf einen trockenen Vorsprung dieses Miniaturgebirgs: Hier kann Sie sitzen.

Es kam ihm lächerlich vor, daß man nach hundert Schritten müde werden kann, denn er verzog sein braunes Gesicht zum Grinsen, wobei zwei mächtige weißglänzende Zahnreihen zum Vorschein kamen.

Du hast gut lachen, sagte seine ungleiche Wandergefährtin. Gib mir lieber deinen Stock, ich habe ja nichts als mein Schirmchen, das bei jedem Schritt nachgibt.

Er legte ihr schweigend seinen kurzen Bergstock hin und ging mit ihrem Schirmchen voraus. Endlich waren sie oben. Auf abgeplatteter Waldblöße, von einem Halbkreis stehengebliebener Lärchen umgeben, lächelte die Villa mit ihren grünen Laden und der großen, nach Süden blickenden Glasveranda den Kommenden gastlich entgegen. Sie machten einen Bogen, um den Eingang zu erreichen, der auf der anderen Seite lag und zu dem ein bequemer Kiesweg in Windungen vom Wald heraufführte. Auf dem eingestampften Kies des Vorplatzes, der noch vom Regen feucht war, stand eine niedliche, grüne Hütte, aus dichtem Lärchengezweig errichtet, in der drei kleine blonde Mädchen, Isas Kinder auf trockenem Boden spielten. Ohne auf die Ankömmlingin zu achten, die ihnen zärtlich die Arme öffnete, hingen sich alle drei mit Jubelgeschrei an den häßlichen Jungen.

Spielen, Marco, spielen! Bergführer spielen! Bergführer! Der stieß sie brummend weg, stellte hastig das Schirmchen, als ob er sich damit verunehrt hatte, an einen Baum und nahm seinen Bergstock, um fortzulaufen.

So warte doch, sagte Marianne und griff nach ihrer Börse. Da wurde das braune Gesicht des Jungen kupferrot, er machte eine abwehrende Gebärde und schoß auf den Stock gestützt pfeilschnell den Grashang hinunter, die Kinder lachend hinter ihm her.

Ein sonderbarer Kauz, dachte sie.Nun, man wird sich schon wieder einmal begegnen.

Jetzt erschien das tadellos gepflegte Haupt ihres Schwagers mit den blonden, in der Mitte gescheitelten Haaren und dem kurzgehaltenem seidenweichen Vollbart unter der Tür. Er streckte der Schwägerin beide Hände hin mit einer scherzhaft-feierlichen Ansprache:

Gottwillkommen, liebe Schwester! Neige dein ruhmgekröntes Haupt und tritt unter das niedere Dach deines armem unberühmten Schwagers.

Laß dich anschaue, Franz Ehrland. Du bist noch immer ein schöner Mann und würdest einem byzantinischen Christus Ehre machen. Ich danke dir, daß Du unsere Isa glücklich machst, und ich hoffe, mich an eurem Sonnenschein mitzuwärmen, denn die äußeren Ehren, Franz, die tun es nicht.

Da umwölkte sich die glatte Stirn des Konsuls, und er sagte in seinem natürlichen, etwas klagenden Ton:

Du kommst in kein sonniges Heim, Marianne. Mein liebes Weib verursacht mir Kümmernisse. Nach einem angestrengten Winter in Venedig, wo sie es mit ihren Hausfrauen- und Mutterpflichten viel zu ernst nahm, ist sie mir gänzlich zusammengebrochen – sie soll nicht gehen, nicht stehen, wenig reden, sich nicht aufregen. Ich weiß, du wirst mir sorgen helfen, daß sie diese Anordnungen nicht übertritt.

Marianne erschrak nicht allzu sehr, denn sie hatte den Schwager nie anders als wehklagend gekannt. Es war dies sein Stil, seine Haltung vor dem Leben, vielleicht ein geheimer Aberglaube, um sein Glück vor dem Neide der Götter zu decken.

Sie trat mit ihm in einen kleinen Saal zu ebener Erde, wo künstliche Dämmerung herrschte. Auf einem Divan schälte sich etwas langes aus Pelzen und Decken hervor. Dann hielten die Schwestern sich in den Armen. In diesem Augenblick zog Franz die Vorhänge auseinander, eine Flut von Sonnengold überschwemmte Isas gewellten Scheitel mit den ährengelben Flechten und den helleren Löckchen, die sich rechts und links natürlich um die weiße, hohe Kinderstirn und um ein rosenrotes blühendes Seraphsgesicht krausten.

Wie schön sie ist! rief die Angekommene überrascht. Und wie jung! Nicht anders als in ihrer Brautzeit.

Auch du erhältst dich unverändert, liebe Schwester, sagte der Konsul, zu den zwei Frauen tretend, die beide schön und dabei so unähnlich wie möglich waren. Marianne mit ihrem südlichen Gesichtsschnitt war vielleicht die Schönere, ihre braunen Haare schwangen sich mit dem Glanz der frisch enthülsten Kastanie um eine klassisch edle Stirn und ihr Körper hatte den Fluß der reinen Linie bewahrt, doch Isa war jünger und blühender.

Aber mit einem solchen Gesicht kann man doch nicht krank sein, Kleine, sagte die Sängerin.

Die Bezeichnung »Kleine« wollte sich freilich für Isa nicht schicken, denn sie überragte die große Schwester und sogar den hochgewachsenen Gatten um ein gutes Stück. Doch ließ das hochgegürtete Gewand im Verein mit den kindlichen Zügen sie nicht wie eine große Frau, sondern eher wie ein Kind aus einem Geschlecht von Riesen erscheinen.

Es ist nur die Freude des Augenblicks, klagte statt ihrer Franz Ehrland, du wirst schnell genug diese Rosen verbleichen sehen.

Und nun saßen die Schwestern beisammen, liebevoll aber beklemmt, und wußten sich nach so langer Trennung nicht recht ineinander zu finden. In den frühen Mädchenjahren, als sie noch gemeinsam ein Zimmer bewohnten, war die lebenskluge Isa Beschützerin der älteren Schwester gewesen. Denn Marianne war wie alle Künstlerseelen auf dieser Erde nur halb zuhause. Immer hatte sie etwas vergessen, waren ihre Handschuhe verlegt, Börse oder Taschentuch verloren. Isa hielt ihr Ordnung, räumte ihre Schubladen auf, mahnte die Zeitlose, daß sie die Stunden einhielt, und war die Vertraute ihrer ersten Neigung, denn keine hatte vor der anderen ein Geheimnis. Diese Erinnerungen hatten der Sängerin vorgeschwebt, als sie sich ans Herz der Schwester flüchtete. Aber zuviel hatte sich seitdem verändert, es schien kein Weg ins Jugendland zurückzuführen. Marianne hatte das Herz voll von den eigenen Nöten und wußte nichts von denen der Schwester, sie nahm an, daß eine solche glückliche Ehe die Insel des ewigen Friedens sei. Isa dagegen dachte, die Familienlosen könnten überhaupt keine Sorgen haben, und sah Mariannens Leben für ein Feenmärchen an. Beide fühlten, daß sie einander entwachsen waren, und wußten nicht, wie sich wieder nahe kommen. Franzens Gegenwart vermehrte die Befangenheit. Zwischen ihm und der Schwägerin hatte sich nie ein inneres Verhältnis herstellen wollen, um so rücksichtsvoller behandelte man sich gegenseitig. Marianne schätzte des Schwagers unantastbaren Charakter und seine gediegene Bildung, aber sein gewähltes Sprechen, das gerne den nächstliegenden Ausdruck vermied und sich in gesuchten Wendungen und Wortklängen oder in literarischen Anspielungen gefiel, hatte sie niemals warm werden lassen. Einmal ums andere flog ein Engel durchs Zimmer.

Endlich entfernte sich der Konsul in häuslichen Angelegenheiten, denn seit Isa kränkelte, führte er die Wirtschaft. Die Schwestern rückten nahe zusammen. Sie sprachen vom Elternhause. Und jetzt verstanden sie sich wieder.

Das Elternhaus ist doch nie zu ersetzen, auch nicht vom eigenen Heimwesen, sagte Isa.

Und noch viel weniger vom Thespiskarren, antwortete die Schwester, sie umarmend. Dann kam die Rede auf den begabten einzigen Bruder, den ein überstarkes Lebensgefühl auf der gefährlichen Schwelle des Jünglingsalters in den Tod getrieben hatte. Beide Schwestern hatten einst sein Andenken schwärmerisch gepflegt und sein selbstgewähltes Ende, zu dem keine äußere Not, nur das aufgewühlte Innere ihn drängte, für etwas heldenhaftes angesehen. Aber jetzt dachte Isa mit den Gedanken ihres Gatten, und dieser dachte mit der Allgemeinheit, daß Selbstmord eine Flucht und Flucht eine Feigheit sei.

Aus Isas sanftem Munde klang die Verurteilung härter, weil sie sich niemals hinreißen ließ und darum alles was sie sagte so reif durchdacht schien.

Wie weit man sich doch auseinandergelebt hat, dachte die Neuangekommene traurig. – Ihr Dichter mit dem starken Einblick in alles innere Leben hatte die Tat, von der sie ihm erzählte, richtiger eingeschätzt. Es waren sein Worte, mit denen sie der Schwester erwiderte:

Er verzweifelte, weil er sein Weltbild nicht mit der Wirklichkeit in Einklang setzen konnte und ihm ein halbes Leben nicht der Mühe wert war. Unter anderen Verhältnissen wäre er vielleicht ein Held geworden.

Hätte er ein paar Jahre gewartet, so wären ihm die Grillen von selbst vergangen, entgegnete Isa trocken.

Sehr wahrscheinlich. Aber nur Menschen, die mit sich selbst verschwenderisch sind, haben das Zeug, in großen Zeiten Großes zu tun.

Sie konnte es nicht besser sagen, als wie sie es aus dem Munde des Freundes vernommen hatte, und sie fühlte sich dafür als seine Schuldnerin.

Du bist noch immer die alte Romantikerin, meine große, strahlende Marianne.

Ja, und möchte ich es immer bleiben!

Isa fühlte daß sie verletzt hatte, und legte reuig ihre Arme um die Schwester.

Verzeih, wenn ich dir weh tat, aber es war nicht so gemeint. Du denkst größer als ich, Marianne, ich weiß es. Aber verachte deine hausbackene Schwester nicht. Ich möchte dir gerne viel, viel Liebes tun, daß du recht lang in meiner Nähe bleibst und wir uns wieder ganz ineinanderleben können. – Isa hatte eine eigentümlich laue Sprechweise, wobei sie gleichmäßig ohne Rhythmus Wort an Wort setzte. Das wies keine reichen inneren Welten auf, aber Marianne wußte, die Schwester gab ihr in alter Treue alles was sie hatte.

Der Konsul trat wieder ein, und das Gespräch nahm eine allgemeine Wendung. Er begann eine Geschichte zu erzählen, die lang war. Marianne hörte mit höflichem Anteil zu, obgleich sie jetzt gern um einen Imbiß, dessen sie nachgerade sehr bedürftig war, gebeten hätte, denn Isa schien an nichts zu denken. Aber sie wußte, daß sich Franz nicht gerne unterbrechen ließ, und sie hatte sich beim Kommen gelobt, seinen Eigenheiten Rechnung zu tragen und sorgfältig auch den kleinsten Mißklang zu vermeiden. Isa hatte sich wieder zurückgelegt, ihr Gesicht zerfiel. Sobald er ausgesprochen hatte, verlangte sie mit Nachdruck, jetzt der Schwester ihre Kinder vorzustellen.

Franz drückte auf einen Knopf und befahl dem eintretenden Stubenmädchen, einer Venezianerin von wahrhaft titanischem Farbenschmelz, das Fräulein mit den Kindern zu schicken.

Solche Gesichter gibt es noch am Canal Grande! sagte die Sängerin andächtig hinter der Abgehenden her.

Aber Franz, der nie in Gegenwart seiner Frau die Schönheit einer anderen gelten ließ, fand an der herrlichen Erscheinung zu mäkeln, was die Schwägerin zu der Äußerung bewog, sein Auge müsse wohl für den Eindruck des Schönen abgestumpft sein, da er das Glück habe, in einem Lande zu leben, wo es ihm auf Schritt und Tritt entgegentrete.

Sage vielmehr, daß mein Auge zu anspruchsvoll geworden ist, seitdem ich in eure Familie geheiratet habe, antwortete er mit einer verbindlichen Handbewegung gegen die Schwägerin und küßte dann huldigend seiner Gattin die Hand.

Marianne fand sich von diesem Vorgang mehr befremdet als angemutet. Sie hatte sich Isas Eheglück einfacher, selbstverständlicher gedacht.

Die Schöne trat wieder ein, an jeder Hand einen frischgewaschenen und gekämmten Mädchenengel führend. Die Kinder machten kleine noch ungeschickte Knixchen und küßten der Tante die Hand. Dann blieben sie sittig nebeneinander stehen.

Warum haben sie Ännchen nicht mitgebracht? fragte Isa.

Das Mädchen machte ein verlegenes Gesicht und gestand, daß die Kleine nicht kommen könne, weil sie gefallen sei und eben zu Bett gebracht werde.

Gefallen! rief die junge Mutter erschreckt. Wie, wo? Wir haben ja nichts gehört.

Es sei weit weg vom Hause geschehen, erklärte das Mädchen in gebrochenem Deutsch, denn in Isas Haus wurde keine andere Sprache gesprochen, – auf der Wiese drunten bei dem Felsblock. Der junge Herr habe sie wollen das Klettern lehren –

Bei diesen Worten gerieten die zwei stillen kleinen Mädchen in sichtliche Bewegung, sie hingen sich beschwichtigend an die Mutter und baten und schmeichelten, sie möchte nicht böse sein, es sei so schön gewesen; sie hatten Bergführer gespielt –

Bergführer –?

Sie haben Bergführer gespielt bestätigte die schöne Rothaarig, der junge Herr wollte sie das Klettern lehren, dabei ist Annetta gefallen und hat sich das Knie geschürft.

Wie oft habe ich dem Fräulein gesagt, daß sie die Kinder nicht mit Marco spielen lassen dürfe. Hat sie sich sehr weh getan?

Nicht sehr weh, Mutti, versicherten die Kinder. Marco hat uns alle drei an ein Seil geknüpft und heraufgezogen. Dabei hat sich Annetta gestoßen, aber es tut nicht weh.

Der Elende! rief der Konsul, blaß vor Zorn.

Isa wollte sich an allen Gliedern zitternd erheben, aber ihr Gatte drückte sie besorgt in die Kissen zurück, indem er sie beschwor sich ruhig zu verhalten, und stürzte selber weg um nach dem verletzten Kinde zu sehen.

Die Kleinste lag mit stark verweintem Gesicht und verbundenem Knie zu Bett, aber sie lächelte schon wieder. Eine blutige Waschschüssel stand am Boden, und es roch nach Apotheke. Die Bonne, die das Unheil hatte geschehen lassen, eine gleichfalls hübsche Südtirolerin, erhob sich beim Eintritt des Vaters schuldbewußt. Aber Isa hatte sich nicht halten lassen, sondern war ihrem Mann auf den Fersen gefolgt. Als sie das Blut in der Schüssel sah, tat sie einen halben Schrei, worauf die Kleine aufs neue zu weinen anfing. Isa war zu dem Kinde hingestürzt und hatte es auf den Arm genommen, bevor Franz ihr die rasche Bewegung hindern konnte; jetzt ging sie wiegend und tänzelnd mit der Kleinen im Zimmer auf und ab, indem sie das verletzte Beinchen sorgsam mit der Hand unterstützte. Die zwei größeren Mädchen hingen sich ihr noch rechts und links an die Arme und suchten das Kind durch Schmeicheleien zum Schweigen zu bringen. Die träge junge Frau war plötzlich ganz schnellende Kraft und Bewegung, wie sie sich im schönfließenden Hausgewand mit der dreifachen Last, die sie nicht zu spüren schien, durchs Zimmer schwang.

Unterdessen verhörte der Konsul mit strengem Gesicht das verlegene Fräulein.

Wie kommts, daß Sie die Kinder mit Marco spielen ließen? Sie wissen, daß ihnen das verboten ist.

Er wollte ihnen das Klettern an den Felsen beibringen. Wenn der junge Herr etwas im Kopfe hat, läßt er sich durch niemand abhalten, antwortete das Mädchen verlegen, sichtlich froh, einen Blitzableiter zu haben. Daß sie während der gefährlichen Turnübungen die Kinder allein gelassen hatte um oben am Waldrand mit einem jungen Bergführer aus Primiero zu scherzen, erzählte sie nicht.

Ein Kind von drei Jahren das Klettern lehren! Der Dummkopf! Ich werde ihn lehren die Kinder in Ruhe zu lassen. – Wer hat den Verband angelegt? forschte er weiter.

Herr Marco.

Solch ein Kretin und auch noch Verbände anlegen! Muß denn der Unglücksjunge seine verwünschten Hände überall haben! Gewiß hat er die Wunde verschmutzt. Gleich muß das untersucht werden.

Er wollte mit ungeschickt zugreifenden Fingern, denen man ansah, daß sie in solchen Hantierungen nicht geübt waren, die Binde vom Knie des Kindes abwickeln, aber Isa sagte ganz bestimmt und sachlich:

Laß nur, lieber Schatz. Die Wunde ist desinficiert, man riecht es ja. Wenn Marco den Verband angelegt hat, so kann man ruhig sein. Solche Dinge versteht er.

Mag sein, antwortete ihr Gatte kalt. Aber hören Sie, wandte er sich in gebieterischem Ton an das Fräulein, zum letzten Mal sei es jetzt gesagt, daß er mir nie wieder mit seinen Schwesterchen spielt! Nie wieder!

Die größeren Kinder fingen bei diesen Worten ihres Vaters leise zu schluchzen an und schlichen auf seinen Wink betrübt hinaus.

Marianne, die unter der Türe stand, sah und hörte dem Auftritt mit Verwunderung zu. Als die Unruhe sich gelegt hatte, begann sie zu ihrem Schwager:

Du sagtest vorhin »seine Schwesterchen« –? Von wem ist die Rede? Doch nicht von dem Jungen, den ihr mir entgegen geschickt habt?

Leider ja, antwortete der Konsul finster. Der Lümmel ist mein Sohn.

Ich habe doch nie gehörst, daß du einen Sohn hast, entgegnete die Schwägerin verwundert.

Man spricht nicht gern vom Skelett im Hause.

Marianne blickte fragend auf ihre Schwester, die das Kind jetzt wieder in sein Bettchen gelegt hatte und daneben sitzend zusah, wie es den unterdessen gebrachten Abendbrei mit innigem Vergnügen auslöffelte. Isas Ausdruck war belebter geworden, ihre Augen glänzten, das rosige Kindergesicht auf einem herrlichen, bloßgetragenen Halse goß auch über die schon schwerer werdenden Körperformen seine jugendliche Anmut. Die ganze Erscheinung war in eine strahlende jungmütterliche Lieblichkeit getaucht.

Ja, er ist unser Sohn aus Franzens erster Ehe, antwortete sie leichthin auf Mariannens fragenden Blick. Er hat uns von jeher Schwierigkeiten gemacht, über die ich mich brieflich nicht aussprechen wollte. So kam's, daß du nichts von seiner Anwesenheit auf unserem Planeten erfahren hast.

Marianne, die schon seit geraumer Zeit mit einem Gefühl von Schwindel kämpfte, lehnte sich plötzlich erblassend gegen die Wand.

Was ist dir, Liebste? fragte Isa, hat dich das so mitgenommen? An solche Dinge muß man sich in der Kinderstube gewöhnen.

Du hast von meinen Nerven eine zu gute Meinung, lächelte die Schwester mit erbleichten Lippen. Eine schlaflose Nacht in Bozen, dann viele Standen Auto bei Regen und Schnee, danach die Kinder, und noch so gut wie nüchtern –

Sie ist hungrig, rief Isa entsetzt. Und sagt es nicht. Und ich schlechte Hausfrau denke nicht daran dich zu fragen, ob du etwas Warmes genossen hast.

Darin sind sich die Schwestern ähnlich, sagte Franz Ehrland, der wieder die untadelige gesellschaftliche Haltung angenommen hatte, daß sie nur mit einem Fuß den Erdboden berühren wie der Merkur des Gianbologna. Isa würde dir auch jetzt nichts geben, wenn ich prosaischer Mensch nicht vorgesorgt hätte. Vorwärts, gehen wir zum Abendbrot.

Er bot seiner Schwägerin den einen Arm, seiner Frau den andern und führte sie über den Korridor nach der Glasveranda, wo der Tisch gedeckt war.

Nach der Mahlzeit, als das aufwartende Mädchen sich entfernt hatte, kam Marianne wieder auf das vorige Gespräch zurück und wollte wissen, wie es denn eigentlich um diesen Neffen bestellt sei, von dessen Dasein sie bis zur Stunde keine Kenntnis gehabt hatte.

Der Konsul seufzte nur zu dieser Frage; statt seiner ergriff Isa das Wort und sagte:

Er ist ein wenig von der Natur vernachlässigt, der arme Marco, und seine unbändige Körperkraft bei geringen Geisteskräften macht ihn mitunter gefährlich. Aber er meint es nicht böse, er war nur in seiner ersten Kindheit zu viel sich selber überlassen, dabei ist er so verwildert, daß er hernach in keiner Schule mehr gut tat.

O du Engel von einem Weibe, rief der Konsul. Verteidigst ihn auch noch, der der Pfahl in deinem Fleische ist! Du mußt wissen, sagte er zu Marianne, daß in diesem Jungen ein Dämon steckt, der ihn schon von den ersten Lebensjahren an zum Schrecken seiner Umgebung gemacht hat. Wie oft er triefend aus den Kanälen von Venedig gezogen wurde, davon will ich gar nicht reden – es wäre für ihn und uns besser gewesen, man hätte ihn ertrinken lassen. Von kleinauf zeigte er einen wahren Abscheu vor allem was menschlich und gesittet ist. Hunde und Katzen waren seine ersten Freunde, später suchte er sie sich unter der Hefe des Volkes, unter Hafenarbeitern und Matrosen. Bevor er gehen konnte, hing er sich am Lido den Pferden an den Schwanz und ließ sich hockend von ihnen schleifen. Waren wir auf dem Land, so wälzte er sich mit dem lieben Vieh in den Ställen. Was soll ich weiter sagen, als daß, wie er größer wurde, auch der Teufel wuchs, von dem er besessen ist. In keiner Schule wollte man ihn behalten. Lernen? die bare Unmöglichkeit. Seine Stirn ist ein eisengepanzertes Bollwerk gegen alles, was der Begriffswelt angehört. Ich muß mich anklagen, daß ich in der Brautzeit keinen Mut fand, Isa vorzubereiten, welche Prüfung ihrer warte. Ich glaubte den Unglücksjungen in einem Grazer Erziehungsheim glücklich untergebracht. Aber dort bat man mich himmelhoch ihn wegzunehmen, da er nichts lerne und nur die andern verderbe. Dann tat ich ihn in ein Institut in Padua; von dort entlief er und mußte mit der Polizei eingebracht werden. Seitdem lebt er im Hause, wenn das im Hause leben heißt, daß wir häufig weder wissen, wo er zu speisen geruht, noch wo er sich des Nachts aufhält, denn in einem ordentlichen Zimmer und Bett zu schlafen hat für ihn keine Reize. Es gibt Menschen, die so schwach sind seinen Mut zu bewundern, weil er sich nicht scheut kopfüber in die Lagune zu springen und euren Ertrinkenden unter dem Kiel des Dampfers vorzuziehen oder an einer senkrechten Felsenwand hinaufzuklettern. Als ob die Tollwut eines Idioten, der gar nichts von Gefahren weiß, den Namen Mut verdiente. – Er ist eine atavistische Form, der Junge, seine selige Mutter und ich haben nichts damit zu schaffen. Er ist eine atavistische Form, ein Rückfall in eine Ahnenreihe aus der Steinzeit.

Marianne begann sich jetzt das Betragen des Jungen auf dem Herweg zurecht zu legen. Er war also geistesschwach, daher das abgerissene Reden und die unsinnige Führung über den nassen Wiesenhang statt über den schönen trockenen Kiesweg der oben lief. Ein solcher war freilich auch imstande ein unbehilfliches kleines Kind am Seil über einen Felsbrocken hinaufziehen zu wollen. Sie wunderte sich nur, daß man die Schwestern nicht besser vor einem solchen Bruder behütete. Aber sie sagte nichts um die Erbitterung des Vaters gegen den Unglücklichen nicht noch zu steigern.

Der goldene Abendhimmel sah zu den drei Seiten der Glasveranda herein und badete alles in Licht und Wärme. Draußen in den Lüften schwamm ein seliger Friede. Die Sonne war schon hinter den dunkelbewaldeten Basaltfelsen des Westens versunken, und ohne Wehmut, mit strahlendem Lächeln, bereitete sich der Tag zum Scheiden. Eine wohlige Willenlosigkeit überkam Marianne. Plötzlich entfuhr ihr ein Laut der Überraschung; die Dolomitengruppe hatte sich entzündet und begann langsam wie von innen heraus zu glühen.

Sieh nur, sieh, der Cimone leuchtet wie ein Riesenrubin, und die Spitze der Rosetta ist durchsichtig geworden, ein bläulicher Glasberg mit einem brennenden Feuer im Innern. O wie schön ist die Rosetta, sie rötet sich wahrhaftig wie eine Rose. Und wie leicht und luftig all die Türme und Zacken in der Esse stehen. Kein Gestein mehr, lebendiges Gebilde des Feuers und der Farbe. Wie heißt der Felsturm gleich hier oben, der sich zuletzt entzündet? Ist es der Eusiglio?

Die Schwestern lehnten Schulter an Schulter an der Glaswand.

Nun komme ich schon den vierten Sommer nach San Martino, sagte Isa verwundert, und kann die Berge noch nicht einzeln unterscheiden. Du bist kaum ja viele Stunden hier und kennst sie schon alle mit Namen.

Ich habe sie mir auf dem Herweg von Marco erklären lassen. Ich hasse es, wie die Ziegen und Schafe umherzuklettern und die Dinge nicht zu kennen, die vor mir liegen. Ich will auf alle Höhen steigen, die mir erreichbar sind, will in alle Täler und in jeden Bergsee blicken und alles was ich sehe mit Namen nennen.

Das war doch sonst deine Art nicht, Marianne. Du pflegtest wie im Traum durch die Landschaft zu gehen und warst imstande dich zu verirren, wo das Verirren ein Kunststück war.

Es ist wahr, aber ich habe mich seitdem gebessert und bessere mich täglich. Ich habe einen Lehrer gehabt, der mich sehend machte. Ich verstehe jetzt, daß wir den Schöpfer in der Schöpfung beleidigen, wenn wir achtlos an ihr vorbeigehen. Auch die Geschichte der Gegend will ich kennen lernen, das alte Klosterhospiz muß eine Geschichte haben, ich will sie lesen.

Freilich hat es eine Geschichte; in der Canonica müßte sie zu erfragen sein, meinte Franz über sein Zeitungsblatt herüber.

Aber Isa, der das Gewollte in Mariannens Eifer nicht entging, lachte herzlich:

Mach dir keine Flausen vor, Schwesterherz. Was geht das Hospiz dich an? Sag doch gleich, daß du einem Verehrer gefallen willst, der auf solche Altertümer eingeschworen ist. Wenn wir Frauen uns für etwas recht unpersönliches begeistern, dann steckt mit Sicherheit ein Mann dahinter.

Durch Mariannens Augen zog der Schimmer eines Lächelns, aber sie gab sich eine Haltung, indem sie sagte:

Du vergißt, daß wir Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts sind.

Jahrhundert hin, Jahrhundert her, mischte sich der Konsul ins Gespräch. Die Natur der Frauen ist heute, wie sie immer war. Das ist ja euer Reiz, daß ihr nicht wie der Mann in eine feste Form gegossen seid, sondern euch nach Lage und Laune wandeln könnt. Diese Bestimmbarkeit, dieses chameleontische Wesen gibt euch die große Macht über uns und über das Leben.

Stille, stille, keinen Streit und achten wir die Feier des Augenblicks. sagte Marianne, auf die Berge deutend.

Die Dolomiten waren schon am Verlöschen. Der Saß Maor verglomm zuerst, ihm folgten schnell die andern. Die Steine wurden wieder kalt, graublau, schlackenhaft. Nur der mächtige Cimone wehrte sich gegen das Sterben, seine Feuerkrone flammte noch, aber schon kroch der Tod schrittweise an ihm hinauf und löschte das Leben aus der gewaltigen Körpermasse. Auch das Haupt unter dem ewigen Schnee wollte verbleichen, aber unerwartet glühte es noch einmal auf, goldene Lichter glitten darüber hin wie das Lächeln eines sterbenden Riesen. Gleich darauf war alles vorüber. Der Cimone lag erstarrt und eisig, und von den toten Riesenleibern wehte es plötzlich wie ein Frösteln herüber. Der Abend war gekommen.

Die Schwestern traten vom Fenster zurück. Marianne sprach vom Nachhausegehen.

Marco wird dich zurückbegleiten, liebes Herz, sagte Isa. Du kannst in der Dämmerung den Weg nicht allein finden.

Sie klingelte, und gleich darauf begann durch das ganze Haus ein Rufen und Suchen nach Marco. Der aber hatte sich, als er das häusliche Unwetter aufgrollen hörte, still verzogen und war nicht mehr zu finden.

Franzens Zorn über seinen Lümmel von Sohn entbrannte aufs neue. Er mußte sich entschließen selber die Schwägerin zu begleiten und entfernte sich um seine Gummischuhe anzuziehen. Das dauerte eine geraume Zeit. Unterdessen führte Marianne ihre Schwester wieder an das Kanapee zurück, auf dem sie geruht hatte. Auch Isas Glanz war verglommen wie der der Dolomiten. Ihr liebliches Kindergesicht hing wie ein welkes Blümchen zur Seite.

Unser Musterknabe hat dich durch die nassen Wiesen heraufgebracht, ich sah es vom Fenster aus, obgleich er den ausdrücklichen Befehl hatte, dich den schönen Lesserweg zu führen. Nun wirst du sehen, wie fein trocken ich dich nach San Martino bringe, sagte der Konsul, als sie das Haus verließen.

Auf dem Kiesweg mit den engen Kehren, der die Villa Ehrland mit dem tieferliegenden, vom Alpenklub gebauten Wege verband, ging sichs auch wirklich gut. Aber kaum hatten sie den Waldsaum erreicht, als sie in klebrige Pfützen traten. Sie arbeiteten sich tapfer durch, bei jedem Schritte in Gefahr zu fallen. Auf bessere Stellen folgten wieder solche, die unergründlich waren. Gleitend, das Gleichgewicht suchend, von Stein zu Stein hüpfend, kamen sie mühselig vorwärts. Mariannens Schirm zerbrach, ihr Schwager verlor einen Gummischuh.

Diesmal hat euer Caliban doch recht behalten, bemerkte sie gegen den Konsul.

Wenn man einen Ochsen um den Weg fragen könnte, so wüßte er wahrscheinlich auch, wo man am sichersten auftritt, war die Antwort.

Zu ihrer Rechten stieg der Hochwald an, zur Linken sahen sie die weite offene Talmulde unter sich. San Martino schwamm in einem Meer von elektrischem Licht, obgleich es noch beinahe taghell war. Die kleine Ansammlung von Häusern um das alte Kirchlein und Kloster her, die fast ausschließlich aus Gasthöfen bestand, der Aufgang zur Rollestraße, die Cismonebrücke schwelgten in der verschwenderischen Fülle ihrer Bogenlampen, die sich nur für die wenigen Sommermonate entzündeten, zahllos und kurzlebig wie Leuchtkäfer. Dunkel stieg der kleine schlichte Campanile über all dem Glanz empor, dessen Glocken soeben das Ave läuteten. Durch den noch heiteren Himmel drangen die ersten Sterne.

Das Gespräch drehte sich wieder um Marco.

Du nanntest ihn Caliban. Das ist der Name, der ihm zukommt, so soll er künftig heißen, sagte sein Vater.

Was wollt ihr denn mit ihm anfangen, es kann doch nicht immer so weitergehen?

Weiß ichs? war die düstere Antwort. Warten, ob uns ein Steinschlag von ihm erlösen will. Der Tag, wo sie ihn als Leiche nach Hause brächten, der wäre der erste, wo er mir eine Freude gemacht hätte.

Marianne überlief es kalt, sie knöpfte ihre Jacke fester zu und fing zu laufen an, so gut es der schlüpfrige Boden gestattete. Die hochaufsteigende Lichtermasse jenseits des weißströmenden Cismone war ihre »Alpenrose«, sie konnte ihr Fenster mit der vortretenden Veranda erkennen. Aber dazwischen lag ein unzugänglicher Morast.

Nur ein paar hundert Schritte durch die Wiesen, so wär' ich zu Hause, seufzte die abgespannte, im glatten Schlamm sich mühende Reisende.

Was du für Wiesen ansiehst, ist trügerischer Moosgrund und nicht betretbar. Wir müssen suchen die Rollestraße zu gewinnen, sagte der Konsul, der über vielem Reden die Richte verloren hatte.

Allein er verirrte sich abermals und jetzt zu seinem Heil, denn statt auf die weitgeschwungene Rollestraße geriet er in eine Abzweigung, die erst in ein Gehölz, dann weglos auf den festen Wiesengrund führte. Sie waren beide freudig überrascht, als sie sich auf dem welligen Weideland sahen, und nach kurzem Laufe erreichten sie die Torfahrt des alten Klosters, von der Marianne unter Marcos Führung ausgezogen war. Hier war sie schon so gut wie zu Hause, darum empfahl sich der Schwager und schlug diesmal wohlweislich den Talweg ein, den Marco gewählt hatte. Marianne warf im Durchschreiten einen Blick auf das rohgehauene aber ehrwürdige Tonnengewölbe, das jetzt elektrisch erhellt war, und auf das feuchtkalte Mauerwerk. Dies war das ehemalige Hospiz, das viele Jahrhunderte lang in der unendlichen verschneiten Einöde der Bergwelt den müden Wanderern Nahrung und Schutz vor Bären, Wegelagerern und Lawinen gewährt hatte und dem auch heute noch in seiner veränderten Gestalt als Gasthof die Pflicht oblag, arme Reisende unentgeltlich zu beherbergen. Dieses Kloster und sein altes Kirchlein waren das einzige Bodenständige, vor Alter Vornehme in diesem Kurortluxus neuesten Ursprungs, und Marianne bemühte sich, wie Isa richtig fühlte, beides ungemein anziehend zu finden, weil Einer, mit dessen Augen sie zu sehen gewohnt war, eine Leidenschaft für solch alles Gemäuer hatte. Bevor sie ihn kannte, hatte sie ganz in Gefühlen und Tönen gelebt, erst durch ihn war ihr der Sinn für die äußere Welt aufgegangen, und alles Schöne in Natur und Kunst betrachtete sie darum als seine Bescherung. Stünde Er jetzt neben ihr, so würden auch diese alten Steine zu reden beginnen und würden von Sturm- und Nebelgewalten erzählen, die in weißen Winternächten draußen ihr Wesen trieben, und vom Kampf des Menschen mit der Natur.

Im Vorübergehen lugte sie über die Schwelle der Eingangshalle, aus der ihr dicker Tabaksqualm entgegenschlug. Es war ein niedriger Raum, fast in seiner ganzen Länge durch einen Holztisch ausgefüllt, an dem ein Hause trinkender und rauchender Männer eng beisammen saß. Am obersten Ende des Gelasses flammte und schwelte unter mächtigem Rauchfang ein ungeheurer Holzstoß auf rohgemauertem Herd, der einem wilden heidnischen Opfersteine glich. Als ihr Blick über die dichtbesetzte Holzbank hinglitt, fiel er in zwei junge blaue Augen unter einem Wulst strohgelber Haare, die mit erschrockenem Ausdruck in die ihren sahen. Gleich darauf war der Kopf, dem sie gehörten, hinter der braunen Samtjacke eines Alten verschwunden, und ebenso schnell trat auch Marianne von der Schwelle zurück. Sie hatte den verlorenen Sohn erkannt, der dem häuslichen Gewitter entlaufen war, um hier wie ein Erwachsener zu trinken und aus langer Pfeife zu rauchen, und sie war über den Schrecken den sie einflößte gleichfalls erschrocken.

Sei du ruhig, armer Caliban, dachte sie, ich werde dich nicht verraten. – Aber was mochte das für eine Gesellschaft sein, in die das Halbtier geraten war? Sie hatte sich keine Zeit genommen, die ernsten Gesichter der Männer, über die der Flackerschein der Herdflamme spielte, noch die Abzeichen, die mehrere von ihnen auf der Brust trugen, zu betrachten, sonst hätte sie erraten müssen, daß dies die Schwemme war, wo die Bergführer ihre heutigen Kletterfahrten fachmännisch besprachen und wo die morgigen festgesetzt wurden. Denn wer mit einem Führer zu reden hatte, der suchte ihn am Stammtisch in der »Rosetta« auf.

Lange saß sie noch an diesem Abend, in leichtes Pelzwerk gehüllt, auf ihrer Veranda, hart vor sich die in tollen Duft gehüllte Dolomitenkette. Sie sah den Sternen zu, die lange Feuerdolche schießend in unerhörter Größe hinter den Kronen und Zacken heraufstiegen, um dann kleiner geworden in ruhiger Pracht ihren Hochsitz am Firmament einzunehmen, sie horchte auf das leise Rauschen des Cismone und sann und sann.

Jetzt war ihr Wunsch erfüllt, sie war bei den Ihren. Aber keine Befreiung wollte über sie kommen. Es war wieder einmal in der Wirklichkeit alles anders als in der Vorstellung. Zu ihrem Schwager, das fühlte sie, würde sie nie in ein inneres Verhältnis treten können. Wie Sand rann er ihr auch diesmal durch die Finger. Sein Wesen, so fremd es ihr war, regte sie nicht einmal zum Widerspruch an. Wenn er redete, so kroch eine Mattigkeit und Gleichgültigkeit über sie, die alle Saiten ihres Geistes abspannte. Und Isa! Immer waren ihr die Frauen unbegreiflich gewesen, die bei der Heirat Gedanken und Ansichten des Mannes ganz fertig wie seinen Namen und Titel übernehmen. Jetzt sah sie, daß es ihre Schwester nicht anders hielt. Sie thronte auf einem unsichtbaren Altar und ließ das Denken ihrem Mann, der jeden höheren Gesprächsgegenstand mit einer schon feststehenden Meinung wie mit einem Leichentuch zudeckte.

Und wie sprach er von seinem unglücklichen Sohn! Mochte der ein noch so mißratenes Gewächse sein, woran man wohl nicht zweifeln konnte, der eigene Vater müßte wenigstens Erbarmen mit ihm haben. Isa hatte ihn verteidigt, Isa war ja gerecht, als Kind hatten ihre Geschwister sie die »Gerechtigkeit« genannt, weil sie sich stets der Abwesenden annahm. Aber ihre Worte für den Stiefsohn waren ohne jeden inneren Anteil gesprochen. Und ganz so verdorben konnte der Junge nicht einmal sein, weil seine kleinen Schwesterchen zärtlich an ihm zu hängen schienen.

Also das ist eine glückliche Ehe! dachte sie mit demselben betäubten Erstaunen, mit dem sie sich bei der Ankunft gesagt hatte: Also das sind die Dolomiten! und sie wurde sich klar, daß ein Glück wie das der Schwester niemals hätte das ihre sein können.

Und nun langte ihre Seele auf einmal wieder mit hundert Armen nach dem Abwesenden. Wie anders war doch Er in seiner peinvollen Unruhe, die ewig dürstend die Welt in sich trank, als diese satten Glücklichen.

Sie hatte aus dem unterdessen nachgekommenen Koffer sein Bild herausgenommen und betrachtete es lange beim Schein der elektrischen Lampe, ehe sie sich schlafen legte.

Dich soll ich von mir stoßen, mein Stern! Und vielleicht einem ähnlichen Alltagslos verfallen!

Sie schloß die Augen wie vor einem Abgrund. Von sich stoßen, was man nicht entbehren kann, zerbrechen, was das Leben erst zum Leben gemacht hat? Wars nicht, als sollte sie ihr Auge hergeben, ihr Ohr, nein, mehr als beides, ihren Lebenshauch, den Geist, der sie beseelte? Denn wenn sie sich von ihm schied, so konnten auch die Schätze der Natur und des Geistes sie nicht mehr trösten, sie verlor ja mit ihm die Springwurz, die den Zauberberg aufschloß.

Als sie in später Stunde einschlief, hatte sie einen zerreißenden Traum. Sie fand sich in einem schneebedeckten Hohlweg zwischen starren Felsen da oben in den Dolomiten, der Freund kam ihr mit bleichem Gesicht entgegen. Sie blickten sich Aug' in Auge, keines sprach ein Wort, und ihre Füße trugen sie lautlos gleitend auseinander; die Träumerin wußte, daß es auf immer war.

Mit einem gepreßten Stöhnen erwachte sie. Und im Erwachen hatte sie die Gewißheit, daß es diesen Hohlweg wirklich gebe. Da oben in den Bergen, die geisterhaft in ihr Fenster sahen, mußte er sich befinden. Und der Geliebte würde ihr nach San Martino folgen, er würde sich nicht halten lassen dahinauf zu steigen, und oben würde er sein Leben verlieren.

Im Zimmer war es taghell. Marianne glaubte, es sei schon der Morgen. Aber es war das Licht der zahllosen Bogenlampen, die das schweigende San Martino die ganze Nacht hindurch in einem Scheinleben erhielten, während die Wälder ringsumher in Dunkelheit ertranken und nur die hohen Berge noch in ihrer eigenen Weiße glänzten. Das Traumbild verblaßte. Ihr Dichter liebte die Berge wie alles Schöne, aber wenn es ihm einfiel einen dieser Gipfel zu erklettern, so nahm er einen Führer mit, der ihm nichts geschehen ließ. Die Stimme der Vernunft sprach jetzt so mit Nachdruck in ihr. Aber leise raunte die Stimme der Unvernunft noch einmal dazwischen. Warum mußte ihr das warnende Traumbild gerade in der ersten Nacht und gerade vor Sonnenaufgang, in der Stunde der weissagenden Träume, erscheinen?

– – Ein wolkenloser Himmel lächelte über den Dolomiten, als sie von einem kurzen Nachschlummer erfrischt sich aus den Kissen losriß. Von außen drang Wagengerassel und das Geschwirr von Menschenstimmen herein, das erwachte Leben war schon in vollem Gange. Auch die Sängerin wollte dem neuen Tag einen neuen Menschen entgegenbringen. Ihr erster Gedanke war sich schön zu machen. Sie schloß ihren Koffer auf um ein weißes Tuchkleid herauszunehmen, dessen schlichte Vornehmheit sie schön und eigen kleidete. Aber sie war nicht gewohnt sich selber zu bedienen, und ihre geschickte Jungfer hatte sie zu Hause gelassen, damit kein unbescheidenes Auge in ihre Herzenskämpfe blicke. Als sie nicht gleich das Gesuchte fand, wurde sie ärgerlich, durchwühlte knieend die abgehobenen Fächer, warf Kleider und Wäsche, Bänder und Schleier durcheinander und türmte die Sachen armvollweise auf Tisch und Stühlen auf, in der Absicht sie nachher glatt und säuberlich in Schrank und Schubladen unterzubringen. Aber da der Koffer nicht aufhörte immer neue überflüssige Dinge zu Tage zu fördern, verlor sie die Geduld, bekam unter einem Turm von Sachen den Zipfel eines gelbseidenen Kimono zu fassen, zog ihn hervor, wobei der ganze Turm zusammenfiel, hüllte sich eiligst hinein und klingelte um das Frühstück, das sie sich auf den Balkon tragen ließ.

Draußen vor dem Gasthof herrschte ein reges morgendliches Treiben. Die große glasgedeckte Frühstücksveranda war dicht gefüllt mit Gästen, viele nahmen auch ihren Kaffee an kleinen Tischen im Freien ein, denn der Hauch der nahen Berge dämpfte noch die Sonnenglut. Vorfahrende Autos brachten neue Fremdenzufuhr. Bergsteiger, sportlich angetan, rückten in Begleitung des Führers aus. Man sah nur rüstige, behende Gestalten, denn die Abgelegenheit des Ortes und die Schwierigkeit der Dolomitenbesteigung zogen nur die körperliche Auslese der Menschheit an, und man konnte für einige Zeit vergessen, daß es auch Alter, Krankheit und Gebrechen auf Erden gibt.

Aber sieh, wer kommt von der Cismonebrücke heraufgewandelt, mit den wiegenden Bewegungen einer trägen, träumerischen Anmut? Ist es nicht Schwester Isa, ihrer Matratzengruft entronnen, im hellen Sommerkleid, einen blaßblauen Tuchmantel lose umgehängt, und morgendlich strahlend? Geschehen Zeichen und Wunder? Sie ist es, wahrhaftig, denn sie winkt schon mit dem Schirmchen, und gleich darauf küssen sich die Schwestern auf die Wangen.

Guten Morgen, schöne Sultanin.

Guten Morgen, junge Rose.

Wieder bewunderten sich die beiden gegenseitig. Isa war entzückt von der Wirkung der bernsteingelben Seide zu Mariannens mattglänzender Olivenhaut, und Marianne fand, daß Isa mit dem leichtgeringelten Goldhaar und dem wallenden blauen Mantel, den reiches Schnurwerk verbrämte, einem zarten, innig blickenden Fra Beato gleiche.

Der Konsul war ganz plötzlich in Amtsgeschäften auf drei Tage nach Venedig gerufen worden, und Isa wollte nun ohne Scheu vor Überwachung oder ärztlichen Vorschriften einzig tun, was ihr behagte. Deshalb war sie so früh von Hause aufgebrochen, und die Morgenluft schien sie angeregt zu haben, denn ihre Augen glänzten und ihr ganzes Wesen schwang in vollerem Ton.

Ich will den Tag mit dir allein verbringen, die Kinder sind ja gut versorgt, wir wollen einmal zusammen über die Schnur hauen, sagte sie mit ihrer gleichmäßig sanften Stimme, die den kühnen Vorsatz Lügen strafte.

Das kannst Du ja gar nicht, arme Isa, lächelte die Schwester beinahe mitleidig. Weißt Du noch wie unser Bruder dich »Bachs wohltemperiertes Klavier« nannte, weil nichts dein sicheres Gleichmaß stören konnte?

Der Arme! Hätt' ich ihm etwas davon abgeben können! Aber heute, sollst du sehen, heute hab' ich was großes vor, – und nun entwickelte sie einen Plan, den sie sich ausgedacht hatte und der in der Tat nicht überwältigend war; sie wollten zu Fuße nach der zwanzig Minuten entfernten Fratazza wandern, dort ihre Mahlzeit einnehmen und die heißen Nachmittagsstunden zusammen im Wald verbringen.

Vorher aber muß ich wieder einmal bei dir aufräumen, sagte sie; in deinem Zimmer sieht es nicht zum besten aus.

Und alsbald legte sie Handschuhe und Mantel ab und begann trotz Mariannens besorgtem Abmahnen mit wahrem Herzenseifer sich der schönen herumgestreuten Sachen anzunehmen. Sie strich die duftende Wäsche glatt und brachte sie in den Schubfächern unter, stellte die Stiefelchen in gehörige Reihe und hing die Kleider, lauter Pariser und Wiener Muster aus den ersten Häusern, sorgfältig in den Schrank, nicht ohne dieses und jenes Stück das ihr besonders gefiel vor dem Spiegel anprobiert und sich an den schönen Schnurstickereien und Perlenfransen berauscht zu haben.

Holdseliger Kindskopf, der du geblieben bist, sagte die Sängerin.

Es war beiden Schwestern zu Mute, als ob sie wieder um fünfzehn Jahre jünger und in ihrem gemeinsamen Mädchenzimmer im elterlichen Hause wären, wo Marianne regelmäßig das unterste zu oberst kehrte und sich dann erschreckt durch ihren eigenen Wirrwarr ans Klavier flüchtete, bis die sorgsame Isa kam, die wie durch Zauber flink und geräuschlos alles in wenigen Minuten wieder an Ort und Stelle brachte.

Auch heute ordneten sich unter diesen geschickten Fingern die Dinge wie von selber, und das verpönte Bücken machte ihr gar keine Beschwer. Bald stand der Koffer, der Marianne zornige Seufzer entlockt hatte, völlig leer und unschädlich gemacht in einem Winkel, und das gesuchte Kleid lag vor ihr auf dem Kanapee ausgebreitet.

Denkst du denn alle diese Prachtstücke hier oben zu tragen? fragte Isa, während sie den Spiegelschrank abschloß.

Vielleicht, antwortete die Schwester zögernd. Ich muß mit dem Besuch eines Freundes rechnen, der großen Wert auf das Äußere legt.

Also doch! Ich dachte mirs ja. Welch eine Art Mensch ist dieser Freund?

Ein Dichter.

Isa dachte nach.

Es muß schön sein, einen Dichter zum Freunde zu haben.

Je nachdem. Dichter sind empfänglicher als andere Menschen, aber sie sind auch beweglicher und verwandeln sich dir unter den Händen.

Das wäre mir unerträglich. Ich muß derer die ich liebe sicher sein für Zeit und Ewigkeit.

Freue dich, daß du hast, was deine Natur bedarf.

Meinst du? entgegnete Isa, und wurde still.

Die Glückliche bist du, Marianne, begann sie wieder mit gepreßtem Ton, während ihre Schwester die letzte Hand an ihren Anzug legte. – Ich spreche gar nicht von deiner Künstlerlaufbahn, ich spreche jetzt nur von deiner Freiheit. Du bist älter als ich, aber du erwartest die Ankunft eines fesselnden Freundes. Und unterdessen streifst du in den Bergen umher mit gesunden Gliedern, begeisterst dich für die Rosetta und den Cimone. Jeder Tag kann dir das Neue, Wunderbare bringen, das wir unser Leben lang ersehnen. Mir, was bringt er mir? Die Ehe spannt ab. Das Sichere, das ewig Fertige, es macht uns altern vor der Zeit.

Und Franz liebt dich doch so sehr, sagte die Andere.

Freilich liebt er mich. Er ist ein Gewohnheitsmensch. Er liebt alle seine Sachen. Er wäre unglücklich, wenn ihm eine davon abhanden käme. Wenn er mich verlöre, wäre er noch unglücklicher.

Aber die Kinder, Isa, in ihnen lebst du doch verjüngt.

Jawohl, ich lebe in den Kindern, das ist es eben. Ich lebe in anderen, nicht in mir. Es ist ein stündliches Sterben, damit das neue Geschlecht leben kann. Ich darf nicht daran denken, was es ist. Komm, erzähl' mir lieber von deinem Dichter. Wie heißt er? Ist er sehr berühmt?

Er fängt leider an es zu werden.

Warum leider?

Siehst du, ich möchte mein Herz einem Verkannten, Einsamen geben und die einzige sein, die an ihn glaubt. Übrigens heißt er Geier, Heinz Ivo von Geier und ich habe ein Buch von ihm mitgebracht, das sollst du lesen. Wir können es ins Freie mitnehmen.

Was ist es? Ein Roman?

Es sind Verse.

Die lese ich nicht. Was fällt dir ein! Lassen wir das Buch zu Hause und freuen uns an der Natur. Was haben wir einander noch alles zu sagen.

Auf der Waldbank bei Schattenkühle und Harzgeruch plauderte sichs noch vertrauter.

Erzähl' mir nicht von fremden Ländern, die ich doch nicht kenne. Erzähl' mir persönliches aus deinem Leben. Ich sehe, daß da Einer ist, der dich beschäftigt. Wie kommts, daß du nicht seine Frau wurdest?

Im ersten Rausch hätte ich es vielleicht getan. Aber Ivo ist gebunden. Er hat in früher Jugend eine Frau entführt und geheiratet, von der er seit lange getrennt ist, die ihn aber nicht frei gibt, und das ist mein Glück gewesen.

Was hat dich denn zu ihm geführt, wenn ihr nicht zu einander paßt?

Das läßt sich nicht mit einem Wort erklären. Ich war verdurstet nach einem Tropfen Glück. Du weißt ja, wie ich dem armen Ludwig nachgetrauert habe, wenn ich auch erst jetzt verstehe, daß diese Neigung nichts war als ein erstes Regen des Vorfrühlings, eine Vogelstimme im März. Vielleicht haben wir eins im andern nur die Musik geliebt die uns verband. Doch hätte ich vielleicht mit ihm glücklich werden können, ohne zu ahnen, daß es noch etwas ganz anderes gibt. Oder es hätte jenes andere sich vielleicht noch zwischen uns eingestellt, ich weiß es nicht. Nun aber war das Leben eine glühende Wüste. Ihr frühverheirateten Frauen wißt nicht, was das heißt, wenn auf jeder Wegstrecke die Liebe kniet und bettelt, wenn man nach Liebe verschmachtet und doch die Liebe nicht aufheben und ans Herz drücken kann. Was waren es auch für Männer, die der Zufall mir in den Weg führte? Schwerleibige Millionäre, flotte, verschuldete Leutnants, dann und wann ein dünnblütiger Ästhet und auch unter den Besseren gefiel mir keiner so, daß ich sein Stehen und Gehen, die hundert Äußerlichkeiten, mit denen man sich im Zusammenleben einrichten muß, mit Augen der Liebe gesehen hätte.

Ja, du bist immer sehr schwierig gewesen, warf die Schwester ein.

Gewiß. Andere gehen über diese Unwägbarkeiten, in denen das Unbewußte zum Unbewußten spricht, als über Nebensachen hinweg, aber in mir war etwas, das sich aufbäumte, so oft ich die eigenen Sinne überreden wollte. Eine ältere Freundin sagte mir: Wenn dein Herz in dir ganz reif und schwer wird, wirst du von selbst zur Ehe kommen, wie die Frucht vom Baume sinkt. Aber ich wußte zu gut, daß das Herz in mir an seiner schweren Reife zerbrechen konnte; ohne den Ruf der großen Naturmacht konnte ich mich keinem schenken. Ich war wie das durstige Kind im Märchen, dem jede Quelle zuruft: Trink nicht! So überschritt ich das Vierteljahrhundert und mehr, stand auf der Höhe meiner Jugendkraft. Und ich sang auf der Bühne die große Leidenschaft, die ich nicht kannte. Ich war klingendes Erz und tönende Schelle.

Nach meiner Rückkehr aus Amerika kam es zur Krise. Ich war wie ausgeschöpft von der langen Künstlerfahrt und dem Leben der großen Städte und sehnte mich nach Stille und Bergluft. Darum flüchtete ich mich auf den stillsten Höhenort am Simplon, wo ich und meine Jungfer die einzigen Gäste waren. Dort befiel mich des Nachts ein furchtbarer Zustand. Es war, als ob ich die Zeit plötzlich mit ungeheurer Geschwindigkeit rennen hörte und fühlte, denn das unerträgliche Geräusch, das ich in den Ohren hatte, kam von der rasenden Bewegung des Planeten her. Fieberhitze und Kälte wechselten in mir. Am Abend, als mir die Jungfer das Haar kämmte, war von dem Kampf des Schneelichts der nahen Firnfelder mit dem elektrischen [43] ein so seltsam fahler Schein darauf gefallen, daß es wie Silber glänzte. In der Nacht kam der Eindruck verstärkt zurück. Morgen früh hin ich grau, dachte es in mir, und alles ist aus. Ich hätte mich mögen dem drehenden Planeten in die Speichen werfen: Steh still, bis du mir ein Glück gegeben hast. Aber der Erdball schwang sich auf und nieder, ich spürte es körperlich; was heute oben war, lag morgen unten, und eine Riesenwalze ging zerquetschend darüber hin. Ein Angstgefühl, weit über alle persönliche Angst hinaus, ergriff mich, ich empfand meinen Atem zum Atem aller Kreatur erweitert, und diese Allkreatur, die einen einzigen Leib hatte, den meinigen, war auf unfaßbare Weise in ein fürchterliches Räderwerk verfangen, das sie im Umdrehen zermalmte. Ich hätte mögen hundert Meter tief in einem Gletscherspalt liegen, nur um dem malmenden Räderwerk entronnen zu sein. Du versteht, Liebste, daß zur Nervenerschöpfung die Bergkrankheit gekommen war. Jetzt öffneten sich mir die Pforten des Sanatoriums. Und dort sollte sich mein Schicksal erfüllen.

Als ich zum ersten Mal mit den anderen Gästen – denn es wurde gemeinsam gespeist – bei der Tafel saß, trat ein junger Mann von sehr gepflegtem Äußeren und etwas gesuchter Haltung herein. Ich fragte meinen Nebensitzer, einen freundlichen alten Justizrat, wer dieser blasierte Apollon sei. – Ein junger Dichter von sehr großen Hoffnungen, hieß es; Herr von Geier, unter Literaten nur Heinz Ivo genannt der Ihnen vorgestellt zu sein wünscht.

Ich erinnerte mich den Namen als den eines verwöhnten Frauengünstlings, der mit der Liebe spielt, gehört zu haben, und bei der ersten Begegnung, die doch die entscheidende sein soll, mißfiel er mir. Vom Blitzstrahl der Liebe war also keine Rede. Die Bezeichnung »blasierter Apollon« schien mir gut zu passen, denn sein Gesicht, das ich fast zu regelmäßig schön fand, hat den strengen Schnitt der archaischen Apollonsköpfe, den das dunkle, gerollte Haar noch mehr betont. Aber sobald er zu reden anhob, verschwand der ungünstige Eindruck, er gab sich ungekünstelt und bescheiden, und die unbeschreibliche Gewalt, die er über den sprachlichen Ausdruck hat, machte seine Unterhaltung ungemein anziehend. Zu viel geistige Arbeit neben auszehrendem Weltleben hatten ihn an diesen Ort geführt, wo er unter gichtkranken Großindustriellen und leberleidenden Staatsbeamten auf meinen Umgang angewiesen war wie ich auf den seinigen. Schnell wie man eine Hülle fallen läßt, hatte er Haltung und Mienen des blasierten Apollon abgelegt und zeigte eine bezaubernde Frische und Unmittelbarkeit. Man müsse in der Gesellschaft eine Maske tragen, das wahre Gesicht sei zu gut dafür, sagte er, wie um sein erstes Auftreten zu entschuldigen. Unser Verkehr bewegte sich auf einer festlichen Höhe, wo von platter Hofmacherei keine Rede sein konnte. Er schmeichelte weder dem Weib noch der Künstlerin, er suchte mein innerstes Selbst mit seinen feinsten Strahlungen, seinen Neigungen und Abneigungen, seinen eingestandenen größeren und kleineren Schwächen, alles zog er ans Licht und schloß es in ein verklärendes Verstehen ein. Sogar meine Kleider, deren Geschmack dem Bedürfnis seiner Augen entgegenkam, machte er zu etwas persönlichem, zu stummen Kreaturen, die mir dienten und meinen Stempel trugen, er gab ihnen Namen, närrische wie geträumte. Auf die Rollen die ich sang ließ er Lichter fallen, die mir mehr nützten als jemals die gewandteste Spielleitung. Voll Eifer war er auf mein körperliches Wohl bedacht, er sorgte dafür, daß ich die Kurvorschriften einhielt, bei Tische hatte er sich den Platz neben mir verschafft und legte mir ausgesuchte Bissen auf den Teller. Als älterer Kurgast führte er mich in alle Schönheiten der Gegend ein, und indem er mich jeden Morgen mit einem neuen Programm überraschte, machte er sich unmerklich zum Herrn meines ganzen Tages. Allein er tat es mit solchem Zartgefühl, mit solcher Bereitschaft zurückzutreten, sobald sich eine bessere Gesellschaft für mich zeige, daß ich nur bedacht sein mußte, ihn durch kein Mißverständnis zu verscheuchen. Und er füllte die Stunden mit solchem Reichtum, daß sie mir in der Erinnerung eine ganze Lebensdauer zu enthalten scheinen.

Zur Nachkur begab ich mich nach Rügen um die Seebäder zu brauchen, und es fügte sich wie von selbst, daß er mir dorthin folgte. Lohme wurde der Schauplatz unseres Glücks. Noch einmal warnte es leise aus der verhexten Quelle: Trink nicht, sonst wirst du verwandelt! Ich aber bückte mich und tat einen tiefen, unersättlichen Zug. Nur ein kurzer wonnevoller Augenblick der Erfüllung mit geschlossenen Augen durchgekostet, dann wurde ich das gejagte Wild, von dem das Kindermärchen erzählt.

Ich muß mich erst wieder besinnen, wie dann alles gekommen ist, Damals liebte ich ihn so wahnsinnig, daß es mir ein körperlicher Schmerz war, wenn er nur das Zimmer verließ. Ich hätte mögen mit ihm zusammenwachsen. Alles an ihm gefiel mir jetzt und gefiel mir jeden Tag aufs neue, sogar eine gewisse Bewegung des Kopfes auf dem steilen Nacken, die mich zuerst an Schlangen erinnerte. »Gefallen«, das Wort scheint so wenig zu sagen und drückt doch alles aus, was Liebe sagen kann, die so gern an Äußerlichkeiten ihren Gottesdienst knüpft. Ich war glücklich, als ich eine Schwäche an ihm entdeckte, die ich ihm verzeihen und ihr durch Nachgiebigkeit schmeicheln konnte; seine ganz asiatische Prachtliebe, die sich am Anblick von Batikschleiern und kostbarem Sommerpelzwerk berauschte und am liebsten wie in den arabischen Märchen auch Bäume und Blumen mit Edelsteinen behängt gesehen hätte. Zuweilen wunderte ich mich im Stillen, daß er bei all der jauchzenden Glückserfüllung niemals an den Gedanken einer ehelichen Verbindung rührte, wozu doch alle Bedingungen gegeben schienen. Aber ich wollte nicht die Erste sein, die den Anstoß gab, ein Himmelsgeschenk das sich täglich erneute in eine bürgerliche Einrichtung zu verwandeln. Laß uns Menschen sein, nichts weiter, was hat unser Glück mit der Welt zu schaffen? war seine stehende Rede und in einem Gedicht, das ich erst später ganz verstand, nannte er den Augenblick den schönsten der Genien, das Gestern und das Morgen die beiden Todfeinde des Glücks. Es fiel mir auch auf, daß er nie von seinem vergangenen Leben sprach. Wenn er erzählte, so taten sich immer große Weiten auf, aber alles Persönliche ließ er als nebensächlich liegen. Als ich einmal eine harmlose Frage in dieser Richtung stellte, sah er mich lange an und schwieg. Ich errötete, als ob ich eine Unschicklichkeit begangen hätte, da sagte er: Mein Leben fing an, als wir uns zum erstenmal gegenüber traten. – Was er mir nicht selbst von sich erzählte, das mochte ich aus fremdem Munde nicht hören, darum vermied ich es mich anderwärts nach seinen persönlichen Verhältnissen zu erkundigen, und so kam es, daß ich über Dinge, die der Gesellschaft durchaus bekannt waren und die mich nahe genug angingen, im Dunkeln blieb. Ich hielt mir ja auch gerne die Augen zu, weil die Blindheit ja selig war. Wie wohl das tat, einmal aus tiefsten Lebensquellen sein Ich verströmen dürfen, täglich in ein neues Leben hineinsterben. – Nein, ich bereue nichts, es war doch schön. Um sich selber ganz zu gewinnen, muß man einmal sich selber ganz verloren haben. Es ist unser Zoll an die Dämonen.

Als ich zum ersten Mal die Bühne wieder betrat, – es war als Donna Anna – kam die Wandlung zum Durchbruch. Gleich beim ersten Herausstürzen wars eine völlig andere, alle innere Gebundenheit gelöst. Elektrische Ströme durchrannen mich, das Haus raste. D'Andrade äußerte danach, ich hätte Funken gegeben, als ich ihn packte. Ivo umarmte mich entzückt und sagte: Heute sang ein Weib, vorher wars eine Spieluhr, freilich eine für Götter. Die Kritik sagte andern Tags mit verschleiernden Worten etwas ähnliches. Ich war sehr glücklich, noch glücklicher als in der ersten Zeit unserer Liebe, wo ich nur die Göttin gewesen war, denn ich empfand mich als sein Werk und liebte mich selber mehr um seiner formenden Hände willen. Aber in dieser glücklichen Spanne gab es kein Verweilen. Das Ich des Mannes trat heraus und verschlang alles. Mit den Schrullen einer sinnlosen Eifersucht begann es, ich mußte alle, die neben ihm etwa in Betracht kommen konnten aus meiner Nähe entfernen, ach, und es kam doch keiner in Betracht. Aber ich erlangte durch die Unterwerfung keinen Frieden. Selbst kleine gesellschaftliche Tändeleien rückte er mir vor, die weit in der Vergangenheit lagen, und von denen er zufällig Kenntnis bekam. Sein zweites Wort war: Das Weib das ich liebe muß rein sein, und ich büßte doch, daß ich es war, sonst hätte er an mir wie an den Frauen der großen Welt die ebenbürtige Gegnerin gefunden. Für sich selbst aber nahm er die unbegrenzten Rechte des Dichters auf Leben in Anspruch. Ich mußte auch hören, andere hatten ihn mehr geliebt. Er erzählte, ohne Namen zu nennen – ein Zug den ich schätzte –, daß man ihm Ruf und Stellung und Frauenwürde geopfert hatte und die Wunden die er schlug als göttliche Stigmata getragen. Es waren wahrlich keine Erfindungen. Als ich ihn unter anderen Frauen sah, lernte ich ihn erst richtig kennen; wie er nach allen Seiten leise Fäden spann, wie er ohne Gefühl Gefühl erweckte; – was er mir mit Unrecht vorwarf, das tat er selbst. Er brauche solche Beziehungen, die keine seien, sagte er, sie dehnten die Spannweite seiner Kunst. Er setzte in Gesellschaft wieder die gelangweilte Miene auf, die mir zuerst an ihm mißfallen hatte, und gerade an dieser Miene blieben sie wie an einer Leimrute hängen. Es war ein Schmeicheln und Haschen um seine Gunst, als ob er der einzige Mann auf Erden wäre. Seinen Dichtungen wurde auf eine Weise gehuldigt, die er selbst belächelte. Mädchen und Frauen, von der jüngsten bis zur allerreifsten, wetteiferten sein Auge auf sich zu ziehen, um sich mit seinem jungen Ruhm zu schmücken. Mütter umwarben ihn für ihre Töchter, so wenig er zum Ehemann taugt. Damals verlor ich die Achtung vor unserem Geschlecht. Alle diese Bewerberinnen, die sich gegenseitig zu verdrängen suchten, standen zwangsläufig zusammen, als sie zu ahnen begannen, wer ihren Absichten am meisten im Wege war, und nun wurde von allen Seiten an unsrem Verhältnis gerüttelt. Bald wurde ihm, bald wurde mir etwas zugetragen, das geeignet war uns zu entzweien. Und wir entzweiten uns, aber immer gelang es ihm mich dabei so ins Unrecht zu setzen, daß ich mich am Ende selbst im Unrecht fühlte, denn wenn Ivo redet, so scheinen Himmel und Erde Ja zu sagen. Und nach jeder Versöhnung fand ich mich im Nachteil, ich bewies ja damit, daß ich nicht ohne ihn leben konnte.

So hatte das Verhältnis schon ins dritte Jahr gedauert, als sich eines Tages eine Dame bei mir melden ließ, deren Besuchskarte die Namen Ilona Baranyi-Geier und eine Krone trug. Eine Verwandte Ivos, vielleicht eine Schwester! durchfuhr michs. Er hatte mir nie von einer solchen gesprochen, aber ich wußte ja überhaupt so wenig von seinem äußeren Leben.

Sie war nicht jung und augenscheinlich leidend, auch durchaus nicht schön, hatte aber etwas sehr vornehmes und sehr besonderes an sich. Sie habe viel von mir vernommen und sei eigens von ihrem Gut in Ungarn hergereist um mich als Fidelio zu sehen und zu hören. Nach ein paar schmeichelhaften Bemerkungen, die nicht von der alltäglichen Art waren, sondern ein feineres Eingehen auf künstlerische Dinge bewiesen, sagte sie:

Ich bin gekommen um mit Ihnen über einen jungen Mann zu sprechen, dessen Bild ich hier auf Ihrem Schreibtisch sehe. (Ivos Lichtbild stand dort unauffällig zwischen Blumenschalen).

Stehen Sie Herrn von Geier nahe? fragte ich, während mein Blut zu gerinnen begann.

Sehr nahe. Ich bin seine Frau, antwortete sie und sah dabei schonend an meinem schneeweiß gewordenen Gesicht vorüber. Und dann erzählte sie mir ihre Geschichte.

Sie ist Ungarin aus sehr reicher Familie und hat in früher Jugend aus gesellschaftlichem Ehrgeiz einen um vieles älteren polnischen Fürsten geheiratet, mit dem sie in Wien ein großes Haus machte. Ihr Ruf war fleckenlos, bis sie die tolle Leidenschaft für den talentvollen jungen Dichter faßte, der ihr von Freunden empfohlen wurde, damit sie seinen Aufstieg durch ihren großen gesellschaftlichen Einfluß fordere. Ein Verhältnis entspann sich zwischen dem Jüngling und der um sieben Jahre älteren Frau, das zu ihrer Flucht aus dem Haus des Gatten führte, als ihr Junge schon zehn Jahre alt war. Der Fürst bot alles auf sie zur Rückkehr zu bewegen und schickte sogar den Erzieher mit dem Knaben zu ihr um durch die Mutterliebe zu wirken. Aber die Leidenschaft behielt die Oberhand. Sie erzwang die Scheidung, wechselte den Glauben um zu der zweiten Heirat schreiten zu können und wurde Ivos Frau. Die Verfügung über ihr Vermögen hatte sie erlangt, aber den Knaben seinem Vater lassen müssen. Nach dieser Mitteilung machte sie eine kleine Pause und sagte dann nur noch; Sie kennen Herrn von Geier wohl schon hinlänglich um zu verstehen, daß ich Ursache hatte diesen Schritt zu bereuen. Er machte mich sehr unglücklich, und in den schwersten Augenblicken meines Lebens, wo ich einer Anlehnung am bedürftigsten gewesen wäre, verließ er mich.

Als ich bestürzt nach der Ursache dieser Grausamkeit fragte, lächelte sie eigentümlich und sagte: Diese Frage stellte ich auch, mein Spiegel gab die Antwort. Hüten sie sich, daß Ihnen der Ihre nicht eines Tages dieselbe Antwort gibt. – Und nun kam der Rest der Geschichte. Ihr Sohn erster Ehe erkrankte an schwerem Typhus, und sein Vater war so erbarmungslos, ihr Tag für Tag die Fortschritte der Krankheit telegrafisch mitzuteilen, ohne ihr einen Besuch bei dem kranken Knaben, der nach der Mutter verlangte, zu gestatten. Sie drang heimlich ein und mußte erleben, daß man sie mit Gewalt entfernte. Der Knabe starb, und das Kind Ivos, das sie unter dem Herzen trug, wurde tot geboren. – Die unglückliche Frau erzählte ganz leidenschaftslos und sachlich, was die Wirkung ihrer Geschichte noch verstärkte, und der Schluß ergab sich von selbst: eine Krankheit zerstörte ihre Reize, und dieser Anblick tötete seine Liebe.

Als sie zu Ende war, erhob sie sich und sagte: Ich habe mich nicht getäuscht, als ich annahm, daß Ihnen meine Geschichte unbekannt sei. Und nun zum Zweck meines Kommens: Seit einiger Zeit erinnert mein Gatte sich wieder meines Daseins – um mich zur Scheidung zu bewegen. Er wünscht sich mit Ihnen zu verbinden, ich weiß es aus seinem Mund. Aber das wird nicht geschehen. Ich habe keinen Grund, um seinetwillen den Makel einer zweimal geschiedenen Frau zu tragen. Vielleicht werden Sie nicht verstehen, was ich Ihnen sage: Wenn ich ihn noch liebte, so würde ich ihn freigeben um mir ein Restchen seiner Zuneigung zu bewahren. Aber ich lege keinen Wert mehr darauf. Ich will seinen Launen einen Damm setzen und ihn lehren, daß man nicht ins Unendliche mit Menschenglück spielen kann. Er wird nicht frei, so lange ich lebe, darauf können Sie sich verlassen, und ich sehe die Zeit kommen, wo Sie mir dafür danken werden. – Damit ging sie, nicht freundlich und nicht unfreundlich, sondern wie ein ehernes Naturgesetz, das sich selbsttätig vollzieht.

Als Ivo eine Stunde später erschien, warf er nur einen Blick in mein zerrüttetes Gesicht und sog witternd die Luft des Zimmers ein.

Ilona war hier, sagte er ohne weiteres und hob das starkduftende Taschentuch auf, das sie vergessen hatte. Er setzte sich auf das Kanapee wie einer, der auf das was kommt vorbereitet ist, war aber sehr bleich.

Du begreifst, Isa, daß ich tief erschüttert war. Weniger weil ich die äußere Vereinigung, die doch letzten Endes das Ziel der Liebe ist, unmöglich sah, – ich hatte ja längst meine Bedenken dagegen, – sondern vor allem wegen der Täuschung, in der er mich gehalten hatte. Das aber wollte er nicht zugeben. Das Schwerste, was ich ihm sagen mußte, schüttelte er wie einen Wassertropfen vom Ärmel. Seine Heirat sei kein Geheimnis gewesen, antwortete er. Wien habe ihn Jahre lang an der Seite dieser Frau gekannt. Er habe als selbstverständlich angenommen, daß ich davon wisse und die Seelengröße besitze, über eine Sache wegzugehen, die keine innere Wahrheit mehr habe.

Es gibt keinen zweiten Menschen, Isa, der so über die Magie des Worts verfügt wie Ivo Geier, ich hab' es dir schon gesagt. Aus dem Nichts macht er dir eine Welt, und das wirklich Vorhandene löst er auf, daß es zu Dunst und Nebel wird. Am Ende seiner Verteidigungsrede war ich der Torheit überführt. Daß meine Unkenntnis seiner Lebensverhältnisse dem tiefen Vertrauen und dem Zartgefühl ihm nicht nachzuspüren entsprang, wollte er nicht sehen und nannte mich ein großes Kind und eine Traumwandlerin. Sein Zartgefühl sei ein tätiges gewesen, er habe die Schranke zwischen uns niederzulegen gesucht ohne mich in den Kampf hineinzuzerren. Ich verzieh am Ende, denn was verzeiht nicht alles die Liebe? Aber eine Trübung blieb zurück; ich spürte durch, daß sein Gewissen nicht rein war, und mein Vertrauen blieb erschüttert.

Was er von seiner Ehe erzählte, stimmte nicht ganz mit den Angaben von der anderen Seite. Die Wahrheit mag wohl in der Mitte liegen. Sie habe ihn grausam mit Eifersucht gequält und ihm durch leidenschaftliche Auftritte jede schöpferische Stimmung zerstört, bis er sein Werk habe vor ihr retten müssen.

Es kamen auch wieder glücklichere Tage, besonders in den Ferien, wenn wir allein zusammen waren, in den Alpen oder am Meer. Aber kaum, daß sich Gesellschaft um uns fand, so begann das böse Schillern aufs neue. Überall schleppten wir einen Todtkranken mit, unsere Liebe, die nicht leben noch sterben konnte.

Ich weiß nicht, ob du dich an Ludwigs Bruder Robert erinnerst. Er hat seiner Zeit unsere kindischen Liebesbriefe hin und her getragen und nach Ludwigs Tode gehofft an seine Stelle zu treten. Diesen Freund meiner Frühlingszeit habe ich in Amerika wieder gefunden, wo er sich eine große Lebensstellung geschaffen hat. Er ist mir nachgefolgt und lebt jetzt in der Nähe Wiens und ist mein Freund geblieben auf Tod und Leben. Auf diesen Treusten der Treuen warf sich Ivo's Argwohn, er findet ihn unerträglich und wollte mich zwingen ihn aus meiner Nähe zu weisen. Zum erstenmal hatte ich die Kraft zu widerstehen. Aber die Spannung zwischen uns wurde schlimmer und schlimmer. Er hat mir sogar das letzte, ungroßmütigste Druckmittel nicht erspart, mich für sein Leben zittern zu lassen. Nun war ich am Ende. Eines Tages auf der Probe blieb meine Stimme aus. Ich ging nach Süden, er nach Norden. Da hast Du meine Geschichte.

Sie scheint mir noch nicht zu Ende zu sein, meinte Isa nachdenklich. Wo ist er jetzt? Schreibt ihr euch nicht mehr?

Im Gegenteil, er schreibt Brief auf Brief, als ob nichts geschehen wäre. Der letzte kam aus Tramsö. Und in seinen Briefen, das gestehe ich dir, ist er im Vorteil. Die schreibt nicht der ewig unruhige, begehrende Mensch, die schreibt der Dichter Ivo, der auf seinen Wink das Nordlicht aufziehen läßt und die weißen Nächte scheinen und ewige Gletscherbrücken, hinter denen sich Walhall rötet. Ich ahne, daß er mir nachfolgen wird, wenn die Nordlandfahrt zu Ende ist, und daß er suchen wird zurückzuholen, was er noch immer als sein Eigentum ansieht.

Ich wollte, du ließest mich in deinem Leben aufräumen wie in deinen Schubladen, dann sollte dieser Herr bald sein, wohin er gehört, und der Platz für den rechten Freier frei werden.

Wenn du Ivo kenntest, würdest du vielleicht anders reden. Ich habe dir ein falsches Bild von ihm gemacht, indem ich nur von seinen Fehlern sprach. Wo Ivo ist, da wird der Tag festlich, und alles beginnt zu blühen. Sein Glänzendes kann ich dir nicht schildern, man muß es gesehen haben.

Mir würde es keinen Eindruck machen bei solchen Charakterzügen, sagte Isa überlegen.

Verschwöre nichts. Er weiß, wie man Herzen gewinnt, antwortete die Sängerin. Sogar die Männer, die ihm im Allgemeinen nicht gewogen sind, – vielleicht weil sie ihm sein Glück bei den Frauen nicht gönnen. – wenn ihm an Einem besonders liegt, hat er ihn in der Tasche. Mein armer Robert – es ist sein Schicksal, wieder der Vertraute zu sein –, bekannte, daß er mich verstehen könne, als er ihn einmal in seiner guten Stunde sah.

Was hast du jetzt beschlossen? fragte die Schwester. Marianne senkte den Kopf.

Bevor etwas beschlossen wird, muß doch Jemand da sein, der beschließen kann. Jetzt ist nichts da als ein Häuflein Schwäche, wund und zerrieben. Laß mich erst mich selber wiederfinden, dazu bin ich gekommen.

Wie willst du es aber anfangen?

Ich soll da hinauf in die Berge steigen, entgegnete die Sängerin mit einem Ton, in dem nichts mehr von der gestrigen Begeisterung lag, sondern nur eine müde Ergebung.

Nun wollen wir dir einen Tagesplan machen, sagte Isa entschieden. Man muß alle Dinge planmäßig beginnen, wenn sie fruchten sollen. Ein tägliches mäßiges Steigen fürs erste. Dazu brauchst du aber einen Begleiter denn allein findest du die Wege nicht und könntest in Gefahr geraten.

Wie richten wir es also ein?

Isa lachte. Das ist ganz die alle Marianne. Ein Held im Entwürfemachen, und wenn es an die Ausführung geht, hilflos wie ein Wickelkind. Sie würde gleich nach dem Mond aufbrechen, wenn ihr jemand die Abfahrtszeiten aufschriebe und an jeder Station einen Lohndiener für sie bereit hielte. Daran haben auch die Weltreisen nichts geändert. – Laß mich überlegen. Du bist kein Fall für die großen Bergführer, die gehören in dieser Jahreszeit den Kletterern. Auf Franz ist nicht zu zählen, er geht nicht von Hause weg. Aber da wäre Marco, unser Caliban, wie du ihn nennst, der könnte einmal zu etwas nütze sein. Wenn es dir nicht zuwider wäre, Marco gäbe einen tüchtigen Führer ab. Mit ihm kannst du gehen, wohin du willst. Er hat schon öfter Freunde des Hauses begleitet, es ist das einzige, wozu man ihn brauchen kann.

Marianne machte eine leise Bewegung des Widerwillens.

Anziehend ist er nicht, das gebe ich zu, fuhr Isa fort. Aber dann bleibt dir nichts übrig als an andere Hotelgäste Anschluß zu suchen.

Dieser Gedanke war Mariannen noch unerfreulicher. Sie haßte die Zufallsbekanntschaften die immer wieder einmal auftauchten, wo man sie nicht brauchen konnte, und ging ihnen sorgfältig aus dem Wege.

Dann noch lieber den Caliban.

Du brauchst dich ja nicht mit ihm abzugeben. Er wird wie ein Hund neben dir hertrotten, und du bleibst mit deinen Gedanken allein.

Wird er denn dazu bereit sein?

Ich denke wohl. Er ist freilich sehr störrisch; wenn sein Vater es ihm befehlen würde, so liefe er gewiß davon und käme erst nach deiner Abreise wieder. Aber ich will selbst mit ihm reden. Durch ein gutes Wort kann man ihn zu vielem bringen.

Also in Gottesnamen versuchen wirs.

* * *

 


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