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»– – Laß uns nicht den Irrtum der letzten Jahre zu einem dauernden machen«, schrieb sie andern Tages an Ivo, »jedes von uns wird stärker und glücklicher ohne das andere sein. Unendliches bin ich dir schuldig geworden, nur durch die Begegnung mit dir konnte mein Wesen sich ganz entbinden. Und Güter des Geistes schenktest du mir, die mein bleibender Besitz wurden, wobei ich dein gedenken kann. – Wenn ich nun vielleicht in absehbarer Zeit einem Freunde, der es mir nicht vorwerfen wird, dich geliebt zu haben, die Hand reiche, so denke, daß du auch daran beteiligt bist. Denn ohne unser gemeinsames Erleben wäre ich zu einer Ehe aus Verzicht auf das Größere nicht imstande.

Man kann solche Dinge nicht durchkämpfen, man muß sich innerlich erneuern, ich habe es vermocht, du vermagst es auch …«

Als sie den Brief mit zarten und guten Worten geschlossen und gesiegelt hatte, denn er sollte versichert reisen, überkam sie schon der Schmerz um den Schmerz den sie zufügte, und es schien ihr, als habe sie sich immer noch nicht zart und rücksichtsvoll genug ausgedrückt. Sie öffnete ihn wieder und schrieb darunter:

»Verzeih mir, Ivo, daß ich das Wort Irrtum brauchte, ich lösche es aus, es war nicht gerecht. Ich kann den Brief nicht noch einmal schreiben. Du bleibst mir was du warst – in der Erinnerung. Nur sehen dürfen wir uns vorerst nicht wieder.

Ich habe eine schöne Schwester voll Innigkeit, Ruhe und Beharrungsvermögen. Sie ist schon glücklich als Gattin und Mutter. Wäret ihr beide frei, sie wäre die Frau, die ich dir wünschte. Sie gäbe mit ihrer sanften Schwere deinem Leben gerade soviel Ballast wie du brauchtest. Leb wohl, Ivo, zürne mir nicht, oder zürne mir lieber, aber sei nicht traurig.«

Nachdem der Schritt unwiderruflich getan war, fühlte sie erst ganz, wie notwendig er gewesen; der Mut zu einem neuen Leben sproßte mit der Macht des Frühlings in ihr auf. Sie mußte es nur ganz anders angreifen als bisher, sie mußte die Fülle vor sich setzen, wie sie es am Rand der Abstürze tat, Schritt für Schritt, und keinen Blick nach oben wo die Gebirgsmasse überhing, keinen nach unten, wo der gierige Abgrund schnappte. Jeder Stunde nur den Wert geben, den sie für sich selbst besaß, ohne sie mit dem Gestern oder dem Morgen zu beschweren.

Seht sie nur an, sie wird jeden Tag jünger, sagte Isa einmal ums andere. Ein solches Gesicht hatte sie sechzehnjährig, wenn sie mit Bruder Erich strolchen ging.

Marianne spülte selber, wie ein neues Blut in ihr kreiste, das sie bis in die Fingerspitzen hinab mit Lustgefühl durchdrang.

Isa dagegen war längst in ihre alte Lebensmüdigkeit zurückgefallen. Ihre Wangen blühten weiter, aber ein rätselhaftes Leiden zehrte an ihrer Jugend. Franz ängstete sich und klagte. Sein Medizinmann, in den er ein abergläubisches Vertrauen setzte, mußte wöchentlich einmal von Venedig herauffahren und die allermeisten Kuren mit ihr durchprobieren. Dann wurde ein paar Tage lang von nichts anderen, als der Wunderkur gesprochen, bis ihr Versagen am Tage lag und man mit etwas anderem anfing.

Die Schwester allein wußte, woran Isa krankte.

Ihr solltet euch zuweilen trennen, sagte sie zu dem Schwager, damit ihr einander wieder als Neue entgegenträtet. Euer Zusammenleben ist zu ausgeglichen. Gib mir Isa auf ein paar Wochen mit nach Wien, du wirst sehen, wie ich sie dir zurücksende.

Aber da war es, als ob sie die ärgste Ketzerei gesagt hätte. – Du rüttelst an den Grundlagen der Ehe, die die Grundlage des Staates ist, liebe Schwester, sagte der Schwager, aber durch den scherzenden Ton, den er immer mit ihr hatte, klang die innere Gereiztheit durch.

Isa selber schüttelte nur müde den Kopf. Es hülfe ja nichts, auch wenn er ihr Urlaub gäbe, sie würde sich der Kinder wegen doch nicht von Hause entfernen. Ein plötzlicher Wettersturz, der die glänzende Sommerlandschaft in eisige Regenschleier und Schneewirbel begrub, verschlimmerte ihren Zustand. Marianne zog auf Franzens Bitte für ein paar Tage in die ganz abgeschnittene Sommervilla hinauf um die Leidende zu zerstreuen. Isa lächelte dankbar zu ihren Bemühungen, aber sie war für keine Anregung zu haben. Schon verstanden sich die beiden nicht mehr, die Welt, die sie zusammengeführt hatte, führte sie wieder auseinander, denn die Eine schwamm doppelt so schnell wie die Andere. Marianne wußte bald nicht mehr, wo den Hebel ansetzen, und hielt sich an die Kinder, denen sie Geschichten erzählte oder an Isas altem Harmonium Liedchen vorsummte, die sie nachpiepten wie kleine Vögel. Sie waren voller Anmut und versprachen drei Isas zu werden, schön und wohlerzogen, fähig sich nach jedem Mann zu arten, und dabei doch im innersten Wesen unbeweglich und unveränderlich. An vielen kleinen Zügen erkannte Marianne in ihnen die Mutter. Zu einigem Leben erwachten sie aber nur, wenn ihr rauhbeiniger Bruder herzukam, an den sie sich dann gleich mit hunderterlei kleinen Wünschen festhängten.

Wären es wenigstens Knaben, seufzte Isa hoffnungslos. Was wird es sein, wenn sie groß sind, als daß sie wiederum heiraten und vom nächsten Geschlecht aufgesogen werden, wie wir unsere Erzeuger aufgesogen haben. Wenn ich nur wüßte, wozu das gut ist, dieses Gezeugtwerden und Aufbrauchen und Zeugenmüssen und Aufgebrauchtwerden, wobei sich das Rad immer um sich selber dreht.

An solchen trüben Tagen war Marco unsichtbar. Niemand schien seine Abwesenheit zu bemerken, und seine Freundin mochte nicht noch ihm fragen, es war am besten, wenn man ihn im Hause ganz vergaß. Aber sie dachte oft in den mondlosen Regennächten daran, ob der Junge wohl eben mit einer Schmugglerbande oder vielleicht zur Abwechslung mit den Grenzwächtern durchs Gebirge schleiche, denn ihm kam es auf die Partei nicht an, sondern auf das Wagestück. Aber diesmal war es nicht die Abenteuersucht, was ihn aus dem Hause trieb. Er ertrug es nicht, mit Mariannen unter dem elterlichen Dache zusammen zu sein, wo er nichts für sie bedeutete. Darum verschwand er, so oft er sie kommen sah. Ein nagendes Leid, das er selber nicht verstand, bemächtigte sich seiner, wenn er sie in Gesellschaft anderer erblickte. Sie war ihm dann genommen und wurde selbst eine andere, denn ohne ihr Wollen umschwebte sie der Glorienschein der berühmten Frau und deutete auf einen Lebenskreis, den er haßte ohne ihn zu kennen. Er konnte ihr da so böse sein, daß er sie in seinen Groll gegen die Mitwelt einschloß. Es genügte schon, daß neugierige Fremde sich bei ihm nach dem Stern seiner Familie erkundigten um ihn in Zorn zu versetzen, und als ihm einmal ein Kurgast, den er von früher her kannte, erzählte, daß er sie in Newyork als Elsa strahlend von Schönheit und Ruhm an der Seite Lohengrins im Brautgewand gesehen habe, da rannte er einen Tag wie unsinnig herum und brüllte seinen Schmerz in die stummen Wälder.

Endlich schien die Sonne wieder, der Nachsommer brannte glühend aus. Aufs neue kamen Scharen von Bergfahrern, um einzeln oder in Gruppen um die Ersteigung der schwierigsten Gipfel zu ringen. Und eine strahlende Morgenfrühe fand auch Marianne wieder mit Marco unterwegs im Rodatal. Die beiden hatten heute etwas Großes vor. Schon öfter hatte er ihr von einem wundervollen Felsenpaß erzählt, über den er sie einmal ganz tief in die Bergwelt hineinführen wollte, dann würde sie erst die Dolomiten kennen lernen. – Aber wir müssen warten, hieß es jedesmal, bis die Scaletta wieder schneefrei ist. – Wenn sie aber fragte. Was ist diese Scaletta? so schwieg er mit pfiffigem Gesicht. Nun hatte es der Zufall gefügt, daß ihr neuer Tischnachbar im Gasthof, der sich eben zu einer mehrtägigen Wanderung mit Führer anschickte, auch über die unterdessen gangbar gewordene Scaletta wollte, und man war übereingekommen zusammen auszuziehen. Weil aber Marco sich gegen seine Gewohnheit an diesem Morgen verspätete, mußte sie die beiden allein vorangehen lassen und folgte aus beträchtlicher Entfernung mit ihrem kleinen Begleiter. Der lächelte still in sich hinein. Daß er der Narr wäre, sich ihre Gesellschaft schmälern zu lassen und als Lasttier nebenher zu traben!

Bei scharfer Frühluft stiegen sie im Hochwald aufwärts und rasteten, wo er zu Ende ging, auf einer Bank unterhalb der nackten Felsenschroffen. Hier dachte Marianne ihren Vortrab wieder zu finden, aber die beiden waren schon weit voraus, man hörte ihre Jodler von der Höhe herab. Der Eusiglio warf sie der Pala zu, und von der Rückseite der Rosetta kam ein anderer Jodler, den das Echo auffing und zurückhallte, daß es klang, als ob die Berge selber eine Stimme hätten und einander in der strahlenden Morgensonne zujauchzten.

Wir brauchen die Andern nicht, wir kommen allein hinauf, meinte Marco und ging über eine steinige Schlucht voran, in die ein schwarzer Felsenspalt von oben die Schmelzwasser spie. Am Fuße einer hohen senkrechten Wand, in der vorspringende Steine in weiten Abständen eine durch Menschenhand nachgebesserte rauhe Stufenfolge bildeten, war der Weg zu Ende. Ein starkes Drahtseil lief neben den Stufen her um den Aufstieg zu erleichtern.

Also das ist die Scaletta? sagte Marianne entsetzt. Ein lustiges Treppchen, ein nettes Leiterchen! Und da willst du mich hinaufschleppen?

Der Junge lachte vergnügt. Das war ihm gelungen. Wenn sie vorausgewußt hätte, wie die Treppe beschaffen war, so wäre sie ihm nicht hierher gefolgt, aber umkehren an einem solchen Sonnentag war ihr noch weniger zuzutrauen. Wie in ihrer Jugendzeit, wenn sie vor einer schweren Aufgabe stand, setzte sie sich im Namen des Schicksals eine phantastische Belohnung aus.

Wenn du hinaufkommst, soll es dir ein Zeichen sein, daß du noch jung genug bist um ein neues Glück zu finden.

Schnell wollte sie nach dem eisigen Drahtseil greifen, aber Marco zog ihr zuvor noch ein Paar weiße Wollhandschuhe, die er aus dem Rucksack nahm, über die Hände – sie hielt das für ein Zeichen schwesterlicher Fürsorge, denn sie wußte nicht, daß vor Marcos Eifer keine Schublade Isas sicher war, wenn er ihr Gutes tun wollte –, dann begann sie sich mühsam an den Felsen hinaufzuarbeiten, für Geübte ein Kinderspiel, aber dem Neuling keine verächtliche Aufgabe. Es ging besser als sie gedacht hatte. Wo die Tritte zu weit von einander lagen und ihr tastender Fuß keinen Halt mehr fand, da hielt der mitkletternde Junge seine Handfläche unter, die fest war wie Eisen, und schob nach, bis sie wieder sicher stand. Dann mußte sie einen Augenblick die Brust gegen den Felsen gelehnt, rasten und Atem schöpfen.

Wie stark du bist, Marco!

Glaubst du, ich wollte dich hinauftragen! ein verhaltener Jubel klang aus seiner Stimme.

Danach ging es von neuem aufwärts, nur durfte sie den Blick nicht in die Höhe richten, die in den Himmel zu wachsen schien, und noch weniger in die Schlucht, die immer tiefer unter ihr gähnte, denn oben und unten lauerte der Schwindel. Sie sah nur auf die Sterne die ihr Fuß zum Tritt auswählte, und auf Marcos breites glänzendes Gesicht, das immer in ihrer Nähe war. Und wenn einmal das Herz in ihr klein werden wollte, so raunte sie sich selber zu: Mut, Mut, Marianne, dort oben sitzt das Glück und erwartet dich.

Die Wand war überwunden. Auf einer engen Felsenterrasse, wo noch etwas niederes Buschwert grünte, ließen sie sich zum Rasten nieder. Die Sängerin glühte vor Anstrengung und sog mit Wonne die Schneeluft ein, die aus einem engen Felsenpaß herabwehte. Jetzt von dem sicheren Rastort aus konnte sie ohne Schwindel in die bezwungene Tiefe hinunterblicken. Ich bin jung, ich bin jung, dachte sie voll Triumph, glaube, mein Herz, glaube noch an dich selber.

Marco aber schnürte seinen schweren Rucksack auf, nahm ihr Jäckchen heraus und hängte es ihr trotz ihres Widerspruchs um die Schultern. Dann goß er ihr einen einzigen Tropfen Kirschengeist in ein fingerhutgroßes Becherchen. Das tat er alles mit der trockenen Sachlichkeit und Gewichtigkeit, die er den alten Bergführern abgelernt hatte.

Woher du nur alle die guten Sachen bringst? sagte seine Begleiterin, durch den einzigen Tropfen zu inniger Fröhlichkeit angeregt.

Er lachte und zog ein paar blanke Dinger hervor. Steigeisen, die er vorsichtig an die Füße schnallte. Dann verknüpfte er sie und sich kunstgerecht mit einem kurzen Seil.

Was soll es jetzt geben?

Das wirst du sehen. Aber du mußt dich nicht fürchten. Ich führe dich nur dahin, wo es ganz sicher ist.

Ich fürchte mich nicht mit dir, Marco, ich gehe mit, wohin du mich führst, denn du führst gut.

Marco wurde ganz bleich vor Stolz und Glück. Das war sein Ritterschlag.

Jetzt kann noch ein rechter Mensch aus mir werden, dachte er in großer Bewegung.

Sie betraten das vergletscherte Schneefeld, das sich enge zwischen zwei Bergwänden in die Höhe zog. Vor ihnen her liefen schon halbverwischt die Fußspuren ihrer Vorgänger, die bereits ihren Augen entschwunden waren. Der Knabe überzeugte sich jetzt, daß der Paß nicht so gangbar war, wie das strahlende Sonnenwetter versprochen hatte. Da lag viel Neuschnee, der stellenweise überfroren war. Marco begann mit dem Pickel Stufen zu schlagen; die Partie, die voraufgezogen war, hatte da und dort dasselbe getan. Da der Gletscher nicht an den Bergwunden aufstieß, begleitete ihn zu beiden Selten ein Abgrund, dessen Tiefe der Mächtigkeit des Eises entsprach. Wer auf der abschüssigen Bahn ausrutschte und hinabkollerte, mußte fast unfehlbar in einer der tiefen Randspalten enden. Ein Erwachsener hätte wohl geschwankt, in das Knabenherz kamen keine Zweifel. Und wenn sie auch abglitten, wenn sie zusammen da unten ankamen –! Es durchlief ihn seltsam vom Wirbel bis zur Zeh, daß er die Augen eindrücken mußte. Aber das würde ja gar nicht geschehen, er hatte Kraft genug sie und sich zu halten. Marianne folgte ihm sorglos, ohne Ahnung einer Gefahr. Wenn sie nur nicht unsicher wurde, so ging alles gut. Damit ihr keine Zeit zum Fürchten blieb, schwatzte und erzählte er immerzu. Er unterhielt sie von dem Bären, der vor ein paar Jahren die Almen von San Martino heimgesucht und die Schafe zerrissen hatte. Es war ein riesiges Tier, das sich da und dort mit seinen Jungen zeigte und unverkennbare Spuren seiner Anwesenheit zurückließ. Die Regierung setzte einen Preis für die Tötung des Bären aus. Alle Jäger machten sich mit Flinten auf, und Marco konnte natürlich nicht zu Hause bleiben. Doch sie fanden nichts als ein frisch zerrissenes Schaf. In Primiero aber lebte ein alter unbußfertiger Wilderer, dem das Waffentragen verboten war, und der deshalb auf dem Nordhang der Feltriner Alpen den Gemsen mit der Schlinge nachstellte. Dieser wurde ohne sein Wollen zum Bärentöter. Er hatte wieder eine Schlinge aus Eisendraht für die Gemsen gelegt, da ging ihm unversehens der starke Bär hinein und erdrosselte sich. Nicht gering war des Mannes Überraschung, als er das ungeheure Zottelhaupt in der Schlinge fand. Er wagte sich gar nicht in die Nähe, brachte aber des anderen Tages einen Freund herbei, der das Jagdrecht hatte, und mit diesem zusammen gab er mehrere Schüsse auf den Meister Petz ab. Dann machten sie das gewaltige Tier aus der Schlinge los und schleppten es nach Primiero um das Fell zu verkaufen und den Preis der Regierung einzuheimsen. Aber der Bär hatte schon acht Tage in der Schlinge gehangen und verbreitete einen pestartigen Geruch, daß man ihn schnell zusamt dem Fell verscharren mußte. Und da man auch droben im Gebirg die Schlinge fand, in der er sich gefangen hatte, wurde dem unglücklichen Bärenjäger der Prozeß gemacht. Doch als er die Strafe abgesessen hatte, erhielt er den vollen Preis ausbezahlt, denn er war es doch, der den Bären zur Strecke gebracht hatte. Ein ländlicher Dichter verfaßte danach auf den Hergang eine Romanze, die Marco vergeblich zusammenzubringen suchte.

Aber siehst du, schloß er, das mit der Schlinge war doch eine Gemeinheit, so was könnte ich niemals tun, auch nicht gegen ein Raubtier, und der Mann hatte es doch auf die armen Gemsen abgesehen.

Marianne wußte nicht, daß er ihr eine bekannte Sache erzählte, und die sonst so Gläubige hielt die Bärengeschichte zuerst für ein Stück Jägerlatein. Nur am Schlusse kamen ihr Bedenken.

Wie lange ist es her, daß der Bär gefangen wurde?

So drei – vier Jahre.

Du sprachst von Jungen, die müßten heute groß sein. Dann wäre ja die Gegend ganz unsicher.

Ei, warum sollten die gerade hier geblieben sein? antwortete er gelassen. So ein Bär, siehst du, der geht sehr schnell. In einem Tag wandert er dir bis in die Trientiner Alpen, und hier hat man nie wieder etwas von ihm gehört.

Marianne vergaß den Bären über der Mühe des Aufstiegs. Steil und endlos dehnte sich die weiße Bahn; war ein Absatz überwunden, so erhob sich über ihm ein anderer, als sollte der Paß bis in den Himmel führen. Schweiß troff von Marcos Stirn, aber unermüdlich schlug er kleine Stufen, und bei jeder schwierigeren Stelle faßte er mit kunstgerechtem Führergriff ihre feinen Finger in seine derben, eisenfesten, um sie nachzuziehen. Die Sonne glitzerte lustig auf dem Schnee, und die Fußstapfen ihrer Vorgänger, die immer vor ihnen herliefen, leisteten schweigende Gesellschaft, boten auch dann und wann eine kleine Hilfe.

Endlich traten sie in weichen Schnee. Marco löste das Seil und mischte sich tiefaufatmend die Stirn. Hunderte von Stufen hatte er ihr mit seiner jungen Kraft geschlagen um sie gefahrlos heraufzubringen. Ihr war nichts dabei aufgefallen, sie meinte, es müsse so sein. Auf einem Steine ausruhend gab sie sich einem seltsamen Gedanken hin; dieser Felsenpaß war ihr nicht neu, irgendeinmal mußte sie ihn schon gegangen sein. Aber wie und wo, da sie doch zum erstenmal so tief in die Dolomiten kam? Umsonst, der Gedanke ließ sich nicht abwehren, ein Erinnerungsbild stellte sich deutlich neben die Gegenwart, daß es war, als sähe sie alles doppelt. Plötzlich durchfuhr sie's; das war ja der Engpaß zwischen Felsen, von dem sie in der ersten Nacht geträumt hatte. Eben hier war es, wo Ivo auf Nimmerwiedersehen an ihr vorbeigeschritten war. Auch jetzt glitt sein leises Schattenbild schon halb verblaßt wie das eines Längstverstorbenen an ihr vorüber. So war das also gemeint! Jetzt glaubte sie den Wahrtraum erst richtig zu verstehen.

Die Jochhöhe war erklommen, wo die Wände wie zu einem engen Tor zusammentraten, neben dem zwei wunderschlanke, himmelhohe gotische Türme, mit aufschießenden Nadeln und durchbrochenen Zierraten geschmückt, rechts und links Wache standen. Dann erweiterte sich der sinkende Paß zu einem Felsenzirkus von überwältigender Großartigkeit, die alles Menschliche erdrückte. Die beiden fühlten sich nur noch als dunkle bewegliche Punkte inmitten der ungeheuren weißen Regungslosigkeit. Unter ihnen lag die Schutzhütte, von der sie lauter Jodelruf begrüßte. Sie fingen zu rennen an. Eine steinige Halde lag noch dazwischen, die sie im Fluge hinunter sausten. Da wurde auf einmal alles unter ihren Füßen beweglich, die Steine rollten voraus, sie selber rollten mit, und hinter ihnen rollte und polterte es gleichfalls, als ob der Berg sich anschickte sie zu verfolgen. Glatt und sicher schossen sie mit dem rollenden Gebröckel zu Tal und kamen lachend in der Hütte an.

Dort begrüßte man sich nur um sich gleich wieder zu trennen. Der Wanderer entschuldigte sich, daß er sie nicht unterhalb der Scaletta ermattet habe, weil die Zeit knapp sei.

Der Paß war ja nicht ganz so bequem, wie man gedacht hatte, sagte er, aber wir wußten Sie in guten Händen. Den Rückweg werden Sie natürlich anders nehmen.

Der Führer übergab Marco den Schlüssel der Klubhütte, deren Wächter schon zu Tal gezogen war, und sie blieb mit ihrem, Schutzgeist allein. Der zündete vor allem auf dem Herd ein lustiges Feuer an und stapfte mit dem Kessel nach Schneewasser weg, das alsbald ins Brodeln kam. Marco war hier wie zu Hause. Er schloß alle Schränke auf, holte die Vorräte heraus und begann eifrig am Herde zu wirtschaften. Marianne hatte ihre nassen Schuhe ausgezogen und sah mit hoffnungsvollen Augen auf Marcos vielversprechende Tätigkeit, in die sie nicht einzugreifen trachtete, denn es stand außer Zweifel, daß er zum Kochen mehr Geschick hatte als sie. Und sein Rucksack war heute wieder ein wahres Tischlein deck dich; ein ganzes gebratenes Hühnchen brachte er neben andern Leckerbissen daraus hervor. Auch ein Paar Pantoffeln aus Isas Besitz hatte er stillschweigend eingepackt, damit die Füße Mariannens während der Mahlzeit ausruhen und ihre Stiefel trocknen konnten. Die stopfte er mit Papier aus und hielt sie mit breitem Lachen aber fast zärtlich in den Händen; komisch, daß es auf der Welt so kleine Füße gab.

Und dann war die Suppe fertig und wurde dampfend aufgetragen, eine Wohltat nach dem erschöpfenden Marsch. Wein gab es auch, von dem sogar die enthaltsame Marianne lange Züge nahm. Sie vergaß einmal alle Grundsätze und wollte gar nichts sein als ein lustiger Wanderkamerad. Marco mußte ihr die beschneite Kette der Feltriner Alpen erklären, die in heller Mittagssonne tief unten lagen. Vor allem entzückte sie die regelmäßige Baldachingestalt des schönen Pavione.

Wenn du oben stündest, würdest du das Meer sehen, sagte er.

Es muß schön sein, das Meer von einem hohen Berge zu sehen, Marco.

Das glaub' ich, wenn du willst, so führ' ich dich hinauf.

Mit einemmal wurde Marianne von der Mattigkeit, die der ungewohnte Weingenuß vermehrte, so überwältigt, daß sie den Kopf an die Wand lehnte und die Augen schloß. Als der Junge sah, daß sie richtig eingeschlafen war, holte er ein Kissen, das er ihr bequem in den Nacken stopfte, sah eine Weile andächtig auf das schöne Gesicht herunter, das sich im Schlaf verjüngte, und verließ dann die Hütte um draußen auf den Schneefeldern herumzustreichen.

Die Sonne hatte ihren Stand verändert, als die Schläferin erwachte. Sie sah sich allein in der Hütte, die ihr ganz fremd vorkam. Ihre Schuhe standen getrocknet neben ihr auf der Bank. Rasch fuhr sie hinein und nestelte mit hastigen Fingern, dann trat sie unter die Tür und sah sich in der ungeheuren Welt des Eises um, für die sie bei der Ankunft vor Erschöpfung kein rechtes Auge gehabt hatte.

Sind das Berge? Sinds zerfallende Skelette von Riesen? In tausend barocken, oft äffenden, der Tierwelt abgeborgten Formen umstanden sie die zerbröckelten, verwitterten Kolosse im fahler gewordenen Glanz der Nachmittagssonne. Sie trat in den weichen Schnee hinaus um sich nach Marco umzuschauen, aber weit und breit war kein lebendes Wesen zu sehen, nur die weiße Einsamkeit starrte sie geisterhaft an. Marco! Marco! begann sie zu rufen. Keine Antwort kam. Wohin war der Junge verschwunden? Sie wartete ein Weilchen, rief dann aufs neue mit einem Schrillen in der Stimme, das ihr ganz fremd war. Eine jähe Angst hatte sie überfallen, unvernünftig und unwiderstehlich wie Gespensterfurcht. Wenn der Junge nicht zurückkam, wenn sie hier oben allein blieb, sie würde ja nie, nie von selber den Abstieg finden in der pfadlosen, weißen Wüste, und wenn sie ihn fand, wo sollte sie den Mut und die Kraft hernehmen, ihn allein zu gehen? Sie suchte nach Marcos Fußstapfen im Schnee, aber die waren weggeschmolzen. Eine Zeitlang predigte sie sich selber Geduld und Abwarten, weit konnte er ja unmöglich gegangen sein, sie wußte doch, daß ihr Schutzgeist sie nicht verließ. Ergeben wartend setzte sie sich unter die Tür der Hütte, aber die Minuten schlichen endlos, und das Grausen faßte sie abermals. Die verrückten Eisgebilde, die sich in allerhand Tiergestalten buckelten, schnitten ihr plötzlich Fratzen. Sie rief aufs neue und rannte dabei wie irrsinnig im Kreis um die Hütte her. Allein mit diesen Bergen, die gar keine lebendigen Berge waren, sondern nur die toten Gerippe von Bergen, ein aufgetürmtes Beinhaus von Riesenknochen! Sie wagte nicht mehr zu rufen, denn mit jedem Schrei, der ohne Antwort blieb, vermehrte sich ihre Angst. Das Entsetzen vor der starren weißen Einsamkeit trieb sie wieder in die Hütte zurück, aber im geschlossenen Raum wurde ihr nach kurzem so bange, daß sie nicht atmen zu können meinte. Mit Aufbietung aller Vernunft erstieg sie langsam einen Schneehügel, der sich oberhalb der Hütte türmte. Jetzt noch einmal aus voller Kraft: Marco!

Ein Jodler antwortete tief unten, ein zweiter und dritter. War er es wirklich? Ja, wer konnte es anders sein, in dieser Öde gingen ja keine Menschen. Und nun wurde seine goldbraune Samtjoppe zwischen den verschneiten Felsblöcken sichtbar, und aller Schreck war wie durch Zauber weggeblasen.

Hast du dich gefürchtet, Tante Marianne?

Jetzt schämte sie sich ihre Hasenfüßigkeit zu gestehen und schalt nur, daß er die Zeit zum Aufbruch vergessen habe. Als Abbitte gab er ihr einen Strauß Blumen in die Hand, die er zwischen Felsgeröll und Eisschollen für sie gepflückt hatte; ein paar Edelweißsterne waren darunter.

Ist es nicht schön hier oben? Ist dir die Zeit lang geworden? Ich dachte du schliefest, und suchte unterdessen ein paar Blumen für dich.

Ja, es ist sehr, sehr schön hier oben, sagte sie, nachdem sie lange beschämt in die Runde geblickt hatte, denn in der Nähe ihres Schutzgeistes wurden ihre Augen wieder wacker. – Aber es wird Zeit, daß wir an den Heimweg denken.

Wie du willst, Tante Marianne.

Er begann in der Hütte aufzuräumen und den Rucksack zu packen.

Wie lange werden wir zum Rückweg brauchen, Marco?

Du hast gar nichts zu steigen, es geht jetzt immer abwärts nach Süden hinunter. Wenn wir immerzu gehen wie heute morgen, so können wir in vier Stunden in Siror sein. Dort finden wir ein Gefährt, und du kommst noch zum Abendessen in die Alpenrose.

Vier Stunden Abstieg, aus denen dann unterwegs fünfe werden, das ist zu viel für heute Abend. Denke einen andern Weg aus, Marco.

Anderer Weg ist nicht.

Und über denselben Paß können wir nicht zurück? fragte Marianne, obwohl sie bei der Erinnerung an die Scaletta eine leichte Gänsehaut überlief.

Geht nicht, überfriert am Abend.

Nun war guter Rat teuer. Daß es nach Siror auch mehr als vier Stunden werden könnten, gab der Junge selber zu.

Wenn du müde bist, kannst du auch in der Klubhütte schlafen, meinte er obenhin.

Freilich, daß du wieder wegläufst und mich ängstest, entfuhr es ihr.

Nein, Tante, sagte er und sah sie aus den treuen Hundeaugen vorwurfsvoll an. Ich werde mich unter die Tür der Hütte setzen und die ganze Nacht wachen, damit du ruhig schläfst.

Aber Marco, du bedenkst nicht, wie sich die drunten um uns ängsten werden.

Er lachte mit den weißen Schaufelzähnen.

Da ist niemand, der sich ängstigt. In der Alpenrose werden sie glauben, du seist auf der Villa, und zu Hause wissen sie gar nicht, daß du ausgeblieben bist. Ob ich da bin oder nicht, danach fragt Niemand.

Das war unwiderleglich. In Mariannens Herzen sprang die Freude am Abenteuer auf. Eine Nacht in Balsamluft und Sterneneinsamkeit unter diesen weißen Wundergebilden von Gotik und Barock, die der Traum eines irrsinnigen Riesenbaumeisters ausgeheckt haben mußte, allein mit ihrem treuen Kobold, der über ihr wachte! Eine solche Bergnacht mußte das neue Leben, auf das sie hoffte, eröffnen. Und welche Wunschblumen des Glücks mochten ihrer noch am Wege warten, nachdem sie diese gepflückt hatte. Ihre Stimme, die sie seit so vielen Wochen wie eine Kostbarkeit im Futteral hütete, rang sich in voller Selbstvergessenheit los und jubelte der über den Feltriner Alpen niedertauchenden Sonne zu:

»Neue Freuden, neue Schmerzen
Toben heut in meinem Herzen« –

Die Töne stiegen jubelnd und kristallklar auf wie ein mächtiger Springquell, der sich selber übersteigend immer höhere und höhere Silberstrahlen schießt und im Niederfallen zu tausend farbigen Perlen zerstäubt. So neu, so unbeschreiblich klangen inmitten der weißen verzauberten Umgebung die Mozartschen Töne, als fielen sie von der blauen Himmelsdecke herab. – Das war das Glück, das ich hier oben finden sollte! Meine Kunst! Ich Törin! daß ich es jemals anderswo gesucht habe!

Sie wollte das köstliche Instrument wieder im Futteral ruhen lassen, da begegnete sie Marcos Augen, die sie flehend ansahen. Er hatte in der Hütte mächtig zu hantieren begonnen, aber bei den ersten Tönen waren ihm die Arme herabgesunken, und da stand er unter der Tür wie ein Verzückter und hörte zu.

O noch einmal! Noch ein einziges mal, Tante Marianne! Es war so schön – so schön. Man möchte nur stehen und immer zuhören.

Willig und unbesorgt sang sie ihre Pagenarie, mit der sie die alte und die neue Welt bezaubert hatte, dem einzigen jungen Zuhörer noch einmal und warf ihr »Ich bebe, ich bebe, ich zittre« wie einen Triumphruf den starren weißen Kulissen dieser Riesenbühne entgegen.

Der junge Mond entzündete sich in den Safranschleppen der verglühenden Sonne. Marco rumorte wieder in der Hütte, schleppte Kissen und Decken an die Luft, fegte und scheuerte und richtete ihr im Schlafraum ein reinliches, bequemes Bett. Für sich selbst legte er im Führerzimmer ein paar Decken zurecht. Danach bereitete er aus vorgefundenen Büchsen und den Resten der eigenen Vorräte eine schmackhafte Abendkost. Draußen wurde die Luft kälter und kälter. Beide machten noch einen Rundgang über die Eisfelder vor dem Hause. Dann legte Marianne sich nieder. Aber sie lag noch lange wach, berauscht von all der wilden Schönheit und vom Wunderklang ihrer eigenen Stimme. Sie hörte noch, wie Marco so geräuschlos wie möglich das Kochgeschirr reinigte und alles an seinen Platz stellte. Dann entschlief sie.

Plötzlich war sie wieder wach, denn sie hatte von draußen ein seltsames Klingen und Tönen vernommen, das weich und schmeichelnd ansetzte, dann in berückender Fülle anschwoll, den Raum füllte und leise ausklang. Was war das? Kam es auf der Schneedecke des Bodens, fiel es von den Sternen herunter? Marianne saß aufrecht im Bett und horchte. Sie war geneigt, die unbegreifliche nächtliche Musik für eine Ausgeburt ihrer überreizten Nerven zu halten. Da begann das Klingen von neuem. So zwischen Schlaf und Wachem hoch über allen menschlichen Siedelungen in der feierlichen weißen Sterneneinsamkeit, die durch das niedrige Fensterchen hereinsah, klangen die Töne fremd und unirdisch wie Gesang der Sphären. Da entriß sie sich dem Schlaf, in den die seltsame Musik sie zurücklullen wollte, stand auf, wickelte sich in ihre Decken und rief leise die Treppe hinunter:

Marco, hörst du die Töne auch?

Keine Antwort, aber die Musik drang deutlicher herauf, und von unten strich ein starker Luftzug durch die Hütte, als ob die Tür offen stünde. Sie kleidete sich hastig an, wickelte sich aufs neue in den Plaid und tastete im Dunkeln die Treppe hinunter. Die Tür stand offen, Sternenschein drang in die Hütte, und auf der Schwelle saß Marco mit einer kleinen Kinderharmonika am Mund und so versunken in sein Spiel, daß er ihr Kommen gar nicht bemerkte. Der Junge war nicht zur Ruhe gegangen. Als er mit seinen Geschäften fertig war, hatte er sich still herausgesetzt und löste sein Inneres in Tönen. Jeder hat einmal seinen Freuden- und Ehrentag, dieser war der seinige, er wollte seine Neige nicht verschlafen.

Leise setzte sich Marianne neben ihn und sog aus vollen Zügen die balsamische Kälte ein. Der Mond war schon hinunter, dafür standen die Sterne in unerhörter Pracht über den Eistürmen.

Du bist ja musikalisch, Marco, davon wußte ich gar nichts, sagte sie, als er den Kopf zu ihr wandte.

Er sah sie nur an und begann aufs neue zu blasen. Die Töne schwebten im Sternenschein an den nahen weißen Wänden hin und zogen diese noch näher heran, sie gaben all dem Toten, Starren eine klingende Seele, die zu der menschlichen Seele sprach. Es war nur ein kunstloses Phantasieren und Hinträumen in Tönen, aber die Hörerin hätte es in diesem Augenblick nicht gegen das größte Meisterspiel auf dem vollkommensten Instrument vertauschen mögen, denn es klang wie die geheimnisvolle Stimme des Nachtgeists selber, in der aller irdische Drang sich löst. Dieses wundersame Spiel kam aus dem einfältigsten aller Klangwerkzeuge, einer kleinen hölzernen Mundharmonika seiner Schwesterchen, die nur über wenige Töne verfügte; der Knabe hatte sie selber in kindlicher Weise zur Verstärkung des Tones mit einem Schalltrichter ähnlich einem Kindertrompetchen verbunden, wie er es einem deutschen Matrosen am Lido abgesehen hatte. Er blies und blies, und Marianne wurde nicht müde ihm zuzuhören, während ihr Auge am Sternbild der Kassiopeja hing, das wie ein goldenes Stühlchen unbeweglich über ihrem Haupte stand, und die südlichen Sternbilder langsam hinter den Zacken versanken. Alles war so friedlich und so erhaben. Mit Marco zur Seite waren ihr die Geister der Natur wohlwollende Vertraute. Das ist die schönste Nacht meines Lebens, dachte sie, und ihr Herz überquoll vor Freude und Dankbarkeit. So nahe ist uns immer das Glück; wie töricht es mit großen Anstalten im Weltgewühl zu suchen. Wer kann uns diese Sternennacht jemals wieder nehmen? Und in gleicher Herrlichkeit geht sie Abend für Abend hier oben auf. Aber wenn ich wieder einmal hierher komme, nur mit Marco! – Ein Gedanke, der längst in ihr dämmerte ging plötzlich taghell auf. Dieser Knabe gehörte fortan in ihr Leben. Er war der Findling, den die Vorsehung zum Heil für beide in ihren Weg gelegt hatte. Nun wollte sie ihn auch ganz für sich haben, sie wollte seine Mutter sein. Von ihr würde er sich leiten lassen, er würde auch noch etwas lernen, wenn man nur seinen Anlagen und Neigungen Rechnung trug. In den Ferien würden sie zusammen in die Berge steigen und zusammen jung sein, und die Frage, was die Welt über den plötzlich gefundenen Sohn munkeln würde, sollte ihr die Freude nicht verderben!

Marco hörte schweigend, was sie ihm von der Zukunft erzählte, und nickte nur, wenn sie eine Antwort verlangte. Er dachte nicht so weit voraus. Er war zufrieden, daß er heute neben ihr saß, daß Niemand ihre Nähe mit ihm teilte und daß er heimlich ein Endchen ihres langen offenen Haares durch die Finger gleiten lassen konnte. Als sie gegangen war, saß er lange wach und breitete alle Freuden dieses Tages noch einmal vor sich aus wie ein Kind am Geburtstagsabend die erhaltenen Geschenke. Dennoch verschlief er nicht, denn er hatte das Zeitgefühl in sich. In der Morgenfrühe, ehe die letzten Sterne verschwunden waren, weckte er sie durch leises Klopfen und zeigte ihr das niegesehene Schauspiel des Sonnenaufgangs in den Dolomiten. Dann führte er sie über Geröllhalden und Schneefelder noch vor Eintritt der Mittagshitze wohlbehalten ins Tal von Siror hinunter und von dort zu Wagen längs des brausenden Cismone nach ihrem Gasthof zurück, wo ihre Abwesenheit unterdessen nicht aufgefallen wäre, wenn nicht ein Fremder, den Niemand kannte, wiederholt nach ihr gefragt hätte.

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