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Hanna, die junge Klavierlehrerin, saß am späten Nachmittag noch am Piano und übte. Aber ihr Blick glitt alle paar Minuten über das Notenheft hinweg nach der hohen Standuhr in der Zimmerecke, deren Zeiger heute langsamer zu rücken schienen als sonst. Endlich sanken ihr die Hände von den Tasten, sie saß noch ein wenig in Gedanken und stellte sich dann ans Fenster, das auf die enge Straße hinabsah. Jetzt war die Stunde, wo er kommen mußte – der Postbote. Richtig, dort bog er schon um die Ecke und verschwand im nächsten Haus. Hannas Herz begann zu klopfen. Sie folgte ihm in Gedanken die sämtlichen Stockwerke hinauf und berechnete den Augenblick, wo er wieder auf der Straße erscheinen mußte. Und als ob sie ihn an einem unsichtbaren Faden halten und ziehen müßte, klammerten sich ihre Augen an seine Uniform und gingen mit ihm im Zickzack über die Straße, bis er an ihre Haustüre kam. Hier erhob der Mann den Kopf, sah am Fenster des dritten Stockwerks das junge Mädchen stehen, das ihm immer eine Treppe herab entgegenzuspringen pflegte, und gab ihr ein verneinendes Zeichen.
Enttäuscht trat sie zurück. So war für heute kein Brief von Edmund mehr zu erwarten. Und doch waren es schon drei Tage seit seiner Abreise: in diesen dreimal vierundzwanzig Stunden, die mit quälender Langsamkeit durch ihre Seele geschlichen waren, hatte sie noch keine Zeile von ihm erhalten außer der einen von ihr selber überschriebenen Postkarte, die sie ihm noch auf dem Bahnhof in die Tasche gesteckt und auf die er bei der Ankunft im Elternhause die eiligen Worte geworfen hatte: »Reise gut verlaufen. Brief folgt.«
Seit drei Jahren waren sie heimlich verlobt und warteten auf die Stunde, wo Edmund als neugebackener Dr. med. vor seinen Vater treten und ihn um die Mittel zur Gründung einer Familie angehen konnte. Daß der alte Großkaufmann sich das Glück seines Einzigen ganz anders dachte als in der Heirat mit einer armen Klavierlehrerin, das wußte sie. Aber Edmund war Optimist, und seine glückliche Zuversicht trug auch Hannas ängstlichere Seele wie auf Flügeln. Darum hatte sie sich um die Zukunft ihrer Liebe noch keine allzu schweren Sorgen gemacht. Seine Prüfungen waren glänzend ausgefallen; von allen Seiten beglückwünschte man die Eltern zu einem solchen Sohne. Danach hatte er sich noch ein paar Wochen in dem stillen Städtchen niedergelassen, wo seine Liebste wohnte, um seine Doktorschrift zu verfassen. Mit dieser in der Tasche besaß er das Recht, vor den genauen Geschäftsmann zu treten und ihm zu sagen: Sieh, wie ich mir mein Glück verdient habe.
Wenn nur die Pein der langen Stunden nicht wäre, die einen Stachel in die freudigste Erwartung bringt. In dem kleinen Stübchen, worin noch die ganze Schwüle des langen Sommertages brütete, war es auf einmal nicht mehr auszuhalten. Sogar die alten Möbel fragten: Warum schreibt er nicht?
Sie trat vor den Spiegel, um ihren Hut auf die dunklen Haare zu setzen, den Hut, der ihm so gut gefallen hatte, als er neu war. Jetzt war er freilich nicht mehr neu, sie trug ihn schon im zweiten Sommer, doch er kleidete sie noch immer gut.
Die junge Klavierlehrerin hatte kein schönes, aber ein liebliches und ausdrucksvolles Gesicht, das ein jeder mit Vergnügen ansah. Ihre Gestalt war tadellos, von klassisch reinen Formen und einer schwingenden Leichtigkeit in jeder Bewegung, die von steter körperlicher Übung im Freien zeugte. Was ihr den größten Reiz gab, konnte sie freilich selbst nicht sehen, denn es kam und ging mit ihrem Lächeln, aber sie ahnte es, und ihr verliebter Edmund hatte sie oft beklagt, daß nur sie, gerade sie, dieses Allerschönste nicht genießen konnte. Während sie sich seines Lobes erinnerte, glänzten ihre Augen höher auf, und plötzlich erschien jenes Unbeschreibliche, das ihr sonst verborgen war, im Spiegel: »Wie wenn die Sonne plötzlich des Abends einen warmen Strom von Goldstaub auf die Erde schüttet, daß man glaubt, im Lande der Seligen zu sein,« so hatte Edmund von diesem Schauspiel gesagt. Getröstet und vor sich selbst gehoben, verließ Hanna die dumpfe Wohnung.
Auf dem einsamen Fußdamm neben dem Kanal ging sich's erquickend nach dem heißen Tag. Hanna genoß die Stille des Feierabends aus voller Seele. In den eilenden Wassern spiegelte sich die tief nach Westen geneigte Sonne als eine schräge, schwankende Lichtsäule, die mit ihr wanderte. Die zarten Maskengesichter des Augentrosts am Wegrande und tiefer unten in dem feuchten. Graben die weißen Schierlingsdolden färbten sich mit dem tiefsten Rosenrot. Und in der weiten Niederung glühten die zerstreut stehenden Blutbuchen, von den schrägen Strahlen getroffen, wie von einer inneren Feuersbrunst.
Wenn sie sich's recht überlegte, konnte er eigentlich noch gar nicht geschrieben haben. Er durfte seinem Vater doch nicht mit der Türe ins Haus fallen. Erst vertraute er sich in einer stillen Stunde der Mutter an. Von der war nichts zu fürchten, sie hatte ihrem Liebling noch nie etwas abgeschlagen. Gemeinsam unternahmen sie dann den Angriff auf den Vater. Aber natürlich mußten sie den Augenblick abwarten, wo er gut bei Laune und darum leichter zu fassen war. Und dann weiß man ja, wie es geht, wenn der Sohn von der Universität nach Hause kommt; da gibt es Besuche und Einladungen in der Verwandtschaft, man bleibt selten unter sich, und die Gelegenheit zur Aussprache findet sich nicht so geschwind. Ganz begreiflich, daß Edmund nicht schreiben mochte, ehe der Würfel gefallen war.
Hanna blieb stehen und sah dem blondgrünen, langhinwallenden Schilfe zu, das unter der Wasserfläche unaufhörlich von der raschen Strömung auf und nieder bewegt wurde; Edmund hatte ihr gesagt, es führe den schönen Namen »Nixenhaar«. Seitdem war es ihr immer, als fühlte ihr Auge einen glatten, blanken Frauenleib sich unter dem grünen Haar wollüstig im Strome winden. Diese reizende Vorstellung erregte ihr das Verlangen zu baden. Wenige Schritte unterhalb der Stelle, wo das Schilf im Strome tanzte, ritten ein paar Männer in kurzen, enganklebenden Lederhosen ihre Gäule in die Schwemme, indem jeder ein sattelloses Tier zwischen die Beine klemmte und ein andres an der Leine zog. Es war schön, wie sich die Pferde, bis an die Brust im Wasser, durch die reißende Strömung arbeiteten und dann plötzlich bis zur Nase versanken, wobei man an den Schwimmbewegungen der Flanken erkannte, daß sie jetzt im Tiefen waren. In diesem grünen hüpfenden Wasser sich zu tummeln mußte köstlich sein.
Hanna beeilte sich, um noch rechtzeitig die Badeanstalt zu erreichen, die oberhalb des Städtchens im Grünen lag, nicht weit von der Stelle, wo der Kanal sich von dem ruhigeren Hauptstrom trennte. Um diese Stunde pflegte es dort sehr voll zu sein, aber nach acht Uhr wurden keine neuen Karten mehr abgegeben. Sie fand glücklich noch eine Hütte frei, in der die Flut am wildesten rauschte und die sonst nur von Herren benutzt wurde. Mit wonnigem Gruseln sprang sie in das kühle Wasser, das etwas moorhaltig war und dem Körper ein Gefühl von kalter, geschmeidiger Glätte gab, als wüchse ihm eine Schlangenhaut. An der Querstange festgeklammert, um dem Ungestüm der Strömung standzuhalten, ließ sie ihre schlanken weißen Glieder mit der Welle spielen wie das festgewurzelte, immer bewegte Nixenhaar, und berauschte sich an ihrer eignen jungen Schönheit, die noch kein fremdes Auge gesehen hatte. Wie liebestoll drang das gierige Element auf sie ein, halb wehrte sie sich, halb überließ sie sich den wilden Liebkosungen, die sie bald dahin, bald dorthin warfen. Es fielen ihr die Fabeln der Alten von den schönen Erdentöchtern ein, die von Stromgöttern geraubt und geliebt wurden. »Nimm mich, nimm mich! Hier hast du mich!« schrie und lachte sie in das Getöse, und gleich darauf saß sie mit einem Husch auf dem Treppchen, nur die Füße im Wasser, beide Arme um die weißen Knie geschlungen, und das nasse Haar ausschüttelnd, sagte sie: »Du bekommst mich doch nicht, mich bekommt ein andrer.«
Niemand sah dem trunkenen Spiele zu als die Sonne, die drüben am andern Ufer gerade hinter den hohen Binsen unterging, in Form und Größe einer roten, weingefüllten Riesenschale mit orangefarbenem Deckel gleichend. An der Rückwand des Badehüttchens war eine Latte halb von der Strömung weggerissen. Durch die Lücke sahen Hanna und die Sonne sich an, und das Mädchen winkte ihr zu:
»Schöne Sonne, du sinkst, aber morgen gehst du in gleicher Schönheit auf, und wenn du scheidest, siehst du eine Glückliche, die ihr Glück nicht mehr zu verheimlichen braucht. Denn morgen, morgen schreibt er.«
Noch auf dem ganzen Heimweg, solange sie die wohlige Nachwirkung des Bades spürte, hielt die Glücksstimmung vor. Keine ihrer Freundinnen hatte einen Edmund, keine! Die mußten sich genügen lassen, die armen Dinger, mit dem, was zu haben war: die eine mit einem Beamten, dem schon der künftige vertrocknete Bureaumensch über die Schulter sah, die andre mit einem bäuerischen Ökonomen, die dritte gar mit einem angejahrten Witwer. Nur Hanna, das Glückskind, hatte das große Los gezogen. Diese herrliche Liebe, die ihr die Welt mit Poesie erfüllte, was wäre sie ohne die! Und auch das Hangen und Bangen, worin sie jetzt schwebte, war doch immer ein gesteigertes Leben. Sie hätte es nicht hingeben mögen gegen ein ruhiges, sattes Alltagsglück.
Jetzt aber empfing sie das kleine Stübchen wieder mit seiner dumpfen Bangigkeit, und in der Nacht zogen Wolken auf, die regungslos hängen blieben, ohne sich zu entladen. Und Hanna hatte einen schweren Traum.
Sie fand sich mit Edmund in den Straßen einer großen Stadt, so groß, wie sie noch keine kannte, nach ihrer Empfindung war es Edmunds Geburtsstadt. Sie mußten schon lange, lange gegangen sein durch Straßen, die von Menschen wimmelten und die kein Ende hatten, denn Hanna war staubig, abgemattet und todestraurig. Die Leute stießen und drängten, sie konnte sich kaum mehr aufrecht halten. Edmund sah sich nach einem Wagen für sie um, aber sie klammerte sich an seinen Arm: »Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht!« Eine große Angst war in ihr, die Angst, in diesem Menschengewühl allein zu bleiben, nicht mehr nach Hause zu finden, ja, sie wußte nicht einmal, wo sie zu Hause war, nur Edmund wußte es. Wenn sie voneinander gerissen wurden, so war sie in dieser Großstadthölle verloren. Jetzt ertönte ein Pfiff. »Dort fährt die Elektrische, ich will sie für dich anhalten,« sagte Edmund schnell und machte sich von ihr los. Sie sah ihn leichtfüßig durch das Gewühl eilen und strebte nach, aber die Menge klappte hinter ihm zusammen wie ein zäher Brei und hinderte sie am Fortkommen. Jetzt hatte er den Trambahnwagen erreicht, schlank und leicht sprang er auf den Tritt und wandte sich um, als sie nur noch wenige Schritte zurück war. Da sah sie in ein völlig unbekanntes Gesicht. »Edmund!« wollte sie schreien, aber ihre Stimme versagte. Er hatte sich beim Aufspringen in einen wildfremden Herrn verwandelt, der ohne nach ihr umzublicken mit der Trambahn von dannen fuhr.
Erwacht, konnte sie sich von dem entsetzlichen Eindruck gar nicht erholen. Ihr Edmund, ihr Liebster, ihr alles auf Erden, fuhr mit dem Gesicht eines fremden Herrn an ihr vorüber. Was hatte dieser Angsttraum zu bedeuten? Erst als schon die Sonne ins Fenster schien, fiel sie noch in einen späten unruhigen Fieberschlaf, der sie die gewohnte Zeit des Aufstehens versäumen ließ. Sie kam zu spät in ihre erste Stunde und hatte nicht gefrühstückt. Ihre Blässe war erschreckend, und bei jeder falschen Note, die ihre kleine Schülerin griff, ging ein Zucken durch ihren ganzen Körper.
Die Mutter der Kleinen, die ihr wohlwollte, nahm sie ins Gebet. Woher die Reizbarkeit, die wächserne Gesichtsfarbe, die fahlen Lippen? Hanna schützte die Hitze vor, die sie nicht schlafen lasse.
»Sie sind überangestrengt, Fräulein Hanna. Sie müssen etwas zu Ihrer Erholung tun. Nächste Woche ziehen wir aufs Land. Wir haben drüben am See ein Bauernhäuschen gemietet. Ich lade Sie ein, für ein paar Tage unser Gast zu sein. In der Wald- und Seeluft wird der Schlaf schon wieder kommen und mit ihm die roten Backen. Wollen Sie?«
Statt eines Freudensprungs machte Hanna Ausflüchte. Den wahren Grund, daß sie einen Brief erwartete, von dem ihr Schicksal abhing, konnte sie der Frau nicht sagen. Da diese gutmütig in sie drang, versprach sie, sich die Sache zu überlegen.
Für heute war keine Stunde mehr zu geben. Aber die Freiheit machte ihren Zustand nicht besser. Sonst war es ihre liebste Beschäftigung, an Edmund zu schreiben, sie hatte ihm immer so viel zu sagen. Heute malte sie nur mit unsicherer Hand ein dickes Fragezeichen auf ein Briefblatt und schrieb noch mit ganz kleinen Buchstaben in eine Ecke: »Jede Nachricht besser als keine.«
Als der Brief in den Kasten gefallen war, stieg ihre Unruhe ins Unerträgliche, als ob nun die Entscheidung gleich unmittelbar bevorstünde. Es war ihr unmöglich, die Poststunden in dem engen Zimmerchen heranzuwarten.
Da sie sich unter Menschen so nicht zeigen wollte, flüchtete sie abermals zur Natur. Sie machte einen langen Spaziergang vor die Stadt, ließ sich in einem Gehöft eine Schüssel Sauermilch geben, ihre erste Nahrung seit dem vergangenen Abend, und nahm um keinen Bekannten zu begegnen, den Rückweg über die einsamere Vizinalstraße. Langsam wanderte sie an dem Blutegelteich vorüber gegen den breiteren Flußarm zu, der sich hier von neuem teilte, um eines seiner vielen rasengrünen, von hohen Bäumen bestandenen Inselchen zu bilden.
Ein ungeheurer verwitterter und vom Wasser zernagter Baumstrunk wurde an einer seichteren Stelle von der unruhigen Flut hin und her gewälzt, ohne weiterzuschwimmen, und glich dem Gerippe eines Riesen, das die entfleischten Beine in die Luft streckt. Durch irgendwelche dunkle Gedankenverbindung hatte der Anblick für die einsame Spaziergängerin etwas so Trauriges, daß sie wie gejagt vorübereilte. Sie verstand ihren Zustand selber nicht. Der Himmel war blau, die Sonne glänzte, und dennoch war ihr, als bereite sich irgendwo in der Ferne etwas Unheimliches, Entsetzliches vor, als würde jetzt eben ein Messer geschärft, das ihr Leben bedrohte. Halb laufend verließ sie den einsamen Wiesengrund und ging erst langsamer, als menschliche Ansiedlungen in Sicht kamen.
So erreichte sie das Schleusentor, bei dem der Hauptstrom wieder mit dem Kanal zusammenfloß, und betrat den gedeckten hölzernen Steg, unter dem die vereinigten Wasser sich mit Donnertoben über das Wehr stürzten. Hanna liebte es, auf diesem Steg zu stehen, der immerzu von der Gewalt der Wasser schütterte, und in den Höllengischt hinab zuschauen. Durch das Brausen und Branden der Wasser tönte es wie rufende, schreiende, klagende Stimmen, es betäubte die Ohren, das Hirn, ein Schrecken ging davon aus wie von dem Schrei des Pan. Aber dieser Schrecken war ihr eine Wohltat, er übertäubte den andern, den heimlichen blassen Schrecken in ihrer Brust. Sie stand auf dem Steg, bis die Dämmerung einbrach und ihr sagte, daß jetzt auch die letzte Poststunde und mit ihr die Qual des Harrens zu Ende sei. Sie brauchte nur noch heimzugehen und den Brief, der heute ganz gewiß gekommen war, in Empfang zu nehmen.
Deutlich, fast wie in einer Vision, sah sie ihn vor sich: den gründlichen Umschlag, den Edmund zu benutzen pflegte, und seine feine, fast zu frauenhafte Schrift. Sie sah auch die Schreibtischecke, auf der er nach ihrer Überzeugung liegen mußte. Aber sie flog nicht wie sonst in der frohen Erwartung ihre Treppen hinauf, sie stieg langsam mit wankenden Knien und mußte sich unterwegs an die Wand lehnen. Als sie mit stockendem Atem ins Zimmer trat, sah sie den Schreibtisch leer. Ein Seufzer entfuhr ihr, der fast ein Seufzer der Erleichterung war. Sie setzte sich auf das kleine steife Kanapee, wo sie vor wenig Tagen noch mit Edmund gesessen hatte, und brach in Tränen aus. Es war gut, daß der Brief heute nicht mehr gekommen war, heute hätte sie nicht einmal die Kraft gehabt, eine Freude zu ertragen.
Noch ein Tag verging und noch einer. Immer dachte sie an das fremde Gesicht, in das die geliebten, wohlbekannten Züge sich verwandelt hatten. Wenn sie jetzt in den Spiegel blickte, sah sie ein ganz verfallenes Gesicht. Nein, so durfte es nicht fortgehen. Verlor sie ihre Schönheit, so war alles verloren, denn bei Edmund ging die Liebe durchs Auge. Sie mußte ihre Frische wiederherstellen um jeden Preis. Sie schrieb ein paar Briefchen an ihre noch in der Stadt zurückgebliebenen Schülerinnen, worin sie ihr Ausbleiben entschuldigte, und ging zu der mütterlichen Freundin, um ihr zu sagen, daß sie ihre Einladung annehme. –
Seit zwei Tagen befand sich Hanna auf dem Lande. Sie schwamm und ruderte und machte mit der kleinen Martha lange Waldspaziergänge. Des Abends war sie körperlich so müde, daß sie traumlos einschlief. Es war ein Aufatmen, sich so von wohlwollenden Gesichtern umgeben zu sehen. Sie hatte so lange Zeit nicht mehr die Wohltat des Familienlebens genossen; seit ihre Mutter tot war und ihr Vater sich zum zweiten Male verheiratet hatte, stand sie auf eignen Füßen, würdig und allgemein geachtet, aber einsam. Darum betete sie jede Nacht mit Inbrunst zu ihrem fernen Abgott: »Mein Edmund, erstes einziges Mein auf Erden, verlaß mich nicht!«
Sie hatte verfügt, daß ihr für die kurze Abwesenheit gar keine Briefe nachgeschickt würden, und lebte unterdessen frei von der Qual des Wartens wie auf einer Insel. Aber tief im Grund ihrer Seele wohnte die geheime Bangigkeit, das unheimliche Gefühl, als ob irgendwo in der Welt ein Messer für sie geschliffen würde.
Am dritten Morgen früh vor Tau und Tag erwachte sie jählings, denn eine Stimme hatte in ihr Ohr gesprochen. Ganz deutlich hörte sie die Worte nachhallen: » Edmund heiratet die Cousine Jella.« Was war das? Wer hatte sich in der Dämmerung über sie gebeugt und zu ihr geredet?
Jene Cousine Jella war die Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmannes, und Hanna wußte, daß Edmunds Vater den Wunsch hatte, die beiden Häuser noch enger zu verbinden. Aber sie wußte auch, daß er nicht daran dachte, auf seinen Sohn einen Druck auszuüben. Edmund sprach von dem jungen Mädchen stets mit Gleichgültigkeit. Aber da waren sie kürzlich auf einem Gartenfest mit einem Schulfreund Edmunds zusammengetroffen, der aus seiner ostelbischen Heimat kam und der ihm sagte: »Die Jella ist in diesem Jahr eine Schönheit geworden.« Da hatte Edmund die Augen weit aufgemacht. –
Hanna stieg zitternd aus dem Bett und durchsuchte den ganzen Raum, ob nicht jemand einen Scherz mit ihr getrieben habe. Aber das Zimmer war leer und abgeschlossen wie am Abend. Also hatte sie geträumt. »Morgenträume sagen die Wahrheit,« hatte sie einmal irgendwo gehört. Unbewußt sprach sie es nach und schlug sich gleich erschrocken auf den Mund, als habe sie ihr eignes Urteil gesprochen.
An diesem Morgen ruderte sie mit solcher Gewalt, daß ihr ein Ruder zerbrach und sie nur mit Mühe das Ufer wieder erreichte.
Auf den Nachmittag war ihre Rückkehr festgesetzt. Man redete ihr zu, noch eine Nacht zu bleiben. Aber Gehen oder Bleiben war ihr in dieser Stimmung gleich fürchterlich. Da gab die Frau des Hauses den Ausschlag, indem sie bei Tische sagte: »Ich habe in der Stadt Besorgungen, also können wir zusammen fahren. Aber Sie versprechen uns, bald wieder herauszukommen.«
Hanna versprach es gedankenlos.
Also heute! Heute! Denn unterdessen mußte die Antwort auf ihr Fragezeichen gekommen sein. Und wenn keine kam, so war es auch eine. Hanna flehte in ihrem tiefsten Herzen nicht mehr um Glück, an das sie nicht mehr glaubte, nur noch um Kraft, denn heute war schon der zehnte Tag seit seiner Abreise.
Die beiden Frauen fuhren also nach der Stadt, und auf dem Bahnhof trennten sie sich.
Mit festen Schritten ging Hanna nach Hause. Ihr Inneres war jetzt völlig kalt und taub, sie schloß 1daraus, daß sie jetzt Mut genug habe, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Sie stieg ihre drei Treppen hinauf, ohne einem der Hausgenossen zu begegnen, steckte ruhig den Schlüssel ins Schlüsselloch und trat in ihr Zimmer. Da, auf der Schreibtischecke, wo sie ihn erwartet hatte, lag er!
Sie erkannte ihn gleich unter den andern Sendungen an dem grünen Umschlag und an der weichgeschwungenen Schrift.
Entschlossen streckte sie die Hand danach aus. Aber die Dumpfheit in dem lange zugesperrten Zimmer war so überwältigend, daß sie zuerst das Fenster öffnen und Luft schöpfen mußte. Dann hielt sie den Brief wägend in der Hand. In diesem Augenblick war sie noch reich, Liebe und Zukunft, alles durfte sie noch als ihr eigen ansprechen, im nächsten stürzte sie vielleicht in eine Hölle.
Das konnte ja nichts Gutes sein, was eine solche Angst vor sich herjagte! Ein Schwindel überkam sie. Wenn sie nur wenigstens nicht so allein wäre, wenn sie eine Seele um sich hätte, deren Nähe ihr einen Halt gäbe. Wenn sie nur wenigstens Menschenstimmen auf dem Gang hörte. Es ging ihr durch den Kopf, die mütterliche Freundin aufzusuchen, die sie auf dem Bahnhof verlassen hatte, sich neben sie zu setzen und in ihrer Gegenwart den Brief zu lesen. Aber gleich schämte sie sich des feigen Gedankens. Auch wußte sie ja, daß die Frau Besorgungen machte. Aber in dem Qualm des Stübchens konnte sie nicht bleiben. Draußen im Freien, auf einer Bank in den Anlagen, wollte sie den Brief lesen.
Auf der Bank saß ein Pärlein und warf mißmutige Blicke auf die Störerin. So war sie oft mit Edmund gesessen und hatte lästige Dritte weit hinweggewünscht. Sie ging weiter, eine andere Bank suchen. Aber sie irrte vom Wege ab, geriet wieder hinaus auf den Vizinalweg, der zum Flusse führte.
»Er heiratet die Cousine Jella,« sagte sie mit bleichen Lippen vor sich hin. Schon lange schlummerte diese Furcht im Untergrund ihres Bewußtseins, ohne daß sie ihr Gehör geben wollte. Aber neulich im Traum hatte sie durch ihre eigne Stimme laut zu ihr gesprochen. Das war der Grund ihrer Bangigkeit, das war das Messer, das für sie geschliffen war.
Sie meinte jetzt wie eine Somnambule den Inhalt des Briefes, der auf ihrem Herzen lag, zu fühlen: »Verzeih mir, liebe Hanna, ich kann mein Wort nicht halten, ich habe mich mit Cousine Jella verlobt.«
Bei dem Inselchen an der seichten Stelle lag noch immer das Baumungeheuer und drehte sich im Wasser, es war ein endloses Ringen und Nichtsterbenkönnen. Unbewußt blieb Hanna stehen und sah ihm zu. Sie dachte an das lange Todesringen ihrer Mutter, die ihr einziges Kind nicht verlassen wollte. Ach, wenn sie noch lebte! Da erfaßte sie wieder der Schrecken, daß sie zu rennen begann. Aber hinter ihr rannte etwas her: das geschliffene Messer. Sie rannte und rannte atemlos den Fluß entlang nach dem Wehr. Aber nein, es war nicht hinter ihr, es war in ihr, sie fühlte seinen kalten Stich im Herzen. Die Buchstaben des Briefes bohrten sich durch die Umhüllung hindurch in ihre Brust. Sie fühlte das Ende. Mutter, Mutter, hilf! – – –
Am andern Morgen stand im Tageblättchen zu lesen:
Eine junge, allgemein beliebte Klavierlehrerin, Fräulein H. K., ist gestern Abend das Opfer ihrer Unvorsichtigkeit geworden. Sie scheint sich zu weit über die Brüstung des Wehrs gebeugt und das Gleichgewicht verloren zu haben. Zwei Männer sahen sie stürzen, waren aber außerstande, Hilfe zu leisten. Die Leiche konnte nur mit Mühe geborgen werden. Der Gedanke an Selbstmord erscheint ausgeschlossen, denn auf der Brust der Verunglückten befand sich ein noch uneröffneter, ganz durchweichter, unleserlich gewordener Brief.
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