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Cora

Willibald Moor war als der Sohn einer Witwe in dürftigen Glücksumständen aufgewachsen und behielt auch in der Universitätszeit etwas bläßliches, gedrücktes, wie eine Pflanze, der es an Sonne fehlt. Daher er sich nach abgelegter philologischer Staatsprüfung auf Zureden seiner Mutter entschloß, das kleine Legat, das ihm von entfernter Seite zugefallen war, zu einem Winteraufenthalt in Italien zu benützen und seine Gesundheit zu kräftigen, bevor er in ein Lehramt träte.

Da ihm die vornehmen Kurorte an der Riviera zu teuer waren, suchte er sich im Herbst ein kleines Fischerdorf in der Nähe von Pisa aus, wo er den Männern ihre Netze ziehen half und mit ihnen auf die See hinausruderte. Die übrige Zeit lag er an dem offenen sonnigen Strande, den ein hohes Gebirge gegen Norden deckte, auf der faulen Haut, sah in den blauen Himmel und hatte keinen höheren Ehrgeiz als seine bloßen Füße, an deren Weiße er sich schämte, in der noch immer kräftigen Sonne zu bräunen. Von welchem Geschäft er jedesmal einen Wolfshunger nach Hause brachte, den er wie die Eingeborenen an Fischsuppe und Polenta stillte.

Sonne und Seeluft taten ihr Amt und kochten den unausgebackenen Bücherwurm vollends gar, sie weiteten ihm den Brustkorb, stählten seine Muskeln, machten sein Denken leicht und alle seine Bewegungen frei und schwingend, daß das Frühjahr einen ganz veränderten Menschen fand. Aber mit Schrecken sah jetzt Willibald seine Mittel zur Neige gehen und den Tag heranrücken, der ihn unabwendbar aus dem Lande forttreiben mußte, in dem er erst zu leben begonnen hatte. Zudem war ihm die Ahnung aufgestiegen, daß Italien eigentlich ein Sommerland sei, das erst im glühenden Julibrand seine Schönheit ganz enthüllen würde, und er klammerte sich mit allen Saugnäpfen seiner Wünsche an der südlichen Erde fest, um diesen Zauber noch zu erleben, bevor er auf immer in den Wust und Dust der Schulstube zurückkehrte.

Da kann Rat werden, sagte ihm sein Schulfreund Hagen, ein angehender Architekt, der zu Studienzwecken in Italien reiste. – Wenn du auf alles, aber auch rein auf alles gefaßt bist, so weiß ich dir einen paradiesischen Sommersitz. Ich kenne eine Familie in den toskanischen Hügeln, die einen Hauslehrer sucht, um ihren edlen Sprößling zur Aufnahmeprüfung für ein Knabeninstitut vorzubereiten. Geboten wird nichts als freier Aufenthalt, gefordert wird aber auch nicht allzuviel werden, denn an den Jungen ist doch nichts hinzubringen. Hältst du es aus, gut. Wenn nicht, so bleibt dir wenigstens, um mit Bismarck zu reden, »eine interessante Erinnerung auf deine alten Tage.«

Der Freund sprach es lachend, Willibald aber fragte:

Sind denn die Leute so unangenehm?

Im Gegenteil, es sind Prachtmenschen, jedes in seiner Art, nur daß sie sich den ganzen Tag kratzen und beißen. Die Frau ist Engländerin aus Kanada, jedoch mit einem weicheren deutschen Einschlag, der schuld ist, daß sie ihren Eheherrn nicht unterkriegt, obgleich das Vermögen von ihrer Seite stammt. Sie ist in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen, die Tante Arabella – ich nenne sie Tante, obwohl es nur eine angeheiratete Verwandtschaft ist, denn sie kam als Mädchen ab und zu nach Deutschland und in mein elterliches Haus. Der Mann ist Vollblutitaliener mit den Vorzügen und Schwächen seines Stamms, und bedeutend klüger als seine Frau, die jedoch an Bildung über ihm steht. Seit den ersten Tagen ihrer Ehe führen die beiden Krieg mit einander. Daß er um ihretwillen die Uniform auszog und Landwirt wurde, ist ein Lebensopfer, das er ihr nicht verzeihen kann. Sie trägt ihm nach, daß er für ländliche Schönheiten und dergleichen ein Auge hat. Und doch wollen beide nichts von Trennung wissen. Sie haben einen Jungen von neun bis zehn Jahren, ein böses Früchtchen. Er wird dir zu schaffen machen. Dann ist noch ein älteres Schwesterchen da, eine Halbwilde, die mit den abfallenden Brosamen deines Geistes genährt werden soll. Und ein Schreihals lag in den Windeln, als ich vor zwei Jahren zum letztenmal oben war. Nun kennst du sämtliche Glieder der Familie Corradi. Wenn du es wagen willst, kann ich gleich nach Miravalle, so heißt der schöne Landsitz, schreiben. Man hat sich nämlich an mich gewandt, weil man nur noch von einem Deutschen hofft, daß er die nötige Ausdauer für das Geschäft mitbringe.

Willibald griff mit beiden Händen zu. Während der Freund die Unterhandlung mit dem Haus Corradi führte, ließ er sich von seiner Mutter einen Haufen alter Schulbücher und einen Pack Wäsche schicken, und sobald das Ja gekommen war, brach er von seinem Fischernest auf, um den neuen Posten anzutreten.

Unterwegs gönnte er sich noch ein paar Tage in Florenz. Der scheidende Lenz schüttete eben seine letzten berauschendsten Gaben über die Blumenstadt. Von allen Mauern schwankten rote und gelbe Rosenteppiche nieder, in den Gärten flammten die Granatblüten und der purpurne Oleander auf, Orangen und Magnolien überschwemmten alle Straßen mit Wohlgeruch, und der Duft der blühenden Linden erregte Schwindel.

Willibald wälzte sich im Genuß, aber als ein Schlemmer eigener Art. Er sättigte sich in den Kutscherkneipen an trippa (Kuttelfleck), trank dazu den billigsten Wein und rauchte die schlechteste Sorte Toscana. Aber er schlürfte statt des Mokkas Wohlgerüche, schlemmte in Farben, trank den blauen Äther, schluckte in der Eile ganze Galerien ein und wurde niemals satt.

Das war das Schönste, sagte er sich, als er aufbrechen mußte. Schöneres gibt es nicht. Das muß für Lebenszeit nachwirken, daß man nie mehr verarmen kann. Sehen wir jetzt, was uns auf der Villa Corradi erwartet.

Er packte seinen Rucksack, fuhr eine Stunde weit Arnoaufwärts, stieg dann aus, überschritt das Flüßchen Sieve und wanderte leichten Fußes in die Hügelwelt hinein. Erst ging es dem Lauf eines schnell fließenden Wässerleins entgegen, das sich der Sieve zu vereinigen strebte, dann über eine hochgeschwungene, altertümliche Brücke, wonach der Weg ihn zwischen Feldern rascher in die Höhe führte. Die Landleute waren eben bei der ersten Mahd; von den Wiesen leuchteten die bunten Kopftücher der Mähderinnen mit den Blumen um die Wette. Der Kuckuck rief aus seinen unbegreiflichen Räumen; aus dem schon hohen Weizen nickten die langen blaßroten Gladiolen, saphirfarbene Kornblumen glühten wie blaues Feuer daneben. Endlose Reihen verschnittener Ölbäume begleiteten den Wanderer und gewährten ihm, so oft er es begehrte, eine wohlige Schattenrast. Ein frühromanisches Kirchlein, von dunklen Zypressen umstanden, das ihm der Freund als Wegzeichen genannt hatte, setzte ihn nach der üppigen Pracht der florentinischen Renaissance durch die schlichte Notwendigkeit seiner Formen in neues Entzücken, so daß er es mit dilettantischer Hand in sein Skizzenbuch eintrug. Als dies gelungen war, meinte er ein ganzes Stück Italien in der Tasche zu haben, und stolz wie ein Eroberer, ein Eroberer mit dem Herzen, schritt er die Kehren hinan, die sich um üppig bepflanzte Hügel wanden und ihn an zypressenbeschatteten Parkeingängen, an massiven Bauerngehöften und mauernumfaßten Herrensitzen vorüber immer tiefer in die gesegneten Appenninenausläufer hinein führten, die man die Toskanischen Hügel nennt. Die Sonne sengte unerbittlich, Willibald zog den Rock aus und hängte ihn über den Rucksack her, der nun wie ein riesiger Buckel aussah. Die begegnenden Landleute, die nie einen Rucksack gesehen hatten, glotzten ihn verdutzt an, was er mit einem lachenden Gruß beantwortete. Er trug eine italienische Generalstabskarte bei sich, in die jeder Nebenweg eingetragen war, und sein landeskundiger Freund hatte ihm noch zum Überfluß die Marschrichtung aufs genaueste vorgezeichnet. So gestattete er sich des öfteren, die staubige Fahrstraße zu verlassen und einen Fußweg durch die Felder zu nehmen, wobei ihn bald eine heimliche Brunnengrotte mit wild bewachsener Felsterrasse, bald an halbvertrocknetem Bach eine einsame Mühle fesselte, bis er die Entdeckung machte, daß die Zeichen am Weg nicht mehr mit denen auf dem Plane stimmten. Ein paar Stunden waren seit seinem Ausmarsch vergangen, die Sonne stand schon schräg, als er sich endlich doch entschließen mußte, an einem der zerstreuten Gehöfte zu klopfen und nach dem Wege zu fragen.

Man wies ihn das steinige Bett eines ganz schmalen ausgetrockneten Rinnsals hinauf, das eine mit stachligem Gebüsch bedeckte Halde durchschnitt, und oben fand sich der Wanderer zu seiner Freude wieder auf der Fahrstraße. Er sah über sich einen hohen weichgewölbten, ganz grünen Hügel mit prachtvollen Bäumen und wallenden Weizenfeldern bedeckt. Ein lichtes Piniengehölz krönte den flachen Gipfel, der sich an eine zweite höhere und dunkler bewaldete Kuppe lehnte.

Willibald zog seine Zeichnung hervor und überzeugte sich, daß diese herrlichen Öl- und Weinpflanzungen, diese langgestreckte Pineta mit ihren breit ausladenden Wipfeln wirklich dem Corradischen Gute angehörten. Hier klomm auch steil und in fast gerader Richtung der schmale Zypressenweg hinan, den ihm der Freund auf dem Papier durch zwei Reihen schwarzer Tupfen bezeichnet hatte.

Alles stimmte. Willibald Moor ordnete seinen Anzug und stäubte die Stiefel ab, bevor er den letzten Aufstieg zwischen den Zypressen begann. Nach zehn Minuten kam das schmucklose Landhaus in Sicht, das auf einer breiten natürlichen Terrasse lag, die Vorderseite nach Süden gerichtet, im Rücken durch die höher ansteigende Pineta gedeckt. Noch wenige Schritte der steilsten Steigung, dann trat er in einen offenen gepflasterten Vorraum, wo ein ausgeschirrter zweiräderiger Wagen und allerlei landwirtschaftliche Geräte standen.

Aber kaum hatte Willibald einen Blick auf die offen stehende Haustür geworfen, als ihm ein gewaltiger weißer Schäferhund mit wütendem Gebell fast an die Gurgel fuhr. Unwillkürlich wich er zurück, da schoß von hinten kläffend ein gelbbrauner Terrier heran und geberdete sich, als wollte er ihn in Stücke reißen.

Der Ankömmling war in einer üblen Lage, er hatte nicht einmal einen Stock, sich die beiden tobenden Köter vom Halse zu halten, und im Hause regte sich niemand. Aber aus unbestimmter Richtung über seinem Haupt – ihm schien es, aus der blauen Luft herunter – kam der schrille Ruf einer Mädchenstimme: Rino! Rino! Biancone! Zurück! Zurück! Kuscht euch! – und von der hohen Steineiche glitt ein leichter Mädchenkörper mit eichkätzchenhafter Geschwindigkeit zu Boden und stand mit einem Male drohend vor den Hunden. Sie packte den großen Weißen, der am gefährlichsten aussah, beim Halsband, das sie kräftig schüttelte, wobei ihre Hand tief ins Zottelfell des Tieres griff, während sie gleichzeitig mit dem Fuß den Terrrier wegscheuchte. Die Tiere ließen von dem Fremdling ab und bellten nur noch einen leisen Widerspruch, hielten sich aber ganz in der Nähe, um bei der ersten bedrohlichen Bewegung des Ankömmlings wieder zuzufahren.

Wer sind Sie? Was wollen Sie? Dies ist ein Privatweg, sagte das Mädchen, mit verwunderten Blicken seinen Rucksack musternd.

Willibald Moor erklärte, wer er sei und daß er sich unterwegs durch Fehlgehen verspätet habe. Sobald er jedoch den Fuß erhob, um einen Schritt näher zu treten, brachen die Tiere wieder in ein tobendes Geheul aus.

Diese Hunde scheinen sehr mißtrauisch, bemerkte Willibald gegen das Kind.

Die Hunde sind gar nicht mißtrauisch. Fein aussehende Leute lassen sie unbehindert eintreten, antwortete diese mit unschuldiger Aufrichtigkeit. – Aber wenn man mit einem solchen Ding auf dem Rücken kommt – sie brach plötzlich ab und errötete, sich ihrer Unhöflichkeit bewußt werdend.

Es war ein aufgeschossenes knabenhaftes Mädchen mit kurzem Rock, unter dem die mageren Beine lang hervorsahen, einem dicken, hängenden, schwarzen Zopf, schmalem, sommersprossigem Gesicht und dunklen Augen von frühreifem Ernste. Ihre halbentblößten Arme waren gleichfalls lang und hager, hatten aber sehr anmutige Bewegungen. Die ganze kleine Person sah aus, als sei sie von der Natur zum Schönsein bestimmt, könne aber durch irgend ein Hindernis nicht dazu gelangen. Nach der Beschreibung des Freundes erkannte er Cora, seine künftige Schülerin.

Papa hatte diesen Nachmittag in Pontasieve zu tun und dachte Sie im Wägelchen mitzubringen, sagte sie auf das zweiräderige Gefährt deutend. Aber er kam allein zurück, darum hat man Sie heute nicht mehr erwartet.

Damit führte sie ihn ins Haus und in den Salotto zur ebenen Erde, der offenbar wenig benützt wurde, denn seine grünen Läden waren noch gegen die Sonne geschlossen, die eben am Horizont versank.

Das Mädchen öffnete, eine Flut von Licht drang herein und verklärte die langweiligen Polstermöbel des Zimmers und die japanischen Papierfächer, womit die sonst kahlen Wände geschmückt waren. Ein Pianino stand in der Ecke, und auf den Tischen lagen ein paar englische Zeitschriften großen Formats. Das scheue Kind war schon verschwunden die Mutter zu benachrichtigen.

Im oberen Stockwerk machte sich ein Rücken und Räumen vernehmbar, doch es erschien vorderhand niemand. Aber aus einem gegenüberliegenden Gelaß drang jetzt ein silberhelles Kinderstimmchen über den Hausflur:

Rosina! Beppina! Schnell! zieht mir eine frische Schürze an. Es ist Besuch da. Macht mich schön. Reißt mir die weißen Haare aus.

Erstaunt und neugierig ging er dem Stimmchen nach und sah durch die angelehnte Tür in einen Wirtschaftsraum, der augenscheinlich an die Küche stieß, denn man hörte nebenan Geräusch, und verheißender Bratenduft drang heraus. In dem Gelaß aber stand ein entzückender Krauskopf von ungefähr drei Jahren in beschmutztem blauem Schürzchen, einen Spiegelscherben in der Hand, und zupfte sich eifrig mit spitzigen Fingern schwarze Härchen aus dem Scheitel.

Was machst du denn, schöne Kleine? fragte Willibald erstaunt.

Ich spiele Mama! Wer bist denn du?

Ich bin der Lehrer. Und du der kleine Nestkegel, nicht? Wir wollen gute Freunde sein.

Sie sah ihn starr an.

Du gefällst mir nicht. Du bist häßlich.

Willibald mußte lachen, weil ihm die ältere Schwester schon in verblümter Form dasselbe gesagt hatte.

Du bist gar nicht schön, schrie die Kleine in plötzlichem Zorn. – Man hat uns gesagt, wir bekämen einen schönen Lehrer. Geh fort, du bist häßlich, dich wollen wir nicht! – Und sie fuhr fort so durchdringend zu schreien: Sei brutto, brutto! daß Willibald ganz verdutzt den Rückzug antrat.

Diesmal traf er mit der Frau des Hauses zusammen, die eben die Treppe herunterstieg, eine schöne junonische Gestalt im anschließenden blauen Tuchkleid von englischem Schnitt mit vollen glänzend schwarzen Scheiteln, die das eben verratene Toilettengeheimnis nicht hätten vermuten lassen. Die Frau nahm auf den ersten Blick für sich ein. Wohlgeformte, wenn auch etwas stumpfe Züge und ein blaues, nicht sehr ausdrucksvolles, aber gütiges Auge.

Sie begann sich gleich wegen der Unwirtlichkeit des Raumes zu entschuldigen:

In Italien hat man keine Bequemlichkeiten. Wir Nordländer sind es anders gewohnt. Dafür hat man hier die Natur. Sehen Sie die grüne Matte draußen vor dem Fenster. Kein Plüschdiwan wäre weicher.

Willibald Moor stimmte von Herzen zu und erzählte, daß er den vergangenen Winter unter den Fischern verlebt hatte. Das schien sie zu erleichtern.

Im Sommer sitzen wir des Abends fast immer draußen, fuhr sie fort. Wir zünden dann wegen der Stechmücken gar kein Licht an. Hier oben bleibt es lange hell. Die Sommer sind überhaupt sehr schön hier. Aber der Winter! Wenn nur der Winter nicht wäre.

Plötzlich erinnerte sie sich, daß der Ankömmling verstaubt und müde sei und ließ ihn durch Rosina, das hübsche vierzehnjährige Bauernmädchen, das als Aschenbrödel diente, in sein Zimmer führen. Willibald nahm seinen Rucksack, den er im Hausflur abgestellt hatte, und folgte der schnellfüßigen kleinen Magd die Treppe hinauf.

Sein geräumiges, von kühler Abendluft durchströmtes Zimmer gab ihm gleich ein wohliges Gefühl. Zwei Nordfenster, zu denen der Pinienwald hereinsah, ein großes, blütenweißes, echt italienisches Bett mit frisch gewaschenen Gardinen gegen die Mückenplage, ein kleiner Tisch mit einem einzigen Stuhl, aber auf dem Waschtisch ein mächtig großes Becken und daneben ein großer Krug warmen Wassers, eine glückliche Vermischung englischer mit italienischer Kultur, die auf einen bei aller Einfachheit behäbigen Hausstand schließen ließ.

Hier wird sichs gut leben lassen, dachte Willibald, sich rasch die Hände trocknend, denn schon ertönte der Gong, der zu Tische rief. Im Speisezimmer, das dem Salon gegenüber lag, wurde ihm nun vor allem sein Zögling Lando vorgeführt, der sich erst auf wiederholtes Zureden bequemte, ihm die Hand zu geben. Ein seltsam schief gebauter Schädel, ein unruhiges Gesicht mit scheuen Augen, weit abstehende Ohren und hastige zuckende Bewegungen – der künftige Erzieher setzte nicht viel Hoffnung auf ein solches Äußere.

Zuletzt erschien auch der Hausherr in weitaufgerissener Tür, von beiden Hunden freudig umbellt, eine herkulische und zugleich elegante Gestalt mit kühn geschnittenem Römerkopf, dessen Schönheit nur durch ein allzustarkes Funkeln der Augen beeinträchtigt wurde.

Das Jüngste im frischen weißen Schürzchen lief ihm lachend und schreiend entgegen, und es entspann sich ein Auftritt, der auch den an die italienische Kindervergötterung gewohnten Willibald in Erstaunen setzte. Der Vater riß die Kleine in seine Arme, herzte sie, drückte sie, schwang sie auf die Schulter, auf den Kopf, tanzte mit ihr, sprach und jubelte mit ihr in ebensolchen quietschenden Kindertönen, wie sie aus ihrer Kehle kamen. Das kleine Ding war sein völliges Ebenbild: dasselbe schwarze Kraushaar, das sich nur beim Vater zu sprenkeln begann, derselbe Gesichtsschnitt, dieselben funkelnden Augen. Die Hunde umsprangen das bacchantische Paar, und es dauerte eine gute Weile, bis der Lärm sich legte und Willibald von dem Kapitän Corradi einen kurzen Händedruck bekam. Endlich konnte man sich setzen; neben dem Hausherrn, der die obere Schmalseite des Tisches einnahm, lagerten die beiden Hunde rechts und links am Boden. Willibald erhielt den Platz zwischen seinem Zögling und der Frau vom Hause, die am untern Ende saß und vorlegte. Ihm gegenüber saß das scheue Reh, das ihn eingeführt hatte und auf dessen Gesicht jetzt ein ängstlicher, erwartungsvoller Ausdruck lag, als ob noch irgend etwas unerfreuliches bevorstände. Neben ihm zappelte Lando auf dem Stuhl und hatte keinen Augenblick Ruhe. Als die Suppe ausgeteilt wurde, schrie auf einmal die Kleine, sie wolle heut beim Vater sitzen, und schrie trotz des klagenden Einspruchs der Mutter, die gewohnt war, Baby neben sich zu haben, immer lauter, bis zwischen ihr und Cora die Plätze gewechselt waren. Der Kapitän empfing seinen Liebling mit triumphierendem Gesicht, aber Babys Aufmerksamkeit galt jetzt nicht ihm, sie schielte spitzbübisch durch die Finger nach Willibald und sagte halblaut: Brutto! Brutto!

Was sagst du? fragte der Vater und ließ sie die Worte lauter wiederholen, worauf Lando an Willibalds Seite mit lautem Lachen losplatzte. Pfui, Nerina, wie ungezogen. Herr Moor ist ja gar nicht häßlich, was fällt dir ein!

Ja, er ist häßlich, er ist häßlich, sieh nur seinen garstigen Rock!

Er ist häßlich, brüllte jetzt auch Lando los, der in seinem Lehrer eine stärkere Macht witterte, gegen die er sich bei Zeiten zur Wehr setzte. – Was sagst du, Cora? Ist er vielleicht schön?

Nein, schön ist er nicht, sagte jetzt auch das scheue Reh, ich habs gleich gesehen.

Hörst du? Hörst du? riefen die Kleineren dem Vater zu.

Willibald machte gute Miene zu dieser Abstimmung und blieb Herr der Lage.

Herr Kapitän, sagte er, Sie haben die Mehrheit gegen sich, Sie sind geschlagen. Ich bin wirklich häßlich.

Unsinn! Die Mehrheit bin ich, schrie der Kapitän und schlug auf den Tisch, daß die Hunde bellend aufsprangen und der Lärm noch größer wurde. Dazwischen klingelte die Hausfrau, das kleine Dienstmädchen kam herein und wechselte die Teller, Frau Arabella setzte eine große Platte mit lecker duftenden Bratenstücken in Bewegung und das Geräusch verebbte. Nur Baby gab sich nicht zufrieden:

Der häßliche Mann hat mich angesehen. Er soll mich nicht ansehen.

Er hat dich gar nicht angesehen, er sieht immer an dir vorbei, entschied Lando.

Es ist nicht wahr, er hat mich angesehen, von der Seite hat er mich angesehen!

Gib dich zufrieden, tröstete der Vater. Ihr sollt euch gegenseitig nicht sehen müssen. Ich stelle diese Vase zwischen euch.

Er ergriff die große Vase mit einem Waldblumenstrauß von märchenhafter Schönheit, einer Schöpfung Coras und stellte sie als Schranke auf. Ein Salat wurde aufgetragen, wie er nur im Paradiese wächst, und Arabella ergriff die Flasche mit dem durchsichtigen Luccheseröl, um ihn zu mischen. Alle sahen teilnehmend auf die verheißungsvolle Tätigkeit ihrer schönen kräftigen Hände, und endlich schien sich ein Geist der Ordnung niedersenken zu wollen.

Sie werden wenig Unterhaltung hier oben finden, begann der Hausherr das Gespräch. – Wir leben wie im Monde, keine Seele kümmert sich um uns. Aber etwas später im Jahr, wenn die Vogeljagd angeht – Sie sind doch Schütze?

Arabella ließ die Salatlöffel sinken und sah ihn gespannt an.

Kaum, entgegnete Willibald Moor. Ich habe nur dann und wann nach der Scheibe geschossen.

Ich will hoffen, begann Arabella schnell, daß unser Gast an diesem grausamen und unnützen Spiel kein Vergnügen findet.

Grausam? Oho! sagte der Kapitän. Wenn ihr die zahmen Hühner lockt und ihnen die Hälse zieht, ist das menschlicher, als wenn aus weiter Ferne eine Kugel trifft? Unnütz?! Hm! Wenn die Lerchen erst am Spieße drehen, wissen auch die zarten Gemüter das Brätlein zu würdigen.

Arabella war nicht flink genug, den Angriff zu parieren, sondern ging auf dem geraden Wege ihrer Gedanken weiter, indem sie das ganze schwere Geschütz sittlicher und landwirtschaftlicher Rücksichten auffuhr und umständlich abfeuerte. Was sie sagte, war so unwiderleglich, daß es sich von selbst verstand, aber es war auch von vornherein klar, daß man mit Gründen gegen eine altvererbte Leidenschaft nichts ausrichten konnte.

Der Kapitän antwortete auf die Ausführungen, die ihm jedenfalls nicht neu waren, zuerst nur durch ein ironisches Lächeln, aber schnell wurde er ungeduldig und fing mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln an, wodurch sein Gegenüber sich veranlaßt sah, die Stimme ein wenig zu erheben. Ihr lauteres Sprechen bewog nun aber ihn zu lauterem Trommeln, so daß sie schließlich die Rede ganz an den Gast richtete, der dadurch gewissermaßen als Schiedsrichter angerufen und in den Mittelpunkt des Streites gerückt wurde.

Aber Willibald schwieg entrüstet.

Wäre ich in feinen Kleidern eingerückt, dachte er bei sich, so hätten sie beide die Rücksicht gehabt, wenigstens am ersten Abend Frieden zu halten. So aber haben die Hunde mich für einen Landstreicher genommen, und die Herrschaft behandelt mich danach. Fahrt euch nur in die Haare, was kümmerts mich!

Aber ein Blick auf Cora entwaffnete seinen Unmut. Das Kind folgte mit verängstigter Miene jeder Bewegung der beiden Gegner und tippte zuweilen der Mutter bittend auf den Arm, wie um sie zur Vorsicht zu mahnen.

Armes Kind, dachte er, sie leidet für ihre Eltern. Daher der verhärmte Zug. Das muß wirklich ein schlimmes Leben hier oben sein.

Es war jetzt höchste Zeit zum Eingreifen. Die Frau hatte sich zu weit vorgewagt und konnte nicht mehr zurück; dem Manne sah man an, daß er im nächsten Augenblick auffahren und wütend Schweigen gebieten werde. Dahin wollte es Willibald nicht kommen lassen. Er sah keinen andern Ausweg, als daß er selbst, der leidenschaftliche Tierfreund, sich der Schutzpatronin des Vogelgeschlechts als gemäßigter Gegner stellte.

Die Jagdleidenschaft, begann er milde, sei einer von den Urtrieben der Menschheit und werde vielleicht erst mit dieser verschwinden. Das Jagen sei auch immer noch die edelste Form sich Tierfleisch zu verschaffen. Auch als bloßen Sport könne er die Jagd nicht tadeln, nur scheine ihm die Vogeljagd von diesem Gesichtspunkt nicht aufregend genug; er wünschte sich einen Kampf der Kraft gegen die Kraft und der List gegen die List, wobei der Jäger sein Leben gegen schädliches Raubzeug aufs Spiel setze.

Der Kapitän hatte zu trommeln aufgehört, und seine Stirn erhellte sich. Er begriff, daß der Gast sich für das Beste aller ins Feuer gewagt hatte, und war ihm dankbar.

Sie haben ja ganz recht, aber ich kann doch nicht hier oben Löwen schießen, sagte er mit gutmütigem Lachen, und in diesem Augenblick war sein Gesicht wunderschön. Die Löwen öffneten ein weites Feld zur Ablenkung, er begann die Jagdabenteuer eines Freundes in der erythräischen Provinz zu erzählen, und Cora lohnte Willibald mit einem dankbaren Blick.

Wenn ich nicht geheiratet hätte, schloß der Kapitän, so wäre ich unfehlbar nach Massaua gegangen. Das wäre ein anderes Leben als in Miravalle Kohl und Rüben bauen.

Als ob du noch den bunten Rock anhättest, auch wenn du nach Afrika gegangen wärest, warf die unverbesserliche Arabella ein, – du kannst dich ja mit niemand vertragen.

Cora sah mit entsetzten Augen auf ihren Vater, dann mit flehenden auf Willibald, aber dieser war um einen rettenden Einfall verlegen.

Diesmal kam jedoch die Hilfe von einer ganz unerwarteten Seite. Die kleine Nerina war schon lange unruhig hinter ihrer Vase, sie fühlte sich zurückgesetzt, weil gar nicht mehr von ihr die Rede war. Endlich hatte sie sich auf ihrem hohen Polster auf die Knie erhoben und streckte das Händchen nach dem Blumenglase, um es wegzuschieben, dieses verlor das Gleichgewicht und ergoß sein Wasser zusamt den Blumen auf den Eßtisch; das Gefäß konnte Cora noch mit schnellem Griffe retten.

Aber Baby! rief es strafend von allen Seiten, während ein halbes Dutzend Hände sich gleichzeitig bemühten, den Schaden gut zu machen.

Er sieht mich gar nicht an. Der fremde Herr will mich nicht ansehen, sagte Nerina schmollend.

Liebling, du wolltest es ja nicht leiden, rief die Mutter vorwurfsvoll.

Lando, des Stillsitzens müde, mischte sich gleichfalls ein.

Er sieht dich nicht an, weil du ihm nicht schön genug bist, kreischte er dem Schwesterchen schadenfroh über den Tisch zu.

Ich bin ja schön, schrie diese zornig, die Rosina hat mich schön gemacht. Dabei hob sie den Zipfel ihres weißen gestickten Kleidchens in die Höhe.

Das hilft nichts, du hast eine Kartoffelnase.

Ich eine Kartoffelnase? rief das Kind, indem es an sein feingebogenes Näschen griff und angstvoll fragend in die Runde sah.

Lando lügt, sagte jetzt der junge Hofmeister mit Nachdruck, indem er aber beharrlich über die Kleine wegblickte. Ich sehe dich nicht an, weil du zu schön bist und ich zu häßlich.

Nein, nein, du bist nicht häßlich.

Aber ja!

Aber nein, nein, nein! Ich will sagen, daß du schön bist, aber sieh mich an!

Das ging so eine Weile fort unter lautem Anteil der Tischgenossen.

Da siehst du, Baby, jetzt tränkt er dirs ein, rief der Kapitän und krümmte sich vor Lachen. Da lernst du's bei Zeiten: wenn man die Männer hinunter drücken will, es kommt immer der Augenblick, wo sie's heimzahlen.

Arabella lächelte ganz verirrt und hilflos bei diesem Flankenstoß. Zu einer Erwiderung fehlte es ihr an Geistesgegenwart. Das eitle Frätzchen aber war schon von seinem Stuhle herabgerutscht und zu Willibald hingestürzt, an dessen Knie sie sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit drängte.

Sieh mich an, sieh mich an, ich will dir die Hand küssen. – Und wirklich bedeckte sie seine Hand mit Küßchen, in die sich kleine zornige Bisse mischten.

Willibald konnte nun kaum mehr das Lachen unterdrücken. Er drehte ihr Gesichtchen in die Höhe, sah ihr mit erkünsteltem Ernst eine Zeitlang fest in die flirrenden schwarzen Augen und küßte sie dann auf die Stirn: So jetzt sind wir Freunde.

Damit war der Friede hergestellt und der Sieg gewonnen; Baby, die niemand gehorchte, gehorchte fortan Willibald. Auch die andern erregten Geister gaben sich zur Ruhe. Als Nachtisch wurde ein duftendes Laibchen Ziegenkäse und vortreffliche frische Butter herumgereicht. Die Hausfrau entschuldigte sich, daß es in dieser frühen Jahreszeit noch keine Früchte gebe. Der Kapitän, der trotz der erregten Stimmung nicht versäumt hatte, dem Gaste fleißig einzuschenken, spielte mit den Hunden. Cora war wieder ein Kind geworden und tollte mit Nerina durchs Zimmer. Lando hatte sich schon vor Schluß der Mahlzeit empfohlen. Später am Abend setzte sich der Kapitän vor das Piano im Nebenzimmer und spielte auswendig: Opernarien, die Garibaldihymne, Santa Lucia, alles was ihm einfiel. Wäre der neue Hausgenosse schon mit dem Geiste von Miravalle vertraut gewesen, so hätte er sich sehr geschmeichelt fühlen müssen, denn wenn der Kapitän Klavier spielte, so war es ein Zeichen von guter Laune und versprach heiteren Himmel für den folgenden Tag. Er spielte taktfest und mit der größten Sicherheit, aber es ging alles im gleichen Marschtempo und klang seelenlos wie aus einem Grammophon. Arabella, die als Mädchen lange Jahre Klavierunterricht gehabt hatte, aber gänzlich unmusikalisch war, bewunderte das Naturtalent ihres Gatten.

Wie schön er spielt. Er hat alles durchs Gehör, er kennt nicht einmal die Noten, flüsterte sie Willibald zu und sah mit glänzenden Augen auf den schönen Mann mit dem Römerprofil und den sicheren taktfesten Händen.

Heute werden sie sich nichts mehr zu leide tun, dachte der neue Hausgenosse, indem er sich eine Zigarre anzündete und in den Sternenfrieden der schlafenden Landschaft hinaustrat. Es war alles in tiefblaue Dämmerung gehüllt, die nur noch die nächsten Gegenstände erkennen ließ und gleich darauf mit einem Ruck der völligen Finsternis wich. An der unergründlich hohen Himmelskuppel glänzten mild die Sommergestirne.

*

Willibald hatte sich einen Plan zurechtgelegt, wie er des zerfahrenen, unbotmäßigen Schülers ohne Zwang Herr werden und den Unterricht gleichsam spielend einleiten wollte. Als aber Lando des andern Morgens antreten sollte, war er verschwunden, und niemand konnte sagen, wohin. Der Kapitän blickte finster bei dieser Nachricht, und die Wolken auf seiner Stirne kündeten ein Strafgericht an. Die Mutter schaute sich lange auf dem Wiesenhang vor der Haustür um und sandte ihre Stimme von dort aus nach allen Richtungen, bis sie zu dem Schlusse kam, daß Lando sich außer Hörweite befinde und daß vorerst nichts weiter zu machen sei. Der junge Lehrer aber, der sein Ansehen von vorn herein gefährdet sah, wenn der Zögling ihm gleich am ersten Tage entschlüpfte, bestand darauf seiner habhaft zu werden, nur sollte es unauffällig und scheinbar absichtslos geschehen, damit Lando sich nicht im Trotz versteife. Es wurde beschlossen, daß Willibald in Coras Begleitung einen Morgenspaziergang durch das ganze Gut machen und unterwegs den Strolch, der sich natürlich irgendwo müßig herumtrieb, wie zufällig aufstöbern und mitbringen sollte.

Also zogen die Beiden in der balsamischen Frühe selbander aus, ließen das Rebengelände, auf dem Feigen- und Kirschbäume abwechselten, unter sich am Berghang liegen und streiften durch den weiten, lichten Ölwald mit seinen phantastisch verkrümmten Stämmen und dem Silberlaub, zwischen dem die farblose Blüte hervordrang. Von dort erstiegen sie die hügelige, von Gräben durchzogene Pineta, die noch ganz naß war von dem starken Tau, der hier oben fiel.

Wo ein Ausblick war, blieb Cora stehen und äugte mit vorgestrecktem Halse scharf hinaus, daß sie mit dem kleinen beweglichen Kopf auf dem schlanken Hälschen einem witternden Schmaltier glich, denn zu rufen hatte ihr Willibald untersagt, damit der dumme Junge sich nicht zu wichtig vorkäme. Aber nirgends zeigte sich eine Spur von dem Flüchtling, und Willibald war im Grunde gar nicht ungehalten darüber, so reizend dünkte ihm dieser Morgengang zu Zweien. Seine kleine Begleiterin half ihm durch das Gebüsch, indem sie die nassen Zweige für ihn zurückbog, und betrug sich überhaupt, als ob der Wald ihr Eigentum wäre, wo der Besucher auf ihre Gastfreundschaft angewiesen sei. So oft sie ihn ansah, fiel es ihm auf, daß ihre Augen jetzt völlig grün waren mit einem goldenen Schiller wie die Blätter der Laubbäume, die zerstreut zwischen den Pinien standen.

Merkwürdige Augen, dachte Willibald: Zu Hause sind sie leer und wie erloschen, hier außen blickt das ganze Leben des Waldes aus ihnen.

Er erinnerte sich, wie das Kind am Abend bei ihrer ersten Begegnung aus den Zweigen der großen Steineiche vor ihn hingeglitten war, und er phantasierte weiter:

Sie könnte eine blutjunge Berg- oder Baumnymphe sein, vielleicht eine von den kleinen Oreaden, die dem Zug Dianas folgen. Die Sommersprossen sind zwar ein Schönheitsfehler, aber sie stehen ihr gut, auch die Blätter und Rinden haben solche Flecken.

Hören Sie, hören Sie, wie die Nachtigall weint, sagte das Mädchen plötzlich, unter einer großen vereinzelten Kastanie stehen bleibend, um deren Krone ein unscheinbarer, braungefiederter Vogel mit kurzen ängstlichen Klagelauten schwirrte. – Hier ist Lando gewesen, der Taugenichts, kein anderer als er hat sie vom Nest verscheucht.

Blitzschnell schwang sie sich am Astgeflechte empor und zeigte ihrem Begleiter ein verstecktes Nest, kaum mannshoch vom Boden, in dem ein paar niedliche gefleckte Eier lagen.

Gestern Abend, so erzählte sie, haben wir zusammen das Nest mit der brütenden Nachtigall entdeckt, und Lando versprach mir hoch und heilig, sie nicht zu stören. Nun sehen Sie, wie er Wort hält: Die Eier sind kalt, und eins liegt hier zertreten am Boden. – Aber warte nur, ich wills ihm eintränken, rief sie die Fäuste ballend zu der beraubten Vogelmutter hinauf, die jetzt noch heftiger flatterte und ihr Leid noch lauter klagte, als ob ihr ein Richter erschienen sei. – Ich weiß, ich weiß, du armes Tierchen, du wolltest deine Kleinen ausbrüten und ihnen gute Würmlein zum Futter bringen und sie die schönen Lieder lehren, die sie in der Nacht vor meinem Fenster gesungen hätten. Und jetzt sind die Eier kalt, und du kehrst nie wieder in das ausgestorbene Nest zurück.

So sprach sie mit rückwärts gebogenem Halse in die Luft hinauf und modulierte dabei ihr schönes Toskanisch in so liebliche Zwitscherlaute, daß es dem Hörer schien, als hätten das Kind und die Nachtigall eine Sprache und verständen sich vollkommen.

Lando ist gar zu bösartig, klagte die kleine Nymphe, als sie weitergingen. – Ihm ist nur wohl, wenn er Tiere oder Menschen schädigen kann. Auch Sie werden nicht lange bei uns bleiben, ich weiß es voraus. Sie sind schon der Dritte, noch keiner hat es ausgehalten. Nehmen Sie sich vor Lando in acht, daß er Ihnen keinen Streich spielt. Ich hörte ihn gestern abend sagen, er wolle dafür sorgen, daß Sie bald den Heimweg fänden.

Willibald lächelte zu der kindlichen Warnung. Es war etwas reizendes und rührendes in ihrer Fürsorge für alles Lebende, in die sie auch ihn einzuschließen begann, und mit jedem Worte, das sie sprach, gefiel ihm das seltsame Kind besser.

Sie waren jetzt am Ende der Pineta angekommen, wo das Nadelholz in die felsigen Terrassen der Kastanienwaldung überging, die hoch hinaufstieg und mit ihrer dunklen Kuppe wie ein finsterer Schatten gegen den Himmel stand.

Hier können wir umkehren, sagte Cora. Weiter geht er nie, es wird ihm zu einsam hier. Ich führe Sie jetzt durch die Heide zurück und zeige Ihnen von oben die Wiesen von Lolliga. Etwas Schöneres haben Sie nie gesehen.

Sie gingen den Rand einer Schlucht entlang, die das Corradische Gut gegen Osten abgrenzte. Hier war ein größeres Stück Wald schon vor Alters niedergelegt; man stolperte über Baumstümpfe und tiefe Löcher. Die ganze Strecke war von blühendem, goldgelbem Ginster und fast mannshohem Heidekraut bedeckt, das gleichfalls blühte, in Weiß und Rot. Der Tau funkelte noch darauf, und es war der Nässe wegen nicht rätlich durchzudringen. Die frühen Wanderer mußten sich nahe der Schlucht halten, die sich mit ihrem Erlengestrüpp und den feuchten Farnwedeln immer tiefer hinabsenkte. Ein rasches Bächlein plätscherte darin zu Tal. Am andern Ufer duckte sich ein hübsches Steingehöft malerisch in eine Senke des Bodens.

Gehört dieses Haus auch zu Ihrem Besitz? fragte Willibald.

Nein, die Schlucht ist unsere Grenze. Was drüben liegt, ist Eigentum unsres Nachbars Canali. Er war vordem unser Colone, aber er hat sich selbständig gemacht und diesen schönen Besitz gekauft, man weiß nicht recht, mit was für Geld.

Und Lando könnte nicht hinübergegangen sein, mit den Bauernkindern zu spielen? fragte Willibald, denn eben kamen zwei barfüßige Jungen, ungefähr in Landos Alter zum Vorschein.

Nein, er geht nie hinüber, die Canalis sind uns übelgesinnt. Außerdem streicht dort ein großer Hund über die Felder, vor dem mein Bruder sich fürchtet. Ich muß ihn jedesmal begleiten, wenn er zu den Müllerskindern geht, die tiefer unten am Bächlein wohnen. Denn so bösartig er ist, Mut hat er keinen.

Und Sie fürchten sich nicht vor dem Hunde?

Mir tut kein Hund etwas zuleide. Alle Tiere kennen mich und sind mir gut.

Mit steigender Hochachtung sah Willibald auf seine künftige Schülerin.

Jetzt treten Sie auf diesen Vorsprung heraus und blicken Sie hinunter, rief diese nun mit einem Male triumphierend.

Willibald wischte sich die angelaufenen Augengläser und folgte mit Andacht ihrem Wink. Er sah in die Gefilde der Seligen hinab.

Unter ihm lag ein smaragdgrünes Wiesental, fast im Rechteck zwischen vielgestaltigen hohen Hügeln und Waldungen eingebettet, die eng zusammentraten, als müßten sie das grüne Kleinod vor der Welt verstecken. Ein stilles Wässerlein zog hindurch, dessen Lauf Erlen und Schwarzpappeln begleiteten. Ihm eilte der Plätscherbach von oben durch die Schlucht, die er sich eingerissen hatte, zu und trieb unterweges noch mit Schäumen ein Mühlenrad, bevor er die Niederung erreichte, wo ihn das Bette des stillen Wässerleins aufnahm. Da und dort standen verstreute Gruppen von Zypressen und Pinien, während eine größere Schar Silberpappeln einen ganzen Hain bildeten und ihre beweglichen Blätter wie schimmerndes Geschmeide in der Sonne blitzen ließen. Jenseits der Wiese, auf einem grünen Buckel, den das Waldgebirg nach dem Tale vorschob, erhob sich ein einsames schmuckloses Kirchlein, von einer niedrigen grauen Mauer umgeben, die hufeisenförmig der Bodenwelle folgte und einen kleinen Friedhof einschloß.

Das ist das Kirchlein von Lolliga, wohin wir zur Messe gehen. Die Ortschaft sieht man nicht, sie ist durch den Wald verdeckt, erklärte Cora. – Wenn Sie wollen, fuhr sie fort, als sie sein Entzücken sah, so führe ich Sie schnell hinüber, es ist nur ein Katzensprung.

Sie hüpfte voran die Schlucht hinunter und flog leicht wie ein Wiesel über den schmalen Balken, der statt der Brücke diente. Willibald eilte ihr nach, aber in der Mitte des unsicheren Steges begann er zu schwanken und konnte einen Augenblick weder vor- noch rückwärts. Da sprang ihm das flinke Kind zu Hilfe, faßte seine Hand und zog ihn glücklich hinüber.

Er schämte sich gewaltig und rannte den Abhang hinunter, Cora rannte mit wie aus dem Rohr geschossen, sie durchquerten die smaragdgrüne Wiese und das stille Wässerlein, dem hohe wacklige Steine eine Furt bildeten, und hielten erst inne, als sie die jenseitige Höhe erflogen hatten und vor dem Mäuerchen des Friedhofs standen. Der Eingang lag auf der andern Seite, der Fassade des Kirchleins gegenüber. Innen stand üppiger Rasen, den der schmale Weg in zwei Hälften zerschnitt. Wenige schon halb verwitterte Steine ragten aus dem Grase, und in einer Nische des Mäuerleins befand sich ein steinernes Muttergottesbild, bei dem zwei Zypressen Wache hielten.

Willibald entzifferte die Steine, deren Jahreszahlen alle weit zurücklagen.

Welch ein glückliches Land. Hier findet der Tod keine Arbeit. Der jüngste dieser Steine ist schon über zehn Jahre alt.

O die Steine waren von jeher da, versicherte das Kind. Seitdem wir das Gut haben, ist nur einer hier oben begraben worden, und der war von auswärts, ein alter Mann, den man tot im Straßengraben fand. Er hat keinen Stein und liegt dort in der Mauerecke.

Er hat es gut getroffen, an keinem besseren Ort könnte er von seinen Wanderungen ausruhen. Die Sonne scheint ihm den ganzen Tag auf die Glieder und sehen Sie, eben macht ihm ein Amselpärchen seinen Besuch.

Cora lachte kurz und trocken auf und antwortete altklug: Davon spürt er ja nichts. – Aber Sie sollen nicht Sie zu mir sagen, fuhr sie schnell fort. Im Juli werde ich zwölf Jahre, Mama will nicht, daß man mich wie eine Erwachsene behandelt.

Sie hockte auf dem Mäuerchen neben dem Muttergottesbild und ließ ihre langen, hageren Beine herunterbaumeln.

Wir wollen gute Kameraden sein, Cora, ich bin auch noch nicht alt, antwortete Willibald.

Sie sah ihn zweifelnd an:

Wie viel Jahre haben Sie denn?

Vierundzwanzig.

Schon vierundzwanzig! rief sie entsetzt. Da sind Sie ja uralt!

Aber nein, Cora, mit vierundzwanzig ist man jung, ich will es dir beweisen.

Damit sprang er über das Mäuerlein und schoß räderschlagend den Abhang hinunter. Das wilde Kind stieß einen Freudenschrei aus und kugelte hinter ihm her; mit Lachen und Jauchzen ging es durch das Wiesental zurück, der Balkensteg, den er diesmal im Fluge nahm, erregte ihm keinen Schwindel mehr, und Cora jubelte glückselig: Ja, jetzt glaub ichs Ihnen, jetzt glaub ichs Ihnen, daß Sie jung sind.

Zu Hause fanden sie Lando, der mit erhitztem Gesicht scheu und trotzig in einer Ecke stand. Alsbald fuhr Cora mit Vorwürfen wegen der Nachtigall auf ihn los, aber der Knabe leugnete, das Nest berührt zu haben, es müsse ein anderer dort gewesen sein.

Nein, du warst es, Taugenichts, rief die Schwester, die Nachtigall hat es mir selbst gesagt.

Die Nachtigall hat gelogen, erwiderte der Bruder und zog sich hinter den Rock der Mutter zurück.

Die Nachtigall lügt nicht, aber du lügst, sagte das Mädchen und suchte ihm mit ihren kleinen festen Fäusten beizukommen.

Friede, Kinder, Friede, gebot Arabella, aber ihre Stimme verhallte ungehört, und erst der Einmischung des jungen Lehrers gelang es allmählich die Ruhe herzustellen.

Dann wurden ihm Landos alte, noch von seinem Vorgänger durchgesehene Hefte gebracht, aus denen sich wenig Hoffnung schöpfen ließ. Aber noch unerfreulicher war der Anblick des Schülers selbst, wie er mit dem Ausdruck trostlosester Langerweile auf dem Stuhle saß oder vielmehr hing und nicht einmal zu erkennen gab, ob ihm die Bruchrechnungen oder die Anfangsgründe des lateinischen mehr zuwider waren, so über und über war er in Teilnahmlosigkeit getaucht. Nur dann und wann stieß er einen herzbrechenden Seufzer aus, und als der Lehrer ihn endlich etwas schärfer anzufassen suchte, ließ er plötzlich den Kopf stöhnend über die Lehne des Stuhles sinken und jammerte über heftige Stiche in den Schläfen.

Geh und ruhe dich aus, du hast dich heiß gelaufen, sagte der Lehrer kühl, indem er aufstand.

Aber Arabella, die bei der Stunde zugegen war, legte ihrem Sprößling besorgt die Hand auf die Stirne, worauf dieser mit den Zähnen zu klappern begann.

Ein Fieberanfall, sagte sie erschrocken und entfernte sich schleunigst, um das Thermometer zu holen, während der Knabe immer stärker stöhnte.

Als man ein paar Minuten später vom Vorhof her den heimkehrenden Kapitän mit drohendem Tone nach dem Verbleib des Schlingels fragen hörte, lag dieser vor Strafe geborgen in seinem Bett, und um ihn her standen mit teilnahmsvollen Gesichtern sämtliche Hausgenossen bis auf die beiden Mägde herunter.

Arabella hielt bestürzt das Thermometer in der Hand, das 39,7 zeigte.

Er ist krank, er ist sehr krank, sagte sie dem Vater, der geräuschvoll eingetreten war und sich auf den Zehenspitzen wieder entfernte.

Die Mahlzeit verlief diesmal ganz still und friedlich. Man verhandelte halblaut, ob es nötig sein werde, nach dem weitentfernten Arzte zu schicken, denn in der Gegend herrschten allerlei Kinderkrankheiten. Nur wunderte sich Willibald über den Appetit des Kranken, dem von jeder Speise zweimal gebracht werden mußte. Nach Tisch wurde die Fieberwärme aufs neue gemessen, denn Arabella verfuhr in allen Dingen mit planmäßiger Genauigkeit.

Willibalds Zimmer lag neben dem Kämmerchen des Knaben, es war zwar keine Verbindung zwischen beiden, aber zufällig fiel sein Auge durch die offen gebliebene Tür in den Gangspiegel, der der gleichfalls offenen Tür des Krankenzimmers gegenüber hing. Da sah er, wie der Patient aufgerichtet im Bette saß und mit heftig stoßenden und reibenden Arm- und Achselbewegungen das eingelegte Thermometer bearbeitete, um es zu erhitzen. Arabella stand daneben und mischte eine Limonade, ohne etwas zu bemerken.

Der Späher lachte in sich hinein, die Entdeckung kam ihm sehr gelegen, und er beschloß sie alsbald zu erzieherischen Zwecken zu verwerten. Gleich darauf las die Mutter eine erschreckende Fieberhöhe von dem Glase und ging bestürzt hinaus, um sich mit ihrem Manne zu beraten. In ihrer Abwesenheit trat Willibald ans Krankenbett, besah und befühlte das daliegende Thermometer, rieb es zwischen den Fingern, legte es prüfend an die Stirn und an beide Wangen, befühlte nochmals und erklärte dann dem erstaunten Knaben, daß ihm das Glas durch untrügliche Anzeichen den Betrug verraten habe. Wenn Lando versprechen wolle, keine solchen Komödien mehr aufzuführen und in Zukunft fleißig und folgsam zu sein, so werde er für diesmal schweigen. Andernfalls müßte er die Sache seinem Vater mitteilen.

Der Knabe war über seines Lehrers Allwissenheit verdutzt und sprachlos. Er gab nach kurzem Zögern klein bei und erklärte sich zu allem bereit, was man von ihm verlangte. Die Folge war, daß schon bei der nächsten Messung das Glas normale Körperwärme zeigte und daß am andern Morgen Lando freiwillig mit Heften und Büchern zum Unterricht antrat. Sein Trotz gegen den Lehrer war mit dieser einen Probe gebrochen. Er lernte es auch mit der Zeit aufrecht und ohne Schaukeln auf dem Stuhle zu sitzen, worin die Mutter einen großen Erfolg erblickte. Im übrigen blieben jedoch seine Fortschritte sehr bescheiden. In der Leere seines Gehirns spiegelten sich nur die nächsten greifbaren Gegenstände. Nie konnte Willibald diesen schiefen Schädel und die unharmonischen Züge ansehen, ohne sich zu sagen, daß in diesem unglücklichen Kinde der Zwist der Eltern Fleisch und Bein geworden sei. Nichts an ihm paßte richtig zusammen, weder äußerlich noch innerlich, und es brauchte Willibalds ganzes angeborenes Geschick, um mit ihm zurecht zu kommen. Er entdeckte bald, daß sein Gemüt nicht verderbt, sondern nur durch falsche Behandlung verwahrlost war. Der Vater ließ ihn völlig laufen, nur wenn es einmal zu arg wurde, griff er nach der Hundepeitsche, worauf Lando sich für einen halben Tag verkroch, bis der Zorn verraucht war. Die Mutter sah dem einzigen männlichen Sprößling gleichfalls durch die Finger, aber von Zeit zu Zeit fuhr ein pädagogischer Eifer in sie, dann rannte sie ihm eine Strecke weit nach, um ihn in den Hühnerstall zu sperren, welche Maßregel der Knabe jedoch nicht abzuwarten pflegte. Um ihn zurecht zu bringen, hätte man zuerst die Eltern erziehen müssen. Vor seiner Schwester dagegen hatte er eine abergläubische Scheu, denn er bildete sich ein, die Tiere gehorchten ihr, weil einmal das Pferdchen im Stall nach ihm ausgetreten hatte, und Cora ihm versicherte, es sei auf ihren Befehl geschehen. Wenn er sie belästigte, brauchte sie nur zu sagen: Wart, ich sag' es dem Esel, daß er dich beißt, so wurde er zahm und ging eine Zeit lang in weitem Bogen um das harmlose Grautier her, das er sonst quälte, wo er ihm nur beikommen konnte. Denn so gering seine geistigen Lichter waren, im Peinigen der Tiere bewies er eine durchtriebene Erfindungsgabe, und niemand hatte ihm bisher gewehrt; die Mutter predigte zwar bei jeder Gelegenheit den Tierschutz, aber im Leben ließ sie gerne den Dingen ihren Lauf, und der Kapitän glaubte ohnehin, die Tiere hätten kein Gefühl. Mit seinem unerschöpflichen guten Willen brachte es der Lehrer am Ende doch dahin, daß der Knabe die gedankenlose Grausamkeit aufgab, und dies betrachtete Willibald als den besten Erfolg seiner Tätigkeit. Denn von Landos Lernen waren keine Früchte zu erhoffen, das hatte er den Eltern gleich in den ersten Tagen aufrichtig erklärt und ihnen geraten, den Knaben für die Landwirtschaft auszubilden oder zu einem Handwerker in die Lehre zu geben, da an eine höhere Laufbahn nicht zu denken sei. Aber der Vater wollte sich grundsätzlich nicht in diese Frage mischen, und der Mutter war es nicht gegeben, einen einmal gefaßten Beschluß so leicht wieder umzudenken. Also wurde auf dem eingeschlagenen Wege fortgefahren, nur daß Willibald in der Stille aus dem Lehrplan fallen ließ, was doch keine Wurzel schlagen konnte, und sich auf die Gegenstände beschränkte, die für des Knaben späteres Leben unerläßlich waren. Mochten dann die Eltern zusehen, was sie aus ihm machten.

Für alle Not, die ihm der Schüler verursachte, entschädigte ihn überreichlich die Schülerin. Auch Coras feines Köpfchen war nicht zum Lernen eingerichtet, aber es war ihm eine Lust, ihre hin- und herspringenden Gedanken einzufangen, zu lenken und festzuhalten. In der Umgebung von Miravalle kannte sie jeden Hügel und jedes Berghaupt, wußte von jedem Feldweg, wohin er führte. Aber ob das Land, wo sie wohnte, in Europa oder im Monde lag, darüber hatte sie niemals nachgedacht. Der Lehrer knüpfte an die bekannten Dinge an, und indem er den Kreis über das Sichtbare hinaus erweiterte, ließ er zuerst ihre toskanische Heimat, dann allmählich die ganze Apenninenhalbinsel mit allen Gebirgszügen und Flußläufen vor ihrem innerem Auge entstehen, gliederte die Nachbarländer mit Meeren und Inseln an, bis die Gestalt Europas fertig war, und daneben machte er ihr an einem kleinen mitgebrachten Erdglobus die Bewegungen der Himmelskörper anschaulich. Arabella lernte mit und strahlte vor Befriedigung.

In einer luftigen Laube neben dem Hauseingang fand der Unterricht statt, wobei der Lehrer häufig auch noch die unruhige Nerina auf dem Schoße halten mußte, die sonst nicht zu bändigen war. Wenn dann der Kapitän hochgestiefelt an der Laube vorüberging, so nickte er einen wohlwollenden Gruß hinein, bevor er sich an sein tägliches Geschäft begab, die Bauern und Tagelöhner auf dem Felde durch sein Dreinreden zu ärgern und gegen sich aufzubringen. Er gab diesen Gängen immer ein Ansehen großer Wichtigkeit; als er aber einmal gegen Willibald die goldene Regel äußerte: Das Auge des Herrn macht die Felder fett, da konnte es Arabella nicht lassen, laut hinter ihm herzusagen:

Das seinige macht sie mager. Er ist ja kein Landwirt, und der toskanische Bauer arbeitet am besten, wenn man ihn in Ruhe läßt.

Danach wollte sie dem Gast in ihrer umständlichen Art die toskanische Einrichtung der mezzadría erklären, wobei der Landmann gleichen Anteil am Ertrag des Bodens erhält, wie der Gutsherr, doch mit dem allem hatte ihn Cora gleich von Anfang an vertraut gemacht. Das wilde Kind hielt gute Freundschaft mit den Bauern, zu denen sich auch die Mutter zuweilen vor einem plötzlichen Zornesausbruch ihres Gatten flüchtete, denn ihr Steingehöft lag neben dem Herrschaftshaus, nur wenige Schritte bergabwärts. Cora nahm ihren Freund gerne dorthin mit und er freute sich jedesmal an der achtungsvollen Vertraulichkeit, womit die Leute ihre padroncina behandelten, während mit Lando's vorlautem Wesen nicht viel Umstände gemacht wurden.

Unterdessen zog der glühende Sommer ein, der Weizen am Berghang färbte sich goldgelb und die Zikaden schrillten vom frühen Morgen an durch das Gelände. Die grünen Läden der Villa blieben den ganzen Tag über fest geschlossen. In den Stunden der Siesta, wenn Arabella sich mit der Kleinen in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte und der Kapitän in dem seinigen schnarchte, ging Willibald mit den zwei größeren Kindern in den Wald.

Unter einer der größten Pinien gelagert, über sich den azurnen Himmel, der durch die Zweige schimmerte, erzählte er ihnen die Gründung Roms, den Raub der Sabinerinnen und andere schöne Historien, wobei er nach Art der alten Geschichtsschreiber seinen Vortrag mit Rede und Gegenrede würzte, um ihn dem kindlichen Geiste schmackhafter zu machen. Dann pflegte in kurzem Lando's Gesicht zu zerfallen, und der Schlummer hatte ihn schon überwältigt, bevor Romulus zum Himmel aufgestiegen war oder die Jungfrau Clelia glücklich das andere Tiberufer erreicht hatte. Cora dagegen war ganz Ohr und drängte den Erzähler eifrig zum Fortfahren. Nur verlangte sie, daß alles reine buchstäbliche Wahrheit sei; ins Reich der Mythe mochte sie ihm nicht gerne folgen, und was ihr nach Dichtung klang, das tat sie mit einem kurzen Achselzucken ab. Während er redete, saß sie und flocht lange Ketten von goldgelben Ginsterblüten, die sie ihm um Hals und Arme schlang und die er ja nicht zerreißen durfte. Die Lachtaube gurrte über ihnen, und der Wiedehopf mit seinem nickenden Schopfe kam furchtlos im Grase heran, um in nächster Nähe von Coras Fuß nach Würmern zu picken. Wenn dann der Gong vom Hause her zur Teestunde rief, so führte sie den jungen Mann an den goldenen Ketten, die sie ihm angelegt hatte, zur Mutter.

Mit den Kindern wurde Willibald selber wieder zum Kinde und holte nach, was er in eigenen Jugendtagen versäumt hatte. Sie zogen gemeinsam mit Schmetterlingsnetzen aus, wobei Lando nicht begreifen konnte, warum der Erzieher ihm nicht erlauben wollte, die Falter aufzuspießen oder ihnen zum Vergnügen die Flügel auszureißen, sondern, wenn man sie genugsam betrachtet und sich an ihrer Farbenpracht gesättigt hatte, die Gefangenen wieder fliegen ließ. An steilen sonnigen Halden kletterten sie hinauf und pflückten blaublühenden Lavendel, dessen Stengel sie zu duftenden Kolben für Arabellas Wäscheschrank zusammenflochten. Durch das dichteste Felsgebüsch kroch er mit den Kindern, half ihnen einen leeren Dachsbau ausgraben, Igel und Siebenschläfer aufstöbern, und als sie eines Abends ein Käuzchen nach Hause brachten, zeigte der Kapitän sich hoch erfreut, nahm es ihnen aber sogleich ab, um sich seiner bei Beginn der Vogeljagd zu bedienen.

Im Walde tauschten Lehrer und Schülerin ihre Rollen. Willibald, der seine Kindheit in der Stadt zwischen öden Häusermassen verbracht hatte, empfand etwas wie Ehrfurcht vor dem kleinen Mädchen, das ihn alle Waldstimmen unterscheiden lehrte und aus dem veränderten Rufe des Kuckucks die Ankündigung heraushörte, daß der Vogel bald zu reisen gedenke. Ihm hatten die alltäglichsten Erscheinungen etwas Wunderbares, und kleine Schätze, die sie für ihn sammelte, bewahrte er als Heiligtümer auf.

Da hieß es:

Gefällt Ihnen diese Häherfeder? – Soll ich Ihnen die schöne Orchidee dort aus den Büschen holen? – Sehen Sie hier das leere Zikadengehäuse mit den dummen glotzenden Augen!

Willibald hielt die gefundenen Gegenstände forschend in der Hand, aber bevor er mit ihrer Ergründung fertig war, gab es schon etwas Neues.

Ein Vogelnest, worein weiße Wolleflocken versponnen waren, veranlaßte sie zu einer längeren naturgeschichtlichen Abhandlung:

Wenn es den Schafen zu heiß wird, so streichen sie sich im Gebüsch die Wolle ab, dann kommen die Vögel und holen aus Dorn und Dickicht die Flocken weg. Die Vögel können alles brauchen. Nur Menschenhaare sind ihnen gefährlich. Wir halten alle Mägde an, kein ausgegangenes Haar zum Fenster hinauszuwerfen. Die Vögel verwickeln sich mit ihren kleinen Füßchen darein und gehen elend zu Grunde. Aber man kann mit den Mägden nicht fertig werden, setzte sie mit einem altklugen Seufzer hinzu, der aus dem Kindermunde gar zu drollig klang.

Dabei war ihre Stimme selber wie Vogelgezwitscher und Willibald horchte auf ihre Reden wie auf lauter unmittelbare Offenbarungen aus dem Innersten der Natur.

Wenn er aber mit dem Fuße an ein dürres Hölzchen stieß und dieses plötzlich Flügel ausspannte um als Insekt davon zu fliegen, oder ein verwelktes Eichblatt am Boden sich als äffende Moosart enthüllte, so lachte sie unbändig über seine Verblüffung.

Seine kleine Freundin hatte ihm bald ihr ganzes Vertrauen geschenkt und verhehlte ihm nicht, daß sie ihren Vater haßte, ohne die Schwächen der Mutter zu verkennen, als deren Schutzgeist sie sich fühlte. Denn wer wäre sonst für die Arme eingetreten? Es tat ihr so wohl, sich alle Not und Herzensangst von der Seele reden zu können. Sie erzählte ihm von den gewaltsamen Auftritten, die zwischen Mann und Frau stattzufinden pflegten, besonders des Abends, wenn Kinder und Dienstboten zur Ruhe waren und die Beiden noch allein im Salotto zurückblieben. Dann duldete es Cora nicht im Bette, sie hockte im Dunkeln auf der obersten Treppenstufe und horchte auf den Wortwechsel, der sich drunten erhob, um sogleich dazwischen zu springen, wenn der Streit eine gefährliche Wendung nahm. Aber niemals gelang es ihren Vorstellungen, die Mutter zu einem vorsichtigeren Betragen zu veranlassen; gleich bei der nächsten Gelegenheit reizte sie den heftigen Mann aufs neue durch ihren Widerspruch. Jetzt ging es ja besser, seit Willibald dazwischen stand und sich beide mehr in acht nahmen. Aber noch am Tag vor seiner Ankunft war es zu schlimmen Händeln gekommen, der Vater brüllte und wollte sich auf die Mutter stürzen, Cora konnte sie nur noch auseinander halten, indem sie die heißen Brotlaibe zwischen beide warf.

Die Brotlaibe? fragte Willibald mit Verwunderung, als sie ihm diese Geschichte erzählte.

Ja, die Brotlaibe. Sie waren eben aus dem Backofen gekommen und lagen glühend heiß im Hausflur aufgeschichtet; die haben beide zur Besinnung gebracht.

Der Gast wußte nicht, ob ihm das Lachen oder das Weinen näher war, denn das Kind, das ihm in kummervollem Tone, aber doch ganz unbefangen von diesen Vorgängen sprach, als ob sie zu den natürlichen Erscheinungen des Familienlebens gehörten, jammerte ihn unsäglich. Er dankte seinem Schicksal, daß es ihn hergeführt hatte, um den beiden gequälten Geschöpfen eine Stütze zu sein, der armen unklugen Mutter, die es so gut meinte und durch ihr Ungeschick alles verdarb, und der bedauernswerten Tochter, die über der undankbaren Aufgabe, als Wellenbrecher zwischen den Eltern zu stehen, ihr Kindheitsparadies einbüßte.

Aber auch um die Prachtgestalt des Kapitäns tat es ihm leid; wohin sollte der Unglückliche mit all der Lebensfülle, die ihm aus den Augen funkelte, in der Einsamkeit von Miravalle und in dieser Ehe! Man hätte ihn mögen an der Spitze seiner Schwadron hinfliegen sehen, den Säbel in der Faust, das dröhnende Metall seiner Stimme im Kommando entladend. Auch er wäre ein anderer gewesen ohne den stündlichen Widerstand, der sein ganzes Wesen verbitterte.

Heiraten Sie nie in eine fremde Nation, sagte er bei jeder Gelegenheit zu Willibald und zitierte das toskanische Sprichwort:

Ochsen und Frauen
Hol' aus den eigenen Gauen!

Mit ein wenig Verständnis hätte ihn Arabella um den Finger gewickelt. Aber sie wollte auf seine Eigenheiten nicht eingehen und die Bedingungen, aus denen er herkam, nicht gelten lassen. Verkehr mit den Nachbarn, der für beide Teile eine Wohltat gewesen wäre, pflegten sie keinen. Ihre Verwandten, von denen verschiedene in Italien lebten, hielt er sich nach Möglichkeit vom Leibe, und sie tat das gleiche mit den Seinigen. Nur an einer Schwester des Kapitäns schien Arabella mit Zuneigung zu hängen, und die Kinder sprachen von dieser Tante Costanza wie von einer guten Fee, aber sie war tief unten im Süden verheiratet, und man sah sich selten. So blieb dem vereinsamten verärgerten Manne nichts übrig als seine Bauern zu zanken und die kleine Nerina, das einzige Wesen, das ihm mit Liebe anhing, rettungslos zu verziehen. Der Gast begriff das alles, er sah, daß in dieser Ehe Recht und Unrecht nicht zu trennen war. Aber daß die unschuldige Cora die Sünden beider Teile büßen mußte, das erfüllte ihn mit unaussprechlichem, in tiefe Zärtlichkeit getauchtem Mitleid.

Es waren seine schönsten Stunden, wenn das verängstigte Gemüt des Mädchens sich ihm aufschloß und wenn in ihren seltsamen Augen jener tiefe grüne Glanz aufleuchtete, der alle Geheimnisse des Waldes zu bergen schien. Er nahm es auch Lando gar nicht übel, daß er sich auf ihren Spaziergängen zuweilen in die Büsche verlor, um eigenen Liebhabereien nachzugehen und ihn mit seiner Schülerin allein ließ.

Ging ihnen der Gesprächsstoff aus, so sang sie mit ihrer Vogelkehle und dem natürlichen Gehör, das sie vom Vater geerbt hatte, allerlei Lieder vor sich hin, die ihr auf der Landstraße oder bei den Bauern auf der Tenne angeflogen waren, und es setzte den armen Hofmeister in nicht geringe Verlegenheit, daß zuweilen aus dem reinsten Munde die verfänglichsten Worte kamen, deren Sinn der junge Singvogel selber nicht verstand. Es war rührend und lächerlich zugleich, wie sie solche Worte mit liebevoller Deutlichkeit aussprach, als müßte sie einem jeden sein Recht angedeihen lassen, und zuweilen dabei stehen blieb, um sich unbefangen einen Dorn aus dem Fuße zu ziehen, denn sie ging im Freien gerne barfuß, und ihre schönen hochgeschwungenen Sohlen waren so abgehärtet, daß sie schmerzlos über das wildeste Steingeröll hüpfte. Durch tausend kleine Dienste zeigte sie ihm ihre Anhänglichkeit, und mitunter blieb sie plötzlich stehen und sagte aus tiefstem Herzen heraus: Sie dürfen uns niemals, niemals verlassen.

Einmal fanden sie eine weiß und grau gefleckte Schlange mit eingeschlagenem Kopf am Wege. Willibald betrachtete mit Bedauern das schöne Tier, da klagte Cora:

Das hat gewiß Papa getan, er schlägt die Schlangen tot, wo er sie findet. Er hält sie allesamt für giftig, und das sind sie doch nicht. Die Schlangen sind so schöne Tiere. Lieben Sie die Schlangen, Herr Willibald?

Willibald bejahte und das Kind fuhr fort:

Unsere Bauern sagen, wer unvermutet eine Schlange erblicke, müsse binnen Jahresfrist sterben. Unsere Bauern sind so abergläubisch. Mama und ich wir fürchten uns gar nicht vor Schlangen, ich nehme sie sogar in die Hand, wenn ich sie fassen kann, und sie beißen mich nicht. Aber Papa gibt den Bauern Recht, natürlich nur um Mama zu ärgern.

Willibald, der als Junge Schlangen im Käfig gehalten hatte, ergriff gerne die Gelegenheit sich auch einmal als Kenner der Natur zu erweisen und hielt einen kleinen Vortrag über die Kennzeichen der Giftschlangen, wobei Cora andächtig an seinem Munde hing; daß das erschlagene Tier zu den Nattern gehörte und daß die Nattern keinen Giftzahn haben, schien ihr eine große Genugtuung zu gewähren.

Das müssen Sie Papa erklären, sagte sie ernsthaft, als er fertig war, Ihnen wird er glauben.

Willibald versprach im ersten günstigen Augenblick das Bekehrungswerk zu beginnen, denn er hatte schon selber mit Bekümmernis gesehen, daß der Kapitän gegen alles, was auf dem Bauche kriecht, einen wahren Vernichtungskrieg führte und nicht einmal die Blindschleichen verschonte. Er brachte auch richtig eines Abends einen Band Naturgeschichte hervor, worin verschiedene Schlangenarten, giftige und ungiftige, abgebildet waren, und zeigte sie wie zufällig den Kindern, indem er die nötigen Erläuterungen dazu gab. Der Kapitän blickte herablassend über Willibalds Achsel mit ins Buch, und vielleicht hätte er jetzt ein altes Vorurteil abgelegt, wäre nicht der böse Geist in Arabellas Zunge gefahren, daß sie ihm triumphierend zurief:

Siehst du, Orlando, daß die Nattern keine Giftschlangen sind. Wie oft hab ich dirs gesagt, aber du wolltest nicht hören.

Da fuhr der heftige Mann mit einem Fluch in die Höhe, pfiff seinen Hunden und ging trotzig in die Nacht hinaus.

In solchen Augenblicken hätte Willibald ihr den Mund zuhalten mögen, und er konnte auf die arme törichte Frau bitterböse werden. Wenn er ihr aber ganz zart und leise eine Vorstellung machen wollte, so begriff sie ihn nicht und blieb dabei, was wahr sei, dürfe man auch sagen.

Willibald wußte durch seinen Freund, daß die Heirat dieser zwei den schwersten Hindernissen abgerungen worden war, und daß sie sich dann in der Ehe, frei von jedem äußeren Zwang, in einen gegenseitigen Haß hinein geliebt hatten. Die stille, stetige Gereiztheit, die er vor sich sah, war der letzte Rest einer großen Leidenschaft, der tägliche Hader die einzige Form, wie die zwei Gatten sich noch miteinander beschäftigen konnten. Arabella verfolgte zwar mit ihren Reden meist eine moralische Absicht, aber diese verkehrte sich augenblicklich in ihr Gegenteil. Herr Corradi dagegen hatte keinen Zweck als zu verletzen, und er verstand es vor allem meisterhaft, seine Frau auf einen Irrweg zu locken und dann mit kaltem Lächeln, hinter dem eine wilde Schadenfreude bebte, vor aller Augen bloßzustellen.

Und dieses verbitterte grausame Gefühl war einst Liebe, dachte Willibald mit Entsetzen. Wenn so die schönsten Täuschungen enden, dann ist es besser einsam durchs Leben zu gehen.

Am gefährlichsten war es während der langen Tafelstunden, denn fast um jeden Gesprächsgegenstand lag heimlicher Zündstoff aufgehäuft, dessen Dasein Willibald sofort an der verängstigten Miene Coras erriet, die ihre Augen in stummem Flehen auf ihn wie auf einen Schutzheiligen richtete. Und jedesmal, wenn es gelungen war, die drohende Entladung zu verhindern, begegnete seine Seele der des Mädchens im gleichen Erlösungsgefühl.

Die unglückliche Arabella verschmachtete in der Gewitterstille dieses Daseins nach einem Tropfen Freude und Erfrischung. Zweimal täglich stieg sie auf ihren Luginsland, einen hohen Rasenbuckel vor dem Hause, von wo man die Landstraße drunten auf eine weite Strecke übersah. Da oben harrte sie auf das Erscheinen des Postboten, den ihr scharfes Auge schon erkannte, wenn er als winziger Punkt in fernster Ferne auftauchte. Denn Arabella erwartete immerzu Briefe, sie wußte selber nicht von wem, erfreuende Nachrichten die irgendwoher kommen sollten. Aber diese Nachrichten kamen niemals, denn da sie selber wenig schrieb, weil der Kapitän ihr die Ausgaben für Briefporto beschränkte, erhielt auch sie keine Briefe, außer dann und wann von ihren Verwandten. Aber trotz der Enttäuschung wartete sie jeden Tag aufs neue, und die Kinder, die es so gewohnt waren, warteten mit. Der Kapitän sah sie dann nur mit einem mitleidigen Lächeln an, wenn er vorüberging. Jetzt half auch Willibald auf dem Luginsland warten und stimmte in den Jubelruf der andern ein, wenn er tief drunten den Mann mit seiner umgehängten Brieftasche unter einer Wolke von weißem Staub heranschreiten sah. Aber er hatte ein Recht dazu, denn er erhielt Briefe aus der Heimat, vor allem von seinem treuen Mütterlein.

Man lebte auf Miravalle wie auf einer entlegenen Insel, die der Ozean umschließt. Kein Besuch, kein Zeitungsblatt fand den Weg herauf. Höchstens daß ab und zu ein Wandersmann sich von oben her durch die Wald- und Feldwege in das Corradische Gut verirrte, wovon die Hausbewohner jedesmal durch ein rasendes Hundegebell benachrichtigt wurden. Das Fleisch wurde zweimal wöchentlich durch einen der Bauern aus der nächsten Ortschaft geholt. Alles andere, Brot und Gemüse, Öl und Wein lieferte das Gut selber. Bücher gab es auch keine. Ihre geistige Nahrung sog Arabella aus ein paar alten Jahrgängen einer englischen illustrierten Zeitschrift, die sie wieder und wieder las und mit deren Inhalt sie Willibald beim Nachmittagstee auf dem Rasenplatz vor dem Hause eingehend bekannt machte.

Die Teestunde war das letzte, was sie mit ihren heimatlichen Erinnerungen verknüpfte. Die ließ sie sich nicht verkümmern. Home, sweet home. Sie sprach mit dem Gast und den Kindern englisch, indes ihre schönen Hände Tee eingossen und Brötchen strichen. Und dann begann Arabella zu erzählen. Aber niemand hörte ihr zu außer dem höflichen Gast, der diese Teestunden unter die schwereren Geduldsproben seines Amtes rechnete. Denn sie verlor beständig den Faden, stockte, suchte nach Worten und erzählte den novellistischen Inhalt des Blattes als wirkliche Begebenheit mit. Der Kapitän hämmerte mittlerweile auf dem Klavier, und sein Spiel war kaum von einer Drehorgel zu unterscheiden. Lando verschlang in Stille und Schnelligkeit, was er an gestrichenen Brötchen erwischen konnte und empfahl sich. Auch Cora pflegte sehr bald zu verschwinden, man hörte nur noch ihre Stimme aus den Baumwipfeln zwitschern wie die eines jungen, noch ungeschulten Singvogels.

Diese Stimme war Willibalds Entzücken; es schwang etwas darin mit, für das er keinen Ausdruck fand, das ihm aber unwiderstehlich in die Seele drang. Und ihr feines Gehör nötigte ihm, der sein bißchen Musik mehr dem Fleiß und der Übung als der Natur verdankte, Bewunderung ab. Sie sang jedes Lied, das sie einmal gehört hatte, aus dem Gedächtnis nach. Niemand hatte auch nur daran gedacht, ihr die Noten beizubringen. Willibald übernahm es noch zu seinen anderen Obliegenheiten hin, das Versäumte nachzuholen; für den Anfang reichten seine Fertigkeiten aus. Später brauchte es einen besseren Unterricht, um eine solche Gottesgabe nicht verkümmern zu lassen.

Aber Arabella zuckte die Achseln, wenn er ihr davon sprach, und warnte ihn, die Sache ja dem Vater gegenüber nicht zu berühren. Der habe schon ein für allemal erklärt, wer musikalisch sei, singe und spiele von Natur, die Lerchen und Amseln hätten ja auch keinen Unterricht.

Man darf ihm überhaupt nicht zu viel von Cora sprechen, sagte sie einmal leise bei solcher Gelegenheit. – Sie haben ja gewiß bemerkt, daß er dieses Kind nicht liebt. Warum? Das ist eine traurige Geschichte, aber Sie sollen sie wissen, weil Sie nun doch zu uns gehören. Cora hat als Kind den Tod eines Brüderchens veranlaßt, freilich ohne dafür zu können. Wir hatten nämlich noch einen älteren Knaben, er hieß gleichfalls Orlando nach meinem Mann und war sehr begabt und schön, er wäre das Ebenbild des Vaters geworden. Den ließ Cora, als er drei Jahre alt war, von der Schaukel fallen. Sie erinnert sich nicht mehr daran, sie war selber damals noch so jung. Auch starb das Kind nicht gleich, es siechte nach dem Fall so hin und verlosch ein paar Wochen später. Mein Mann verkaufte bald danach unsern ersten Besitz, und wir zogen hierher; an dem neuen Ort verwischten sich die alten Eindrücke in dem Kinderhirn. Hier kam der zweite Lando zur Welt, aber er konnte den ersten nicht ersetzen. Mein Mann vergißt den toten Knaben nie, und immer bin ich in Sorge, daß er einmal dem armen Kind ihre unbewußte Schuld vorwerfe und ihre junge Seele damit vergifte. Es ist gerade, als ob seine Abneigung sie nicht aufblühen lasse. Sie sollten einmal sehen, wie das Kind sich verändert, wenn der Vater nur auf vierzehn Tage aus dem Hause geht; sie sieht dann aus, als könnte sie eine Schönheit werden. Aber kaum ist er zurück, so kommen auch die hohlen Wangen wieder, und in kurzem ist sie bleich und mager wie zuvor.

Seit Willibald diese Unglücksgeschichte kannte, erschien das Mädchen ihm noch rührender und heiliger, als ob ein Gott sie heimlich gezeichnet und damit zugleich über alle andern erhoben hätte. Immer meinte er, tief im Grunde ihrer traurigen Augen die Ahnung ihrer Schuld schlummern zu sehen. Daß man sie nur zart genug anfaßte! Daß nur niemand sie zum Wissen erweckte! Doppelt verargte er es jetzt der Mutter, daß sie nicht ihren Widerspruchsgeist besser bezähmte, um die Zusammenstöße zwischen Vater und Tochter zu vermeiden, die bei des Kapitäns aufwallender Gemütsart früher oder später die traurige Entdeckung herbeiführen mußten.

Als der Weizen geschnitten wurde, erhielten die Kinder Ferien, um die Lust der Feldarbeit zu teilen. Von früh bis spät hallten rings um den Berghang die eintönigen Stornelli der Schnitterinnen, die sich Antwort gaben. Mitten unter diesen sichelte Cora, den großen Strohhut auf dem Kopf, und ihre mageren kindlichen Arme bewegten sich so gewandt, wie wenn sie nie etwas anderes getan hätten. Auch Lando vergaß seine Faulheit und schaffte wacker mit. Willibald erbat sich gleichfalls eine Sichel, aber er hantierte damit so ungeschickt, daß sein Zögling zu lachen begann. Darüber ärgerte er sich, fuhr blindlings zu und traf sich in den Daumen. Der Schnitt war tief und blutete stark. Einer der Bauern wollte ihm nach ländlichem Brauch Erde auf die Wunde legen, aber Cora sprang scheltend dazwischen. Sie lief, daß ihr die kurzen Röcke um die hageren Beine schlugen, und kam blitzschnell mit sterilisiertem Verbandzeug zurück, das sie aus dem Medizinschrank ihrer Mutter geholt hatte.

Arabella folgte ihr in mäßigerer Eile die sonnenglühende Halde herab; bevor sie mit ihrer Strafpredigt an die Bauern über den gefährlichen Unverstand ihres Heilverfahrens zu Ende war, hatte das flinke Kind die Wunde gewaschen, mit einem desinfizierenden Pulver bestreut und verbunden. In ihrer Geschäftigkeit merkte sie nicht, daß ihr Patient auf einmal alle Farbe verloren hatte. Aber die Bäuerinnen, die herumstanden, stießen sich an, und eine lief eilends weg, um ein Glas Rotwein zu holen, das sie ihm reichte mit den Worten:

Dem Herrn ist schlecht geworden vom Blutverlust, der Herr trinke einen Tropfen, um sich zu erholen.

Willibald dankte. Ihm war nicht schlecht geworden vom Blutverlust: als Coras Hände ihn berührten und den verletzten Daumen hin und her wandten, war ihm auf einmal, er wußte nicht wie, alles Blut zum Herzen zurückgeströmt und wurde dort festgehalten, daß sich seine ganze Haut mit kalter Blässe bedeckte. Er ward sich dieses Vorgangs erst bewußt, als die Bäuerin ihm den Wein aufdrängen wollte, da brach das zurückgestaute Blut in einer jähen Welle hervor und tauchte sein Gesicht in Purpur. Er entzog sich den erstaunten Blicken und warf sich im Schatten einer Steineiche nieder. Cora folgte ihm ängstlich und fragte, ob ihn der Daumen schmerze. Willibald verneinte fast mit Zorn, da sah ihn das Kind verwundert an und brach dann in ein lustiges Lachen aus, weil sie glaubte, der Herr Hofmeister schäme sich an seiner Ungeschicklichkeit.

Dieses Lachen brachte ihn wieder zu sich, er saß stille und besann sich, was ihm denn eigentlich geschehen sei, während Cora wieder in den hohen goldschimmernden Ähren untertauchte, um zu schneiden, zu häufeln und den hüttenähnlichen toskanischen Schober mit dem steilen Dach aufschichten zu helfen, an dem der Regen glatt herabfließen kann. Dazu sang sie mit der fremdartig süßen Stimme eines der leichtfertigen Liebeslieder, die Willibald aus diesem Munde nicht hören konnte.

Er sprang auf und rannte wie gejagt über die Felder durch die schweigende Pineta bis hinaus in die einsame, weitgedehnte Kastanienwaldung, wo ihn kein menschlicher Laut mehr erreichte.

An diesem Mittag mußte er mit Arabella allein bei Tische sitzen, denn der Kapitän war über Land gegangen und die Kinder zogen es vor, mit den Bauern zu essen, die sich auf einem flachen, abgemähten Wiesenfleck unterhalb des Berghangs im Schatten niedergelassen hatten; nicht aus Freude an der Natur, sondern um Zeit zu sparen, denn wenn sie ihrem Geschmacke folgten, hockten sie sich viel lieber in ihre rauchige fensterlose Küche. Ein grobes, linnenes Tischtuch war am Boden ausgebreitet, worauf eine Schüssel mit gesalzenem Thunfisch stand; für jeden lag ein mächtiges Stück Schwarzbrot und eine Gabel da, mit der er zugreifen konnte, und der Fiasko ging ohne Gläser von Hand zu Hand.

Willibald konnte vom Fenster des Eßzimmers gerade auf die tafelnde Gruppe hinunterblicken, die lustigen Stimmen der Kinder, die sich mit den bäuerlichen Gastgebern neckten, drangen bis herauf, daß er vor lauter Sehnsucht mit am Boden zu sitzen und den Fiasko aus Coras Hand zu empfangen, heute an der wohlbestellten Tafel keinen Bissen hinunter brachte. Die Bauern hatten ihm zwar, als er vorhin vorüberging, das übliche: vuol favorire? (Wollen Sie mithalten?) zugerufen, aber da er nicht mitgeschafft hatte, war das gastliche Angebot nur eine Formel. Die Wunde an seinem Daumen brannte, mehr noch brannte ihn sein Ungeschick, da es ihm doch sonst an körperlicher Gewandtheit nicht fehlte, und er konnte die kindische Empfindung nicht los werden, als sei er um etwas ausgesucht schönes und beglückendes, einen der seltenen Freudentage, die nicht wiederkehren, schmählich verkürzt worden.

Innerlich schmollend – er wußte selber nicht, mit wem – legte er sich nach Tisch in den Wald unter eine Pinie um Siesta zu halten. Die Luft glühte, aus dem Stamme quoll das geschmolzene Harz und duftete verzückt, über seinem Haupte zerbarst dann und wann ein Pinienzapfen mit lautem Knall, und rings umher war das ununterbrochene gleichmäßig schrille Geschmetter der Zikaden, das die Denkkraft lähmt und die eingelullte Seele ins Element zurückruft. Jenseits des Grabens, in dem ein dünner Wasserfaden schlich, stand eine Gruppe langer schlanker Pappeln, zwischen die sich eine weißstämmige junge Birke verirrt hatte. Die Pappeln waren nach toskanischer Sitte kahl bis nahe zum Wipfel und glichen hohen Fahnenmasten, woran kurze Wimpelchen flattern. Eine von ihnen war seltsam schief gewachsen und lag mit ihrem Stamm beinahe wagrecht in den Ästen einer breiter belaubten Nachbarin, daß es aussah, als wäre sie in Ohnmacht gefallen und würde von der anderen mitleidig gestützt. Willibald vertiefte sich in den Anblick dieses Naturspiels, bis ihm die Augen schwer wurden und das mitgebrachte Buch aus seiner Hand rollte.

Plötzlich stand Cora lang und schlank im weißen Kleide vor ihm.

Gehörst du eigentlich zum Geschlecht der Birken oder der Pappeln? fragte er.

Ich gehöre zu dem der Pinien, die sind das ganze Jahr grün, sagte sie ruhig, und wie sie das sagte, verwandelten sich ihre Haare in lange grüne Nadeln, und Willibald erwachte.

Was geht mit mir vor, fragte er sich selber bestürzt, daß ich dieses Kind schlafend und wachend vor mir sehe?

Jetzt schimmerte es weiß durch die Zweige, er hob die Augen und erkannte Arabella, die langsam unter den Pinien auf ihn zukam. Ihr schweres Gesicht sah belebter aus, sie setzte sich nahe zu ihm und begann liebreich von all dem Guten zu sprechen, das sie ihm dankte.

Sie ahnen nicht, in welcher Einöde ich gelebt habe, bevor Sie kamen, sagte sie. Ich selber kann mir die Zeit kaum mehr vorstellen. Daß nur nichts diesen schönen Frieden stört. Versprechen Sie mir eins, Willibald.

Er nickte still und leise verwundert; sie hatte ihn bisher nie mit dem Vornamen angeredet.

In kurzem wird die Vogeljagd beginnen, hob sie wieder an. Er wird Sie gewiß auffordern, ihn zu begleiten (sie sprach von ihrem Manne immer nur als er). Es wird Ihnen zuwider sein, ich weiß es, und Sie können ja ausweichen. Aber reizen Sie ihn nie durch Widerspruch, es würde doch nichts helfen und ihn nur erbittern. Versprechen Sie mir, vorsichtig zu sein.

Ich bin ja immer vorsichtig, antwortete Willibald und konnte nicht umhin über diesen Rat aus Arabellas Munde zu lächeln.

Ich weiß, was Sie denken, sagte diese. Aber ich habe viel in diesen Monaten von Ihnen gelernt. Hätte ich nur früher schon einen solchen Freund und Ratgeber um mich gehabt.

Sie hatte während des Redens ihre Hand auf die seinige gelegt, zog sie aber rasch zurück und setzte sich etwas abseits. Auf dem schmalen Fahrweg unterhalb der Pineta ging soeben der Kapitän mit den Hunden vorüber.

 

Eines Morgens knallte es in aller Frühe vor Willibalds Fenster im Walde. Da wußte er, daß die Jagd begonnen hatte, und fürchtete stündlich, dazu eingeladen zu werden. Er sah an der Vogelhütte Vorrichtungen treffen, mit denen er nicht wünschte, näher bekannt zu werden. Dieser Ort war ihm von jeher unheimlich wie eine Mordstelle.

Die Bäume kränkelten und verdorrten rings umher von den Kugeln früherer Jahre, die ihnen bis ins Herz gedrungen waren.

Aber der Kapitän sagte kein Wort von Mitkommen, er war überhaupt nicht mehr so freundlich mit Willibald wie in den ersten Wochen, und neuerdings meinte dieser oft einen ironischen Ton aus seinen Worten herauszuhören. Doch kam ihm diese Veränderung nur halb zum Bewußtsein; sein Inneres war in zu starker Bewegung. Jede Nacht mußte er von Cora träumen, er sah sie dann erwachsen und zur Schönheit gereift, und wenn sie ihm wieder leibhaft entgegentrat, so wunderte er sich, daß sie noch so klein und unentwickelt war. Da er den harmlosen Ton von früher nicht mehr finden konnte, bemühte er sich, im Umgang mit seiner Schülerin mehr den Ernst des Lehrers hervorzukehren. Aber Cora, die sich gewöhnt hatte, den älteren Spielkameraden in ihm zu sehen, lachte ihn aus, so oft er eine würdevolle Haltung annahm, und brachte ihn damit oft ganz um die Fassung.

Um nicht zuviel an die Tochter zu denken, widmete er seine freie Zeit der Mutter. Auf gemeinsamen Waldspaziergängen lief er nicht mehr mit den Kindern voran, sondern lieh Arabella seinen Arm, den sie gerne annahm, denn ihr Tritt war schwer, und sie pflegte bald zu ermüden. Er hörte geduldig ihre langen Erzählungen an, denen alles Salz fehlte, und war indessen mit seinen Gedanken anderswo.

Je mehr Arabella aufglänzte, desto mehr verdüsterte sich der Kapitän. Willibald sah oft seine Augen mit lauerndem Funkeln auf sich gerichtet, ohne zu begreifen, warum. Doch konnte er nicht mehr zweifeln in Ungnade zu sein, als ihm eines Morgens der Hausherr ohne ein Wort der Entschuldigung den Schüler vom Lernen wegholte, um ihn mit auf die Jagd zu nehmen. Der Lehrer zuckte zusammen und wollte Einsprache erheben, aber Arabella faßte unter dem Tisch beschwichtigend seine Hand. Es handelt sich ja nicht allein um Lando, wir andern sind auch noch da, sagte ihm dieser Händedruck. Sie schienen die Rollen getauscht zu haben, denn immer war sie es jetzt, die zur Geduld und Vorsicht mahnte.

Am Abend trat er zufällig in die Küche, da sah er die Drosseln am Spieße schmoren, zwölf arme nackte Leiber, je zwischen zwei Brotscheiben aufgereiht, mit den langen Schnäbeln und den großen runden Augen, die wie anklagend weit offen standen. Es hatte etwas Schauriges, wie sie sich langsam auf und nieder drehten, wobei die entfiederten Schädelchen mit einem Ruck bald vor-, bald rückwärts fielen, während Fett und Blut in die Kohlen tropfte und das Uhrwerk am Bratspieß leise dazu schnurrte. Die Küche sah beim Flackerschein der großen brennenden Scheiter wie der Schauplatz eines Verbrechens aus. Wie feurige Würmer, die sich krümmten, spritzten lange Funken um den Herd. Der Kapitän stand daneben und gab der Köchin, die nicht auf der Höhe ihrer Kunst war, die nötigen Anweisungen. Lando hockte mit heraufgezogenen Knien auf einem Küchenstuhl und leckte sich gierig die Lippen. Und auch Cora half ohne jeden Widerwillen und behandelte die Angelegenheit äußerst sachlich. Da fühlte er sich plötzlich als Fremdling in diesem Kreise, er ging und setzte sich in die Laube zu Arabella.

Von Tag zu Tag wurde ihm Lando mehr aus der Hand genommen. Der Junge durfte das Gewehr oder die Jagdtasche des Vaters tragen und fiel zusehends in die alte Verwilderung zurück. Beschwerte sich Willibald gegen Arabella, so antwortete diese nur durch einen flehenden Blick.

Auch mit seinen Colonen, die ihm ohnehin aufsässig waren, hatte sich der Kapitän überworfen, und das vermehrte seine üble Laune. Sie hatten sich sämtlich gegen die neue Dreschmaschine, die er einführen wollte, gesperrt, teils weil sie überhaupt am Althergebrachten hingen, teils weil einer ihrer Vorgänger vor Jahren bei einem ähnlichen Neuerungsversuch des Padrone zu Schaden gekommen war. Darüber blieb die Frucht länger als sonst im Freien aufgeschichtet, zum Glück bei herrlichem Wetter, und von beiden Seiten gab es böses Blut. Am Ende behielten wie immer die Bauern recht, und für Willibald war es ein Genuß, als auf der glattgefegten Tenne, die blank war wie ein Tafeltuch, zwei prachtvolle weiße Ochsen von dem schönen toskanischen Schlag nach alter Sitte in bedächtigem Rundgang die Garben niedertraten, und dann die Dreschschlegel im schönen Takte erklangen, worauf zuletzt das Korn mit der Schaufel geworfelt wurde, daß die Spreu rundum stiebte. Dem Kapitän aber war der Anblick der unbenutzten neuen Maschine, die im Schuppen stand und mit Verlust zurückgegeben werden mußte, eine Quelle täglicher Bitterkeit.

Später feierten die Bauern ein bescheidenes Fest auf der Tenne, zu dem auch die Herrschaft erschien, denn man wollte sich hüben und drüben die Verstimmung nicht anmerken lassen. Einer spielte den Dudelsack, die Mädchen tanzten mit den Mädchen, die Burschen mit den Burschen, anders wäre es gegen die Sitte gewesen. Feurige Blicke flogen aus dem Mädchenkreis nach der stolzen Männlichkeit des Kapitäns, und die Wangen glühten, wenn er in die Nähe kam, er aber hielt sich streng in der Würde des Hausherrn und sprach mit keiner mehr, als es der Anlaß erheischte.

Arabella war eine leidenschaftliche Tänzerin, obwohl sie immer aus dem Takte kam. Sie hatte einen der Bauernburschen aufgefordert, der sich dadurch sehr geschmeichelt fühlte und sich so langsam und wichtig mit ihr im Kreise drehte, als vollzöge er eine ernsthafte Zeremonie. Willibald tanzte zu ihrer Freude gleichfalls mit ihr; als sie ihn aber ermahnte, sich jetzt die mit den Mädchen herumhüpfende Cora zu holen, wollte er nichts davon wissen, sondern blieb stumm und steif in der Ecke.

Erst als die jungen Leute zu einem beliebten Erntespiel zusammentraten, wurde er lebendig. Man stellte den Dreschschlegel mit dem Stock auf den Boden und während der Flegel in Schwung gesetzt wurde, mußte einer um den andern vortreten und versuchen den Knauf, den sie den »Frate« nannten, zu küssen. Dazu bedurfte es nicht geringer Gewandtheit, und die wenigsten kamen bis zum Kuß, denn wer sich nicht flink genug zurückzog, dem konnte der umsausende Flegel den Kopf zerschmettern.

Was wollen Sie? fragte Cora erschrocken, als Willibald sich unter die Spielenden stellte.

Den Frate küssen, war seine kurze Antwort.

Gott behüte, dazu muß man viel gewandter sein, rief das Kind eifrig und faßte ihn am Arm.

Doch Willibald schüttelte sie ab, sprang den rechten Augenblick ersehend vor, küßte rasch den Frate, und bevor der Flegel ansauste, war er wieder in Sicherheit. Alles klatschte und rief Beifall, nur Cora war völlig entfärbt und schwieg, denn sie fürchtete, der Erfolg könnte ihren Freund zu einem zweiten Versuche anspornen. Der aber war zufrieden, die frühere Scharte ausgewetzt zu haben, weiter ging sein Ehrgeiz nicht. Er sah ruhig dem Spiel der andern zu, bis der Kapitän das Zeichen zum Aufbruch gab, indem er sich erhob und leutselig sagte:

Nun gute Nacht miteinander, es wird spät. Oben in meinem Zimmer hab' ich heute früh den Schlaf gelassen, den will ich wieder aufsuchen.

Es war derselbe kleine Scherz, den er jedesmal machte, wenn er guter Laune war.

Die Bauern lachten und grüßten respektvoll. So herablassend war der Padrone seit lange nicht gewesen. Er hatte an jeden einzelnen wiederholt das Wort gerichtet; daß er dabei nur an Willibald hartnäckig vorübergegangen war, als ob er ihn nicht sehe, war von niemand als diesem selber bemerkt worden.

Nicht nur die Bauern setzten sich jeden Tag mit den Hühnern auf, auch die Gutsherrschaft ging frühzeitig schlafen. In den Sommermonaten zündete man auf Miravalle niemals ein Licht an; daran hatte sich Willibald wie an manche andere Besonderheit gewöhnen müssen. Heute war es ihm nicht möglich, dem allgemeinen Beispiel zu folgen und schon jetzt zur Ruhe zu gehen.

Er wanderte ein Stück weit längs der sanft absinkenden Stoppelfelder am Waldrand hin und ließ sich dann auf einem mit Thymian bewachsenen Steine nieder. Seit er den Frate geküßt hatte, schien ihm die Welt wieder ganz im Gleichgewicht. Er lächelte über sich selber: eine Kleinigkeit konnte dieses kindische Herz betrüben, eine Kleinigkeit machte es wieder froh!

Und jetzt noch einen Nachttrunk aus dem Becher der Schönheit. Sein ganzes Wesen löste sich auf in Schauen und Lauschen. In der weiten Talebene nistete schon die Dämmerung. Nur im Westen, wo eben das letzte Leuchten verglomm, blitzte noch in fernster Ferne die silberne Schlinge des Arnostroms auf. Aus den Wäldern von Vallombrosa sandten die Meiler gewaltige Rauchwolken in den klaren Himmel, dahinter verdämmerten in blässeren Umrissen die Berge des Casentino. Könnte er nur diese entzückenden Höhenzüge, die sich dreifach hinter einander aufbauten, ganz wie er sie vor sich sah, für immer in seiner Seele festhalten! – Der Gedanke an den Herbst und an das Scheiden trat ihm plötzlich nahe. Doch nur für einen Augenblick. Die Sinne hatten noch zu viel zu tun. Die Augen mußten mit den großen weißen Wolken, woran die letzten Purpurfetzen hingen, über die unendliche hochgeschwungene Kuppel hinwandern und die ersten noch blassen Sterne zählen. Sein Ohr mußte sich den Grillen hingeben, die mit leiserem Gezirpe das leidenschaftliche Schmettern der Zikaden abgelöst hatten und sich harmonisch zum fernen Gesang der Unken stimmten. Ab und zu hallte aus der Ferne ein dröhnender Schlag, der so eigen mit den Stimmen des Abends zusammenklang, daß Willibald sich gar nicht fragte, woher er eigentlich komme.

Dazwischen murmelte in der Tiefe ein Bächlein, die Violana, von der ihm Cora erzählt hatte, daß in ihrem Wasser die Hexen ihre Wäsche wüschen. Gerade unterhalb des Corradischen Gutes an der Straße bei dem kleinen Brücklein, das fast in jedem Frühjahr von den Wellen weggerissen wurde, lag die Stelle, an der man nach Sonnenuntergang nicht gerne vorüberging, weil dort die Hexen im Mondschein die Wäsche trockneten. Am liebsten kamen sie in den Vollmondnächten. – Sie wissen doch, daß der Vollmond wärmt? Mama will es nicht glauben, aber es ist wirklich so, hatte das Kind eifrig hinzugesetzt, und seither achtete Willibald ganz besonders auf den Vollmond, wobei er sich zuweilen einbildete, daß er wirklich eine leichte Wärme ausstrahle.

Aber heute stand der Mond im ersten Viertel, also hatten die Hexen wohl nicht die Absicht zu kommen. Das weiße Gespenst, das eben vorüberstrich, war ein fremder Schäferhund. Willibald kannte das Tier, das in der Dämmerstunde hungrig um die Villa zu schleichen pflegte, weil sein Herr, der Bauer Canali, der das Gehöft an der Schlucht besaß, ihm nichts zu fressen gab. Er kannte sogar den uralten, hundertmal abgenagten Knochen, den es im Maule trug, es war derselbe, den er ein paar Tage zuvor mit Cora auf der Wiese vergraben hatte, weil ihn Rino und Biancone beständig als Spielzeug herumschleppten: der arme, halbverhungerte Köter hatte ihn gewittert und wieder ausgescharrt.

Die Schatten stiegen aus dem Tale immer höher herauf, die schmale Mondsichel färbte sich blutrot und begann zu sinken. Büsche und Gräser waren schon naß vom Tau. Willibald wollte aufstehen, um nach Hause zu gehen, aber vom Zauber der nahenden Nacht umstrickt blieb er sitzen und spann sich in seine Gedanken ein.

Da störte ihn ein Kuckucksruf und wieder einer ganz aus der Nähe auf. Was fiel nur dem Kuckuck ein, daß er im Dunkeln sang? – Willibald glaubte ihn überhaupt schon lange abgezogen. – Gedankenlos sagte er ein Kinderverschen vor sich hin, das er von Cora gelernt hatte:

Wenn die Eul' am Tage schreit,
Kuckuck in der Dunkelheit,
Dann ist großes Leid nicht weit.

Der Kuckuck rief wieder. Großes Leid, dachte der Hörer sich besinnend, und jetzt stand er wirklich auf. Er nahm ein Steinchen und warf es in der Richtung, wo er den Unglückspropheten vermutete, um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber der ließ sich nicht stören, offenbar befand er sich ganz anderswo.

Daß uns doch der Aberglaube auf Schritt und Tritt im Nacken sitzt, dachte Willibald. Hat man ihn aus der Zahl Dreizehn und aus dem unschuldigen Freitag hinausgetrieben, so kommt er gar in einem Kinderreim zurück. – Er wünschte dem nächtlichen Sänger viel Vergnügen und trat den Heimweg an.

Ganz schnell war es tief dunkel geworden. Wie die Tage auf Miravalle das hellste, strahlendste waren, was es geben konnte, so waren die Nächte dort das allerschwärzeste. Nur wenige Lichtlein drunten in der Finsternis des Tals – die Landleute schliefen längst in ihren zerstreuten Gehöften – und im allerfernsten Westen ein matter Schimmer, der eine größere Ansiedlung verriet. Von oben warfen die Bergwälder tiefe Schatten herein. Ein Gewölke, das von Norden herzog, verschlang die Sterne. Weicher, tiefschwarzer Samt umgab rings den Nachtschwärmer. Jetzt hieß es aufpassen, um richtig nach Hause zu finden.

Der Ortssinn gehörte nicht zu Willibalds starken Seiten; er machte dafür die Kinderjahre in der Stadt und eine allzuängstliche mütterliche Obhut verantwortlich. Heute sollte er diesen Mangel zu spüren bekommen. So nahe die Villa sein mußte, er konnte sie nicht erreichen. Zuerst ging er zuversichtlich ein Stück weit der Richtung, wo er sie vermutete, nach, da trat er plötzlich in einen schlammigen Graben, der ihn belehrte, daß er auf dem falschen Wege war. Er kehrte um und bewegte sich vorsichtig weiter, bis ein festerer Boden unter seinen Füßen und ein Wagengeleise ihn hoffen ließen, den Fahrweg gefunden zu haben, der vom Gehölz nach der Villa führte und in deren Nähe als schöner breiter Kiesweg endete. Aber als er den Schritt beschleunigte, fand er statt der erwarteten Beschotterung plötzlich wieder lockeren Grund und rannte mit dem Kopf gegen einen Baum. Umhertastend stieß er auf einen zweiten und einen dritten und erkannte mit gelinder Bestürzung, daß er im Walde war. Wenn er nicht gleich wieder hinaus fand, so konnte er bis Tagesanbruch darin umherirren; war er doch jüngst einmal am hellichten Tage wohl eine halbe Stunde lang die Kreuz und Quere gerannt, ohne nach Hause zu finden, weil die dichten Baumkronen das niedere Dach der Villa verdeckten, bis ihm Hundegebell ganz aus der Nähe den Weg zeigte.

Vergebens spähte er umher, ob er nicht irgendwo ein Licht erblicke oder ein Geräusch vernehme, an dem er sich heraushelfen könnte. Nur in unbestimmter Richtung hörte er wieder die gespenstischen Axtschläge, die ihm jetzt ein unbehagliches Gefühl erregten. Dann wurde der Himmel wieder heller, da und dort drangen die Sterne hervor. Willibald tappte sich nach einer lichteren Stelle durch, wo keine Bäume standen, nur Gebüsch und abgehauene Stümpfe, über die er stolperte. Er hörte ein Wasser rauschen, glaubte, es sei die Violana und er sei bei seinen Zickzackwegen wieder in der Nähe der alten Stelle angekommen. Da rollte er jählings einen Abhang hinunter.

Jetzt erkannte er mit plötzlicher Eingebung, wo er war. Das war nicht die Violana, was unter ihm rauschte, es war der Bach, der weiter abwärts die Mühle trieb. Er selbst lag in der Schlucht, die das Corradische Gut von den Wiesen von Lolliga trennte. Zum Glück war er nicht tief hinabgerollt, denn er hatte sich im Gebüsch verfangen und stand schon wieder auf den Füßen.

Er strengte die Augen an, um das Gehöft des Canali zu erkennen, das ihm Cora bei ihrem ersten Waldspaziergang gezeigt hatte. Er war ja seitdem des öfteren daran vorbeigekommen, wenn er das Kirchlein von Lolliga besuchte. Nach seiner Schätzung mußte es hier in der Nähe sein. Er dachte den Bauern herauszurufen, um sich eine Laterne für den Heimweg zu erbitten.

Während er sich anschickte, vollends in die Schlucht hinabzuklettern, vernahm er über sich in mäßiger Entfernung ein seltsames sausendes Geräusch, für das er keine Erklärung hatte: es war ein Rascheln und Knacken, ein Schleifen und Schlürfen mit leisen Tritten, die sich eilig näherten. Willibald stand unbeweglich. Kein Zweifel, das waren Menschentritte, eine schwere Last wurde in tiefster Heimlichkeit durch den Wald herangeschleppt. Sein Herz begann heftig zu klopfen. Hatte ihn das Verhängnis diesen Irrweg geführt, damit er Zeuge einer Missetat würde?

Jetzt hörte ers über sich wispern: Richte ihn auf, Beppe. Und du, Nando, stütze ihn gut, damit wir keine Spuren zurücklassen.

Da waren sie schon am Rande der Schlucht. Willibald hatte sich trotz der Dunkelheit zusammengeduckt, um sich noch unsichtbarer zu machen.

Auf einmal erfüllte sich die Schlucht mit übermächtigem Harzgeruch. In des Lauschers allernächster Nähe ging es krachend herunter, ein leiser Fluch folgte; einer der Männer war ausgerutscht, und der gefällte Riesenleib, den sie trugen, war zu Boden geschlagen, Die Umrisse einer gewaltigen Pinie mit weitabstehenden Ästen, die ihn beinahe streiften, die Gestalten der Männer, – Willibald ahnte sie mehr als er sie sah. Dann ging es den jenseitigen Abhang wieder hinauf. Die Schritte entfernten sich, er hörte noch ein Tor öffnen, danach lag alles wieder stille. Nur der köstliche Duft des Harzes, das frisch der Baumleiche entquollen war, blieb um ihn her und bestätigte das Vorgefallene.

Willibald wußte durch Cora, daß in dortiger Gegend Waldfrevel zu den alltäglichsten Vorkommnissen gehörten. In den Wochen, wo es am wenigsten Feldarbeit gab, war das Gemeindegefängnis ganz überfüllt von alten und jungen Weiblein, halbwüchsigen Burschen und weißhaarigen Großvätern, die sich die bequemste Zeit auswählen durften, um die Strafe für begangene Holzdiebstähle abzusitzen, und manche sah man vor der Türe warten, bis es Platz gab. Es war durchaus nichts Schimpfliches dabei, denn das Holz brauchte man für den Backofen, und der liebe Gott, der es wachsen ließ, hatte nicht gesagt, daß es ausschließlich dem Herrn X oder Y gehören solle. Dürre Zweige zu brechen oder von den aufgehäuften Scheitern im Wald eine Schürze voll nach Haus zu tragen, das machte den Ärmeren keine Gewissensbisse. Aber daß ein wohlhabender Bauer, wie der Canali, dessen Reben- und Korngelände längs der Schlucht bis zur Talmühle und östlich gegen die Wiesen von Lolliga herab reichte, seinem ehemaligen Padrone ganze Bäume fällen und wegtragen würde, das hätte er nicht für möglich gehalten. Ein Glück, daß er nicht gerufen hatte, seine Zeugenschaft bei dem Raub wäre ihm voraussichtlich schlecht bekommen.

Er hielt sich noch längere Zeit ganz stille, um nicht durch Anschlagen des Hundes verraten zu werden. Der aber vergalt seinem Herrn das Hungerleiden, zu dem er verdammt war, durch Lässigkeit im Wächterdienst. Vorsichtig kletterte Willibald den Abhang wieder hinauf und fand sich beim Schein des hochgestiegenen Jupiter, der jetzt den Himmel erhellte, nach Hause.

Natürlich war um diese Stunde die Villa dunkel und fest verschlossen. Um die Schläfer nicht zu stören, schlich er sich auf die Rückseite, wo sein Zimmer neben dem des Hausherrn lag, und wollte sein immer offenes Fenster im ersten Stockwerk erklettern. Rino, der hier sein Lager hatte, wedelte bei seinem Herankommen freundlich, ohne sich zu rühren.

Aber als er eben mit den Händen einen Halt an der Mauer suchte, wurde oben ein Fenster krachend aufgerissen und eine wütende Stimme donnerte herunter:

Werda? Halt oder ich schieße!

Ich bins, Herr Kapitän, antwortete Willibald leise. Ich habe mich im Walde verirrt und wollte kein Geräusch machen.

Ein unverständliches Gemurmel von oben, und das Fenster wurde wieder zugeschlagen.

Böses Wetter im Anzug, dachte Willibald, indem er sein unterbrochenes Vorhaben ausführte, und er bewunderte dabei den Verstand des Hundes, der sich durch das Gebahren seines Herrn nicht aus dem Gleichmut bringen ließ.

Am andern Tag als Landos Stunden zu Ende waren und der Lehrer sich eben die Hände wusch, um dem Ruf des Gong Folge zu leisten, ging seine angelehnte Tür leise auf und herein huschte Cora.

Papa ist wütend. Sie haben uns heute Nacht wieder eine der schönsten Pinien geschlagen und weggeschleppt. Das ist schon die sechste in wenig Tagen. Wenn ihm Mama nur heute nicht widerspricht!

Das Essen verlief in drückender Beklemmung.

Der Kapitän war bleich, ein Unwetter stand auf seiner Stirn. Er hatte niemand gegrüßt und sprach nur mit den Hunden, die er nach Stücken Fleisch bis zur Decke springen ließ. Baby quietschte, die andern tauschten nur halblaute Worte, Lando gaukelte auf dem Stuhl. Die Mutter verwies ihm die Unart durch strafende Blicke. Da sagte der Kapitän ironisch:

Ja bring nur deinem Sohn die berühmten englischen Manieren bei.

Das kann ich nicht, solang er kein besseres Vorbild hat, antwortete Arabella, in die plötzlich wieder der böse Geist gefahren war.

Ein Wutschrei entrang sich dem gereizten Manne, der in die Höhe sprang, seine Hunde mit ihm.

Nerina schrie gleichfalls, Cora warf sich unwillkürlich vor ihre Mutter, Willibald glaubte das Ende aller Dinge gekommen.

Aber der Kapitän bezwang sich, und ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen, als ob sie allesamt für Arabellas Worte verantwortlich wären, schritt er, von den Hunden begleitet, aus dem Zimmer.

Willibald war in peinlicher Klemme. Sein Geheimnis brannte ihn auf der Seele, und doch mußte er fürchten, eine Katastrophe heraufzubeschwören, wenn er die Täter nannte.

Denn hinter dem Baumfrevel der Canali barg sich gewiß weit mehr die Lust an der Schädigung als am unrechtmäßigen Erwerb. Willibald wußte durch Cora, daß der alte Canali zur Zeit, wo er Colone auf Miravalle gewesen, durch die neue Worfelmaschine, die von dem Kapitän gewaltsam gegen den Willen der Bauern eingeführt worden war, einen Finger verloren hatte; Grund genug für die ganze Familie Canali, gegen den ehemaligen Herrn Rachegedanken zu hegen. Und er mußte sich sagen, daß bei diesen leidenschaftlichen Gemütern, wie auch der Kapitän eines war, aus einer Vergeltungstat nur immer wieder eine neue erwachsen mußte. Dennoch fühlte er sich in seiner deutschen Gewissenhaftigkeit beinahe wie ein Mitschuldiger. Könnte man wenigstens die Täter heimlich verwarnen, daß sie das Wiederkommen unterließen! Aber er war zu wenig mit diesem Menschenschlag vertraut, um sich von seiner Einmischung Gutes zu versprechen.

Arabella einen Wink zu geben war gefährlich; am Ende beschloß er bei Cora auf den Busch zu klopfen.

Hat man denn keine Ahnung, fragte er, als er sie allein sah, wer die Pinien geschlagen hat?

Cora zuckte die Achseln und schwieg.

Und eure Bauern, was sagen denn die? forschte er weiter. Die Bauern müßten doch etwas bemerkt haben.

Unsere Bauern, sagte Cora und dämpfte die Stimme, als ob das Ohr der Bauern überall wäre, unsere Bauern sehen alles und sagen nichts. Die Pinien sind ihnen gleichgültig: sie haben keinen Anteil an der Waldung, nur am Ertrag der Obstbäume. – Es ist auch besser, daß sie stille sind, setzte sie auf ihre altkluge Weise hinzu, wenn Papa einen bestimmten Verdacht hätte, so könnten wir schlimme Dinge erleben.

Das ließ sich Willibald gesagt sein und schwieg auch seinerseits mäuschenstille. Er sah aber, daß Cora schon von selber auf der rechten Spur war. Denn nach einiger Zeit sagte sie:

Wir haben böse Nachbarn. Man darf kein lautes Wort sagen. Wenn der Beppe etwas krumm nimmt –

Ist der so schlimm? fragte Willibald, der sich erinnerte, daß er den schönen, strammen Burschen verschiedentlich an Sonntagen auf dem Kirchhofmäuerlein von Lolliga hatte sitzen sehen, wenn er mit den andern jungen Leuten die Mädchen, die aus der Messe kamen, musterte.

Ja, sehr schlimm, war die Antwort, er sticht. Schon als die Canali noch auf unserem Gut arbeiteten, hat er drunten in Lolliga einen gestochen. Sie taugen alle nichts in dieser Sippe. Da war die schöne Annetta, die bei uns wie zur Familie gehörte. Mama vertraute ihr alle Schlüssel an, sogar Papa war besserer Laune, solange sie bei uns diente. Aber eines Tages mußte sie Knall und Fall das Haus verlassen, so schlecht war sie.

Was hat sie getan?

Ganz genau konnte ich es nie erfahren, sagte das Kind nachdenklich. Aber es kann nichts kleines gewesen sein. So außer sich habe ich Mama nie wieder gesehen, und auch ihre eigenen Leute wollten sie hernach nicht mehr zurücknehmen. Sie ist seitdem ganz aus der Gegend verschwunden, man darf nicht einmal mehr ihren Namen nennen.

Willibald schwieg und dachte sich das Seinige.

Und der Beppe? fragte er. Was ist ihm für seine Tat geschehen?

O nicht viel, weil er minderjährig war. Als er später zu den Soldaten kam, atmete die ganze Gegend auf, auch seine eigene Familie. Seitdem er beurlaubt ist, mag sich niemand mehr mit den Canali einlassen, denn die Bauern fürchten ihn alle.

 

Während mehrerer Nächte ging der Kapitän gar nicht zur Ruhe, sondern durchstreifte, die Flinte auf dem Rücken, in Begleitung der Hunde, bis Tagesanbruch die Pineta. Aber es war, als ob er Späher auf den Fersen hätte, denn kaum, daß er sich wieder einmal schlafen legte, so waren auch am Morgen abermals einige der ältesten und stolzesten Stämme, noch dazu an recht sichtbarer Stelle, gefällt und weggeschleppt. Die Äste waren diesmal am Tatort abgehauen und lagen wie zum Hohn am Boden.

Das hat kein anderer getan als der Canali mit seinen Söhnen, rief Arabella laut bei dieser Nachricht und blickte mit fast schadenfrohem Ausdruck auf ihren Gatten.

Der preßte die Lippen zusammen und schwieg. Aber noch am selben Morgen ließ er sein Wägelchen anschirrren, ohne zu sagen, wohin er fahre, und kam erst den andern Morgen zurück. Alle glaubten, er habe den Waldfrevel zur Anzeige gebracht.

Noch immer standen die Wolken auf seiner Stirn, aber sein Aussehen hatte jetzt etwas herausforderndes, höhnisches. Bald nach seiner Zurückkunft vernahm man dröhnende Axtschläge vom Walde her. Alles stürzte hinaus, um zu sehen, was es gebe.

Ein Haufe fremder Taglöhner hatte sich in der Pineta eingestellt und ging eben daran, die schönsten und höchsten Bäume niederzuhauen. Aber diesmal geschah kein Waldfrevel, vielmehr war der Gutsherr selber anwesend und leitete die Arbeiten.

Spottwohlfeil hatte er sie verkauft, die herrlichen Bäume, bloß um sich den herzkränkenden Ärger vom Halse zu schaffen, daß er sie nicht vor Räuberhänden schützen konnte. Aber augenblicklich mußten sie geschlagen werden! Keinen Tag wollte er die Pineta länger sehen!

Arabella kam schreiend herbeigestürzt, hinter ihr Cora mit ganz erbleichtem Gesicht:

Die Bäume, Orlando, unsere schönsten Pinien, was fällt dir ein?

Der Kapitän war in schrecklicher Laune. Man sah es, die wundervolle Pineta tat ihm selber leid, um so grimmiger bestand er auf seinem Willen. Er pfiff vor sich hin und gab keine Antwort.

Aber Orlando, dies ist doch keine Jahreszeit, um Bäume zu schlagen.

Er schwieg noch immer.

Das ganze Gehölz wird leiden, wenn man in diesem Monat die Axt daran legt.

Der Kapitän lächelte höhnisch, wie immer, wenn seine Frau sich in Land- oder Forstwirtschaft mischen wollte, wobei sie freilich nur so aufs Geratewohl mitredete.

Tröste dich, es wird gar nichts übrig bleiben, das leiden könnte.

Aber du wirst doch nicht die ganze – die ganze Pineta –?

Die Stimme ging ihr aus.

Ja die ganze, antwortete der Kapitän kühl. Als Brennholz ist sie immer zu gebrauchen. Übrigens habe ich die Kaufsumme schon in der Tasche. Es kommt also jeder Einspruch zu spät, und das Jammern und Klagen hilft auch zu nichts.

Jetzt erhob sich ein Zetergeschrei, in das auch die kleineren Kinder und die Dienstboten einstimmten. Nur die Bauern sahen sich an und schwiegen.

Die Ausrottung der Pineta ging unter der Aufsicht des Kapitäns unaufhaltsam weiter. Stunde um Stunde dröhnten die Axthiebe durch das Gehölz, das sich schon da und dort zu lichten begann. Die trauernden Zuschauer verzogen sich allmählich. Arabella ging und kam, um immer wieder einen Blick auf die sinkende Waldung zu werfen wie auf das Bette eines Sterbenden.

Nur Cora regte sich nicht von der Stelle. Sie saß mit ganz verweintem Gesicht auf einem Steinbrocken, wo die stürzenden Stämme sie nicht erreichen konnten, ihre mageren Ellbogen auf die Knie, das Kinn in die Hände gestützt, so sah sie Stamm um Stamm fallen, als verlöre sie mit jedem einen Freund. Erst lief ein Zittern durch die Äste, dann fielen sie kerzengerade mit einem Seufzer und lagen in einer Reihe wie Soldaten, ein ganzes Bataillon gefällter Riesen in grüner Uniform.

Und das Harz, das aus ihren Todeswunden quoll, erfüllte in weitem Umkreis die Gegend mit balsamischem Wohlgeruch.

Mit Sonnenuntergang zogen die Taglöhner ab, um am andern Morgen wieder zu kommen. Es gab noch Arbeit für viele Tage. Sie waren sehr vergnügt und sangen, denn des einen Wehe ist das andern Wohl. In der Villa ging man stumm aneinander vorüber, wie in einem Trauerhaus.

Als die Leute abgezogen waren, ließ Arabella sich noch einmal von Willibald hinausbegleiten, denn allein, sagte sie, könnte ihr Auge den Anblick der Zerstörung nicht ertragen.

Der Kapitän kam ihnen ingrimmig pfeifend entgegen. Schon war das ganze Profil der Gegend verdorben, und dafür hatte er wohl eine Empfindung, wenn er es auch um keinen Preis zugegeben hätte. Eine der schönsten Schirmpinien, deren erhabener Baldachin dem Himmel mit am nächsten gewesen, lag quer über den Weg, ihre breiten Äste bildeten eine ungeheure grüne Schranke. Um ihr auszuweichen mußte der Kapitän auf den wurzelreichen, ganz mit dürren Nadeln bestreuten Waldgrund treten. Plötzlich schoß aus dem kriechenden Wacholdergestrüpp eine schöne stahlglänzende Schlange hervor, die sein Fußtritt aufgescheucht hatte. Wild erhob er den Stock und traf das Tier auf den blinkenden Schuppenleib.

Da tauchte Coras verhärmtes Gesichtchen zwischen den Stämmen auf.

Papa, Papa, rief die Schlangenfreundin ängstlich, tu dem armen Tier nichts zu leide. Es ist nicht giftig, es ist gewiß nicht giftig.

Der Kapitän stand mit erhobenem Stock und starrte sprachlos über die unerwartete Einmischung die Tochter an.

Zum Unheil kam jetzt auch Arabella dazwischen.

Orlando, sagte sie vorwurfsvoll, kannst du denn immer noch die Schlangen nicht von einander unterscheiden?

Da soll doch –! brüllte der Kapitän und schlug von neuem auf das Tier los, das blitzschnell vorbeigeglitten war und unter den Ästen der gestürzten Pinie eine Zuflucht gesucht hatte. Aber der erbitterte Mann stieß mit dem Stock durch die Äste und sprang mit unglaublicher Behendigkeit der hervorschießenden Schlange nach, die von einem neuen Stockhieb getroffen sich plötzlich mit halbem Oberleib gegen ihren Verfolger aufbäumte.

Laß sie leben, laß sie leben, schrieen Mutter und Tochter zu gleicher Zeit.

Welch ein Unstern riß den vorsichtigen Gast gerade diesmal hin sich gleichfalls einzumischen:

Es ist wirklich ein harmloses Tier, Herr Kapitän, es ist nur eine Ringelnatter. Möchten Sie ihr nicht das Leben schenken?

Jetzt war bei dem Gutsherrn das Maß des Zornes voll.

Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten. Warten Sie, bis man Sie fragt, Herr – Störenfried!

Und er führte mit nur um so größerer Erbitterung Hieb auf Hieb nach der Natter, die mit gebrochenem Rücken nicht mehr imstande war sich fortzubewegen, sondern sich in endlosen Windungen durcheinander schob mit solcher Anmut in ihrem Todeskampf, daß man sich nur schwer vorstellen konnte, sie leide.

Der Kapitän jedenfalls stellte sich nichts dergleichen vor, denn nach ihm hatten ja die Tiere überhaupt keine Empfindung. Da die Seinigen nicht aufhörten über die unnötige Grausamkeit zu jammern, griff er sich ganz verzweifelt an den Kopf und schrie:

Mein Haus ist ein Narrenhaus geworden meine Familie ist gegen mich aufgehetzt – das muß ein Ende nehmen.

Er pfiff seinen Hunden, die durch das Dickicht herangesaust kamen, und entfernte sich mit zornigen Schritten.

Willibald war blaß geworden. Jetzt wandte er sich an Arabella.

Wen meinte der Herr Kapitän mit diesen Worten? Gilt seine Erbitterung mir?

Ach lassen Sie, antwortete diese bestürzt und traurig, Sie kennen ja sein cholerisches Temperament, man darf mit ihm nicht abrechnen.

Aber wenn man verdächtigt wird, hat man die Pflicht sich zu reinigen.

Im Grunde war er am ärgerlichsten auf sich selber. Dafür hatte er allen Wunderlichkeiten des Mannes Rechnung getragen, hatte schweigend dem Vogelmord beigewohnt, gegen den sich sein ganzes Gefühl aufbäumte, nur um den Frieden zu erhalten, der ihm gestattete, sich der einsamen, verkümmernden Frauen anzunehmen. Jetzt war alles verscherzt um eines Kriechtiers willen, das ihm doch weniger am Herzen liegen konnte als die armen lieblichen Singvögel.

So schalt er sich selber und berührte dabei mit der Spitze des Stiefels leise die regungslos daliegende Schlange, die zu seinem Erstaunen sich sogleich aufs neue zu winden begann und den schlanken stählernen Leib in endlosen Ringeln krümmte, bis sie in schöngeschwungener Linie, die fast ein A ergab, zuletzt erstarrte.

Nach dem Abendessen, das wie ein Leichenmahl verlief, näherte sich Willibald dem Hausherrn, der rauchend vor dem Hause auf und niederging, und bat ihn höflich um eine Erklärung wegen des Vorgefallenen. Es seien außer dem Worte Störenfried, das er nicht verdient zu haben glaube, noch andere verdächtigende Worte gefallen, die er sich ebensowenig zu erklären wisse. Ob er daraus zu schließen habe, daß sein Aufenthalt im Hause lästig geworden sei.

Willibald hatte die Eigenheit, bei großer innerer Erregung, die er sonst nicht hätte beherrschen können, nur desto kühler und förmlicher zu werden; dieser Ton aber erbitterte den aufbrodelnden Kapitän noch mehr, weil er ihn für einen gewollten Ausdruck von Überlegenheit nahm.

Ja wohl, Herr! antwortete er barsch. Ich bin nicht gesonnen mich im eigenen Hause hofmeistern zu lassen. Und das Nachtschwärmen um die Bauerngehöfte her, das paßt mir auch nicht, es könnte zu Mißhelligkeiten mit den Bauern führen, die auf diesem Punkte kitzlich sind. Zudem sind Sie ja selber der Meinung, daß Lando nichts bei Ihnen lernen könne. Also bringen wir die Sache zum Schluß!

Eine Verabschiedung wie aus der Pistole geschossen.

Schon immer hatte Willibald in diesen Tagen ein dunkles Gefühl gehabt, daß seine Stellung bedroht sei und daß es zwischen ihm und dem Kapitän nicht mehr allzulange dauern könne. Aber so unvorbereitet, so ganz wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte er sich das Ende nicht gedacht. Jetzt war es da, plötzlich und unwiderruflich!

Er war sich bewußt, gegen diesen Mann jede Rücksicht geübt, ihn geschätzt und verstanden, ja ihn gegen seine eigenen Angehörigen verteidigt zu haben. Und nun dieser unbegreifliche, wilde Ausbruch, der eine seit lange angehäufte Bitterkeit verriet! Was blieb ihm da übrig, als sein verletztes Selbstgefühl zu retten, indem er die falschen Anschuldigungen mit Nachdruck und Würde zurückwies und zugleich seine augenblickliche Entlassung nahm.

Später aber, als er mit Arabella, die ihn voller Angst bei angezündeter Lampe erwartete, allein beisammen saß – der Kapitän war noch früher als sonst auf sein Zimmer gegangen, und auch die Kinder schliefen längst, – konnte er seinen Schmerz nicht mehr zurückhalten. Arabella weinte heftig, aber sie machte keinen Versuch das Vorgefallene beizulegen. Auch Willibald stürzten die Tränen hervor, gegen die er vergebens ankämpfte. Dieses Dach zu verlassen, dem er die reichsten Stunden seines Lebens dankte! Die hängenden Felder, die Zypressengänge und die Wälder von Miravalle, die Wiesen von Lolliga, den Blick ins Arontal! Vor allem diese Menschen, mit deren Leben sich das seinige in der kurzen Zeit so innig verwoben hatte! Warum hatte es so kommen müssen? Hätte ihn nicht ein unglücklicher Zufall gerade des Weges geführt, als der ergrimmte Mann seine Wut an dem armen Schlänglein kühlte, so stände je alles noch wie gestern.

Ach nein, glauben Sie das nicht, sagte Arabella. Er suchte ja nach einem Vorwand. Sein Zorn war, daß Sie ihm so lange keinen gaben. Er hätte jeden ergriffen, der ihm in den Weg gekommen wäre.

Aber weshalb denn? Er war ja zu Anfang voller Freundlichkeit. Was hat er nur jetzt gegen mich?

Ahnen Sie es wirklich nicht? –

Nein, antwortete Willibald aufrichtig.

Arabella blickte forschend in sein Gesicht und wandte dann die Augen ab.

So kann ich es Ihnen auch nicht sagen. – Mein lieber, lieber Freund, vergessen Sie uns nicht. Ich werde – ich und die Kinder werden Sie sehr vermissen.

Sie weinte aufs neue und barg ihr Gesicht in dem blütenweißen Tüchlein, aus dem der ganze Duft ihrer sonnigen Berghalden strömte.

Es ist uns zu gut gegangen, schluchzte sie. Ich hatte ja einen Menschen, mit dem ich reden konnte, der sich mit mir und den Kindern abgab. Das konnte er nicht ertragen. – Wieviel Gutes hätten Sie noch stiften können, gerade jetzt, wo Lando zu lernen anfing und Cora sich entwilderte. Aber es durfte uns nichts Gutes kommen, am wenigsten von Ihnen.

Erst bei diesen Worten ging Willibald eine Erleuchtung auf. Der Kapitän war eifersüchtig – eifersüchtig auf seine Frau, deren Schönheit er noch immer liebte, während er ihre ganze Innenwelt haßte und bekriegte! Daher der Mißmut über die lange Teestunde und die Waldspaziergänge, der sich immer nur als Spott zu äußern pflegte. Und Willibald in seiner Harmlosigkeit hatte nichts davon bemerkt. Er hatte Arabellas mütterliches Wesen verehrt, hatte ihre reife Schönheit bewundert, aber daß man sich in sie verlieben könne, war ihm niemals eingefallen. Immer war seine Phantasie mit der Tochter beschäftigt gewesen und hatte ihm den Blick auf das, was neben ihm vorging, verhüllt.

Jetzt war es zu spät das Mißtrauen zu entwaffnen, das einzige Heilmittel war die Abreise, und je eher desto besser.

Er küßte Arabellas ihm innig dargereichte Hand und fühlte ihren zitternden Mund wie einen Hauch auf seiner Stirne. Da überkam ihn ein so fassungsloser Schmerz, daß er sich von Weinen geschüttelt gegen ihre Schulter lehnte, sie strich ihm tröstend über die Wangen; und plötzlich hielten sich beide umschlungen und küßten sich mit Innigkeit. Dann riß er sich los und taumelte auf sein Zimmer.

Als er Abschied nahm, weinte Lando laut, und auch Nerina, von dem geräuschvollen Kummer angesteckt, schluchzte in Willibalds Armen.

Nur Cora zeigte ein ganz gleichgültiges Gesicht und sagte trocken, indem sie ihm die Hand gab: Leben Sie wohl, Herr Willibald und reisen Sie glücklich.

Als er sie fragte, ob sie ihm nicht hin und wieder schreiben würde, zögerte sie und antwortete schließlich nur, sie habe ja kein Briefpapier.

Die Mutter schalt: Du sonderbares Kind! Ist denn das die Art für so viel Güte zu danken? Für das Briefpapier werde ich schon sorgen.

Das Kind behielt seine trockene Miene bei und glitt hinweg wie ein Schlänglein.

Der Kapitän hatte sich dem Abschied entzogen, indem er schon ganz früh von Hause wegging mit der ausgesprochenen Absicht, nicht vor Abend zurückzukommen. Aber er hatte zuvor angeordnet, daß das Wägelchen eingespannt und der scheidende Gast mit aller schuldigen Rücksicht zur Bahn begleitet werde.

Dieser ließ den Wagen unten an der Landstraße warten, weil er noch einmal zu Fuße die steile Zypressenallee hinabwandern wollte. Oben auf dem gepflasterten Vorraum unter der großen Steineiche stand Arabellas stolze Gestalt im weißen Morgenkleide, das Gesicht mit den schönen großen Zügen von Tränen durchfurcht, und winkte mit dem flatternden Tüchlein, bis er hinter der Biegung verschwand. Auch die Kolonen mit Frauen und Kindern, von denen er sich schon verabschiedet hatte, riefen ihm noch die naiven landesüblichen Grüße nach: Essen Sie, trinken Sie, Sor Baldo, und seien Sie guter Dinge.

Guter Dinge sein, dieser Rat war nicht so leicht zu befolgen für einen, der von einem Höhepunkt seines Lebens hinunterschritt. Doch es war nicht der Abschied allein, was ihm die Seele wie mit Schwertern durchwühlte. In den Schmerz mischte sich noch das erkältende Befremden über Coras fühllose Haltung ein.

Schon das ganze Weib, dachte er voll Bitterkeit. So jung und bereits ein undurchdringliches Rätsel.

Da raschelte es neben ihm, und an der zweiten Biegung, wo die Zypressen enger zusammentraten, sprang eine leichte Gestalt heraus und warf sich mit einem Weheruf an seinen Hals.

Cora! – Erschüttert hielt er den schlanken Mädchenkörper in den Armen.

Was wird aus mir werden, wenn Sie fort sind, jammerte sie, von Schluchzen geschüttelt. – Nun stehe ich wieder ganz allein zwischen den beiden. So lang Sie hier waren, lebte ich ohne Angst, immer dachte ich: Herr Willibald wird schon sorgen, daß alles gut geht. Jetzt werde ich wieder die Tage in Furcht und Zittern verbringen und jeden Morgen beim Aufwachen denken: Wäre nur der Tag schon vorüber.

Er wußte nichts zu antworten. Verzweifelt küßte er ihre braunen Wangen und die schmalen kindlichen Lippen, die sich ihm nicht entzogen.

Als sie aber sah, daß er gleichfalls weinte, faßte sie ihn erschrocken bei der Schulter:

Was fehlt Ihnen denn, Herr Willibald? Sie brauchen doch nicht zu weinen. Sie kommen ja in Ihre Heimat, wo es Ihnen gut geht.

Kind, Kind, antwortete er, fühlst du denn nicht, was es mich kostet, dich so zurückzulassen!

Da sah sie ihn ganz verwundert durch ihre Tränen an und rüttelte sich plötzlich auf, wie um seinen Kummer nicht zu vermehren.

Wirst du mir denn dann und wann schreiben? fragte er noch einmal dringend, da sagte sie zögernd: Ich weiß nicht. Dann wandte sie sich plötzlich um und ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, verschwand sie raschelnd in dem Gebüsch, aus dem sie gekommen war.

*

Willibald lebte wieder in Deutschland und widmete sich als Lehrer an einem Töchterinstitut mit ganzer Kraft seiner Aufgabe. Von Miravalle her war ihm die Neigung geblieben, lieber Mädchen als Knaben zu unterrichten. Das stille Leid, das er aus Italien mitgebracht hatte, verkroch sich unter dem Zwang der Tätigkeit in den innersten Winkel seines Gemüts und verblaßte allmählich. Er suchte die jungen Seelen, die ihm anvertraut waren, zu sich emporzuheben, indem er ihnen sein bestes gab, und manches gute Kind war darunter, das ihm mit dankbarer Neigung vergalt, aber keine blickte ihn je aus so märchenhaften Augen an wie die kleine Waldnymphe von Miravalle. Zu ihr kehrten seine Gedanken noch oft zurück, aber der äußere Zusammenhang hatte sich nicht aufrecht erhalten lassen. Auf seine Briefe kam niemals Antwort. Ein einziges Mal im Frühjahr hatte Arabella geschrieben; ob dies der erste Brief war, der an ihn abging, ob die seinen sie erreicht hatten, war nicht daraus zu ersehen. Aber in ihre Nachrichten über Lando, der längst in seine alte Natur zurückgefallen sei, und über einen neuen Hauslehrer, der sich nach acht Tagen wieder empfohlen habe, klang ein so schmerzlich süßer Ton hinein, daß Willibald danach viele Tage wie ein Träumender umherging.

»Ich stehe noch öfter als sonst auf meinem Luginsland«, schrieb sie, »und spähe die Straße hinunter, aber die Gestalt, die ich am liebsten da unten auftauchen sähe, kommt wohl niemals wieder dieses Weges.

Cora, das wunderliche Kind, schickt Ihnen Grüße! Zum Briefschreiben ist sie nicht zu bewegen. Aber sie hat Sie nicht vergessen. Ich weiß von den Bauern, daß sie die ersten Tage nach Ihrer Abreise stundenlang laut schreiend und Ihren Namen rufend in der niedergelegten Pineta und oben im Kastaniengehölze herumlief. Danach wurde sie noch stiller und bleicher als sonst und saß lange wie ein kranker Vogel. Jetzt aber blüht sie wieder auf, denn wir erwarten den Besuch meiner Schwägerin Costanza, die mit ihren Kindern den ganzen Sommer und noch einen Teil des Herbstes bleiben wird. Das bringt Leben und Freude ins Haus. Soeben räumt Cora Ihr ehemaliges Zimmer für die Tante und deren Jüngstes ein, ich höre ihren Gesang durchs offene Fenster bis in das grüne Laubversteck, wo ich mit meinem Schreibzeug sitze.«

Im gleichen Sommer war dann noch eine Ansichtskarte mit dem Kirchlein von Lolliga gekommen, von Coras eigner Hand mit ungelenken deutschen Buchstaben, die sie von ihm gelernt hatte, adressiert. Unter dem Bilde stand mit derselben steifen Schrift der Name Cora und nichts weiter. Aber die wenigen Krakelfüße sagten ihm mehr als seitenlange Ergüsse. In ihnen war ihm das schlanke rätselhafte Kind leibhaft nahe, er sah sie durch die Wälder von Miravalle irren, seinen Namen rufend und wußte nicht ob dabei sein Leid oder seine Freude größer war. Dann wieder sah er sie in seinem Zimmer hantieren, sah all die kleinen Gegenstände, die zu seinem Gebrauch gedient hatten, durch ihre Hände gehen, während sie ein Liedchen sang. Und er war froh, daß sie nun doch wieder singen konnte, wenn auch ihr Freund und Helfer in der Ferne war. Noch mehr freute er sich über den Besuch der Verwandten, mit denen, wie er hoffte, der Friede im Hause Corradi einziehen würde, denn in dieser Schwester und Schwägerin begegnete sich ja die Zuneigung beider Ehegatten. Cora würde einen friedlichen Sommer haben ohne Angst und Herzensnot, und wenn sie nur erst alle wieder um ein Jahr älter wären, so würden sich gewiß auch die Gegensätze mildern. Vielleicht griff auch das Schicksal unversehens ein und brachte eine Wendung zum Besseren. Er schrieb an Mutter und Tochter und schrieb, da die Antwort ausblieb, in kürzeren und längeren Pausen immer wieder; umsonst der Faden blieb zerrissen.

Doch für Willibald gab es kein Vergessen. Die himmlische Schönheit jenes Ortes, das Zusammenleben mit den sonderbaren, ihm doch innerlich so nahen Menschen stand fort und fort als der höchste lichtverklärte Gipfel über allen Erinnerungen seines Lebens. Und niemals wich die Sehnsucht nach Sonne und sommerheißen Pinienwäldern aus seiner Seele.

Aber stärker um das Glück zu werben, ihm die Rückkehr ins Land seiner Liebe abzuringen, das lag nicht in Willibalds Natur; er hatte stets gewartet, bis die Dinge an ihn herankamen. So wartete er auch jetzt und ließ die Jahre rinnen.

Sein altes Mütterlein führte ihm die Wirtschaft, und das bescheidene Einkommen reichte gerade für beider Bedürfnisse aus. Ans Heiraten dachte er nicht. Er saß wohl und warm im Dunstkreis der Mutterliebe wie in einem warmen Bade, aus dem man nicht herausverlangt. Und wenn die Gute sich auch manchmal Gedanken machte, was aus ihrem Willibald werden sollte, wenn sie nicht mehr da war, so tat es ihr doch im stillen wohl, daß er ihre Winke in dieser Richtung mit Lächeln abwehrte. Ja, wenn sich eine gefunden hätte, die der kleinen Cora von Miravalle glich! Willibald hatte ihr von der jungen Waldfee gerade genug erzählt, daß das Mutterherz den Eindruck ahnen konnte, den sie in der Seele des Sohnes hinterlassen hatte.

 

Eines Tages kam Freund Hagen, der ein sehr gesuchter Architekt geworden war, in die Stadt und verabredete mit Willibald ein Stelldichein beim Weine.

Schon wollte ihn dieser auf Umwegen nach seinen Verwandten in Miravalle fragen, als der andere sagte:

Daß dein Widersacher, der Kapitän Corradi, tot ist, wirst du ja wissen.

Nein, ich hatte nichts gehört. Woran starb er?

Er wurde von einem Bauern im Streit erstochen. Ich las zufällig die Schwurgerichtsverhandlung in einer Florentiner Zeitung. Der Mensch zuckte das Messer auf den Kapitän, weil der ihm einen Stoß vor die Brust gegeben hatte. Da warfen sich dessen eigene Bauern dazwischen und hielten beide fest. Aber der andere machte sich frei, es heißt, sie hätten ihn absichtlich losgelassen, und stieß dem Kapitän das Messer bis ans Heft ins Herz. Der brach ohne einen Laut in den Armen, die ihn umschnürten, zusammen. Der Täter, ein allgefürchteter Händelsucher und ein wahrer Landschaden, sitzt auf Lebenszeit im Zuchthaus. Die Bauern aber sollen sich heimlich ins Fäustchen lachen, denn sie sind zwei Unbequeme auf einmal los. Das Gut wird jetzt von einem Fattore für die Hinterbliebenen verwaltet, die sich nach England begeben haben.

Ach so – nach England. Weißt du nichts näheres von ihnen?

Nein, nur von dem Schlingel Lando wurde mir gesagt, er sei schon bei Lebzeiten des Vaters zu seinen mütterlichen Verwandten nach Canada abgeschoben worden. Armer Corradi. Auf dem Friedhöfchen von Lolliga liegt er neben der kleinen Cora begraben, ich habe die Stelle selbst gesehen.

Neben Cora! hauchte Willibald, dem das Herz still stand.

Hast du auch davon nichts erfahren? sagte der Freund. – Ach freilich, sie versandten keine Anzeigen, und Arabella schreibt ja niemals. Ich selber habe es nur auf Umwegen gehört. Der Scharlach war im Hause ausgebrochen, da hat sie sich bei der Pflege des jüngsten Brüderchens den Tod geholt.

Willibald saß von der unerwarteten Nachricht betäubt. Er berichtigte nur mechanisch:

Des Schwesterchens.

Meinethalben war es ein Schwesterchen. Ich habe mir den schreienden Balg seinerzeit nicht so genau angesehen.

Und wann – wann starb Cora?

Laß sehen. Vor anderthalb Jahren war ich zuletzt in Italien, wo ich leider Arabella nicht mehr antraf. Damals war die Sache mit dem Kapitän noch neu, so ein sechs, acht Monde her. Und zwei Jahre vorher, im August, sagte man mir, sei die arme Cora gestorben. Sie sah ja immer nach frühem Sterben aus. Aber ein eigenes Geschöpfchen ist sie gewesen, es tat mir herzlich leid um sie.

 

Von dieser Stunde erfüllte Cora aufs neue Willibalds ganze Seele. Seit er sie tot wußte, war sie für ihn lebendiger als je. Das Wesen der Frühgeschiedenen trat ihm wieder so nahe wie in den Tagen von Miravalle. Also gerade ein Jahr nach seiner Abreise war das Waldkind gestorben, waren ihre Lieder für immer verhallt! Er konnte sich von der Vorstellung nicht losreißen, sie sei durch ein rohes Wort des Vaters über ihr dunkles Verschulden aufgeklärt worden und habe mit Bewußtsein den Tod des Brüderchens gesühnt, indem sie ihr Leben für seinen Liebling Nerina hingab. Cora wurde ihm zur Märtyrerin, zur rührenden kleinen Heiligengestalt.

Sie war dahingegangen und er hatte ihr nichts mehr sein können! Vielleicht hatte sie aus der Ferne noch einmal die Arme nach ihrem Freund und Helfer ausgestreckt, und er war taub geblieben, hatte nichts gefühlt, nichts geahnt!

Seiner Mutter verschwieg er den Tod des Mädchens, um sie nicht zu betrüben. Er hegte in aller Heimlichkeit sein Leid, und die Erinnerung vergöttlichte ihm das liebe Bild. In jedem Tierchen liebte und schützte er ein Vermächtnis seiner kleinen Nymphe. Ich werde ein besserer Mensch werden, sagte er sich; mit einem solchen Vorbild kann man nicht klein und selbstsüchtig sein. – Wenn die Sommersonne auf die Tannenwälder schien, daß das erwärmte Harz nach den Pinien von Miravalle duftete, so schwebte ihr Geist ganz nahe um ihn, er redete oft leise mit ihr und meinte aus Bäumen und Gräsern ihre Antwort zu vernehmen.

*

Wieder baute der toskanische Landmann seinen kunstreichen Schober, und die Goldammer schmetterte über den frischen Stoppeln ihr Lied in die Bläue des Himmels, als ein Mann, dem man den Fremden und den Deutschen von weitem ansah, in noch kühler Morgenstunde den Feldweg hinwanderte, der ein Stündlein oberhalb der Bahnstation in die nach Lolliga führende Landstraße mündet. Ein altes romanisches Kirchlein, das ihn von weitem mit bekannten Augen anblickte, gab seinen Schritten die Richte.

Der Mann trug den Hut in der Hand, denn er war schon eine Strecke gegangen. Sein Scheitel war nicht mehr so dicht wie vor zehn Jahren, als er zum erstenmal diesen Weg gewandert, und ein verfrühtes Grau mischte sich in sein glanzloses Dunkelblond. Auch setzte er den Fuß nicht mehr so leicht auf wie damals der Vierundzwanzigjährige unter der Last des schweren Rucksacks, der das Staunen aller Vorübergehenden erregt hatte. Aber der toskanische Landbewohner hat ein langes Gedächtnis, darum wunderte sich der Ankömmling nicht allzu sehr, als ein alter Hausierer, dem er im Hause Corradi seinen Bedarf an Seifen und Schuhnesteln abgekauft hatte, an den durchlöcherten Hut griff und im Weitergehen gleichmütig sagte: Guten Tag, Sor Baldo! als hätte er ihn gestern erst gesehen. Gerne hätte der frühe Wanderer den Mann gestellt, um ein paar Worte zu wechseln, aber er mochte den traumhaften Zustand, in den er sich versetzt fühlte, nicht unterbrechen. Doch in der Nähe des Kirchleins holte ihn ein junger Bauer ein, der ein Öchslein vor sich hertrieb, und jetzt gab es eine laute Begrüßung. Es war ein Sohn des ehemaligen Colonen von Miravalle, der als halbwüchsiger Junge jenes Tages mitgesichelt hatte, da Willibald sich in den Finger schnitt. Ihr Weg ging eine Strecke weit zusammen, denn der junge Mensch, der übrigens schon verheiratet und Vater war, arbeitete auf einer Tenuta im Violanatal, und Willibald strebte auf den Spuren der Erinnerung den alten lieben Orten zu.

Sie werden dort vieles verändert finden, sagte der junge Bauer. Die schöne Kastanienwaldung ist auch geschlagen. Das Gut wurde in diesem Frühjahr verkauft, und der neue Eigentümer hat alles umgeorgelt.

Natürlich sprach man auch vom Tode des Kapitäns, und Willibald wollte näheres über den Hergang wissen.

Der Bauer schwieg zuerst, dann sagte er in seinem schönen Toskanisch, das so gebildet klang wie die Rede der Vornehmen:

Nun ja, jetzt kann man ja davon sprechen, der alte Canali ist tot, und der Beppe kommt nicht wieder! Beide hatten es dem Herrn Kapitän seit lange geschworen, noch von den Zeiten der Annetta her. Unser Padrone, Gott hab ihn selig, Sie wissen ja, was für ein schöner Mann er war, und die Weiber brennen schneller als ein Strohwisch. Aber der Alte hatte gute Schweigegelder bekommen und hätte können zufrieden sein. Da wollte es das Unglück, daß der Herr Padrone auf der Fiera von Lolliga ein paar Worte mit der Frau des Beppe sprach, versteht sich, in allen Ehren mitten unter den Meßbuden, darüber brach an dem Beppe die Tollwut aus.

Also in Lolliga geschah die Tat?

Ja, Herr, auf dem Marktplatz am hellichten Tage.

Schade, schade um den prächtigen Mann, sagte Willibald, der die erlittene Unbill längst verziehen hatte und sich nur noch an das Gute erinnerte. – Und was wißt Ihr von Euerer ehemaligen Padrona?

Die Damen sollen dieses Frühjahr auf ein paar Stunden nach Lolliga gekommen sein, aber ich habe sie nicht gesehen. Sonst leben sie im Ausland.

Die Damen? Willibald besann sich, ach ja, nun mußte ja auch Nerina nahezu erwachsen sein, gewiß eine frühreife Schönheit. Was er von den Veränderungen auf Miravalle gehört, hatte ihm plötzlich die Lust zu einem Besuche dort genommen; es war besser, die Bilder der Erinnerung, die so lebendig in ihm waren, nicht durch einen fremden Anblick zu zerstören. Nachdem er sich von seinem Begleiter verabschiedet hatte, der ihn mit toskanischer Gastlichkeit einlud, doch ja auf dem Rückweg ein Glas Wein in seinem Häuschen zu trinken, ging er statt nach Miravalle abzubiegen, geradeswegs die Straße nach Lolliga weiter.

Da war das Kirchlein, das er zuerst in Coras Begleitung betreten hatte. Da war das Friedhöflein mit dem grünen Rasen und dem Muttergottesbild in dem niederen grauen Mäuerlein. Die zwei Zypressen, die es beschatteten, waren mächtig emporgewachsen, sonst hatte sich nichts verändert. Die Amseln sangen und hüpften wie damals zwischen den Steinen. Auch die Zahl der Bewohner hatte sich nur um wenige vermehrt. Die Gräber von Vater und Tochter lagen dicht nebeneinander an der Mauer; die Schatten, die einst zwischen den beiden standen, schien der Tod hinweggewischt zu haben. Auf dem des Kapitäns, das ein weißer Marmorblock schmückte, lagen welke Kränze und Blumen, gewiß vom letzten Besuch der Witwe her. Der Ruheplatz des wilden Waldkindes trug nur ein kleines, fast allzu kleines Steinkreuz mit der Inschrift: Ihrer Cora die trostlosen Eltern. War das eine bloße Redensart oder hatte auch der Vater eingesehen, was sie an ihr verloren? Im übrigen lag das Grab verwahrlost und verwildert, nur in den steifen Immortellenkranz, der sich um das Kreuz schlang, war wie aus Mitleid ein einziger Strauß Narzissen gesteckt.

Ein uraltes Weiblein, ein wandelndes Zittern, trat aus der Kirche und wankte mit einem Gruß vorüber. Willibald schenkte ihr eine Hand voll Kupfergeld, wofür sie ihm allen Segen des Himmels anwünschte. Das zitternde Alter hatte der Tod verschont, und da unten lag die holde Jugend, die so wert war zu leben.

Willibald säuberte den Hügel sorglich von dem wuchernden Unkraut und legte einen Strauß herrlicher Rosen darauf, den er unterwegs von einer Mauer geschnitten hatte. Dann setzte er sich auf das Mäuerchen, wo er ehedem mit ihr gesessen, und lebte den Sommer von Miravalle noch einmal Tag für Tag und Stunde für Stunde in verklärender Erinnerung durch.

Des andern Tages fuhr er nach Pisa, um auch das Fischerdorf wieder zu sehen, wo er seine ersten Monate auf italienischer Erde verbracht hatte. Es war zu einem besuchten Bade- und Fremdenort geworden. Den einsamen Strand, auf dem er mit nackten Beinen das Netz hatte ziehen helfen, deckten jetzt buntbewimpelte Holzbaracken und frisch duftende Laubhütten, unter denen die Badegäste den salzigen Anhauch der See einatmeten. Die Jugend beiderlei Geschlechts tummelte sich in der stark bewegten Flut. Sie hielten sich bei den Händen, lange Ketten bildend, damit die Damen nicht weggerissen würden, und sprangen mit der hohen Welle, ehe sie sich brach. Einzelne kühnere Schwimmer schossen mit dem Kopf unter der stürzenden durch und ließen sich im Gischt begraben. In einer Gruppe ging es besonders lustig zu; da hatte jedes ein Brett im Arm, sie warteten die anrasende Woge ab, warfen sich hart vor ihr mit dem ganzen Oberkörper auf das Brett und ritten so von Schaum verhüllt zum Strande, wo das Brett mit Gewalt in den Sand fuhr.

Willibald sah dem Spiele, das ihm neu war, ein Weilchen zu. Auf einmal hörte er aus der donnernden Brandung seinen Namen rufen. Er sah verwundert umher und glaubte an eine Gehörstäuschung. Da rief es noch einmal und lauter als zuvor. Und jetzt erkannte er im brodelnden Wellenspiel einen Mädchenkopf mit hängendem Haar, der einen Augenblick zu ihm aufsah und gleich darauf in Schaum und Gischt wieder untertauchte.

Aber schon die nächste Woge rollte einen jugendlichen Körper auf den Sand, der während die Flut zurückrauschte, mit aalgleicher Behendigkeit auf die Füße sprang.

Kennen Sie mich nicht mehr, Herr Willibald?

Ein herrliches Geschöpf stand vor ihm. Ihr kurzer, schwarzseidener Badeanzug, der nur bis zu den schlanken Knieen reichte, deutete die vollkommensten Formen an; was er freiließ, war einer Göttin würdig. Der wundervoll geschwungene Schwanennacken trug einen kleinen beweglichen Kopf mit halbgelöster dunkler Flechte, die triefend herabhing. Weiße Schaumflocken saßen ihr wie Blumen im Haar.

Ihr reizendes Gesicht war noch verschleiert von Feuchtigkeit, ihre Augen schimmerten grünlich.

Erinnern Sie sich nicht mehr an die kleine Cora Corradi?

Kannten Sie die kleine Cora Corradi? fragte er mit stockendem Atem zurück.

Er war bleich wie ein Laken und jeder Nerv an ihm bebte.

Machen Sie doch die Augen auf, Sie kurzsichtiger Herr, ich bin es ja selber.

Das ist geträumt, geträumt, gleich wird der Spuk verflogen sein, sagte sich Willibald.

Aber sie trat näher und gab ihm mit kräftigem englischem Druck die Hand, die sich sehr lebendig anfühlte.

Ich wußte nicht, daß Sie – daß Sie noch leben, brachte er endlich mühsam hervor.

Sie lachte kurz auf. Ja, das war ihr altes Lachen, nur daß etwas ihm fremdes mitklang. Freilich eine solche Gestalt und den Tod zusammen zu denken, war wunderlich. Aber dann schien sie seine Worte als Vorwurf wegen ihres Verstummens zu deuten, denn sie sagte:

Mama hatte Ihre Adresse verloren, deshalb konnten wir nicht mehr schreiben.

Und wie geht es Ihnen denn? fuhr sie fort. Sie tragen keinen Ring, sind Sie nicht verheiratet? Wie schade.

Eine Gruppe junger Leute war ihr aus dem Bade gefolgt und stand in höflicher Entfernung vor den Sprechenden. Nur einer, der nähere Rechte zu haben schien, trat heran, um ihr den flockigen Bademantel zu reichen, den er vom Boden aufgehoben hatte.

Cora befahl ihm in englischer Sprache, den Mantel voraus in die Baracke zu tragen.

Dann wandte sie sich wieder zu Willibald:

Und jetzt führe ich Sie zu Mama. Wie die sich freuen wird.

Sie eilte ihm leichtfüßig über den lockeren Sandboden voran, zwischen den Gruppen der umherschlendernden oder im Sande eingegrabenen Badegäste durch, die ihr alle nachschauten. Frei und lächelnd ging sie hin, ohne die Blicke herauszufordern oder sie zu scheuen, im Bewußtsein makelloser körperlicher Vollkommenheit. Es war nichts auffallendes dabei, auch die übrigen Badegäste bewegten sich mit solcher Freiheit. Doch fühlte man ihrem ganzen Gebahren an, daß sie sich mehr herausnehmen durfte als andere. Zuweilen hielt sie inne, damit er ihr mit seinem schweren Schuhwerk folgen konnte, und währenddessen spielte sie mit den beweglichen Zehen, deren er sich so wohl erinnerte, im Sand. Ihre Füße blinkten, daß dem ganz betäubten Willibald, dessen Gedanken in der Irre liefen, das Wort Homers von der silberfüßigen Thetis einfiel.

Sie führte ihn unter eine der frischen Laubhütten, wo ein Mädchen im Alter zwischen Kind und Jungfrau mit dem jungen Mann von vorhin schäkerte.

An der Ähnlichkeit mit dem Vater erkannte er das ehemalige Baby. Sie hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht, das ein wenig zum Vogelartigen neigte, und Augen wie zwei Feuerräder, jene Art schwarzer Augen, die vor lauter Glanz gar keinen Ausdruck haben.

Wo ist Mama? rief ihr Cora entgegen.

Sie deutete lässig nach dem Haus, indem sie den Ankömmling mit kritischen Blicken musterte.

Nerina, begrüße den Herrn, es ist ein alter Freund der Familie, Herr Willibald Moor, den du oft hast nennen hören, wenn du dich auch seiner nicht erinnerst.

Das Mädchen reichte ihm kühl die Hand und wandte sich dann wieder dem jungen Manne zu.

Im Hause fanden sie Arabella, die ihn auf den ersten Blick erkannte. Ihre Hände zitterten, daß ihr das Blumenglas, das sie eben ordnen wollte, entfallen wäre, wenn es Cora nicht schnell ergriffen hätte. Dann mußte er sich mit ihr an den schön bereiteten Teetisch in die grüne Dämmerung einer großen Rebenlaube setzen, deren Blätterdach durch abgehauene ungeschälte Baumstämme gestützt war, daß man sich im Walde glauben konnte.

Cora ging sich umzukleiden. Noch fassungslos starrte er dem farbenprächtigen Schmetterling nach, der sich aus der unscheinbaren grünen Raupe entwickelt hatte. Immer konnte er noch nicht glauben, daß sie wirklich dieselbe sei.

Nicht wahr, das ist eine erstaunliche Veränderung? sagte die Mutter hinter ihr her. Gleich mit unserem Wegzug von dem alten Boden begann sie so wunderbar aufzublühen, daß man das Häufchen Trübsal aus Miravalle gar nicht mehr erkannte.

Ja, eine wunderbare Veränderung, antwortete er, aber sein gepreßter Ton paßte nicht ganz zu den Worten.

Unbeschreibliche Gefühle kämpften in seiner Brust. Er hätte sich freuen müssen, daß sie lebte und glücklich war, aber das unerwartete Wiedersehen, das jenseits aller Hoffnung lag, ängstigte ihn mehr als es ihn beglückte.

Ich war gestern in Lolliga, begann er zögernd nach einer kleinen Pause.

Arabella drückte ihm die Hand, Tränen standen in ihren Augen.

Wer liegt in dem zweiten Grab? fragte er mit Überwindung.

Meine Nichte, das Töchterchen meiner Schwägerin Costanza. Sie hieß nach unserer Cora und war nur wenige Jahre jünger. Ein Kind wie ein Engel. Sie wollte sich nicht von ihrem scharlachkranken Brüderchen trennen, erkrankte selbst und starb in unserem Hause. Auch die meinen lagen damals krank. Ach, was ist nicht alles über mich ergangen, seit Sie uns verließen.

Wer sich nicht verschönert hatte, war Arabella. Ihr Kopf war viel zu groß geworden, und die ganz ergrauten, wenngleich noch vollen Haare ließen ihre Züge verschwommen erscheinen. Aber ein Ausdruck unendlicher Güte lag darauf, und ihr Wesen war um vieles weicher und nachgiebiger geworden. Man sah, ihre Umgebung machte jetzt mit ihr, was sie wollte.

Ich habe Ihnen öfters geschrieben, begann er wieder, haben Sie die Briefe nicht erhalten?

Sie errötete plötzlich, und beide wußten jetzt, wer sie aufgefangen hatte.

Cora kam im weißen ausgeschnittenen Spitzenkleid, das ihre Schönheit noch strahlender machte, eine Wasserlilie im aufgesteckten Haar. Sie war feenhaft anzusehen, aber trotz ihrer hinreißenden Liebenswürdigkeit blieb ihm das Herz zusammengeschnürt. Ihre Augen glänzten jetzt tiefgrün unter dem Laubdach. Doch was aus ihnen blickte, war nicht mehr die stille tiefe Seele des Waldes, dieser phosphoreszierende Schimmer gehörte den Augen einer gefährlichen, ihrer Macht bewußten Meerfrau an.

Arabella erzählte ihm soeben, daß sie nach Italien gekommen seien, um den Verkauf des Gutes persönlich zu vollziehen.

Cora sagte dazwischen:

Ja, Mama hat sich endlich auf unser dringendes Zureden entschlossen, den alten Kasten zu verkaufen, denn wir brauchten Geld. Sie wollte lange nicht daran; sie hing an diesem Bauernhaus und den paar Hufen Landes, wo Fuchs und Wolf sich Gute Nacht sagen.

Willibald blickte von der Tochter auf die Mutter, und die grauhaarige Frau mit dem stumpfen Blick erschien ihm plötzlich verehrungswürdig, weil sie die Treue kannte.

Aber Ihr Wald, Fräulein Cora, Ihr herrlicher Wald? Die Bäume, auf denen Sie einst zu Hause waren!

Gerade die trugen uns am meisten ein, wir ließen sie zuvor noch schlagen.

Erinnern Sie sich nicht mehr, wie Sie um die Pineta weinten? fragte er nach einem kurzen Schweigen.

An solche Einzelheiten erinnerte sie sich nicht. Aber sie wußte wohl, daß sie damals noch recht kindisch war. Und wenn ich mich nicht irre, setzte sie hinzu, war der Herr Hofmeister auch nicht viel weiser.

Ihr schelmisches Lächeln war bezaubernd, aber ihm schnitt es wie ein Schwert durch die Seele. Das Bild der kleinen Waldnymphe mit den traurigen Augen sah ihn noch einmal an, dann verschwand es auf immer hinter den knorrigen Stämmen der Laube.

Die dicken Rebengeflechte, die sich um die Stützen wanden und verschlungen am Boden krochen, veranlaßten ihn zu der Frage:

Lieben Sie die Schlangen noch, Fräulein Cora?

Schlangen! lachte sie. Jawohl, ich bin jetzt selber eine. – Dabei blitzten ihre Perlenzähne, und ihre Augen begannen stärker zu schillern.

Ein Trupp junger Leute mit Mandolinen und Gitarren drang lärmend ein. Willibald bemerkte jetzt erst, daß der Teetisch für eine größere Anzahl Gäste gedeckt war. Sie wurden alle vorgestellt, italienische und englische Namen schwirrten unverstanden an seinem Ohr vorüber. Ein allgemeines Durcheinanderlachen und Schreien begann. Der Ton war ein etwas wilder, aber Cora regierte sie alle mit ihren Blicken.

Auch Nerina hatte sich eingefunden und benutzte ihre äußere Kindlichkeit, um mit den jungen Männern zu balgen und sich gelegentlich dem einen oder dem andern auf den Schoß zu setzen. In Haltung und Geberden ahmte sie sichtlich der älteren Schwester nach, nur ohne den Schmelz, der über allem lag, was Cora tat. Diese, die in immerwährender Bewegung war, hatte für jeden einen Blick und ein rasches Wort, aber sie vergab sich nichts, und die Freiheiten, die sie sich nahm, durften ihr wie einer Königin nicht erwidert werden.

Ihren ehemaligen Lehrer behandelte sie mit ausgesuchter Aufmerksamkeit und bediente ihn immer selbst beim Tee. Er hörte auch, wie sie einem ihrer Verehrer, demselben, den er zuerst gesehen hatte und der ein Verwandter zu sein schien, in wohlwollendem Tone über ihn sprach:

A dear old gentleman, we used to be such friends.

Mit jeder Minute wuchs sein Schmerz, als ob ihm an diesem Abend sein Teuerstes entrissen worden wäre.

Die Mutter verwickelte ihn wieder ins Gespräch:

Nach Lando fragen Sie gar nicht?

Wie geht es ihm in Kanada? fragte er mechanisch.

Er ist ein wackerer Mensch geworden, fleißig in seinem Beruf als Ackerbauer und Viehzüchter und hat schon Familie, so jung er ist. Ihnen bewahrt er ein dankbares Andenken und hat sich schon oft nach Ihnen erkundigt. Das hätten Sie wohl gar nicht erwartet?

Nein, das hätte er nicht erwartet; es war alles anders als er es erwartet hatte, und ehe die Musik begann, erhob er sich gequält, um zu gehen.

Aber Arabella hielt ihn fest:

Sie müssen doch bleiben und Cora singen hören.

Jetzt erfuhr er, daß Cora sich zur Sängerin ausgebildet hatte.

Sie waren es, der den ersten Anstoß dazu gab, erinnern Sie sich noch? Nach ihres Vaters Tode bemühten sich meine Verwandten um ihre Ausbildung. Sie ist schon wiederholt mit großem Erfolg in öffentlichen Konzerten aufgetreten.

Cora sang. Sie hatte einen reichen, trefflich geschulten Mezzosopran und einen Vortrag voll Kraft und Feuer. Aber es war nicht mehr die freie Kehle des Waldvogels, und dem alten Freunde wollte es scheinen, als habe ihre Stimme einst einen anderen geheimnisvolleren Klang gehabt. Die Zuhörer umdrängten sie mit stürmischer Bewunderung, der eine bat um dieses, der andere um jenes Lied, und Cora wußte durch Gewähren und Versagen sich zu jedem in eine besondere Beziehung zu stellen, die bedeutsam scheinen konnte, während sie vielleicht keinen von allen ernst nahm.

Sie könnte die glänzendsten Partien machen, flüsterte ihm die Mutter zu. Aber sie entschließt sich nicht. Es macht mir oft rechte Sorgen. Man kann doch nicht immer singen. Bitte, reden Sie ein Wort mit ihr. Sie haben immer so viel bei ihr gegolten.

Wird hier über die ungeratene Tochter verhandelt? fragte Cora, indem sie sich lächelnd zu ihm setzte.

Der alte Hofmeister ist beauftragt, mit der schönen Wasserfrau über ihre Zukunft zu reden, sagte Willibald, sich gleichfalls zum Lächeln zwingend.

Meine Zukunft denke ich mir sehr einfach: So lange meine Stimme, die nicht groß ist, ausreicht und einen Schwarm von Verehrern um mich sammelt, will ich sie sämtlich an der Nase herum führen. Läßt einmal die Stimme nach, so suche ich mir den Reichsten aus und erhebe ihn zum Rang eines Gatten. Und unterdessen will ich noch sehr viel lachen, tanzen und mich meines Lebens freuen.

Man schied mit beiderseitiger großer Herzlichkeit. Aber eine Herbstempfindung schauderte durch Willibalds Seele, als er wieder in der Eisenbahn saß. Er fühlte sich mit einem Male unsäglich arm und unsäglich alt auf einer blühenden Erde, die ihn nichts mehr anging. Und sein Hirn arbeitete lange vergeblich, um die heutigen Eindrücke unterzubringen. In der Pflanzenwelt, dachte er, ist man doch sicher, daß aus einer Lilienzwiebel keine Tulpe wächst, wer aber weiß, was aus einer jungen Menschenpflanze werden kann? Und dafür hat man die Kinderseelen zu seinem Lebensstudium gemacht! Sie wird einen dieser Laffen heiraten und auf ihre Weise glücklich sein. Aber wissen möchte ich, ob nicht in ferner, ferner Zeit, wenn das Ballfest der Jugend durchgetanzt ist und die grauen Tage beginnen, die für solche Kinder des Genusses noch grauer sind, ob nicht dann einmal doch wieder ein Hauch aus den Wäldern von Miravalle durch ihre Seele ziehen und sie an den Freund und Helfer ihrer Kindertage erinnern wird.

Sehr zerstreut und sehr wortkarg kehrte Willibald von seiner italienischen Reise zurück. Die Mutter wartete mit Spannung auf eine Nachricht von Cora.

Als er stumm blieb, wagte sie ihn geradezu nach der Waldnymphe zu fragen.

Da drückte er mit abgewandtem Gesichte ihre Hand:

Lassen wir sie ruhen. Sie ist noch als Kind am Scharlach gestorben; es sind schon viele, viele Jahre her.


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