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Es war einmal ein strahlender Held, der nahm eines Tages ein kleines, dunkeläugiges Mädchen auf den Arm, küßte es und sagte: »Das ist mein Bräutchen. Behütet mir's gut, bis es groß ist und ich kommen kann, es zu holen.«
Des Kindes Vater war sein Duzfreund aus Jugendtagen und der Ort, wo sie lebten, seine Geburtsstadt, die er nach langer Abwesenheit besuchte.
Das kleine Mädchen spielte wieder mit seiner Puppe, und niemand dachte, daß ihm die Worte des Mannes einen tieferen Eindruck hinterlassen hätten.
Dieser aber zog mit wenigen Begleitern in einen unerforschten Erdteil, in ein mörderisches Klima hinaus. Durch tausend Gefahren bahnte er sich den Weg, um fern von der Zivilisation unter wilden Völkerschaften auf jungfräulichem Boden Fuß zu fassen, wo er kämpfte und Verträge schloß und seinem Vaterlande neue Provinzen gewann. Strömen und Bergen gab er die Namen und schrieb den seinen in das Buch der Unsterblichkeit.
Aus den Schätzen des wilden Erdteils, den er erschlossen hatte, schickte er seiner Geburtsstadt eine große Ausbeute an Tierbälgen, an Waffen und Hausgeräten und anderen Erzeugnissen einer urtümlichen Kunst für ihr ethnographisches Museum.
Die Sendung begleitete ein Brief an seinen Duzfreund, der der Leiter des Museums war. Für das kleine Mädchen mit den dunklen Augen, das er sein Bräutchen genannt hatte, lag ein fremdartiges Schmuckstück bei, das Halsband einer wilden Königin, aus Glasperlen, Muscheln und leuchtenden Halbedelsteinen auf wundersame Weise zusammengesetzt.
Dem Kinde mußte seine Mutter die Hand zu einem Dankbrief an den großen Freund führen, worin es sich als sein Bräutchen unterschrieb.
Es brauchte fast ein Jahr, bis der Brief durch alle Hindernisse hindurch den fernen Helden erreichte. Dieser saß gerade um die Weihnachtszeit, wo die Tage heiß und die Nächte kalt waren, mit seinen Getreuen inmitten eines unterworfenen, aber unzuverlässigen Stammes und konnte Tag und Nacht die Waffe nicht von sich legen. Der Kinderbrief mit den großen ungelenken Buchstaben kam zu ihm wie ein himmlischer Weihnachtsgruß. Darum taufte er einen neu entdeckten Berg und den jungen Strom, der ihm entstürzte, auf den Namen des kleinen Mädchens: Perenna.
Die Kleine wuchs heran, aber sie wurde nicht wie andere Mädchen. Wenn sie mit ihrer Puppe spielte, so horchte sie auf die Gespräche der Großen, in denen der Name des Helden wieder und wiederkehrte. Dieser Name war wie ein Keim in ihrem Herzen, der mit ihr wuchs, von niemand gesehen noch geahnt. Sie wußte, daß ein Berg und ein Strom in Afrika nach ihr genannt waren. Wie hätte sie da werden können wie andere Mädchen?
Allein, sie wußte noch mehr. Sie wußte auch von den Taten, die ihr Held verrichtet hatte, und die Orte, die er durchzog, mit ihren fremdartigen Benennungen merkte sie sich alle. Als einmal ein Besuch ihre Mutter fragte, wo ihr großer Freund sich jetzt aufhalte und diese zur Antwort gab, er sei auf der Reise zur Küste in Ugogo eingetroffen, hob das Kind den Kopf von seinem Bilderbuch und sagte: »Nein, Mama, er ist jetzt schon in Bagamoyo.«
Darüber lachten alle. Als aber der Vater dazukam, fand es sich, daß sein kleines Mädchen recht hatte.
Er nahm sie nun häufig in sein Museum mit, um ihr die ausgestopften fremden Tiere, die Waffen, Geräte und Amulette der wilden Völker zu zeigen und sich an ihrer lebhaften Auffassung und dem Ernst und Eifer ihrer Fragen zu erfreuen. Seitdem redete und träumte die Kleine nur noch vom dunklen Erdteil; selbst ihre Puppen mußten afrikanisch zurechtgemacht werden und bekamen die Namen schwarzer Häuptlinge und Königinnen. Und so oft ihren Geburtstagslichtern ein neues hinzugefügt wurde, dachte sie ganz im stillen, daß es sie ihrem Helden wieder um ein Jahr näher bringe.
Sie hatte einen Spielkameraden, der Erich hieß und ein Sohn aus befreundeter Familie war. Dieser teilte ihre afrikanischen Freuden und lebte in ihrer Innenwelt mit. Obgleich er um mehrere Jahre älter war, mußte er sich doch zusammennehmen, um Perennas Fortschritten nachzukommen. Er war immer der Erste in seiner Klasse, aber wie fleißig er lernte und wie leicht er begriff, das kleine Mädchen, das in gar keine Schule ging und zu Hause unterrichtet wurde, begriff immer noch leichter und war weiter als er.
Das nahm Erich ihr nicht übel, denn er liebte sie. Die beiden steckten immer zusammen. Vor ihm hatte sie auch keine Geheimnisse. Sie erzählte ihm, wovon sie nie mit ihren Eltern sprach, daß sie die Braut des strahlenden Helden sei.
Da wurde Erich böse.
»Du bist zu dumm,« sagte er. »Der Held hat seinen Spaß mit dir gemacht. Wie kannst du denn seine Frau werden? Bis du groß bist, ist er ein alter Mann. Du bist im Alter für mich recht, nicht für ihn.«
»Für dich!?«
Der Ausdruck, mit dem sie die zwei Wörtlein sprach, machte ihn knirschen und des Nachts in seine Kissen schluchzen. Aber er nahm sich vor, ganz stille zu sein und alle Kräfte anzuspannen, um einmal, wenn er groß wäre, eben solche Taten zu verrichten und ebensolchen Ruhm zu gewinnen, damit Perenna einsähe, daß sie für ihn und nicht für jenen geschaffen war.
Das Kind erblühte zu einer fremdartigen, geheimnisvollen Schönheit. Schon spielte sie nicht mehr mit Puppen, sie las und las. In der Bibliothek ihres Vaters hatte sie die Bücher entdeckt, in denen ihr großer Freund von seinem Leben und seinen Taten erzählte. Die versteckte sie unter ihrem Kissen und verschlang sie, wenn sie sich unbeobachtet wußte, in einem Winkel des Hauses. So oft jemand vorüberging, deckte sie einen Band von Brehms Tierleben darüber, den ihr Erich geliehen hatte. Zwar stand ihr frei, zu lesen, was sie wollte, und ihren Eltern wäre es niemals eingefallen, von einem ernsten Buche zu sagen, es schicke sich nicht für kleine Mädchen, aber sie scheute sich, die Erwachsenen in ihr Geheimnis blicken zu lassen.
Jetzt erlebte sie mit ihm Schritt für Schritt die große Unternehmung, der er den ersten Ruhm verdankte, und die ihr bisher nur wie eine Legende in die Ohren geklungen hatte. Sie war dabei, wie er in Sansibar die schwarzen Träger, die Reittiere und die Warenballen für den Tauschhandel im Innern beschaffte und seine kleine Suahilitruppe bewaffnete. Dann begann der unvergeßliche Zug, der sich las wie die Gesänge der Odyssee, die sie durch Erich kannte. Das erste Eingeborenendorf, dem der »Hongo« mit Glasperlen und buntem Baumwollzeug bezahlt werden muß, das nächste, das sich zur Wehr setzt und mit Flintenkugeln zum Frieden gezwungen wird, der Marsch durch den Urwald, wo man sich mit Äxten Bahn baut. Und die Wunder der Pflanzenwelt, die Lianen, die wie Strickleitern an den Baumriesen niederhingen, das scharfe Gras, in das ein weißer Fuß nicht treten durfte, weil es schnitt wie Schwerter. Und gar das tausendfältige Leben der Tiere, der großen und kleinen, vom brüllenden Elefanten bis zu der weißen Ameise, die ganze Zelte fraß.
Das war ein sonderbares Lesen, wobei das Gelesene sogleich zur Handlung wurde, an der die kleine Leserin selber teilhatte. In all die schönen oder schauerlichen Ereignisse wurde sie mit verstrickt.
Im Urwald fiel der Reitesel, der sie getragen hatte, sie wurde auf ein Reisiggeflecht gesetzt und schwebte auf den Schultern schwarzer Männer weiter. So ging es quer durch unbekannte Ströme, wo die Träger bis zur Brust mit ihr im Wasser wateten, über glühende, verschmachtete Ebenen, wo emporgehaltene Palmenwedel ihr Haupt vor dem Sonnenbrand schützten und wo die gräßlichen Spuren der Sklavenjagd, abgezehrte Totengerippe, noch mit dem Joch am Hals, am Wege dörrten. Immer mußte ihre Trage vor dem Pferde des Führers herschweben, dessen Auge ihr überallhin folgte, denn sie war sein kostbarstes Gut, kostbarer als Perlensäcke und Baumwollenballen, um die man Nahrungsmittel einhandelte, sie war ja sein kleines Bräutchen.
Sie war dabei, wenn er zum »Schauri« ging, und saß hinter ihm auf der Strohmatte vor dem Zelte, wo er die Reden der fremden Häuptlinge anhörte und mit ihnen Geschenke tauschte oder Blutsbrüderschaft schloß. Sie war auch dabei, wenn die Büchsen knallten und die Pfeile der Wilden um das kühne Häuflein schwirrten. Da gab es Strecken, wo jeder Fußbreit Weges mit Blut bezahlt werden mußte und wo die Gefahr in ihrem Rücken nicht kleiner war als im Angesicht. Da zeigte sich erst ihr Held in seiner vollen Größe. Immer tauchte er unversehrt aus dem Getümmel auf, er war an allen Stellen zugleich, sein Mund gab Befehle, sein Blick gab Sicherheit, seine Kugel fehlte niemals. Nur die letzte behielt er immer im Lauf, sie war für das kleine Bräutchen in höchster Not, damit sie nicht schutzlos in den Händen der Wilden bliebe.
O, und die Nächte im Zelt, die wundersamen stillen Tropennächte! Palisaden schützten das Lager, in dem man, um die wilden Tiere abzuschrecken, große Feuer unterhalten mußte, deren Widerschein phantastisch in den hohen Palmenkronen spielte. Das kleine Mädchen konnte sorglos schlafen, denn außen schritt ihr großer Freund, die Waffe in der Hand, an allen Zelten entlang und horchte, ob nirgends Meuterei und Verrat sich rühre.
Einmal drohten ihnen die Vorräte auszugehen. Da schlugen sie ein Dauerlager auf und säten in den jungfräulichen Grund, der schnell und willig seine Früchte hergab. Währenddessen ruhten die Waffen und alles war eitel Spiel und Freude. Der große Freund ging zur Jagd und schoß Zebras, Giraffen und Antilopen, die der schwarze Koch so wohlschmeckend zuzubereiten wußte. Das kleine Mädchen saß vor dem Zelt, hörte die Schwarzen auf den ihr wohlbekannten Blasinstrumenten musizieren und ergötzte sich an ihren Tänzen, die sie mit improvisierten Gesängen begleiteten. Damals geschah es auch, daß am hellen Tage die große Schlange in ihr Zelt kroch, als das kleine Mädchen zu Mittag schlummerte, und daß der große Freund, der eben dazu kam, ihr mit dem Gewehrkolben den Halswirbel zerbrach. Es war jener Python sebae, der mit seinen schreckhaften Ringeln jetzt das Hauptstück in ihres Vaters Sammlung bildete.
Die Jahre vergingen, sie bemerkte es kaum. Ihr Körper wandelte im Elternhaus in der Heimatstadt, er wuchs und blühte immer schöner auf, er tanzte, ritt, spielte Tennis und ward von allen bewundert. Ihre Seele aber wußte nichts davon. Die wohnte, mit einer leichteren Hülle angetan, über fünfzig Breitegraden am Fuß des neu entdeckten Berges, wo ihr Strom, die Perenna, aus ewigen Quellen rauschte.
Vierzehnjährig sah sie wie eine Erwachsene aus. Ihre Schönheit zog schon die ersten Freier an. Ihre Augen gaben den Menschen Rätsel auf, so fern und unergründlich blickten sie: Urwald und Ozean träumten in ihren Tiefen. Weil Perenna so wenig nach ihren Verehrern fragte, nahm man an, daß sie auf ihren Erich warten wolle, und die beiderseitigen Eltern billigten im voraus den Bund der Kinder.
Erich allein wußte um ihren Traum. Ihm erzählte sie Kapitel für Kapitel den Inhalt des Buches, und er ließ sich mitbegeistern. Nur daß sie alles auf sich bezog, machte ihn traurig.
Ein schöner Stern, der eine Zeitlang allabendlich über ihrem Hause stand, erregte ihre Aufmerksamkeit. Wenn er besonders hell funkelte, so meinte sie, der strahlende Held blicke ihn jetzt eben an und denke vielleicht dabei an sein Bräutchen, davon bekomme der Stern solchen Glanz.
»Du lebst in lauter Einbildungen, Perenna«, sagte ihr Erich. »Er sieht den Stern gar nicht. Über ihm steht ein anderer Himmel. Er sieht den Canopus und das südliche Kreuz, die wir hier nicht sehen können.«
»Wo steht das südliche Kreuz?« fragte Perenna am Abend den Vater.
Der deutete nach Süden. »Wenn unser Himmel klarer wäre, kleines Mädchen, so würde ich dir dort tief unten das Sternbild des Raben zeigen können. Von diesem Sternbild, das du nicht siehst, dir aber vorstellen mußt, zieh du eine Linie zum Horizont und darüber hinaus immer weiter in südlicher Richtung, so kommst du an die Stelle am Himmel, wo das südliche Kreuz steht. Auf meiner ägyptischen Reise hat es mich lange begleitet, bis ich am Suezkanal ungerne von ihm Abschied nahm.«
Nun suchte das kleine Mädchen jeden Abend mit ihren Gedanken den Punkt am Himmel, der sich mit dem südlichen Kreuz schmückte, damit ihr großer Geliebter nicht so allein sei unter den fremden Sternen.
Ihr ganzes Wesen reifte wie unter einer heißeren Sonne, die alle Blüten früher und reicher entfaltet. Von ihrer Schönheit und ihren Gaben wurde weit umher gesprochen. Doch ihr auf den Fersen hielt sich Erich, der keine Zeit verlieren durfte, wenn er ein berühmter Forschungsreisender werden und eines Tages den strahlenden Helden aus Perennas Herzen verdrängen wollte. »Der Wille erreicht alles«, sagte er sich hundertmal am Tage, denn das war die große Lehre, die er aus jenem Buche empfing und mit der er sich selbst und die Verhältnisse zwang.
Perenna aber fuhr fort, den Helden auf seinen Zügen im wilden Afrika zu begleiten, und verspann sich immer tiefer in ihren Traum. Die Welt, die sie umgab, erschien ihr mit ihren tausend Bedürfnissen und Gewohnheiten wie ein krankhafter Auswuchs, und solch ein Leben in täglicher Gefahr und unter den ursprünglichsten Bedingungen als das einzig wahre. Sie mochte auf keinem gepolsterten Stuhle sitzen, weil sie dachte, daß zu dieser Stunde ihr Held vielleicht auf einem Stein oder auf der nackten Erde saß. Was mußte das für ein Augenblick sein, wenn einmal alles Überflüssige abfiel, alle die wichtig genommenen Nichtigkeiten aufhörten zu sein und jede Seele zeigen mußte, was sie wog vor dem Throne der Wahrheit. Versunken, verschwunden sogar die Kulturprobleme, die am Tisch ihrer Eltern erörtert wurden, vor der großen, alles beherrschenden Frage: Werden wir uns auch heute durchschlagen, werden wir auf dem Marsch ein Stück Fleisch zu essen finden, oder am Abend selber im Kochtopf der Wilden sieden? Da gab es Augenblicke, wo die Blätter des Buches in ihren Händen zitterten und wo sie vor Angst nicht weiter lesen konnte.
»Ich zittere vor der Beschreibung, und er hat es erlebt«, sagte sie sich dann, und Ehrfurcht erfüllte ihr ganzes Wesen. Dennoch aber hoffte sie, in Zukunft auch dabei zu sein und nicht allzu unwürdig unter solcher Heldengröße zu stehen.
O und der Tag, wo der wilde Strom und der noch wildere Feind ihm die besten seiner weißen Gefährten wegriß und der Held einsam weinend am Ufer saß! Da setzte sich das kleine Mädchen zu ihm und weinte mit.
Als dann die schwarzen Träger meuterten und stürmisch heim verlangten zur Küste und nun auch der schwache Rest der Weißen auf Umkehr drang, da kam der große Augenblick, wo der Führer sagte: »Ich halte niemand, aber ich ziehe weiter.« Und es war sein kleines Mädchen, das zuerst erklärte: »Ich ziehe mit dir.« Nun zogen sie alle mit – im nächsten Kapitel.
Eines der Bücher enthielt seine Photographie. Ja, so hatte er ausgesehen, als er sie auf die Arme hob und seine Braut nannte. Das waren die schönen, klargeprägten Züge, die dunklen Haare um die ernste Stirn, die durchdringenden Augen, deren sie sich so gut erinnerte. Sie sah das Bild so oft und lange an, bis jede kleinste Einzelheit ihr eigen wurde und kein Gesicht auf Erden ihr vertrauter war als dieses.
Kleines Mädchen, diese Jahre waren die größten deines Lebens. Sie werden noch in deine späteste Zukunft hinüberglänzen.
– – Perenna war sechzehn Jahre alt. Nun wäre es bald an der Zeit gewesen, daß der strahlende Held sein Bräutchen geholt hätte. Der aber saß im Innern von Afrika und ließ seit langem nichts von sich hören. Dort hatte er sich ein Machtgebiet geschaffen, das er gegen die angrenzende Barbarei verteidigte und der Zivilisation erschloß. Er baute Wege, gründete Schulen, sorgte für Rechtspflege und erhielt seinem Vaterland eine wertvolle Kolonie. Soviel zu tun hatte er, daß er nicht einmal Zeit fand, an das Museum seiner Vaterstadt zu denken. Da mochte er am Ende sogar sein kleines Bräutchen vergessen haben.
Statt seiner kamen andere und wollten sie wegholen. Einer bot ihr ein Schloß am Rhein, ein anderer ein glänzendes Leben in der Großstadt und auf Reisen. Aber schöner war's doch, mit ihrem Helden unter seinem Zeltdach zu schlafen, von Askaris bewacht, und aus der Ferne die wilden Tiere brüllen zu hören. Sie konnte ihrem Jugendtraum nicht untreu werden, wenn sie auch noch solange warten mußte. Ja, wenn einer auch nur von ferne ihm geglichen hätte, aber der Abstand war allzu groß.
Die Mutter begann zu klagen, daß ihr Kind so wählerisch sei, der Vater aber sagte: »Mein Mädchen hat recht, sie wartet auf ihren Erich. Einen besseren als ihn kann sie nicht finden.«
Der studierte schon mit Auszeichnung auf fremden Universitäten. Er widmete sich der Zoologie, denn zum Soldatenstand, der ihn den kolonialen Unternehmungen am nächsten gebracht hätte, fühlte er keine Neigung. Aber er wollte sich sobald wie möglich als Naturforscher einer Expedition anschließen. Die Ferien verbrachte er stets im Elternhause, in der Nähe seiner Kindheitsfreundin.
Die beiden waren noch so gute Kameraden wie je. Nur daß er sie mit anderer als brüderlicher Liebe liebte, davon wollte das Mädchen nichts hören. Für sie war Erich kein Mann, er war noch immer der Knabe, der ihr geholfen hatte ihre Puppen herumtragen.
»Ich verlange kein Versprechen, Perenna«, sagte er. »Ich warte auf dich, solange du willst. Wenn es sein muß, mein ganzes Leben lang. Es ist kein Verdienst dabei, denn ich kann mir keine andere als dich an meiner Seite denken.«
– – Mit einem Male ging ein lauter Ruf des Schreckens durch die ganze zivilisierte Welt. Eine fanatische Araberbande hatte sich zur Ausrottung der Europäer zusammengeschlossen und wälzte sich gegen die Grenze heran, die unser Held bewachte. Die schwarzen Eingeborenen fielen ihnen in Scharen zu, schon waren christliche Missionen vertilgt worden und Greuel aller Art geschehen. Die Provinz des Helden war das vorgeschobenste Bollwerk, ihr mußte der nächste Angriff gelten. Wie würde der Kampf enden? An der Grenze wohnten ihm übelgesinnte Nachbarn, seine weißen Truppen waren an Zahl ungenügend, die schwarzen feige und wankelmütig. Schon war auch in seinem Rücken der Aufstand ausgebrochen, der ihm den Weg zur Küste verschloß und keine Nachrichten mehr durchließ.
Jetzt brauchte Perenna ihre Liebe nicht mehr zu verheimlichen, denn alle teilten sie. Kein Name wurde so oft genannt wie der seinige. Jede größere Zeitung brachte sein Bild. Wer ihm in der Jugend nahe gestanden, der erschien vor der Öffentlichkeit mit Erinnerungen an ihn, mit Anekdoten aus der Schul- und Universitätszeit. Alle wollten es geahnt und vorausgesagt haben, welch ein Mann in diesem Knaben und Jüngling steckte. Am meisten zitterte seine Geburtsstadt für ihn, wo von ihm noch Verwandte lebten. In jedem Schauladen stand seine Photographie zum Kauf, öffentliche Vorträge wurden über ihn gehalten, man sammelte Gelder für die Hilfsexpedition, die der Staat ausrüstete.
Ganz Europa nahm an seinem Schicksal teil. Seine Provinz war ja ein Stützpunkt des europäischen Handels und der Missionen gewesen, mit dem auch die Nachbarstaaten rechneten. Auch wußte man von großen Elfenbeinschätzen, die er gesammelt hatte und die man nicht mit ihm zugrunde gehen lassen wollte. Kaufmännische Spekulation und Politik vermischten sich mit den Forderungen der Menschenliebe. Neben der staatlichen wurden noch private Expeditionen in Bewegung gesetzt, die gleichfalls den Zweck hatten, ihn mit Waffen, Munition und Lebensmitteln zu versehen. Aber Botschaft sandten sie keine heraus und nach kurzem verschollen auch sie. Der Aufstand breitete sich aus und wogte wie ein Meer um die abgeschnittene Provinz. Werden die Expeditionen sich bis zu ihm durchschlagen? Wird er sich halten können bis zu ihrem Eintreffen? Ist er schon tot, gefangen? Das sind Fragen, die Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat die Spalten aller Zeitungen bis hinab zum kleinsten Käseblättchen füllen.
Weil die Nachrichten ausbleiben, schießen die Erfindungen und Vermutungen um so reicher ins Kraut. Da liest man lange Berichte eines angeblichen Missionars und Augenzeugen über seinen Untergang, die schon nach zwei Tagen widerrufen werden. Mit immer ernsterem Gesicht spricht Perennas Vater den Namen seines Jugendfreundes aus. Das Mädchen allein bleibt hochgemut. Sie ist zu jung und lebensvoll, um an Unglück zu glauben.
»Wenn die Gebete und Segenswünsche der ganzen Menschheit in einer Schale liegen«, dachte sie, »und ich mein eigenes Herz noch dazu werfe, mit seiner ganzen Liebe beschwert, so muß ein Gewicht daraus werden, das die Wage des Schicksals niederzieht.«
So dachte Perenna, und ihr fester Glaube sollte nicht zuschanden werden. – – –
Ein solches Fest hatte die Stadt noch nie erlebt wie am Tage, wo ihr größter Sohn zurückkehrte. Sein Werk war gerettet, der Aufstand niedergedrückt, die Feinde zersprengt, Gesetz und Ordnung wieder eingeführt. Jetzt kam er nach dem Vaterland, um seine Gesundheit herzustellen, und hinterließ seinem Nachfolger eine völlig beruhigte Provinz.
Seine Heimreise aus Afrika war ein langer Triumphzug. Alle Länder, die er berührte, erwiesen ihm Ehren und Auszeichnungen. Sein Vaterland empfing ihn mit brausenden Jubel. Und heute besuchte er seine Heimatstadt, die mehr als alle andern um ihn gebangt hatte.
Sämtliche Häuser flaggten. Von nah und fern strömten die Menschen zusammen, sogar der Wald war in die Stadt gerückt, um den Helden zu begrüßen, denn wo er durchkommen mußte, standen zur Rechten und Linken der Straße lange Reihen grüner Bäume, die zuvor nicht dagewesen. Sein Wagen mußte durch den donnernden Zuruf der Menge im Schritt fahren. Mütter hoben ihre Kinder hoch, um ihnen sein Angesicht zu zeigen.
Auf dem Rathaus war eine große Festtafel bereitet. Dort sollte der feierliche Empfang mit Ansprache des Bürgermeisters und darauf ein Bankett stattfinden. Ehrenjungfrauen mit Blumen in den Händen waren aufgestellt, die schönsten Mädchen der Stadt, voran die schönste, Perenna.
Als sie ihre Blumen überreichen sollte, schwankte und schwamm ihr alles, Saal und Treppe und Menschen, wie in wogendem Nebel. Mit dem Äußersten ihrer Willenskraft bezwang sie sich und schritt dem Gefeierten entgegen. Als sie ihr Auge aufhob, sah sie in das fahlbraune, von tausend Furchen durchackerte Gesicht eines ergrauten Mannes. Kein Zug dieses Angesichts stimmte mit ihrer Vorstellung, sie glaubte, einen völlig Fremden zu sehen, und die Überraschung war so groß, daß sie statt der Worte, die sie sagen wollte, nur ein verwirrtes Stammeln hervorbrachte. Als er ihr die Blumen aus der Hand nahm, wurde sie halb ohnmächtig – von der Hitze, wie man glaubte – und mußte weggeführt werden.
Er war alt, sein Gesicht war gefurcht, sein Haar gebleicht. Entsetzliche Enttäuschung! Warum tat er ihr das? Wo war der strahlende Held geblieben? Sie zürnte ihm, als habe er schuld an der Verwandlung, als wäre er mit Willen so gealtert.
»Was ist dir? Hat er dir nicht gefallen?« fragten die Freundinnen, die vom Empfang zurückkamen.
»Ach, er ist so alt«, sagte sie mit erstickter Stimme.
»Närrchen, was fällt dir ein? Er kann ja kein Jüngling mehr sein, aber alt ist er nicht. Sein Haar ist gebleicht von den Gefahren und den Strapazen, nicht vom Alter.«
»Hast du denn seine Augen nicht gesehen? Die sind doch jung«, sagte eine andere.
Ja, die Augen hatte sie wohl gesehen, und die Augen waren jung. Wie eigen hatte er sie damit angeschaut. Das waren die Heldenaugen, die so oft in den Rachen des Todes geblickt hatten. In diese Augen hatte sich aller Jugendglanz von ehedem zurückgezogen, dort hatte er sich erhalten, dort lebte noch sein wahres Ich.
»Nein, ihr habt recht, er ist nicht alt, es sind nur die Gefahren und die Strapazen«, jubelte sie, sich selber wiederfindend.
»Mit seinem grauen Haar gefällt er mir besser als jeder junge«, sagte wieder eine.
»Ja, das graue Haar macht ihn nur schöner. Er ist ein Gott.«
Sie mußte sich vor den Freundinnen schämen, daß sie so klein gewesen war. Welche stolze Seligkeit, ihm all die Gefahren und Mühen seiner Heldenlaufbahn durch die eigene Jugend zu vergüten.
Des Abends kam er zu ihren Eltern. Es war die einzige Stunde, die er sich freimachen konnte, denn morgen erwartete man ihn in der Nachbarstadt, wo er einen Vortrag zu halten hatte.
Perenna legte ihren Schmuck aus Muscheln und Steinen um den jungen Nacken und sah damit aus wie eine fremde Gottheit.
»Wie schön sie ist! Wie schön sie ist«, dachte der Gast, als er sie wiedersah. Sie standen zusammen in einer Nische, er betrachtete das Halsband, das er ihr geschenkt hatte, als sie noch klein war. Dabei kam ihm plötzlich eine Erinnerung.
»Weißt du, kleines Mädchen, daß dieser alte Onkel dich einmal sein Bräutchen genannt hat?«
»Und weißt du, strahlender Held, daß das kleine Mädchen all die Jahre auf dich gewartet hat?«
Es war gesprochen, ehe sie es dachte; woher sie den Mut genommen, wußte sie später selber nicht.
»Du – du? Es ist nicht möglich!« Er sah sie mit unaussprechlichem Entzücken an, drückte ihren Kopf an seine Brust, küßte ihre Haare, ihre Stirne wieder und wieder. Ihren Mund, den küßte er nicht.
Dann schob er sie von sich. Tränen standen in seinen Augen, in den Augen, die unbewegt in so viele Schrecken geblickt hatten.
»Und jetzt ist das Leben ausgelebt, und ich bin alt!«
»Nicht alt! Nicht alt!« jauchzte sie voll Wonne, daß sie ihm, dem Großen, etwas zu vergeben hatte.
»Da sieh her! Was wolltest du mit diesen weißen Haaren, du junge Göttin?«
»Das macht nichts. Diese weißen Haare gefallen mir besser als die braunen der Jugend. Sie kommen ja nur von den Kämpfen und den Strapazen.«
»Es sind nicht die weißen Haare allein, du gutes Kind, aber das verstehst du nicht. Wenn ich doch einen Sohn hätte, den ich dir geben könnte.«
»Nicht! Nicht! Ich will keinen jungen, ich will dein Alter, ich will dich selbst, du strahlender Held.«
»Kind, Kind, es ist zu spät für mich, es kann nicht sein.«
Sie fuhr fort zu flehen: »Verlaß mich nicht. Ich sehe nur dich allein in der ganzen Welt, habe nie einen anderen gesehen von meinen frühesten Jahren an. Mit dir will ich sein, an deinen Gefahren will ich teilhaben, in deinem Zelt, wo du mich schützen wirst, will ich leben. Was braucht's der Jugend? Ich habe sie ja, ich teile sie mit dir – ein Stück für dich, ein Stück für mich, so wird es schon recht sein. Du darfst nur wollen, so sind wir das glücklichste Paar auf Erden.«
Je glühender sie flehte, desto schmerzlicher erkannte er, daß er sie lassen mußte.
»Du liebst mich also nicht«, sagte sie am Ende verzweifelt.
»Wie ich dich liebe! So kann ein junger Mann ja gar nicht lieben. Ich liebe in dir das, was nicht mehr mein ist, das Süßeste der Erde, die Jugend. Die Liebe lieb' ich in dir, die mir nicht gehören kann. Du holdes Geschöpf, wie dank ich dir, daß du mir diesen letzten Blick in eine Maienlandschaft geschenkt hast; ich nehme ihn in meinen Winter hinüber.«
Er weinte ungehemmt auf ihren Scheitel. Dann riß er sich mit blutendem Herzen los und schied.
Damals verstand sie ihn nicht und grollte ihm lange, lange. Sie hatte ihm alles geben wollen: Jugend, Liebe, Glückseligkeit. Das gehörte ja doch ihr, sie konnte es schenken, wem sie wollte. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, so war alles sein. Er aber ging von ihr, er verließ sie für immer nach all den Jahren, die sie auf ihn gewartet hatte.
Ihr Erich war es, der ihren Kummer verstand und linderte. An seinem Herzen war ihre Zuflucht; da innen, das wußte sie, brannte für sie eine ewige Lampe. Er war ja kein berühmter Forschungsreisender geworden, die Zeiten der großen Abenteuer seien auch vorüber, meinte er, und in den Kolonien lebe sich's jetzt wie überall, wo die Gesellschaft sich spreizt und klatscht. Aber er zeichnete sich in seinem Berufe aus und war ein Mann, der mit Ehren um ihre Hand werben konnte. Immer wieder sagte er ihr: »Du bist mein Wegweiser und Scheinwerfer. Was ich jemals werden kann, ist dein Werk. Mein Bestes hab' ich von dir.«
Sie selber hatte es von einem anderen.
Endlich verstand sie auch, warum der andere von ihr gehen mußte. Aber ihr Leben lang fuhr sie fort, an ihn zu denken. Als ihre Tochter heranwuchs, erzählte sie ihr von dem strahlenden Helden, den sie geliebt hatte und der im Schmerz von ihr gegangen war. Und das kleine Mädchen saß nun tagelang und dachte an den strahlenden Helden, und wie sie ihn geliebt hätte, wenn er ihr statt ihrer Mutter begegnet wäre.
Der schlief schon lange unter seinem steinernen Ehrenmal. Aber strahlende Helden können immer wieder einmal aufstehen und die Herzen kleiner Mädchen an sich nehmen. –