Heinz Kükelhaus
Erdenbruder auf Zickzackfahrt
Heinz Kükelhaus

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Nicht unter den Standard zu bringen

Es gibt in Genua viele Sehenswürdigkeiten, die die Fremden anlocken. Ich kenne sie alle, so wie ein richtiger Erdenbruder alles sieht und fühlt, ohne es auszugraben und zu suchen. Aber eins kennen nur wir Landstreicher: Jenen Turm des Munizipale. – Das ist ein ganz altes Gemäuer, das sich über der Hauptpolizeiwache erhebt. Und dies trutzige Gestein birgt das seltsamste Gesindel, das diese Erde bevölkert.

Wie Löwenkäfige in Fels gehauen, so sehen diese Löcher aus, die von der schmalen Turmtreppe zur Linken sich in das Gemäuer senken. Die Gitterstäbe vor den Fenstern der Löcher sind so weit auseinander, daß man sich bequem hindurchzwängen könnte, wenn nicht ständige Wache vor den Löchern läge. – Wie Löwenkäfige – nicht nur optisch, sondern auch akustisch, denn die rauhen Stimmen der Erdenbrüder, die sich in der Freiheit über Sturm und Wetter erhoben, dämpfen sich auch nicht in den Kerkern, sondern rollen wie Gebrüll der Löwen die Ecken des Käfigs ab, springen durch die Gitterstäbe und suchen Widerhall, bis sich der Ton unter der Turmdecke bricht. – Das lernte ich kennen, denn mein Loch lag hoch oben. –

Mein Loch? – Unser Loch! – Wessen Loch? – Ich sah sie nicht, die da neben mir auf einer Pritsche schliefen und mit der flachen Hand die huschenden Wanzenschwärme zerquetschten.

Wir hatten kein Licht, das unterscheiden ließ – ständig grau in grau – eine Gesichtshälfte glich der andern, und 138 nur die Sprachen murmelten wie Quellbäche und unterschieden sich nach Gefälle und Tonarten.

Wenn die Nacht kam, brannte ein Licht unter der Turmdecke, das auch zu uns seine Wellen schickte. Wir schauten uns dann an, verbannten das Gesicht des Tages und gaben dem schummrigen Licht sein farbiges Recht. Kam dann der Tag, mußten wir wieder umlernen und dem Schattenriß glauben. – Wurde zur Essenausgabe die Tür geöffnet, so stürzten wir vor, um unsere Fratzen im Lichte zu sehen. Dann drückte man uns aber die Weißbrote vor die Augen, und wir sahen doch nichts.

Das Essen war gut für uns Ausländer. Es gab ein Quartel Wein pro Tag, und die unfehlbaren Makkaroni mit Hammelbrocken waren schmackhaft und das Weißbrot sauber und frisch. Über dieses Essen ging die Sage, ein reicher Amerikaner, der vor Jahren als armer Erdenbruder einige Monate in diesem Turm gesessen, habe ein Kapital für die Ausländer ausgeworfen, dessen Zinsen für guten Fraß und Suff draufgingen. – Das ist natürlich die Sage, die jeden Erdenbruder entzückt und seinem Leben gerecht wird. – Aber daß es nur eine Sage ist, das weiß jeder. Was heißt es Besonderes, wenn die Genueser Stadtverwaltung in Übereinstimmung mit den Konsulaten das Geld zur guten Beköstigung für die Ausländer in Haft aufbringt?! – Nichts heißt das, gar nichts! Die hätten uns Weißkohlsuppe mit zwei Fettaugen präsentieren können, das hätten wir eher ertragen als die Preisgabe des Gedankens, daß unsere Brüder über den Staaten schweben und doch in die Staaten hineinragen; so wie wir selbst die Notwendigkeit unseres Daseins im italienischen Staat mit Wanzentotschlagen begründen konnten. –

Drei Wochen saß ich in dem Turm und fraß und stank 139 mit den andern. Dann wurde ich ins Gerichtsgefängnis überführt. Ein Urteil habe ich nie erhalten, auch einen Richter sah ich nicht. Im Gefängnis war Licht und Luft, auch ein Bad wurde mir gegönnt, und der weiße Kalk der Zellenwände wetteiferte mit dem Weiß der Bettlaken.

Ich kam allein in eine Zelle, da ich Jugendlicher war. Dabei war ich neunzehn Jahre alt. Trotzdem mußte ich lachen über diese Argumentierung. Noch mehr lachen, als ich hörte, daß die Geistlichkeit für strikte Innehaltung dieser für schwache Naturen gemeinen Läuterungsart eintrat.

 

Das abgeschlossene Dasein in der Fremde – die Leblosigkeit der Stunden, die tote Zellenluft, das alles ertrug ich, als habe ich seit Jahren im Kerker gesessen. Nicht einmal die Eigentümlichkeit des Gefängnislebens berührte mich oder brachte mich aus dem Gleichgewicht. Peitschen mußte ich mich zu dem Gedanken, daß die Bewegung die wahre Lebensform für Organismen sei.

Ich begriff mein ganzes vergangenes Leben nicht mehr. Ich fingerte in den Maschen meiner Lebenszeit, jagte den Wust der Erlebnisse und drängte mein Sein nur noch mehr zur Flucht vor Erfaßtem und Erlebtem.

Ich glaubte mir selbst nicht mehr. Wenn mir der Tag auch die Erlebnisform, den Glauben an die Form überhaupt gab, die Stunden rechneten sich aus. Noch mehr, sie nahmen mir die Einzelheiten. Das Verständnis für die Form ging mir verloren. Tag und Nacht erlebte ich nicht mehr als Stunden, und die Dinge meiner Umgebung entmaterialisierten sich, ohne daß meine Sinne ihren Verlust buchten.

Die Distanz, die ich von aller Bewegung der Materie gewann, wuchs ins Ungeheure. 140

Bald stellte ich mich bewußt und voll heißer Sehnsucht unter die Macht, die um mich und in mir lebte. Ich dachte dann an einen Traumzustand meiner Kindheit, der mir von jeher die Unzulänglichkeit der menschlichen Begriffe und ihre Produktionen zeigte: Ich sah eine Treppe, die sich in alle Ewigkeit erstreckt. Im Traum wanderte ich die Stufen hinan; es nahm kein Ende. Mein Schatten aber, mein Ich, war schon ewig da, wohin ich wollte.

Diesen Traum träumte ich in meiner Kindheit so oft, daß ich ihn lieb gewann, obgleich er eine schauderhafte Seite hatte. Ich fiel, bevor ich erwachte, in Körperstarre, die mir jede Bewegung nahm, währenddessen ich mit weit aufgerissenen Augen die körperliche Berührung von Gestalten wahrnahm und empfand.

Als ich zum erstenmal dieses Erlebnis hatte, war ich vielleicht ein Jahr alt. Es ist die einzige Erinnerung, die noch wahrhaft in mir lebte, als bereits alles Erinnerungsvermögen an die ersten vier Lebensjahre in mir schwand.

Ich wahrte dieses Erlebnis als tiefstes Geheimnis. Als ich aber durch die Schule wuchs und die Anschauungswelt der Erwachsenen zur Religion in mich aufnahm, wurden diese Erlebnisse in mir spärlicher – wenn ich sie aber erlebte, waren sie so gewaltig, daß sie durch Wochen in mir nachlebten und des Nachts meinen Körper zu einer hohlen Welt machten, in der mein körperlicher Pulsschlag brauste und die geistige Allmacht meines Schattens mich auch nicht eine einzige Stufe der ewigen Treppe gewinnen ließ.

Dabei war ich kräftig und sehr stark. Unter meinen Schubgenossen war ich der beste Turner und der ausdauerndste Läufer. Mein Widerspruchsgeist war so impertinent, daß mich alle Lehrer für unerziehbar hielten und mich im Zorn schlugen. Ich hatte eine Manie, die Schwächen meiner 141 Lehrer zu suchen und zu finden. – Ich weiß heute, daß sie mich gar nichts gelehrt haben konnten. Die Schule war mir eine gänzlich tote Einrichtung.

Erlebniskraft und meine physische Widerstandskraft halten sich heute wieder die Waage. Aber so, wie seinerzeit im Gefängnis zu Genua, empfinde ich heute noch die Unzulänglichkeit der menschlichen Anschauungswelt und die Allmacht meines Schattens, die mich treibt und der ich mit der Kraft meines Lebens die Balance halten muß.

So sicher, wie sich jetzt vor meinen Augen die rollende Ostsee spannt und meine schweren Wanderschuhe meine Schreibunterlage bilden und die wallenden Töne der kleinen Kirchenglocken hinter mir den Sonntag einläuten, so sicher lebt die Welt, die wir nicht sehen, in uns allen und die ich schon erlebte, als ich noch nicht Ich auf Erden war.

 

Die Gitterstäbe meines Zellenfensters in Genua wurden jeden Morgen und jeden Abend rasselnd mit einem Metallstab abgeklopft. Die Wächter kamen mir vor wie dumme Dinge, auch fühlte ich ihnen nichts ab, was über den Kreis ihrer Erdenpflicht hinausging.

Es kam dann doch Gesellschaft in meine Zelle. Das Gefängnis war überfüllt. Erst kamen zwei alte Strolche, die mich frohgemut begrüßten. Und dann zwei jugendliche Russen. Aus Smolensk trieb die Verlassenheit die elternlosen Knaben durch Rumänien und Bulgarien ins osmanische Reich. Von Smyrna nahm sie ein russischer Dampfer nach Oran mit, von da nach Genua, nachdem sie lange im Zweifel waren, ob nicht die Legion die zärtlichste Mutter für sie sei. In Genua fielen sie gleich am Tage ihrer Ankunft der Polizei in die Hand. –

Alles verwandte Schicksale – mir öffneten sich die Tore, 142 durch die sie alle wandern, und die Wege derer wurden mir klar, die vor den Toren liegenbleiben und dann in die Zuchthäuser wandern – heraus und herein.

 

November war es. Sogar in Genua fiel Schnee und Eishagel. Die See brüllte im Sturm und die Nebelhörner im Hafen tuteten ohne Unterlaß, als mich ein Polizeibeamter aus dem Gefängnis führte und mich zum Bahnhof brachte. Ich war des Landes verwiesen.

Ohne Mantel und in dürftiger Kleidung fror ich jämmerlich. Mein Haar war beschneit, als wir den Bahnhof erreichten, und meine unbesockten Füße froren im harten Wind fast zu Eis. – In solcher Lage verliert man leicht das Selbstbewußtsein. Alle Ideen und Überzeugungen können zum Teufel gehen, wenn man nicht die Kraft hat, über Eis und Schnee die Sonne zu sehen.

Der Zug war schlecht geheizt, und in Mailand hatte ich schon ein tobendes Erkältungsfieber. Ich lag auf einer kurzen Bank des Zugabteils und schüttelte mich im Fieberschauer, während der Zug durch die Lombardei nach Verona raste. In Verona konstatierte ich Lungenentzündung und bat den Begleitbeamten, mich ins Krankenhaus zu bringen. Der vertröstete mich aber auf den Brennerpaß, wo seine Mission beendet sei. Die nächsten zwei Stunden waren Tierquälerei. Als es zu schlimm wurde und die Fahrgäste sich über den kalten Beamten aufregten, wurde ich auf einer kleineren Station ausgeladen. Das war gegen elf Uhr abends. Man schleifte mich durch die schneeharten Straßen in ein Gefängnis und legte mich in eine Zelle, in der schon drei Mann untergebracht waren. Ich war zu schlapp, um Protest zu erheben – dann lag ich ja auch auf Stroh in einer warmen, stinkigen Zelle. Was wollte 143 ich mehr! Die eiskalte Luft, die mir draußen den Atem verschlug, war gebannt. Die langsame Erwärmung meiner Hüllen legte sich wie sanfte Hoffnung und Zuversicht in mein Blut. Ich konnte freier atmen, und der bohrende Schmerz unter dem rechten Schulterblatt ließ nach.

Die Gesellen neben mir schliefen fest. Nur einer hatte im Schlaf den Zuwachs mit Knurren begrüßt.

»Schlaf weiter, Bruder«, flüsterte ich.

»Ja, ja«, knurrte er, »es ist Winter!« Dann schnarchte er weiter.

Ich aber, der ich in einem Tag durch ganz Italien gefahren war und mir in der Kälte Lungenstiche holen mußte, – ich sollte die drei neben mir davor bewahren, daß sie am Morgen Leichen waren.

Mein fieberndes Blut erlaubte mir keinen festen Schlaf. Im Halbdämmer lag ich, sank in mich zusammen und kostete meine Einsamkeit.

Gegen zwei Uhr nachts brachten mich starke Kopfschmerzen in wühlende Angst. Aber jeder Muskel, den ich bewegen wollte, zauderte vor der geringsten Kraftanstrengung. Als ich meinen Kopf verlagern wollte, gehorchten mir die Nacken- und Rückenmuskeln einfach nicht mehr.

»Bin ich denn so krank?« fragte ich mich. Aber meine Worte, mit denen ich mein Selbst mir nahebringen wollte, eben diese Worte hörte ich nicht mit meinen Ohren. – Meine Lippen waren hart und mein Gaumen schmeckte merkwürdig süß, in meinen Füßen perlte und stach das Blut.

Ich nahm meine ganze Überlegung zusammen und ging methodisch zu Werke, um zu erkennen, welche Ursache die Lähmungserscheinungen hatten.

Mit zitternden Bewegungen brachte ich meine linke 144 Hand an den Puls meiner Rechten. Der war aber garnicht mehr zu fühlen – oder ob ich das Tastgefühl schon verloren hatte? – Krampfhaft versuchte ich, die Beine zu heben – es gelang mir nicht. Versuchte ich meinen Kopf zu heben, so verlor ich durch Sekunden das Bewußtsein.

Ich zwängte mich dann mit aller Kraft an den Körper des neben mir Liegenden und holte Luft, um zu schreien. Als ich aber meinen Mund aufriß und die Luft röchelnd durch die Kehle fuhr, reagierte noch irgendein Reiz im Halse, und unter furchtbarem Krachen und Toben im Kopfe mußte ich husten. Dieser Husten brachte mir nahe, was mit mir los war: die nachtdunkle Zelle war voll Qualm, voll schwerer Rauchluft, und ich und meine Zellengenossen, wir hatten eine schwere Rauchvergiftung. Wenn ich nicht gehustet hätte, würde ich bestimmt nicht dahinter gekommen sein, in welcher Gefahr wir lagen, denn meine Empfindungsnerven waren betäubt. Aber das Krachen im Kopfe während des Hustens brachte mir den Augenblick nahe, wo mir der Qualm in der Ankerboje im Genueser Hafen ähnliche Pein verursacht hatte. – Die Gedankenkombination und das Erkennen meiner Lage war aber für meinen Zustand zu viel. Mein Bewußtsein erlosch für einige Zeit. »Nur nicht lange!« war mein letzter Gedankenbefehl.

Die tiefe Ohnmacht half mir aber, mein Gefühl hatte sich etwas entschleiert.

»Rettung, und zwar sofort, oder wir alle vier sind verloren! – Aber wie?« überlegte ich.

Ich biß meinen Nachbar so fest in den Arm, als ich konnte. Der rührte sich aber nicht mehr. Ich nahm an, daß er schon tot sei.

Meine Gedankenkraft, die ich so systematisch im Genueser Gefängnis trainiert hatte, kam mir jetzt zustatten. Ich 145 arbeitete nur noch mit gemurmelten Befehlen. Ich sagte mir drei-, viermal jede Bewegung, die ich tun müsse, ehe sich die Muskeln zur Ausführung bequemten. So gelang es mir, meine Beine zur Seite zu drehen und meinen Körper nachzuwälzen. Dann peitschte ich die Befehle durch meine todmatten Muskeln und schob mich Zentimeter um Zentimeter zur Türe. Ich tastete mich mit meinem Kopf zur Türecke und leckte mit dem Mund nach einer Ritze. Die Türe lag aber tiefer als die Zelle, so daß von unten auch nicht ein Luftzug zu saugen war. Ich quälte meinen Kopf in das Rechteck zwischen Eingangsverschalung und Türe und fand Luft – ich sog tief. Bei jedem Luftjapper tobte ein Hustenkrampf in meiner Brust. Ich ließ aber nicht nach und sog weiter durch die Ritze. Das war die einzigste Hilfe, die ich mir und den andern bringen konnte. – Dann brach ich, daß sich mir der Magen und die Gedärme im Leibe drehten. Das war wieder zu viel Anstrengung – ich sank für kurze Zeit in Ohnmacht.

Pause – mit fliegenden Traumbildern vom Flug durch Äthermeere kam ich wieder zum Bewußtsein. – Dann sauge ich Luft – Pause – krümme dann meinen Körper und lasse mit plötzlichem Ruck die Luft aus meinen Lungen pfeifen und über die Stimmbänder klirren. Den Ton hörten meine Ohren und auch das Echo, das wie ein Schrei aus vier Weltteilen hallte. – Pause – Ich wiederhole; und jetzt formen meine Lippen das Wort »Hilfe!« – So matt ich war, so hörte ich doch die Bewegungen auf den Gängen.

»Wo!?«–rief man.

»Hier!« – mit letzter Kraft.

»Wo – noch einmal!«

Meine Lungen streiken, statt dessen aber hört man das 146 Würgen und Schlucken meiner Anstrengung und das Klopfen gegen die Türe. – Und endlich hallen die Bewegungen durch den Laufgang, der zu unserer Zelle führt.

Als die Türe aufgeschlossen wird, presse ich noch die Worte durch die Lippen: »Einen Arzt!« Dann knackt wieder etwas in mir, Kopf und Hände werden leicht – ich versacke, schnappe noch einmal das Bewußtsein zurück – dann Traum und breite, weiche Farbe.

Ich kam sogleich zu mir, als man nach meinen Armen griff, um die üblichen Bewegungen zur automatischen Lungenarbeit einzuleiten. – Ich lasse sie arbeiten; ich dachte, daß ich meine Pflicht getan habe. – Als aber eine Scheuerbürste und eiskaltes Wasser meine Brust berührten, trat ich aus und machte meine Lebensgeister bemerkbar.

Bei den andern stand es weit schlimmer. Drei Stunden brauchte der Österreicher und der Rheinländer zwei Stunden, ehe sie sich regten und in das gelobte Land zurückkehrten. Der dritte war merkwürdigerweise fast ebenso schnell wach wie ich.

Hoch oben im Gefängnis waren schöne freundliche Zimmer. Blumentapeten – schöne weiße Gardinen vor den Fenstern, die da decken wollten, was nicht zu decken war.

Als der junge Tag aber seine blendende Weiße von den Bergen in meine Krankenzelle trug und die Schöpfung der Erde für mich neu erstand, wankte ich aus dem Bette, schlug die Gardine zurück, hing mich an das eiserne Kreuz und, da ich mich des Lebens freute, mußte ich lachen über das ewige Zugeständnis, das unsereins noch dem Leben macht.

Der Oberaufseher erzählte mir später, wie der Rauch in unsere Zelle gelangte, an dem wir beinah erstickt wären: 147 Die Öfen für die Zellen werden vom Gang aus geheizt, so daß nur die Heizkörper in den Zellen stehen. Am Abend, an dem ich ankam, wurden noch einige feuchte Buchenscheite auf das im Gang befindliche Feuer geworfen. Der Heizkörper in der Zelle war wohl frisch gedichtet, aber nicht gründlich. So konnte der schwelende Rauch in unsere Zelle dringen, und zwar so langsam, daß wir nicht das Rauchgift merkten, das wir einatmeten.

 

Die Tragik, die sich in all diesen aufreibenden Geschehnissen aufdrängt, war mir nicht bewußt. Und heute weiß ich auch, daß diese scheinbare Tragik der Geschehnisse in jedem jungen Menschenleben spielen muß, um der Form der Zeit gerecht zu werden.

Die scheinbare Ordnung, mit der sich innerhalb des Staates und der Familien die junge Zucht heranbildet, erhält erst ihr wahres Gesicht, wenn man den Mut hat, die Zeit zu verstehen, die mit dem Kampf um eine neue Anschauungswelt bis zum Bersten gefüllt ist.

Dann ist es aber auch nicht mehr wahr, daß die Jugend verwahrlost ist und sich keiner Zucht mehr beugen will. Im Gegenteil. Die Peitsche, die heute über der Jugend schwebt und sie bildet, ob sie will oder nicht, schlägt härter als je. Das Biegen oder Brechen der Zeit läßt keine Ausflucht, und der Nackenschlag für jede Fehle ist so hart, daß der Bruch folgen muß.

Und die Selbständigkeit, die der Jugend durch unsere Zeit aufgezwungen ist, schaltet von selbst die Frühreife ein. Die Spanne zwischen Erzeugerschaft und Jugend ist so gering geworden, so zahlenleer, daß der Kampf um die Tradition in fast jeder Hinsicht erloschen ist. –

Die Vitalität der Jugend bestimmt das Tempo der 148 Entwicklung – und dies Lebenselement geizt nicht mit Gut und Böse. Die Erfahrung des Alters wird zur Abstraktion, und der Jugend fehlt die Formel, das vergangene Bild zu entwirren, sie trägt an ihrer eigenen Frühgeburt übergenug.

Unter diesem Spiegel gelten keine Ausnahmen. Die Tragik des Seins erfaßt uns alle gleich – vollkommen gleich. Und dem Erleben des einzelnen haftet nichts Persönliches an, wir drehen uns um die Achse, die uns die Erde gibt und erleben einer für alle.

 

Ende November war ich in Innsbruck und Anfang Dezember fuhr ich nach Kufstein. Die Ungewißheit meiner Zukunft stand mir zu lebhaft vor Augen, um Freude zu empfinden, als ich der Heimat näherrückte.

Der bayerische Grenzbeamte in Kufstein wollte mich nicht durch die Sperre lassen, da ich keine Einreiseerlaubnis hatte. Ich verließ den Bahnhof, nahm einen kleinen Umweg, um noch den fahrplanmäßigen Zug nach München zu erreichen. Bis dahin reichte die mir vom Konsulat in Innsbruck bewilligte Fahrkarte.

Was dann kam, war Winterelend auf der Landstraße. Ich hatte keine Augen mehr für die Schönheit meiner Wege. Ich tippelte im Tag meine dreißig bis vierzig Kilometer und legte mich in meiner Heimatstadt Essen noch einmal unter die Erdenbrüder zum Schlafen. Und schlafen wollten sie alle, denn Hände und Gesichter waren blau, wenn sie die Herbergen fanden. Die Augen waren leer und die Herzen tot. Es war eben Winter – die Ruhr spuckte graue Wellen und der Wind blies unbarmherzig den Schneestaub durch die letzte Sommermode der Tippelbrüder. 149

 

Wo gehst du hin, Lieber?« fragte mich ein alter Tippler.

»Ich glaube, nach Hause«, sagte ich.

»Du glaubst«, knurrte er, »hast du noch ein Elternhaus? Ich habe keins, darum will ich Arbeit suchen gehen. Find ja doch keine. – Aber ich bin es nicht allein – es sind eine Unmasse, die diesen Winter starre Füße haben werden und mit klammen Fingern trocken Karo futtern. – Ich wundere mich noch immer über die noble Gesinnung, die wir haben, wenn sie uns mit Hunden hetzen. Das ist zum Lachen!« –

»Siehst du«, tröstete ich, »das ist ja unsere Freude, daß wir lachen dürfen, wenn sie uns beißen wollen. – Sie wollen beißen, du! Na, nu lach doch! – Sie wollen Knochen beißen. Oder hast du etwa Fleisch? – Wie? . . . Ja, du bist dürr, sehr dürr! – Aber so lach doch, das ist doch ein Witz, wenn man Knochen beißen will! Hihi –«

Und dann ging ich und ließ mir die Schuhe putzen. Das war mein letzter Stolz, der sich daran guttat, daß ich mir die Schuhe putzen ließ. Ich dachte an mein Elternhaus, das so weißgescheuerte Marmortreppen hatte – und an die Gesichter in diesem Hause, die sicher so glatt waren wie der weiße Marmor. Daran dachte ich. Und dann ließ ich mich auch noch rasieren. –

 

Die Erinnerung an die letzten zwei Jahre fiel von mir ab, wie ein Blatt vom Baume fällt, wenn der Herbststurm kommt. Ich konnte von all dem nichts in Rechnung stellen. Nur die glückliche Überwindung der Schwerkraft meiner Erlebnisse blieb in meinem Geiste und Körper, vertiefte den Rhythmus meines Lebens und machte mich innerhalb der Gesellschaft zur Anomalie.

Ich war absolut kein kraftloser Junge, sondern ein 150 ziemlich findiger Geselle. Ich sah die Norm der Wohlanständigkeit und den gesunden Lebensweg meiner ehemaligen Mitschüler vor mir.

Werner Kropp war Student der Medizin und Emil Holzapfel stud. rer. pol. Als ich diese beiden Akademiker einmal traf, fühlte ich Ehrfurcht und Neid. Ich kam mir sehr kümmerlich vor. Die eleganten Schlipse, der Velourshut, die Farben an dem Uhrzipfel, die gepflegten Gesichter der beiden – das alles ließ mich zwei Nächte nicht schlafen. In der dritten Nacht schlief ich aber so wundervoll, daß ich den Neid und die Ehrfurcht über und vor meinesgleichen von mir warf. Ich wurde kritisch und stellte Werner Kropp unter die Lupe meines Gefühls. Ich nahm ihn mir allein vor, holte ihm die Farben und das Burschenschafterabzeichen aus Weste und Rockkragen und düllte seinen Velourshut ein. Ich tat das mit dem freundlichsten Gesicht und mit einer Kälte im Gemüt, wie er sie wohl heute anwendet, wenn er Kranke untersucht. Denn er ist heute Arzt, Tatsache, er ist approbierter Arzt, lebt gut und ist verheiratet. – Als ich ihm damals seine äußerliche akademische Würde geraubt hatte, stand Kropp wie ein Pennäler vor mir. Just, wie der Tertianer Kropp, dem der Pons für den bellum gallicum abhanden gekommen war. Als ich ihn auslachte, meinte er, ich sei nicht satisfaktionsfähig, sonst würde er mir schon das Lachen austreiben. Das sagte er mir, der ich mich zwei Jahre auf eigene Faust im Ausland herumgetrieben hatte. Als ich ihn fragte, warum ich nicht satisfaktionsfähig sei, gurgelte er: »Du hast ja nicht einmal das Abitur!«

»Werner Kropp«, sagte ich, »du hast verflucht recht. Ich habe nicht das Abitur. Aber dennoch schlage ich dich jetzt zum akademischen Ritter!« Und damit gab ich ihm den 151 Uhrzipfel und die Nadel wieder. – Er hat mich nie wieder angesprochen.

Doktor konnte ich nicht werden. Das war aber auch nicht mein Ehrgeiz.

Ich kam auf den irrsinnigen Gedanken, daß ich am ehesten Eingang in die gutbürgerliche Normalsittlichkeit finden würde, wenn ich mein Körpergewicht von 130 Pfund um 30 Pfund vermehren würde. Ich hatte die Beobachtung gemacht, daß meine ehemaligen Bekannten und Freunde gemütlich wurden, wenn ihnen der Spitzbauch wuchs. – Ich aß darum für drei. Ich hatte die feste Absicht, es bis zum Spitzbauch zu bringen. Von ihm erhoffte ich alles: Die Ruhe zum Geldverdienen, den Spargeist, jene liebreiche Handbewegung des fetten Mannes, der seinen Sprößlingen die Köpfe streichelt, jene lautere Moral, die ihren Ursprung in der Bequemlichkeit hat – und noch viel mehr.

August Specht hatte es so gemacht: Als Kontorjüngling in einem Engrosgeschäft hatte er sich als erstes Ziel gesetzt, einen eigenen Sektkeller zu besitzen. Das klingt merkwürdig, aber in Anbetracht der Sehnsucht jener Zeit, den Feudalen zu kehren und die Eitelkeit der jungen Damen zu befriedigen, ist dieses Ziel von August Specht fast symbolisch.

Man hat mir erzählt, daß er schon im zweiten Lehrjahr fünfzig Flaschen Sekt gehamstert hatte. Im dritten Lehrjahr wurden ihm siebzig Flaschen Sekt gestohlen. Er bewirkte noch rasch, daß der Dieb gefangen und mit einem Jahr Gefängnis bestraft wurde. Dann wurde er aber so melancholisch, daß seine Eltern dachten, er würde im Irrenhaus enden. In seiner Herzensangst verkaufte der Vater seinen Zigarrenladen und begann mit dem Sohn 152 zusammen einen Sekt- und Weinhandel. Der floriert heute. Ohne Phrase, August Specht sitzt auf Sektflaschen und ist dick und rund, geliebt und geehrt.

Ich wurde Kaufmann und aß für drei. Ich dachte immer an August Specht. Ich war sparsam wie ein alter Idiot. Ich war Vertreter bei sieben Firmen aller Branchen und wurde zuletzt Akquisiteur. Ich war so sparsam und verdiente so wenig, daß ich ständig zerfetzte Schuhe hatte. Über die zerfetzten Schuhe kam ich nicht hinweg. Ich lief ja auch den ganzen Tag. Ich verlief mein ganzes Fett und wurde nicht ein Gramm schwerer.

Da gab ich den Plan mit dem Spitzbauch auf und warf mich auf die Idee, drei Paar schöne däftige Schuhe zu besitzen. Ich aß jetzt nur noch für einen halben Mann und sättigte mich mit Wasser. Ich gab meine anständige Wohnung auf und zog in ein Ledigenheim und schlief mit einem Vertreter für Margarine auf einem Zimmer. Das hatte sein Gutes: die Margarine kostete mich keinen Pfennig. – Ach, wie war ich sparsam. Ich trank kein Glas Bier und lief nach einem Stück billigen Käse eine Stunde. Ich lag den ganzen Sonntag über im Bett und träumte vom Wege des Erfolges.

Ganz traumhaft kam ich zu Besitz. Drei Paar schöne däftige Schuhe standen unter meinem Bett. Die pflegte ich und putzte ich. Tausend Mark lagen auf der Sparkasse. Wirklich, ich war auf dem Wege, ein zweiter August Specht zu werden.

Ich lebte fast zwei Jahre im Totenhaus meines Willens, Erfolg zu haben. Ich brachte eine Energie auf, die geradezu ungeheuerlich war – und sich von vornherein selbst fraß. Das ist mein angeborener Fehler. Ich betrieb damals meine Geschäfte mit Energie und Empfinden und 153 nicht nach der Logik kaufmännischer Gesetze. Darum war meine Energie nutzlos verpufft. Ehe ich das aber erkannte, war ich schon ein toter Geschäftsmann. Ich nutzte nicht einmal die beginnende Inflation – ich ließ meine Sparpfennige verfallen, verkaufte zwei Paar Schuhe, wurde Arbeiter unter Tage – Bergarbeiter. – Den Kampf um den Anschluß an die Norm der Menschen gab ich auf. –

Unsereiner steht allein, um eine Deutung für viele zu sein, ein Hemmungsvolumen, eine Zone für sich. Genau so, wie die Führer der Wirtschaft, der Kunst und die Erfinder Monomanen sein müssen, Köpfe, die aus dem Rahmen des Durchschnitts fallen, Kraterausbrüche, biologisch bedingt.

Ich glaube die Fäden zu ahnen, die uns mit allem und jedem verbinden und das Schicksal des einen gleichsam spielerisch zum Symbol unendlich vieler machen. –

Josef Brall studierte Theologie. Als er vor der Ordination stand, floh er. Er versuchte es dann in der Staatswissenschaft. Hier scheiterte er an der Problematik seiner Natur. Er diktierte durch zwei Tage und zwei Nächte eine blendende Diplomarbeit. Als er die Arbeit beendet und abgegeben hatte, suchte er vierundzwanzig Stunden nach einem Weib. Als er keins fand, erhängte er sich an seinem Bettpfosten und hinterließ die kurze Mitteilung: »Kinders, alles Mist.«

Ich sah noch viele solch wandelnder Symbole unserer Zeit, sah sie irgendwo und irgendwann sang- und klanglos sterben.

 

Ich war Bergmann. Ein ganz junger, ein Neuling. Darum durfte ich schleppen. – Nur langsam läuft man den Weg bis zum vollsaftigen Steinhauer. Erst Schlepper. 154 Zwei, drei Jahre die Kohlen durch die Streben jagen, die Wagen zwischen und neben die Gleise setzen und wieder heben, die Stempel verfrachten und anfahren, die Knochen schinden und die Kohle fressen. Dann erst ist man getauft, hat Prestige, wird Lehrhauer – ist echter Kumpel und steht im Gedinge.

Ich wollte Lehrhauer werden und dann zufrieden sein. Ich wollte Bruder sein, Glied in einem zähen Geschlecht.

Ich stand unter Tage meinen Mann, schwitzte und blutete. Ich stand in der Waschkaue und warf mit hundert anderen meine Kleider ab, bis wir dastanden in schamloser Nacktheit: Der brüchige und gichtende Brustkasten neben den krampfadrigen Schenkeln, der gebeugte Rücken der Jugendlichen neben den hohlen Kreuzen der Alten, der Hängebauch der Jungen neben den verfetteten Lenden der Älteren, die eingewanderten polnischen Landbrocken mit muskelgekniffenem Hintern neben dem schwammigen Sitzfleisch der kohlenstaubfressenden müden Bergarbeiter unserer westfälischen Heimat.

Wer das nicht gesehen, der sage nichts dagegen. Der soll es nehmen wie ein Evangelium. Denn diese körperliche Greisenhaftigkeit ist wiederum unsere Stärke – heißt Zeugungslust, Generationswechsel, Ton in der Hand großer Ereignisse, Lavamasse, fallende Blätter, Fruchtbarkeit. –

Schwarz, hart und schillernd; kochend, erglühend und lebendig: tief unter der Erdoberfläche sind es keine Menschen mehr, denen aus nackter Haut der Schweiß perlt und deren Rumpf von gähnenden Dunkelheiten gefressen wird. Es sind laufende Kohlenklumpen, es sind Reaktionsphänomene des schwarzen Gesteins, es sind Jahrmillionen, zu denen sie sprechen und gegen die sie die Axt heben. Und mit jedem Schlag, mit jeder Abteufung verhallt über der 155 Erde ein Beben – ungesehen und ungehört, aber doch das Leben der Nation bestimmend. –

Sie kriechen heraus, baden den Leib unter heißem Wasser zur gelblichen Weiße. – Und schwarz, fettig, schwammig, uralt zündet die Kohle, frißt Sauerstoff, frißt sich selbst und zeugt doch noch, zeugt mit geiler Lust, will Urstoff werden; heult und singt, bewegt sich und Milliarden andere Lebewesen, wandert über Nationen, legt sich sehnsüchtig auf die Ozeane. – So verrauschen Millionen Jahre in einer Sekunde.

Die aber, über der Erde, mit der kupferroten, gesunden Haut, mit beweglichen spielenden Muskeln, mit lachenden Augen und trunkfesten Mägen, die Händler, Nutzarbeiter und Klassifizierten, sie leben alle vom Blut unter der Erde und von euch, ihr heißgeliebten Bergleute. Wir alle in der Nation, wir sind erdgebunden, wir kauen Kohle, wir trinken Blutspannungen von Ewigkeiten. Wir sind saftig und hart, eckig und träumerisch, undankbar und egoistisch. Wir sind Berauschte. Wir sind die Teufel unserer eigenen Fruchtbarkeit. Wir, die wir hier auf dem Stück Lande leben, das wir Rheinland und Westfalen nennen, wir sind ständig satt. Wir müssen verfrachten, damit wir nicht ersticken. Ja, wir müßten an der Pest sterben, wenn wir nicht verfrachten würden. Wir müssen die Flüsse unseres Landes zu Schlammbecken machen und die Flüsse wieder ständig baggern und den Sumpf klären, das Wasser chloren, damit die Jahrmillionen der Arterhaltung nicht an unserm Tode zerschellen. Wir müssen, sonst stinken Erde und Flüsse und wir Menschen würden dürsten. Wir müssen, sonst versaufen die Erdschächte und die Nation würde ein Bettelvolk sein.

Wir müssen über und unter der Erde neue Geschlechter 156 züchten, die wir den Gewalten der Zeit entgegenstellen. Denn die Zeit geht nur durch uns Menschen hindurch. Kohle heißt Zeit. Die Kohle frißt sich durch unsere Leiber und formt uns.

Ergreifend, dramatisch zeugt das Bergarbeitergeschlecht sein müdes, verdammtes Blut. Es zeugt uns alle, auch uns, die wir nur die Kohle in Ofen brennen. Die Kohle ist unser Stammbaum. Und dieser Stammbaum wurzelt in Rheinland und Westfalen, und seine Äste und Früchte breiten sich über ganz Deutschland.

Ihr Bergleute, ihr Wurzelarbeiter, was ihr tut, geschieht für die Nation. Ihr seid geboren durch Kohle, euch hebt der Adel der selbstlosen Arbeit. Eure Schattengesichter zeigen das schwarze Gestein und die kleinen Stuben über der Erde mit den Betten. – Ja – schlafen und träumen und zeugen in diesen Betten. Die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht. Arbeit – Glückauf – Stempelbruch – Kohlenrutsch – schlagende Wetter! Was tut's – euer Geschlecht ist stark, zahlreich, zäh und gottbegnadet.

 

Das Zentrum des Geschehens verlegt sich nach der Schwerkraft. Das ist natürlich, im organischen wie im mechanischen Leben.

»Gib mir einen Punkt für meine Füße und ich hebe die Erde aus ihren Angeln«, so lernte ich in der Schule.

Irgendwo ist ein Punkt, der die Schwerkraft überwinden kann. Der Archimedische Punkt. Dieser Punkt ist zentral und zieht Kreise, erfaßt alles, was innerhalb der Kreise lebt, zieht seine Nahrung und speit sie wieder aus. Ist der Stoffwechsel geschehen, dann ist der Schwerpunkt überwunden und Teil des Kreisinnern geworden. Man fühlt nur: der Sauerteig, das Salz der Erde, das Weizenkorn, 157 das in die Erde fällt und ersterben muß, weil es Frucht bringen will. – Das sind kraftvolle Bilder. Es sind keine Gleichnisse, von einem Menschen geformt, sondern es sind die Bilder, die unser Leben tragen. Es sind die unsichtbaren Motore, die alles organische Leben treiben, in ewiger Wiedergeburt – das Perpetuum mobile.

Das Perpetuum – wir alle wollten es in der Schule einmal mechanisch befingern. Ein Mann mit Schnauzbart hinter dem Katheder erzählte uns von der Sehnsucht der Menschen, das Perpetuum mobile zu konstruieren. Aber kein Mensch sagte uns, daß wir Menschen das Perpetuum selber sind, daß die Erde und der Himmel, der Kosmos und die Ewigkeit, die schwebenden Engelein und unsere Träume, die Volksmythe und unser Blut nur Äußerung einer nie endenden Bewegungsquelle ist. Das sagt so leicht kein Mensch dem anderen. Und wer es fühlt, der stirbt fast daran. So qualvoll berührt ihn der Spuk, zu tief wühlen die Bilder vom Sauerteig und Weizenkorn unsere arme Vorstellungskraft auf. 158



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