Heinz Kükelhaus
Erdenbruder auf Zickzackfahrt
Heinz Kükelhaus

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Flucht nach Spanisch-Marokko

Viele spanische Farmer traf ich auf meinem Wege nach Nemours. Ich bekam zu essen und zu trinken, und gute Wünsche geleiteten mich. Man gab mir den Rat, Nemours in weitem Bogen zu umgehen.

So nahm ich denn die Chaussee wieder quer unter die Füße, lief durch die regenfrischen Weinäcker, die sich in diesem fruchtbaren Gebiet meilenweit an den Berghängen erstrecken, hinauf bis zu den sanften Berghöhen, wo die weißen Kornfelder die Grenze der Beackerung künden.

Pietro, mein fast vergessener Begleiter, hatte bei einem guten Farmer seine Visitenkarte hinterlassen. Und das nur einige Stunden vor mir. Seine Fußstapfen sah ich freilich nicht, aber ich war gewiß, daß ich ihn bald treffen würde. So überlegte ich denn schon für ihn mit, daß wir den letzten Rest unserer Flucht bis Melilla am besten zu Wasser zurücklegten. Das dachte ich mir, trotz der Ermahnungen der Farmer, Nemours zu umgehen, als nicht gar zu schwierig. Meine Gedanken drehten sich um einen Kahn, der wohl leicht im nächtlichen Nemours zu erbeuten wäre.

So ging wieder ein Tag zur Neige, und wie mit Geisterschwingen flogen graue Wolken über die Berge und legten sich tiefer und immer tiefer. Und dann fluteten wieder Wasser über Wasser auf die Erde. Im Nu war ich durchnäßt, und zentnerschwer klebte mir mein Zeug am Leibe. Ich zwängte mich in einen dichten Busch hinein, der den Bergpfad säumte. Das Getöse und Gekrache des 76 Gewitters hörte ich mit geschlossenen Augen. Dann wurde ich so schlafmüde, daß ich nicht einmal die Dornen merkte, die sich mir ins Fleisch bohrten. – Durch mein Schlaffieber hörte ich dann plötzlich das Murmeln und Klagen menschlicher Stimmen. Da riß ich meine bleischweren Augendeckel hoch und neigte meinen Kopf, und was ich sah, war so eigentümlich, daß ich gespannt den Atem anhielt: in gleichmäßig singendem Rhythmus kam das Gemurmel näher. Und an der nächsten Pfadkrümmung zeigten sich Gestalten. Es waren Araber, die im langsam schreitenden Chor eine Leiche zu Grabe trugen. Dicht an mir vorbei geisterte die Schar durch das Regendunkle. –

Ich wagte mich nicht zu rühren, bis der Spuk vorüber war. – Wie aber ein Spuk dem andern folgt, so auch hier: eine einsame kleine Gestalt oder mehr nur eine Ahnung von etwas Besonderem – ja eigentlich nur die Ahnung war es, die durch meinen Halbschlaf dämmerte und sich mit dieser kleinen einsamen Gestalt verband: Pietro! – Er schlich wie ein winziger Schatten durch den Bindfadenregen. Im ersten Augenblick war ich erschüttert über soviel Verlassenheit, dann rief ich: »Pietro!« Als die kleine Gestalt eine Menschenstimme hörte, schoß sie pfeilschnell vorwärts. Ich brüllte gegen Regen und Sturm vergeblich an, ich lief, als sei das Heil zu fassen. Pietro aber verdoppelte bei jedem Ruf seine Geschwindigkeit. Plötzlich stoppte Pietro. Da wußte ich, daß er auf den Leichenzug gestoßen war. Er drehte um und sah mich heranrasen und – brach nach links aus. Diesmal aber war ich schneller; ich schnitt ihm den Weg ab und brüllte ihm von vorn mein begeistertes »Pietro« entgegen. Er hörte aber seinen Namen nicht. Mit ratloser Angst sprang er mir fort. Ich lachte Tränen und rannte 77 ihm nach, brüllte, bis er stand. Und er stand stramm, so entgeistert und verrückt war er in seinem Verfolgungswahn. – Wir umarmten uns wie zärtliche Brüder.

»Ramm, mon ami!«

»Pietro, mon cher ami!«

 

Pietro erzählte mir, daß er es ebenso gemacht habe wie ich; durch Felsblöcke hatte er die Verfolger zum Stillstand gezwungen und durch Laufmanöver in die Irre geführt. Vor Nedroma hatte er einen halben Tag auf mich gewartet.

Ich entwickelte Pietro meinen Plan: in Nemours einen Kahn zu räubern und bis Melilla an der Küste lang zu fahren. Er war gleich einverstanden. –

Wir standen auf den Höhen des Bergzuges vor Nemours und sahen durch die dunstige Luft das Spiel der Scheinwerfergruppen von den Festungswerken. Wir sahen die bleichen Schwingen, die sich erkältend auf das Braun der Felsen legten. Und hinter diesem schmalen Riß des künstlichen Lichtes ahnten wir die List und Tücke eines verfänglichen Schicksals.

Wir gestanden es uns erst nicht – den Plan mit dem Kahn ließen wir fallen. Die Gefahr, in diesem großen Nemours, so nahe der Grenze noch gefaßt zu werden, lag uns doch zu bitter auf der Zunge. Die Peripherie der Stadt aber durchliefen wir noch in der Nacht.

Von Nemours aus liefen wir nach Südost, um die Städte Port Say und Saidia zu umgehen. In beiden Städten liegt die Legion. Unser Weg mußte zwischen Port Say und Berkane gehen. Gefahrvoll ist auch dieser Weg für Deserteure, denn die Grenze wird bis weit ins Land hinein bewacht. 78

Die hohen Züge des Monts des Traras lagen hinter uns; unser Marsch schaffte. Ich fing schon an, über unsere Flucht als über etwas Gewesenes zu denken.

Südwest! Über weglose Ebenen zogen wir dem Moulouyastrom entgegen, der die natürliche Grenze von Spanisch- und Französisch-Marokko bildet.

Wir gingen und wir wußten nichts.

Die Stille der Landschaft und das geruhsame Schreiten unserer Beine, die klare Luft und die blendende Sonne, die endlose Ebene, das alles wurde plötzlich durch einen Gewehrschuß gestört. Wir wurden kopflos, ratlos, denn wir sahen keinen Schützen. Als wir dann weitergingen, krachten Schüsse, und diesmal schlugen die Kugeln dicht vor uns ein. Dann sahen wir Rauchwölkchen hinter einem Busch aufsteigen, und eine kräftige Stimme rief: »Stop!«

Ohne Überlegung stürmten wir seitwärts davon, und die Schüsse krachten ununterbrochen hinter uns her. Ich merkte erst später, daß mich ein Streifschuß an der rechten Brustseite gefaßt hatte. – Die Schützen nahmen dann unsere Verfolgung auf. Ein Blick belehrte mich, daß es französische Grenzwächter waren, die uns mit furchtbarer Schnelligkeit folgten. Pietro und ich warfen ruckweise unsere schweren Jacken ab. Dabei verlor ich meine wertvolle Schußwaffe.

Die Nervosität, die uns durch die plötzlichen Schüsse eingeimpft war, die Hitze, die zielbewußt durchgesetzte Verfolgung machte uns verrückt. Ich riß mir das Hemd in Fetzen vom Leibe und zerkratzte mir mit den Fingernägeln mein Brustfleisch. Pietro war blau im Gesicht. Er stöhnte gewaltig und jammerte wie ein kleines Kind.

Die Schützen schossen im Laufen. Als sie dann sahen, daß wir Vorsprung gewannen, warfen sie ihre Gewehre 79 fort. Als dann nach einiger Zeit wieder geschossen wurde, wußte ich, daß sie mit schweren Pistolen knallten. –

Es wurde uns klar, daß die hinter uns die Verfolgung so leicht nicht aufgaben. Das Gelände war leicht übersehbar, und die geringe Steigung der Landschaft zeigte unsere Körper so plastisch, daß es ein Wunder war, daß wir nicht schon nach der ersten halben Stunde als Zerschossene auf der Erde lagen. –

Ich errechnete, daß der Moulouya höchstens fünfzehn Kilometer von unserm Standort entfernt liegen könnte. Ich überlegte mir aber auch, daß kein Mensch diese Entfernung im Wettlauf zurücklegen kann; wenigstens nicht in heißer Tropensonne. Unsere Verfolger waren klimagewohnt, wir aber ausgedörrt und ausgepumpt durch ständige Dysenterie. Aber jung waren wir – und das war unsere einzige Chance.

Die Schützen ballerten immerzu – ich fühlte einen weiteren Streifschuß am rechten Oberschenkel, der recht empfindlich kniff.

Wir rasten wie tolle Hunde über die Ebene.

Pietro jappte – wir waren jetzt beide blau im Gesicht.

Wir begannen zu torkeln, unsere Hände suchten Halt und fanden nur Leere.

Und dann fiel Pietro – ich riß ihn hoch. Ich wußte, wenn einer fiel, waren die Zähen hinter uns gehemmt. Aber ich half Pietro noch zweimal. Und als er dann noch mal fiel, war er furchtbar blaurot im Gesicht und, als ich ihn hochriß, sackte er schlaff zurück.

»Pietro«, schrie ich.

Ich bekam keine Antwort mehr – aber die Kugeln pfiffen mir um die Ohren. Ich stob davon. 80

Es war gegen vier Uhr nachmittags. Ich sah nichts als weite, langsam steigende Landfläche.

Zwei von den vier Schützen nahmen mich weiter aufs Korn. Aber sie liefen langsamer, und ihre Kugeln gingen weit an mir vorbei. Und dann gingen wir in dreihundert Meter Abstand. Wir gingen in gleichem Schritt. Die Sonne machte ihnen ein Zielen unmöglich. Das war mein Glück. – Dann stürmten wir mal wieder das Feld. Ich ließ sie keinen Meter gewinnen, trotzdem mir jeder Schritt in den Muskeln zuckte und mein Schädel mit jedem Pulsschlag vor Schmerz fast auseinanderbarst.

Das Spiel fing an grausam zu werden. Aus so hartem Holz wie die hinter mir war ich noch nicht. Ich bedauerte, daß ich keinen Revolver mehr hatte, mit dem ich mein Leben wenigstens bis zur letzten Sekunde hätte verteidigen können.

Ich versuchte, durch einen sachten Dauerlauf die Distanz zu vergrößern.

Jene hinter mir liefen aber gleich scharfen Trab. – Sie trieben mich. – Und ahnungslos hielt ich Richtung, wahrscheinlich auf Berkane. Ich wechselte weiter nach Osten, um Berkane rechts liegenzulassen. Meine Schweißhunde merkten das und suchten mir den Weg abzuschneiden. Da nahm ich alle Kraft zusammen und holte ein paar Grade östlich heraus, ohne sonderlich die Distanz zu verringern.

Es war, als säßen mir die Teufel im Nacken. Mein unbestimmbares Geschick lag vor mir wie graue Nacht. Die Kraft zum Kämpfen ging mir aber nicht aus. – Und das Lachen, das freundliche, nervenentspannende Lachen schüttelte mich. Die hinter mir hielten mich bestimmt für irrsinnig, denn sie setzten sich in rasende Bewegung. Meine Beine liefen jetzt schon automatisch. Ich lief mit 81 langgestreckten Beinen – ich lief Stilkunst, Hohe Schule. Ich fand den Rhythmus besser für die Lunge. – Durch Stunden ging's. Und da war keine Stelle, die mich für Augenblicke deckte; nur in der Ferne sah ich das Plateau sich heben.

Dann krochen wir wieder, und als ich stehenblieb, blieben die hinter mir auch stehen. Ganz unmerklich verlegte ich die Richtung immer weiter nach Osten.

Irgend etwas mußte es sein, das die Verfolger hoffen ließ, mich zu fangen. Meine Ausdauer gab ihnen dazu keine Veranlassung. Es war höchstens, daß sie auf Verstärkung hofften, auf eine Siedlung. –

Ich hielt meine Augen offen.

Die Dämmerung sank hernieder, aber die hinter mir hielten Spur. Sie kannten die Technik der Ermüdung und weiß der Teufel, wer sie die psychologische Seite der Technik gelehrt hatte: durch die Bewegungsäffung und die vollkommene Lautlosigkeit der Verfolgung den Widerstand zu hemmen, die Traulichkeit, die Sehnsucht nach den Klammern der Verfolger zu wecken, den Fatalismus zu stärken. Das verfing aber nicht bei mir; ich war zu überlegend und ich kannte keine Angst. Wohl aber spürte ich, wie leicht man dieser wechselseitigen Suggestion erliegen kann.

Als es ganz dunkel wurde und die hinter mir mich aus den Augen verloren, lief ich, so schnell ich konnte, nach Westen. Ich hatte keinen andern Richtgeber als die sinkende Sonne und später erst die Venus. Ich wechselte mehrere Male die Richtung; aber immer so, daß meine Endrichtung Südwest–Moulouya blieb. Wo ich stand, wußte ich auch nicht annähernd. Nach Angaben von Farmern hatte ich mir zwar eine Karte mit den größeren Orten 82 und Siedlungen gezeichnet. Eine genaue Lage konnte ich aber nicht mehr feststellen.

Die Nacht war grimmig kalt, trotzdem legte ich mich, nackt wie ich war, auf den Boden und schlief sogleich fest ein. Die Bodenwärme ließ mich auch einige Stunden ruhen, und ich schlief so ruhig, als seien die tollen Geschehnisse des Tages nicht gewesen. – –

»Tag, was bringst du mir?« –

Ich sprang sogleich in die Wirklichkeit hinein. Meine Knie waren so steif, daß ich sie fast brechen mußte, ehe ich aufstehen konnte. Die erste Sonnenglut färbte den Horizont und zeigte mir in der Ferne die Konturen eines waldbewachsenen Bergzuges. Da war Rettung! – Rettung? – Ich konnte mir nicht denken, daß die Zähigkeit der Verfolger gebrochen war und daß sie nicht irgendwo steckten, um meine Flucht bis zur letzten Möglichkeit zu hindern.

Vorsichtig suchte ich die Gegend ab und – sah sie, die beiden Zähen. – Knapp zweihundert Meter von mir saßen sie und suchten mit den Augen in der Runde. Das war ein furchtbarer Augenblick für mich. Ich nahm sofort Deckung in einer Bodensenkung und kroch, auf dem Bauche liegend, davon. Solange mich die Senkung decken konnte, schob ich mich voran. Aber der Augenblick kam, wo ich den Schnittpunkt der Deckung überschreiten mußte.

Ich überlegte, ich grübelte, fand aber keinen andern Rat als Sturmschritt. Ich wartete, bis sie ihre Köpfe von mir abdrehten, sog die Lust tief ein, sprang auf und jagte, wohl wissend, daß jede Sekunde Vorsprung hieß.

Aber, ach wie bald – sie jagten schon hinter mir her, als ich mich zum erstenmal umdrehte. –

Die Berge wuchsen vor mir, und die kühle Morgenluft 83 machte mir die Jagd fast angenehm. Ich war der Flinkere, meine ganze seelische Einstellung hieß: Durch! Und ich kam durch.

Was ich nicht zu hoffen wagte, woran ich nicht im entferntesten dachte: der Moulouya wälzte seine schmutzigen Fluten vor meinen Augen. – Noch hundert Meter – aber tief, zehn, fünfzehn Meter tief. – »Himmel, hilf!«

Die Gerade zeichnet den kürzesten Weg – dieser dunkle Gedanke kroch mir durch die gehetzte Seele. Die Gerade, ob Tod oder Leben, die Gerade hob und schob mich vorwärts. – Sie hob mich besinnungslos zum wahnsinnigen Sprung, und im Sprung kam ich mir vor wie Homunkulus.

Ich fiel unendlich lang, fiel wie ein Kater auf Vorder- und Hinterfüße, schlug mit dem Körper, mit dem Gesicht im Fall gegen Schutt und hartes Gestein – und lag mit gebrochenen Füßen und Händen.

Verwundert schaute ich die Welt an – und sie war gar wunderlich, denn das Sein in mir war so mächtig und süß – die Gewalt der Schmerzen so empfindlich – mein Blut so rot – der Stein so hart – die Menschen so grausam und der Himmel so blau.

Ich rührte mich nicht, auch als ich die Köpfe meiner Schweißhunde über die Felsspitze lugen sah. Ich konnte sie nur anlächeln, denn ich lag waagerecht auf dem Rücken, schaute in die Höhe, meiner Flugbahn entgegen.

Als die beiden Anstalten machten, einen Weg zur Tiefe zu finden, dämmerte mir noch die letzte Notwendigkeit: durch den Moulouya zu schwimmen. Aber ich konnte nicht aufstehen, mich weder auf meine Hände noch Füße stützen.

Der Fluß rollte einige Meter von mir entfernt seine Wasser, und der Uferschlamm sah ekelhaft grün und giftig aus. Ich dachte an die Schlangen, die hier leben. – 84

Ich rollte mich zum Fluß.

»Rest ici!« riefen die Schweißhunde. »Nous ballerons!«

»Jamais!« Damit rollte ich ins Wasser, schlenkerte mit den Armen und gebrauchte meine Beine, so gut es ging.

Aber sie schossen nicht, sie liefen und sprangen zum Ufer und sahen mir zu und standen wie im Gebet versunken.

Mich rissen die Strudel in die Strommitte. Das kühle Wasser linderte die brennenden Schmerzen. Ich schwamm mit dem Rest meiner Kraft. Aber der Strom war breit und reißend. Die letzten Regentage hatten ihm gewaltige Mengen Wasser zugeführt.

Ich warf mich auf den Rücken und ließ mich zeitweise treiben, um Kraft zu gewinnen. Auf die Dauer wurden mir die Bewegungen ungeheuer schwer, und der Schmerz wurde rasend.

Die Stromschnellen warfen mich ein-, zwei- und dreimal hin und zurück und spielten Fangball und Schindluder mit meinen Knochen. Meinen Kopf aber hielt ich über Wasser und ließ meine verstümmelte Kraft nicht zagen.

Ich gewann das andere Ufer und rutschte brüllend den Abhang hinan.

Hier war Spanisch-Marokko – und ich gerettet.

Langsam, trostvoll langsam schwanden meine Sinne, denn mehr Kraft hatte ich nicht – auch ein gutes Pferd läuft nicht länger, als bis es stirbt.

 

Klarer Sternenhimmel war über mir, als ich wieder erwachte. Meine Schmerzen waren geringer geworden durch meine ruhige Lage. Über Tag aber hatte die Sonne auf meinen Leib gebrannt, so daß er übersät war mit Brandblasen; mein Puls raste im Fieber. Kälte schüttelte mich. Ich hob meine Arme und sah meine Hände an. 85 Beide Radiusfraktur. Mein rechter Fuß war furchtbar angeschwollen und schmerzte. Der linke Fuß war schändlich zerschunden; beide Füße waren gebrochen. Mein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber das harte Blut an Stirn und Nase sagte mir genug. Meine Augen waren so geschwollen, daß ich nur durch einen kleinen Schlitz sehen konnte.

Unter Aufbietung aller Kraft gelang es mir, ein Stück der Uferböschung zu gewinnen. Schutz vor Kälte fand ich aber auch hier in einem Busch nicht.

Böse spiegelte sich die Welt in meinen Fieberaugen. Turmhoch und grausig häuften sich mir die Gefahren. Ich kam nicht mehr zum rechten Bewußtsein dessen, was ich alles überwunden hatte. Und die Bewegungen der letzten Tage hetzten mich weiter. Und im Fieberwahn wälzte ich mich auf meinen wunden Knochen.

»Ruhe, Ruhe!« flüsterte ich mir zu. Meine Lungen keuchten, und tausend Teufel bereiteten mir mein Grab. Und dann sank ich hinunter ins violette Dunkel! – Ich dachte, es wäre mein Ende. Die Sonne zog mich in ihren Bannkreis, und durch Milliarden Funken und Sterne flog ich im stetig enger werdenden Kreis. Zur Sonne – als ich in sie versank, war ich nicht mehr. –

Und dann wieder trafen mein Bewußtsein Töne, die wie die Ewigkeit durch mich hindurchrasten, und hin und her schwang sich mein Sein durch die Welt. Immer größer wurde die Bahn, in der ich flog, und mein eigener Schrei gellte mir in den Ohren wie das Getose aller Welten.

Es war aber die Erde, die mich wieder umfing. In mir war Trauer. Warum mußte ich wieder zurückkommen? Ich fühlte hellseherisch den trostlosen Weg, der durch mein ganzes weiteres Leben gehen würde.

Ich schlug die Augen auf und begriff es nicht, was um 86 mich vorging. Als ich aber alles erkannte, wurde ich glücklicher. Spanische Soldaten trugen mich auf einer Bahre, meine Hände waren geschient und ruhten auf einer weichen Decke. Warme Sonne beschien mein geschundenes Gesicht. Die Soldaten lachten mich an.

Als sie sahen, daß ich unter den Lebenden lebendig war, setzten sie die Tragbahre ab und fragten, wer ich sei. So gut es ging, erzählte ich ihnen alles in französischer Sprache. Und als sie hörten, daß ich ein Deutscher sei, waren sie begeistert. Sie gaben mir Wein und trugen mich so sacht und vorsichtig, daß ich vor Dankbarkeit weinen mußte.

Man trug mich den ganzen Tag und den nächsten Tag auch noch. Dann war ich in Agueddim. Hier wurde ich vor einen dicken und gütigen Mann getragen, der mich in seine Wohnung bringen ließ und sich, so gut es ging, über meine Person unterrichtete. Ein wunderschönes Mädchen brachte mir Suppe, die sie mir selbst eingab. Mit einer Hand stützte sie mir den Kopf. Als mich diese kleine Hand berührte, vergaß ich zum zweiten Male, daß ich ein Mann geworden war, und weinte. Die Glut meiner vergangenen Tage war wie ein erlebtes Nichts vor dieser Hand, die so weiß und erdenwahr meine verwundete Kraft berührte.

Das Fieber raste in mir und schüttelte mir die letzte Lebenslust aus dem Herzen. Im Kreis meiner Delirien sah ich die Segelfahrt nach Melilla als die rasende Jagd des Raumlosen in das Weltall – die weißen Segel meines Schiffes hingen über mir wie die Schwingen verdammter Seelen, denen ich den Weg zur Ruhe wies. Das Meer, das seine Wogen gegen die Planken des Bootes warf, klang mir tausendfältig in den Ohren, und mein Flug durch das All brach sich im ewigen Schrei: Wer hilft uns! – 87

 

Ich überstand alles. Das Fieber, den Typhus und die Brüche. Aber dazwischen lagen vier Monate Lazarett in Melilla.

Von allen Gefahren, die der Tod um mich gebreitet hatte, gewahrte ich nichts. Ich trug keine Schmerzen, die mir das Bewußtsein naherückte, und hatte keine Angst in mir.

Der Spiegel zeigte mir das Kindergesicht von ehemals. Meine gebrochene Nase stand wieder kerzengerade, und meine Hände glitten wie früher daheim im Elternhaus über eine schneeweiße Bettdecke. Nur meine Füße schmerzten, und so müde war ich, daß ich mich nicht aufrichten konnte.

Aber das Leben in mir war da, war Tatsache. Ich nahm es hin mit dem Weitblick des Erfahrenen und Geschulten. Meine Gedanken aber nahmen weiter ihren Weg durch Afrika, hin zur atlantischen Küste und tief ins Land hinein, über das harte Gras mit den braunroten Felsen. Es war mir, als sei allein hier die Stätte, wo Menschen noch glücklich werden können. Ich hatte eine unbestimmbare Angst vor Europa, vor Deutschland, meinem schönen Vaterlande.

Damals konnte ich meine Angst noch nicht verstehen. Meine Lebensjahre lagen wohl schon hart hinter mir, aber die Härte, die zu überwinden war, hatte immer greifbare Gestalt und trug lebendes Wesen in sich. Das war Kampf von Empfinden zu Empfinden, und ich trug gern die Last, die mir die Härte des Lebens gab. In den Städten Europas aber bricht sich der Blick der Augen am kurzgespannten Horizont, und die Seele hat nicht Teil an der Arbeit, und an der Tat.

Wie viele bleiben in den Städten hängen bei den ersten 88 Raumflügen ihrer Seele – wie viele trinken von der Kunst des Fluges, und wenn sie ihre Schwingen regen, fallen sie zerschmettert zur Erde.

Ich hatte die ersten großen Flüge überstanden und meiner Seele einen Grundstein gelegt, einen Anker, zu dem sie auch traumflattern durfte.

 

Eines Tages stand der Gouverneur von Spanisch-Marokko vor mir und fragte verwundert: »Que nacionalidad?« – »Un Allemand!« rapportierte ein Offizier. Der Gouverneur trat an mein Bett und gab mir die Hand. Wir unterhielten uns. Er fragte interessiert nach meiner Fluchtroute. Als ich ihn dann bat, mir Spanisch-Marokko zum Aufenthalt freizugeben, fragte er nach meinem Alter. Ich schwindelte zwei Jahre hinzu – aber er schüttelte den Kopf und legte mir zum Abschied zehn Pesetas aufs Bett und ging. –

Viele schwerverwundete Soldaten lagen mit mir in einem Raum Viele wurden mit dumpfem Trommelklang in heißer Erde begraben. Sie kamen jung von ihrem Vaterlande, um im Riffgebiet zu sterben.

Viele lagen mit mir am Strande unter einem großen Zelt. Dann spielte einer der Verwundeten die Andaluce, und die anderen besangen mit Begeisterung und Leidenschaft die Schönheit ihres Vaterlandes und die Treue ihrer Frauen. Dann vermischten sich die langgezogenen Töne der wohllautenden spanischen Melodien mit dem Rauschen der Meeresbrandung. Kam dann der Mond und hob die Farben der Umwelt auf, tauchte alles in seine Schattenwelt, so klagte die Stimme eines Phantasten dem Meere die Sehnsucht nach Mutter und Schwester, Vater und Bruder, Gebirge und Fluß, dem Toros und der 89 Geliebten. Mit tiefer Andacht hörten alle zu, summten mit der Brandung die Grundmelodie. Vom andern Teil des Zeltes erscholl dann die Widerklage von Mutter und Schwester, Vater und Bruder; in suchenden Worten und plätscherndem Echo riefen Gebirge und Fluß; und der Toros lebte und jauchzte seinen fernen Kriegern zu; die Geliebte aber küßte die Wundmale der harten Männer.

 

Es kam dann auch der Tag, an dem ich das Lazarett verließ. Meine Füße schmerzten nicht mehr, und meine Muskeln waren wieder stark, mein Körper gesund und gut genährt. – Als ich durch die Straßen Melillas geführt wurde, sah ich wieder das flutende Leben der Großstadt: das Rasen der Autos, das Pinken der elektrischen Straßenbahn, die Hast der laufenden Menschen. Die Bewegung nach all dem Stillstand und der gedankenvollen Ruhe sprang scharf in mein Bewußtsein und störte das Gleichgewicht meiner gewonnenen Lebensform. – Ich war froh, als ich diesen Wust hinter mir ließ. Mit zwei spanischen Soldaten schritt ich durch das Araberviertel, das einen furchtbar verkommenen Eindruck machte und wie die Pest stank. Kleine, niedrige Hausruinen stehen längs abschüssiger Plätze, auf denen die verschiedensten Typen hocken und neben altem Hausrat und Gerümpel Obst und Gemüse feilbieten. In den Häusern lungern ungezählte Kinder. Und Geschrei und Geschnatter erfüllen die Luft.

Das Judenviertel ist sauberer, es hat sogar Schulen von gepflegtem Äußeren. Die Häuser klettern hier an steilen Treppenstraßen hoch, und die Synagoge gibt diesem Stadtteil das Bild eines abgeschlossenen, friedvollen biblischen Gemeinwesens.

Höher hinauf, einige hundert Meter über dem 90 Meeresspiegel, liegt das Fort Rostrogordo, das mit seinen Kanonen das Meer weithin bestreicht und die Hoheitsgrenze des spanischen Kolonialgebietes wahrt.

 

Kreisrund – mächtige Mauern, in wuchtiger Selbstsicherheit liegt das Fort vor mir. Davor ein auszementierter fünfzehn Meter tiefer Graben, darüber führt eine Brücke. – Dieses Fort ist meine Internierungsstätte.

Das gewaltige Tor öffnet sich. Ein großer Steinhof liegt vor mir, Stimmengewirr dringt mir entgegen, Araber in schmierigen Burnussen, in Ketten und mit Kugeln an den Füßen, trotten im Kreise über den Hof, dazwischen Soldaten, und an einer offenen Kasemattentür drängen sich Gesichter aller Nationen.

Ich werde vor den Kommandanten des Forts geführt. Es ist ein netter junger Offizier. Meine Personalien werden aufgenommen, mein Hemd wird gleich mit einer Nummer benäht, dann führt man mich durch den Hof zur offenen Kasemattentür.

Sprachgewirr: französisch, englisch, spanisch, griechisch, russisch, polnisch, und über alles quirlt die lustige, temperamentvolle Stimme eines Süddeutschen: »Doas is a Landsmann – grüaß Gott!« Wir reichen uns die Hand. Und den andern biete ich den Tagesgruß in allen Sprachen, die ich kannte.

Ein Wiener war's, dessen Hand ich drückte, und als ich in sein Gesicht sah, glaubte ich, ich sei es selbst – nur älter war er. Blaue Augen blitzten mich an, und der scharfe Schnitt seiner Mundwinkel, das starke Kinn, das blonde Haar, die weiche Stirn, alles gab mir den Bruderkuß unter so verschiedenen Rassen. Breit und untersetzt, mit mächtigem Brustkasten und wippendem Schritt ging er vor mir 91 her und führte mich an seine Lagerstatt. Wir setzten uns nach Araberweise und schwelgten in unserm Sprachklang.

Das Vertrauen, das uns sofort band, öffnete uns die Herzen, und er erzählte: Als Student aus Innsbruck tat er den ersten Flug nach Italien, von da nach Tripolis, von dort zur Legion. Flucht aus dem Innern Marokkos, von fünf Deserteuren der einzige, der durchkam. – Und seine Idee reichte der meinen die Hand: Flucht aus dem Fort, hin zum Riffhäuptling Abd el Krim.

Die ewigen Feinde der spanischen Kolonisation in Marokko waren damals schon im hellen Aufstand. Das schwierige Gelände, der zähe Gegner in den Bergen schickte Tausende von spanischen Soldaten in blutigen Gefechten in den Tod und in die Lazarette. Ich hatte es gesehen und gehört.

Abd el Krim – er lebte unter uns allen im Fort als eine mächtige Figur. Den Riffkabylen in den Kasematten unter uns, ohne Licht in dumpfer Luft und mit Kugeln an den Fußgelenken, ihnen stockte der Atem, wenn der Name Abd el Krim fiel, ihre Augen wurden zu Dolchen, und ihre Lippen murmelten reichen Segen auf die Pläne des großen Führers.

Ich ging oft die schmale Stiege zu den Kasematten der Riffkabylen hinunter. Es waren an hundert, die hier nach der Freiheit riefen, in der sie geboren und deren Stempel ihnen die Natur auf die edlen Gesichter geprägt. Aus ihren Bergen heraus, als Führer ihrer Stämme und Kriegsobere, wurden sie als Geiseln und Verbrecher gegen die hohe Kultur Spaniens in die Löcher der Forts geworfen.

Ewige Wiederkehr, daß ein kleines Volk gegen eine große Militärmacht anrennt und seine Kinder auf verlorenem Posten opfert, allein um das Empfinden der 92 Rasse zu erhalten. Denn das ist klar: die Riffkabylen kämpfen nicht gegen die windigen Kultursegnungen eines Volkes, dessen Kulturkern durch ihre Ahnen im ersten Adel gestiftet wurde: kämpfen auch nicht gegen die rein autokratischen Gelüste Spaniens, sondern sie kämpfen, weil ihre Seele, ihr Empfinden bedroht ist. Das machten sie uns klar, und um so mächtiger wuchs in unsern Augen das Volk und sein Führer Abd el Krim.

 

Einen Monat gebrauchten wir, der Wiener und ich, bis wir uns zur Flucht aus dem Fort fest entschlossen. – Es war ein tollkühnes Unternehmen, bei dem schon mancher Araber sein Leben gelassen hatte.

Zuletzt waren es zwei Araber, die sich über die Fortmauern schwangen und in die tiefen Zementgräben stürzten. Hier endeten sie auf ganz schauderhafte Weise. In den Zement waren meterhohe eiserne Spitzen in so geringem Abstand eingelassen, daß kein Körper sie fehlen konnte. Diese Tatsache genügte uns, umsichtigere Wege zu finden. Das Fort maß fünfzig Meter im Durchmesser und hatte eine ständige Belegschaft von fünfzig Soldaten. Auf dem Turm über dem Toreingang war ständig ein Posten, der durch seinen erhabenen Stand das ganze Fort unter seinen Augen hatte. Die Rampe zum Schießgang, der rund um das Fort lief, war mit Stacheldraht verspannt. Über diese Rampe mußten wir, um zu dem Schießgang zu gelangen. Die Fahnenstange des Forts, angeklammert an den Wachtturm, zehn Meter über der Zugbrücke, nahmen wir als den einzigsten Punkt in Aussicht, von dem aus die Flucht möglich war. An dieser Fahnenstange mußten wir einen Gleitstrick anbringen, an dem wir hinunterrutschen wollten. Das ganze Unternehmen war 93 natürlich nur möglich zu einer Zeit, wo alle Soldaten schliefen und dem Wachtposten auf dem Turm die Sicht durch Regen und Sturm unmöglich war.

Wurden wir vorzeitig entdeckt, so waren wir verloren: der Posten mußte nach dem Dienstreglement sofort schießen.

Mehrere der gefangenen Kabylen hatten uns Empfehlungen an ihre Vertrauensmänner in Zegzaoua und Teffah gegeben, die uns Sicherheit und Achtung gewährten. Auch ein geheimes Schriftstück an Abd el Krim wurde uns anvertraut. Wir waren erfüllt von unserer Mission. – So erwarteten wir die Nacht, in der es regnen und stürmen würde.

Unsere ganze Sorge galt dem Strick, der uns von der hohen Mauer des Forts herablassen sollte. Unsere Schlafdecken waren zu alt und rissen wie Zunder. Sonst aber fanden wir nichts, was uns unserem Zwecke dienlich sein konnte. Die Vorsichtsmaßnahmen im Fort waren so getroffen, daß ein Fluchtmittel kaum seinem Bestand entnommen werden konnte.

Und doch fanden unsere Augen ein Mittel. Es war der Wäschedraht, der über den Hof gespannt war. Zwar konnte unsere Flucht durch diesen glatten Draht kaum erleichtert werden; er konnte schwerlich unseren Körpern ein langsames Gleiten gestatten. Unser Mut aber klammerte sich an diese Atrappe. Auch die Befestigung am Fahnenmast mußte viel Zeit in Anspruch nehmen, und das Klirren des Drahtes, das waren alles Umstände, die, zwei Meter unter dem Wachtposten, die Flucht recht kitzelig machten.

Sturm und Regen, Witz und Tollkühnheit unsererseits, nur das machte die Ausführung möglich. – 94

 

Eines Morgens sank die Flagge über dem Turm auf Halbmast, der Kommandant hielt an die Fortbesatzung eine Ansprache, die vom leisen Knurren und Murmeln der Soldaten begleitet wurde. Mit dem Winde krochen und versanken Trommelwirbel aus dem großen Melilla um das Fort, und der Chor der Kirchenglocken brauste und ebbte, je wie der Wind die Flut der Töne warf. – Als dann auch die Trommeln im Fort ihr dumpfes Atmen wirbelten, da wußten wir, daß die Nation trauerte. Die Trauer lag über der Stadt, über allen Hütten und Palästen, in denen Spanier lebten. Die Wirbel der Trommeln sprachen das Leid, die Kirchenglocken dröhnten die Kunde, die Fahnen schlugen und flaggten schwer in frischer Brise.

»Der Gouverneur ist durch Riffkabylen ermordet worden«, lautete die Botschaft, die in unsere Kasematten drang und den Gefangenen in den lichtarmen Löchern unter uns die Herzen schwellte.

»Wir, unsere Gedanken, unsere Freiheitssehnsucht leiteten den Dolch!« Das war das Empfinden der Riffkabylen, das auch auf uns übersprang. Und diese Gemeinschaft mit dem Mörder und seiner Tat pulste so fühlbar in den Mauern des Forts, die Ketten der Gefangenen schwangen sich so leicht, wenn sie den Hof durchschritten, und die sonnenwarmen Gesichter reckten sich so frei zum Himmel, daß hier die Klage um den Tod eines der Besten Spaniens zum Gespött wurde. Und die warmen Töne der Glocken überhörten sie, sahen hinweg über die Hindernisse und fanden den Weg zu den Minaretten über ihren Moscheen, wo ihnen der Muezzin die Aufforderung zum Gebet an den Herrn des Lebens zurief.

Wechselform des Seins! Im Riff sammelten sich zur Stunde die kühnen Bergbewohner, und ihr Streitruf heulte 95 die Bergfelsen entlang, wie in den Kirchen Melillas die Bittgebete der Priester an den Domwänden das Echo wachriefen.

 

Die Verschärfung des Dienstes im Fort brachte auch uns Unangenehmes. Nur zu bestimmten Zeiten durften wir noch den Hof betreten. Posten wurden vor die Senkung zum Arabergefängnis gestellt. Die Kasemattentüren erhielten Tag- und Nachtposten, und alle drei Türme des Forts wurden mit Wachen belegt.

Unser Plan schlief aber nicht ein, auch ließ sich unser Mut nicht brechen. Wir harrten der Nacht, wo uns der Himmel günstig war. –

Schon zwei Tage nach der Ermordung des Gouverneurs heulte der Sturm vom Atlantik herüber, der Regen prasselte in Gießbächen, im Hof knarrte und wippte, was nicht fest war. Die Türen polterten, und pfeifend brach sich der Wind an dem runden Gemäuer des Forts. – An diesem Abend war es, als ich den Posten täuschte und der Österreicher durch ein geschicktes Gespräch die Aufmerksamkeit des Postens von der Hoftür ablenkte. Den vorher schon gelösten Wäschedraht aus dem Hof nahm ich aus den Angeln und wickelte ihn um meinen Arm und schlüpfte wieder in die Kasematten. So gelang das erste Manöver.

Nebeneinander lagen wir dann auf unserm Strohsack und warteten auf unsere Zeit. Die Nacht kam mit Sturm und Regen, die Posten verließen die Tür und ergingen sich in den Kasematten, rauchend und schwatzend.

Das war unsere Zeit. Wir schlürften auf Socken durch den schmalen Gang, den die Strohsäcke uns ließen, zur Hoftür und warteten hinter der aufgeschlagenen Tür, bis 96 die Posten ihren neuen Rundgang begannen. – – Sie zogen an uns vorbei – bis sie die Biegung der Kasematte verschlungen hatte, warteten wir, dann liefen wir in den Hof, vorbei an dem Wachtlokal, die Rampe hoch. Da waren dann die ersten Hindernisse: Stacheldraht, kreuz und quer gespannt, und die Kanonen. Behende kletterten wir über die Kanonen und krochen unter den Drähten her. Unsere Bewegungen und ihre Geräusche tauchten unter im Dunkel und im Wind und im Prasseln der schweren Regentropfen.

Es galt rasches Handeln, denn jede Minute konnte die Entdeckung unserer leeren Strohsäcke bringen. –

Hart an die Mauer gedrückt – so passierten wir den ersten Turm. Der Posten klappte mit seinen schweren Stiefeln und hustete. Wir krochen auf dem Bauche liegend unter dem Stacheldraht durch.

Langsam näherten wir uns dem Hauptturm, der über der Brücke liegt. Es war so dunkel und die Luft so regensatt, daß wir nur verschwommen die Umrisse des Turmes erkannten. Als wir näher kamen, sahen wir den Posten. Wir konnten nur seinen Kopf sehen, da das Mauerwerk des Turmes ihm bis zu den Schultern reichte. Ein senkrechtes Herabschauen auf uns war nicht möglich, da die Brüstung einen Meter stark war. Er hätte schon herausklettern und sich darüber legen müssen – wenn er den Mut dazu hatte. Gefährlicher wurde uns der Posten im Rücken, der uns, wenn die Wolken den Mond entblößten, bei einiger Aufmerksamkeit sehen mußte. Unsere Bewegungen mußten so flink sein, daß, wenn er schon etwas merkte, ihm der nächste Augenblick die Angelegenheit als Trugbild wiedergab. Wir stellten uns auf Augenblickshandlungen ein. 97

Es waren gefährliche Sekunden, als wir den Draht um den Fahnenmast wickelten und sein Klingen und Schleifen an der Mauer andere Töne in die Eintönigkeit des fallenden Regens brachten. Wir warfen uns jedesmal glatt hin, wenn unsere Bewegungen störend in die Geräusche der Umgebung fielen und sogen mit unserm Herzen den Pulsschlag des Postens ein und warteten, bis wir seine Ruhe fühlten.

Der Draht war fest. – Der Österreicher wollte zuerst springen. Ich übergab ihm alle Papiere, die ich besaß. Wir versprachen uns gegenseitig, im Falle einer liegen blieb, einander die Papiere abzunehmen. Mit dieser Möglichkeit mußten wir rechnen. Die Papiere konnten uns vors Kriegsgericht bringen.

Wir drückten uns noch einmal die Hand – mit einem kräftigen Sprung warf sich der Österreicher über die hohe Brüstung und hing am Mast. Vollkommen geräuschlos ging das vor sich. –

»Glück zu!« waren die letzten geflüsterten Worte. Die Hand verschwand vom Mast – einen Pulsschlag Stille – und dann folgte wie ein Donner der Aufschlag eines schweren Gewichts auf die Brücke. Laut wie ein Gewehrschuß hallte der Fall durch die Nacht.

Da hatte ich keine Überlegung mehr. Ich schwang mich über die Brüstung. Im selben Augenblick züngelten drei Feuer von den Wachttürmen. Wie blitzende Sterne zuckten sie in meinen Augen. Aus dem Hof drang schon Alarm. Ich ließ den Fahnenmast los, dachte nicht mehr an den Gleitdraht, verließ die Fußstütze und sauste ab. Mit wahnsinnigem Getöse schlug ich auf die Bohlen. Als ich mich erhob, um Sturm zu laufen, riß man das Tor hinter mir auf. Ich machte einen gewaltigen Satz über die Brücke. Man 98 schoß – noch ein Sprung, und mit Wehgeschrei stürzte ich zusammen.

Im linken Oberschenkel schoben sich die Knochen übereinander.

Ich war nachgerade gewöhnt an meine Knochenbrüche. So konstatierte ich mit größter Ruhe: Schuß im Oberschenkel, Splitterung. Ich legte meinen Kopf auf die Erde und ließ dem Schießeifer der Spaniolen freien Lauf.

Dann kamen sie, benahmen sich brutal, wie tolle Hunde, stießen mir ihre Gewehrkolben in die Seite, traten mit ihren Füßen gegen den schweren Oberschenkelbruch, daß ich mich wie rasend aufbäumte. Darauf stoben sie auseinander und hoben das Gewehr auf mich. Fast glaubte ich, sie hätten mich niedergeknallt, als wirklich ein Schuß fiel. – Dann trat der Kommandant zu mir, ordnete an, Hacken klappten – er strich mir die Haare aus dem Gesicht und lachte mich an.

Ach, es war zum Lachen. Da lag ich, mit schwerer Verwundung, nachdem ich mit so viel Umsicht und Mut aus dem Fort entwichen war, knapp drei Meter hinter der Brücke zum Fort.

Streifkommandos rückten aus, um den Österreicher zu suchen. Ich mußte innerlich lachen. Wo wäre ich, wenn ich den Schuß nicht erhalten hätte! Keine tausend Soldaten sollten mich finden. –

»Glück zu, lieber Kamerad!«

Tragbahren, Sanitäter. Man trug mich einige Zeit über schmale Pfade. Ein Auto warf seine Feueraugen durch die Nacht. Man hob mich hinein – ich kam fast um vor Schmerzen. Das Auto rumpelte zu Tale.

Dann Lazarett – Operationstisch – die Zange wurde 99 mir ins Knie gebohrt – und in meinem Bett träumte ich von der Flucht aus dem Bergfort, von meinem Kameraden, der durch den Regen stapfte, dem Riff zu. –

Von Pein zu Pein, von Bindung zu Bindung.

 

Durch die Monate meines Krankenlagers tobte sich der Winter in schweren Stürmen und Regen aus. Ich fühlte ihn nicht. Nur das Donnern der Meere drang an mein Ohr, und der Gewitterschlag erschütterte wohl mal das Fundament der leichten Baracke, in der ich meine Schmerzen verträumte. – Als ich meine ersten Gehversuche machte, schien die Sonne, heiß duftete der Erdboden. Die Schlinggewächse an den Baracken zeigten tiefstes Grün, und die Azurbläue des Himmels lag fern, aber doch schwer auf meinen Lungen.

Die Verwundeten aus ihren Lagern sahen träumend in die Blattpflanzen an den Fenstern, und ihre Stirnen preßten sich zu Falten, wenn sie an das Warum ihres Todes dachten. –

Die Wehen des Frühlings kamen. Der Winter erhob nur gelinden Protest und heulte seine letzte Kraft über dem Meere aus.

Streng wurde ich bewacht, trotzdem sah und hörte ich die Rufe des brennenden Riffgebietes. Flammen der Begeisterung, Flammen des Krieges zuckten über die Gebirge. Und dann kamen sie – die Verbrannten. Zu hunderten fauchten die Autos in das Karree der Holzbaracken und spien das Blut von den Bergen in die Krankensäle.

Mit weißen Kitteln und graugrünen Gesichtern tanzten die Ärzte und das Pflegpersonal durch Tage und Nächte. –Krieg!

Und auch hier Legionäre – tausende – geworben, 100 gelaufen kamen sie, trugen ihre nackten, klaglosen Seelen in die Brandfeuer des Riffs.

Fragt sie: Woher kommt ihr? – Sie bleiben stumm, verschenken kein Wort, keinen Gedanken.

Ich aber saß an ihren Betten und schrieb die Namen derer, vor denen sie einst geflohen waren. Und jedes Wort von ihnen war ein Schlaglicht, eine Vision von tausend Bildern der Zeit.

Hier wurde ich der »Vermächtnisträger der Abgekratzten«. – Zug um Zug lernte ich die Linien kennen, die ich selbst befuhr. Die Schritte der Mutigen, den Rhythmus der Raumlosen.

Deutsche, nur Deutsche waren es. Aus dem Vaterlande jagte sie der Winter, der keine Arbeitslast mehr für sie fand. Das Volk gebrauchte seine Ellenbogen und drängte, zerriß den Geist des Gemeinschaftsempfindens, und nichts blieb ihnen vom Vaterland als die Karikatur: Ihr Geist und ihr Blut müssen verdampfen für die Kleinsten unter dem Himmel der Rassen.

Wie das Leid des einzelnen mit wahnsinniger Genauigkeit den Kreislauf der ganzen Welt zeichnet, so sicher glaubte ich zu fühlen, daß diese Seelen kein Steinwurf aus dem Vaterlande treffen kann.

Und weht über ihren Gräbern der heiße Wind und modert in der Erde das triebhaft rote Blut der Deutschen: Über uns allen wölbt sich nur ein Himmel. 101



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