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So wurde ich Legionär. – Der Hafen von Marseille hat ein mächtiges, altes Fort, das im Wasser liegt und den Felsgrund zum Fundament hat. Dieses Fort schluckte uns. –
Die Tage tauchten blutig rot aus dem Meere, und die Nächte kamen fleckenlos in unsere Kasematten, fleckenlos in die Kinderherzen, in die Geister, die mit diesem Leben nichts Besseres anzufangen wissen, als es raumlos, namenlos hinter Gestrüpp und Gestein zu verhauchen. – Ich habe sie alle, die mir auf diesem Lebensabschnitte begegneten, nie nach ihrer Heimat, ihren Eltern gefragt. Und selten auch, daß einer von selber sprach. Es waren viele, die meisten aus meiner Heimat. Sie sprachen die Sprache und die Gedanken der Gebildeten, die der Halbgebildeten und den unverfälschten Dialekt der Scholle aus Süd und West und Nord und Ost. Daneben stellte sich der Russe an Zahl, dann der Italiener, Spanier, Engländer, Schwede und Norweger, Ungar und Slowak – alle Kulturländer waren durch Sendboten vertreten. Sie waren da und keiner kümmerte sich eigentlich um ihre Rasse. Es ist eben die Legion, die sie alle umfaßt – und es war ihre Idee, daß die Legion bestand, gleichgültig welche Sanktion sie durch die Menschengesellschaft erhält, welche Behörde die erlogenen Personalien registriert; gleichgültig auch die einzelne Person des Legionärs, der irgendwo endet. Es waltet eine Großzügigkeit ohnegleichen über und unter diesen Menschen. Einmal erst drapiert, numeriert, beginnt 44 all das zu schwinden, was durch die Jahre seit der Geburt anerzogen, gelehrt und erlebt wurde. Der Schwingenschlag wird gleichmäßig, willig, die Ziele gemeinsam, wie bei einer Herde Zugvögel.
Aber über das Gros der Legionäre hinaus erhebt sich auch hier eine Gruppe, eine Art besonderer Menschen, die ihre Würde wiederfinden und zurückkehren in die Heimat, um das Leben zu meistern oder zu sterben.
Oran! – Weicher Wellenschlag bewegte dich, wunderschönes Meer, als wir uns trennten. Heiße Sonne, Traumgebilde, Leben! – So behende war die Seele im Erfassen des einzelnen und doch so flüchtig der Flug, daß alle Einzelheiten versinken und nur eine breite Farbe über allem liegt. Ich tanzte auf dem Meer und auf dem Lande. Ich verlachte die Hüter unserer freien Gedanken, kenterte mein Lebensschiff im vollen Winde und raffte den Augenblick.
Sidi Bel Abbès! – Traumschöne, wilde Herberge einer wildbewegten Seelenschar, Brennpunkt der Seelenscheide unter den Raumlosen, wie tief legtest du mir das Bewußtsein des ewig Alleinseins auf Erden ins Herz. Aber keine Klage darüber, ich kannte auch keine. Die Bewegungsformen des Seins wechseln, mit ihnen die Erkenntnisfähigkeit.
Es gab nichts, was den einzelnen heraushob unter den Tausenden von Legionären, als eben seine Erkenntnis. Die Spielfertigkeiten und die Effektkünsteleien trugen hier keinen Widerhall – sie brachten auch gar keine Befriedigung. Wie nach einer groben, harten Wäsche floß der Unrat, und die sinnenden Köpfe der Legionäre kannten 45 keine Tränenquellen. Die Umwelt formt, formt was ihnen dienlich ist – und diese afrikanische Erde mit ihrer fruchtbaren Mütterlichkeit, ach, sie trägt viel mehr Liebe zu ihnen. Ihren gierigen Augen gibt sie die Bilder ohne die Konturen der Zerrissenheit ihrer Seelen, ihrem tiefen Empfinden die Ruhe und Ausgeglichenheit ihrer Mannbarkeit ohne Sittenkodex.
»Unter uns sehen wir wenig Schlechtigkeit, also sind wir nicht fern vom Guten!« sagte damals ein tiefsinniger Russe zu mir; ich drückte ihm die Hand. Wir sahen keine Priester – und dem mehrdimensionalen Gedankenzyklus senkte sich das Bild: »Herde ohne Hirte«, zum starken Selbstbewußtsein. –
Alles folgerichtig, – folgerichtig, daß ich nach der Impfung fieberte; folgerichtig, daß ich vor der Impfung Wasser aus einem Brunnen trank, der gesperrt war. Ich hatte Durst und sah nicht das Verbotsschild. Ich klagte nicht, als sich mir die Därme im Leibe drehten und das typhöse Fieber in mein Blut kroch. Ich sah die Bedürfnislosigkeit des Legionärseins um mich her, sah die harten, glücksuchenden Gesichter und verlangte kein Mitleid. Nicht einmal Rat suchte ich, bis man mich zur Infermerie trug, mir Gifte eingab und Kowalskys unverständige Hand mir verstohlen den kühlen Trunk reichte, von dem meine kochende Kehle faselte. O Kowalsky, statt dessen hättest du mir auch Spiritus in meine Därme gießen können! – Ich überwand den Anfall in zwei Wochen und nach einer weiteren Woche stand ich in Reih und Glied.
Wir übten das Schießen in der Sonne und im Schatten, wir traten stundenlang den heißen Sand der Übungsplätze und hart waren die Worte und Zurechtweisungen 46 der Vorgesetzten. – Zum Lachen war's, wenn in der Hitze des Wortstreits der Gescholtene den Vorgesetzten in seiner Heimatsprache zu verfluchen begann und – verstanden wurde. Er schleppte dann den Sandsack von fünfundzwanzig Pfund durch Stunden in der platten Sonne und hatte in der Nacht den harten Holzboden zum Lager und die Ratten zur Gesellschaft. – Die Strafen für die geringsten Vergehen waren hart und von der Furcht diktiert, daß Revolten unter dieser Kolonialtruppe auch den Freiheitsdrang der Araber zum Entflammen bringen würde. –
Von sechs bis elf Uhr abends gehört die Zeit den Legionären. Dann füllen sich die Straßen von Sidi. Die Prämien, die den Neueingetretenen gezahlt werden, beginnen hier ihren Kreislauf. Dreihundert französische Franken und Sidi am Abend und zur Nacht. –
Sidi lebt vom Gelde und vom Sein der Legionäre – aber ihre Einwohner, die Händler und Beamten tragen nur Verachtung für diese Fremden ihrer Schutztruppe in den Gesichtern und Herzen.
Was störte uns das! – Wir waren frei, wir saßen hinter Pullen köstlichen Rotweins, tauten auf und heckten Späße: Eines Abends liefen sämtliche Mädels und Weiber, die den Legionären aus Geschäftssinn zugetan, mit dem Stempel »schlachtreif« aus ihren nackten Beinen umher, und ich weiß aus hundert geflüsterten Gesprächen, daß die Stempelabzeichen noch weiter hinauf zu suchen waren. – Da war auch ein Hürlein, dem eine goldene Armbanduhr aus dem Busen entschwand. Das zartsinnige Weib durchschlich nun eines Nachts die Kasernements und die Stuben der schlafenden Legionäre. Sie suchte mit Klug und Fleiß, bis sie ihren Freund fand. Er kam vor ein Kriegsgericht und 47 legte seinen kontraktlichen fünf Jahren zehn Jahre Zwangsarbeit hinzu.
»Teufel«, hieß es da. »Die wollen uns fressen, bevor wir gar sind!« –
Manche Rachetat deckt die dunkle Nacht. Wie viele Korporäle büßen ihre Schikanen mit kreuzlahmem Rücken, Paradehieben oder gar mit dem Tod! – Legionäre haben Kraft und nicht viel zu verlieren und manche gar nichts.
Dem Russen, der in der Kantine drei Liter schweren algerischen Wein trank und stolpernd vor die Füße eines kontrollierenden Kapitäns fiel, gar noch seine Lackstiefel mit Magensäure beträufte, dem ging's nicht gut, er mußte sterben: Zwei Strafhiebe mit der Reitpeitsche ertrug er willig, der dritte brachte ihn aber auf die Beine und beim vierten rammte er den Offizier wie einen tollen Hund mit beiden Füßen – aber dann spießte sich der cholerische Russe auf die vorgehaltene Klinge, die ihm der Offizier noch nachdrücklichst durch den Magen bohrte. –
Sidi, du sahst auch die Untat, wie zwei geflohene Legionäre von einem Dutzend Spahisreitern durch deine Straßen geschleift wurden und jene ungezählten, unbekannten scheußlichen Episoden, die keine Chronik jemals finden werden. – Sidi, schöne groteske Herberge wilder, freier Männerseelen!
Wenn Sonntags morgens die Reveille geblasen wurde und den Legionären einen Ruhetag versprach, war stiller Jubel. Die Mannschaftsstuben glichen dann aufgeräumten Herzen. Es war eine kindliche Feiertäglichkeit, der unwillkürlich gehuldigt wurde. Das und das Singen melodischer Volkslieder, das Tragen der besten Montur, der erquickende Suff, der Skat, die Liebe sind ungeschriebene Gesetze des Sonntags. – Die Deutschen und die Russen 48 bildeten je einen Chor, und in edlem Wettstreit sangen sie um den Preis, den Legionäre gewähren können: die naive Freude.
Legionärsleben! – Wer aber kennt es besser wie die alten Ritter, die Landsknechte, die Flibustier, die vor Fes gekämpft, durch die Glutwinde der Sahara geritten, im Atland gegen die Berber und Riffkönige im mörderischen Kleinkrieg geblutet, im Tonkin neben ihren Gewehren und Kanonen in Fieberschlaf fielen.
Zu welch mächtigen Erlebnissen werden die Heldenberichte und Sagen, die diese alten Kämpen, diese allseits geehrten Legionäre erzählen!
Jeder Legionär trifft diese Gestalten immer irgendwo, sei es in Fes, in Saida, im Kampfgebiet, in den Zitadellen, sei es am Tage oder in der Nacht, an den Verwundeten- und Sterbelagern. Sie stehen hinter und vor dem Feind; haben Freunde unter den Großen der Legion und tragen ihre Medaillen und Tapferkeitsanerkennungen wie Sousstücke in den Taschen. Diese Kerle sind die wahre Macht der Legion – sind Vertreter der Idee »Fremden«-Legion, die wandelnden Seelen der »Abgekratzten« und ihre Vermächtnisträger –, »die heulenden Wölfe der Schlachtgebiete«, und ihre Warnungen vor den Strafgruben gleichen Schilderungen von Dantes Höllen.
Als ich in dem Lazarett an der Dysenterie lag und neben mir und über mir eine Anzahl gleicher Kranken, da waren es zwei dieser finsteren Helden der Legion, die mit grünen Augen in den Ecken lehnten und darauf warteten, bis einer der jungen Kranken aus dem Bette spritzte, um den Stuhl neben dem Bette zu benutzen. – Darauf konnten die Kerls stundenlang warten. Sie bohrten ihre Augen in die Köpfe der Kranken und murmelten 49 Worte, die keiner verstand, aber von solch einer Zärtlichkeit und Hingabe getragen, daß irgendein Kontakt mit den fiebernden und schmerzgerüttelten Kranken zustande kam. Ich habe es gesehen und gehört, wie diese Kranken nach den gemurmelten Worten der Männer mit den grünen Augen schrien und tobten. –
Ja, so waren sie, diese Helden. Sie warteten und beteten für eine Minute Lust drei Tage und drei Nächte und schütteten Jauche über eine Saat, deren kranke Frucht sonst erst nach Jahren unter dem schweren Atem der Sonne reift.
Eins ist's, was die Legion von den Legionären als höchstes Gesetz verlangt: Tapferkeit vor dem Feinde. Und eins ist's, was sie bei Todesstrafe verbietet: die Desertion. Damit sind die Grenzen festgelegt, die der Legionär nicht überschreiten kann, ohne dem Standrecht zu verfallen. Daß das Wirklichkeit, erbarmungslose Wirklichkeit war, konnte uns nicht fremd bleiben. Es stand nackt gedruckt in unsern Kontrakten und wurde wie die größte Selbstverständlichkeit bei der Verpflichtung in uns hineingehämmert. Und bewiesen wurde es, daß die Lauffeuer vom ständig geübten Standrecht herüberkrochen vom Atland und durch die Sahara, von Algerien und den äußersten Randgebieten der Legionärstationen. – Nein, es stimmte, es war Wirklichkeit, und doch, mit der Desertion nahm es kein Ende. Wie sollte es auch? – die Grenzen waren gesetzt und damit ihre Überschreitung.
Die Landkarten und Kompasse kreisen in den Mannschaftsstuben wie Trinkbecher – und wenn mehrere Legionäre mit überkreuzten Armen und tiefsinnigen Visagen grunzen, ja, dann weiß man: sie überlegen die Reiseroute. 50
Legionäre essen gern Schokolade. In jeder algerischen Garnison gibt es mehrere Rentner, die von dem Gelde lutschen, daß ihnen die schokoladefressenden Legionäre einbrachten. Schokolade ist gegen Dysenterie das beste Hilfsmittel. Das wissen alle Korporäle und Spitzel – sie wissen aber auch, daß Schokolade das einzig transportable Nährmittel für die Flucht ist. Und wehe dem Legionär, der mehr als fünf Tafeln Schokolade in seine Fußlappen einwickelt und sich mehr als hundert Blättchen Zigarettenpapier in die Hosentaschen steckt! Der hängt bald, bestimmt, der hängt bald an den Wänden einer Dunkelzelle, weil ihn am Boden die Ratten und Wanzen anfressen würden.
Das und noch viel mehr wußte ich. Und doch sitze ich eines Abends mit zweien hinter verfallenen Mauern und verteile die Rollen, übernehme die Kasse und siegele mit Handdruck Verschwiegenheit über unsern Fluchtplan.
Die Durchgangsstation Sidi Bel Abbès hält ihre Legionäre gewöhnlich nicht länger als zwei Monate fest. Dann ist die Ausbildung beendet und es folgt Schub auf Schub der Transport ins Innere Marokkos. Erst einmal auf dem Transport ins Innere, wird die Flucht immer schwieriger.
Es hatte sich unter uns Legionären die Meinung gebildet, daß der Ort Tlemcen als der äußerste Ausgangspunkt der Flucht anzusehen sei. Sidi Bel Abbès schien im allgemeinen weniger geeignet, da die Flüchtlinge, die zur Küste wollten, durch ständig bewachtes und fast unwegsames Gebiet hätten wandern müssen. Von Tlemcen führt dagegen eine Chaussee nach Nemours, die, wenn für uns auch nicht gangbar, doch die Richtung gab und uns in die Nähe von Farmen bringen würde, wo wir uns Nahrung 51 rauben konnten. – Von Nemours hofften wir auf dem Seewege nach Spanisch-Marokko zu gelangen. Das war unsere Hoffnung.
Einige Tage, bevor ich den Fluchtplan entwarf, wurden zwei Deserteure eingebracht, die den Weg nach Oran genommen hatten. Aus den Arrestzellen dieser Deserteure drang eine schaurige Mär. Sie waren in ziemlich schnellem Tempo nach Oran gelaufen und hatten sich im Vorgebirge dieser großen Hafenstadt zwei Tage verborgen gehalten. Aber auch nur zwei Tage. Am dritten Tage wurden sie von einer Polizeistreife, die alle Schlupfwinkel des Gebirges kannte, in die Sackgassen gejagt. Zwei Deserteure lagen mit zerschmetterten Schädeln in den Abgründen des Gebirges.
Wir hüteten uns vor Oran.
Und noch mehr Gerüchte als Pläne laufen die Stuben lang und noch schneller als der Gedanke läuft das Gesicht des Verrats durch die türlosen Stuben und füllt die Löcher unter den Wachtstuben mit nie gesehenen Gesichtern. – Und du kennst dein eigenes nicht, wenn die Falle über dir zuklappt. –
Wir liegen zu dritt im hohen Grase, und das Rauschen eines müden Windes kann uns erschrecken und das Flüstern unserer Sprache kann uns verdammen.
»Wir müssen fort, ehe das Gerücht wahr wird und wir auseinander gelegt werden . . .«
»Morgen«, werfe ich ein.
»Ja, morgen«, der andere.
»Schön, morgen.« –
Wir trafen nun unsere Vorbereitungen. Es wurde Schokolade eingekauft. Auch Tabak und Zigarettenpapier und 52 Streichhölzer. Alles verstauten wir in einer entlegenen Mauerecke der Stadt Sidi. Und unsere Khakiuniform legten wir handgerecht zusammen.
Die Stubenmeldungen wurden abends um elf Uhr abgegeben. Also mußten wir um sieben Uhr spätestens die Tore von Sidi hinter uns haben. Als der Tag unserer Flucht graute, sprach ich noch einmal mit meinen beiden Kumpanen. Wir legten die Fluchtroute fest: Tlemcen – Nemours – Melillia.
Um sechs Uhr abends verließen wir in Abständen von fünf Minuten die Kasernentore und trafen uns eine halbe Stunde später hinter den Außenwällen von Sidi. Einer trug die Monturen, der andere Tabak und Fourage, ich Karte, Revolver und Seitengewehr.
Wir legten die schwere Zeugkleidung ab und die leichte Montur an. Hosen und Röcke hingen wir in die Äste eines Feigenbaumes, so daß sie später in der Dämmerung wie Erhängte im Winde baumelten. Als die Dunkelheit einsetzte, liefen wir . . . Wir liefen wohl eine Stunde im Dauerlauf die Chaussee entlang, ließen diese dann links liegen und gingen auf Palissy zu. Der erste Ort, den wir auf Umwegen passierten, hieß Detrie. Erst als wir Detrie im Rücken hatten, fühlten wir uns einigermaßen geborgen. Gegen zwölf Uhr nachts errechneten wir, daß unsere Abwesenheit in der Kaserne entdeckt sei und der Telegraph die Stationen Palissy, Tassin, Lamoricière, Tlemcen und die Strecke nach Oran alarmieren werde. Es galt also schon jetzt, gewaltig auf der Hut zu sein und die Chaussee nicht unnötig zu kreuzen.
Wir hatten damals noch keine Ahnung, daß sich selbst die Araber in ihren Zelten und Höhlen, auf den Ebenen und Bergen an der Jagd auf Deserteure beteiligten. 53 Das erfuhren wir zu unserm Grauen schon in der ersten Nacht. –
Die Landschaft nach Palissy ist hügelig und eine der fruchtbarsten Gegenden Algeriens. Den ausgezeichneten Rotwein, der hier gedeiht, kannten wir zur Genüge. Franz hatte, während er diese fruchtbare Ebene mit seinen Füßen trat, noch einen letzten Rest des Royal Kebier in seiner Feldflasche und wagte ihn nicht zu trinken – und als er trank, tranken wir mit. –
Wir liefen in der Nacht auf Tassib zu. Der Himmel war wolkenbedeckt und die Kälte empfindlich. Unsere Augen schauten durch das Dunkel gespannt vorwärts, und unsere Nüstern durchforschten die Luft, wie es gute Hunde tun. In der ersten Hälfte der Nacht überrannten wir zwei Araber und stahlen ihre Flinten. Wir mußten es tun – wir mußten sie niederschlagen. Aber ihr Geschrei weckte die Welt. Durch den Bodennebel gröhlten Hunde und Schakale, und Menschenschreie pfiffen über die Ebene. Das Geheul unserer Verfolger trieb uns bis zum Morgen – und erst als das Tageslicht wie eine rauschende Welle sich über Fels und Gras ergoß, taumelten wir und fielen in Schlaf.
Meine Ruhe war kurz. Die Sonne stand noch nicht am Zenit, als mich die trockene Hitze weckte. Ich erhob mich schweißgebadet und fand mich mit Fröhlichkeit in das tolle Leben, das mein Sein lange gesucht hatte.
Während meiner Flucht und auch später bin ich mir nie so recht über die Persönlichkeit meiner Begleiter klar geworden. Aber heute steigen mir von jenem Morgen Bilder vor die Augen, und ich sehe meine beiden Fluchtgenossen wie Wegbegleiter seit unendlichen Tagen. Und wenn sie Namen haben, so sind es die, die ich ihnen gebe. Und was sie sonst sind, das könnte auch ich gewesen sein. 54
Pietro, ein waschechter Italiener, knapp ein Meter sechzig groß, aber breitschultrig und ausdauernd. So der eine. Und der andere: Franz. Ein Riese an Kraft und Gestalt, Schlosser in seiner Heimat, sonst wurde er aber jedem Berufe gerecht. –
Pietro war blond und glich mehr einem Germanen als dem Typ seiner Rasse. Nur seine Nase war leicht gebogen, die schmalen Lippen hart zusammengepreßt, das Kinn vorgeschoben. Seinem Stande nach hielt ich ihn für einen Studenten aus guter Familie. – Welch Schicksal treibt ihn?
Ich denke an die Russen in der Legion. Viele von ihnen kamen aus Reichtum und Ansehen. Durch den Bolschewismus über die Grenzen ihrer Heimat gejagt, waren sie billige Ware für die Legion. Manche unter ihnen waren gleich nach dem Frieden von Brest-Litowsk, als sie noch mit den Franzosen an gemeinsamer Front kämpften und die ersten Revolutionsrevolten unter dem russischen Militär ausbrachen, nach Afrika expediert worden. Da schmachten sie vielleicht heute noch – bauen Brücken, treten die Sandwüste und liegen in ständigem Kampf gegen die Eingeborenen, während die den Slawen eigentümliche quälende Sehnsucht nach der Heimat ihre Seelen verzehrt. Ich denke an ihre Volksgesänge in Sidi Bel Abbès, die wie Choräle und rasende Rhapsodien klangen und als dumpfe Tragödien in die afrikanischen Nächte verrauschten.
Viele Deutsche, aus allen Berufen heraus, tauchen hier auf, tragen alle den Stempel harter Schicksale in ihren Gesichtern. Ich weiß von einem Prinzen eines ehemals regierenden deutschen Hauses, der den Basalt hier hämmerte. Herausgerissen, hinausgetrieben aus dem 55 greisenhaften Europa. Menschen des Empfindens, dabei hart in der Tat, weit dem Durchschnitt voraus im Denken und Wissen.
Ob sie rückkehren in ihre Heimat oder nicht, sie schaffen sich selbst neue Lebenselemente. Diese Schule bildet Energien, Tragkräfte für Tausende in Europa.
Durch unsern nächtlichen Sturmschritt nach Westen waren wir fünfzehn Kilometer von der Chaussee abgekommen. Wir standen nun etwa dreißig Kilometer vor A Kial, das an der direkten Chaussee Oran–Tlemcen liegt. Diese Straße war uns aus Erzählungen alter Legionäre als besonders gefahrvoll für Deserteure bekannt. Wir mußten uns nun direkt östlich auf Lamoricière bewegen, wollten wir die alte Chaussee nach Tlemcen wieder erreichen. Es war die Vorsicht, die uns diesen Umweg gebot, da, wie schon gesagt, eine äußerst scharfe Wacht im Küstengebiet ein Gelingen der Flucht unmöglich machte. Erst am Tage sahen wir, welcher Gefahr wir in der Nacht entgangen waren. Schon nach einigen Kilometern unseres Rückmarsches lagen vor uns die Nomadenzelte der Araber, die mit ihren Schaf- und Ziegenherden durch Algerien wandern und als berüchtigte Fremdenräuber bekannt sind. Wir mußten große Bogen schlagen, um diesen Aasgeiern aus dem Wege zu gehen. – Um Mitternacht erreichten wir Lamoricière, wo wir den ersten Brunnen fanden und, alle Vorsicht außer acht lassend, tranken und tranken. Unsere Feldflaschen füllten wir zweimal, denn das erste Mal trugen wir sie nur einen Kilometer mit uns, tranken sie aus und erlaubten uns noch einmal die Kühnheit, an den Brunnen zu schleichen, um zu trinken und zu füllen. Denn der Durst war der ärgste Plagegeist, der uns auf 56 der ganzen Flucht begleitete. Wir hatten jeder noch einige Tafeln Schokolade, aber in Tlemcen mußten wir mit Auffrischung unseres Vorrates rechnen. Unsere Kasse bestand noch aus hundertfünfzig Francs. –
Die kommende Nacht marschierten wir durch und hielten uns hart am Bahndamm der Zugverbindung Tassin–Tlemcen, der uns ein ebenes und fast sorgloses Gehen bot. Kurz vor der Station Ain Fessa laufen die Bahngleise durch eine Anzahl Tunnels und über einen Viadukt, der über die romantische Schlucht des Flusses El Urit seine Bogen spannt. Geisterhaft, dieser nächtliche Anblick der zahllosen Wasserfälle, die durch die Gebirgskette von Tlemcen über die Felsen in silbrigem Gischt zutale jagen. Und dies Schweben über dem malerisch mondbeschienenen Stück afrikanischer Erde riß uns fort, gab uns den verwegenen Gedanken, der Stadt Tlemcen am morgenden Tage einen Besuch abzustatten.
Tlemcen, es lag vor uns und seine weißen Häuser badeten in der Sonnenflut. Dort die wundervolle Bergkette mit Hochwald, in einiger Entfernung eine Moschee, die sich in ihrer Blütenweiße im Sonnenglast ausnimmt wie aus Marmor gehauen. Die Olivenhaine sprengen wohliges Grün in die sengende Weiße der Stadt. Zypressen ragen gen Himmel und fächeln Segen, wenn der Muezzin von seinem Minarett die Gläubigen zum Gebet ruft. Und dann erstarren die Islamiten in Ehrfurcht und tun nach dem Ruf des Muezzin.
Es wurden Zweifel laut, ob wir Tlemcen umgehen oder besuchen sollten. Ich konnte es mir nicht verkneifen, auf die Denkwürdigkeit hinzuweisen, die darin 57 bestand, daß drei Deserteure in zwar verschmutzten, aber doch immerhin noch Legionärsmonturen Tlemcen, die Stadt der Gendarmerie, Schutztruppen und Legionärsgarnison, aufsuchen. In dem Gedanken lag so viel grandiose Frechheit, daß wir davon ergriffen wurden. Wir setzten die Zeit unseres Einmarsches auf die Abenddämmerung fest. Bis dahin lagen wir träge in unserer Höhle, schliefen oder unterhielten uns über unsere Aussichten. Wir ahnten ja nicht, daß der gefährlichste Teil unserer Flucht erst vor uns lag und zwei von uns absackten und . . .? – Nein, wir konnten nichts wissen. Der Abend kam – man muß sie kennen, die afrikanischen Nächte, wenn der Mond in seiner Fülle am Himmel hängt und die Schatten der Dinge und Menschen mal vor und im Rücken tanzen. – Ja, das muß man kennen. Da wir das aber noch nicht kannten, geschah es uns, daß wir vor unsern eigenen Schatten davonjagten, und es dauerte geraume Weile, ehe wir erkannten, daß wir uns selbst flohen. – Unsere erste Sorge galt unserer Furage und dann dem Tabak. Das klappte alles tadellos, denn unser Italiener sprach ein so reines Französisch, daß keiner der Eingeborenen auf den Gedanken kam, ihn für einen Deserteur anzusehen. Zuletzt ruhte jedem noch eine Flasche Wein im Arm. So und die Marseillaise pfeifend, sahen wir aus wie Chausseearbeiter, die müde heimkehren vom heißen Broterwerb.
Trotz der gefahrvollen Lage, in der wir Tlemcen unsern Besuch abstatteten, hatten wir bald innerlich Ruhe genug, uns von dem fremdartigen Leben, das auf uns einsprang, umfangen zu lassen. Mit jedem Schritt wurde in mir der Wunsch reger, Tage und Wochen in dieser Araberstadt zu verweilen, mich in den Moscheen und Kubbas am 58 Geist und am Blut dieser reifen Kultur zu sättigen. – Uns Vagabunden, die wir keine Führung durch diese Schätze, weder in sprachlicher noch ethnologischer Beziehung hatten, trat aber um so mehr das Gefühl legendärer Wirklichkeit vor die Seele. Die blutvollen Mosaikbelege der Minaretts über den Moscheen und die geschnitzten Zedernholztore an den Kubbas, diese unheimlichen Tore mit ihrer betörenden Ornamentik an den Eingängen der Moscheen, die Priester mit ihren gedankenvollen schönen Gesichtern, die an uns vorbeischauten wie an einem wesenlosen Nichts, das alles treibt zur Verwunderung. Die Opferbäume an den Friedhöfen sind behangen mit Haarsträhnen, Kleiderfetzen, und die Gläubigen hocken darunter in finsterem Schweigen. Vor den Cafés und an den Mauern sitzen die Greise, begrüßen die Neuankommenden mit einem Salam und lassen sich von den Jünglingen die Fingerspitzen küssen.
Wir schlendern durch die einzelnen Stadtteile Tlemcens und merken unverkennbar an der Bevölkerung, daß die Stämme wechseln. Die biblischen Erscheinungen der Juden in ihren weißen Burnussen; die hohen federnden Gestalten der Hadars oder Berber, die die echten Mauren der Geschichte sind, die zum Teil blonden Gesichter der Araber mit graublauen Augen, alles deutet auf Glaubens- und Rassenunterschiede der Bevölkerung hin.
Auf unserm Spaziergang durch dieses nächtlich erleuchtete Tlemcen hatten wir bedachtsam die großen Straßenzüge gemieden und uns mehr durch die Gassen zum Tor von Fes geschlängelt. Pietro hatte mehrere Male nach diesem Tor gefragt und, soweit die Eingeborenen französisch sprachen, bereitwilligst Auskunft erhalten. Erst einmal an 59 dem Tor von Fes konnten wir unsere Richtung leicht durch die Chaussee bestimmen.
Wir gingen im Gänsemarsch und in ungefähr zehn Meter Abstand. Franz ging voraus und hinter mir folgte der Italiener. Wir waren nahe dem Tore von Fes, vor uns dehnte sich die dunkle Gebirgskette, deren Konturen durch das bleiche Mondlicht in dumpfer Farbe am Horizont schwammen. Die Häuser links und rechts unseres Weges schienen den Nabobs von Tlemcen zu gehören, denn die parkähnlichen Gärten und die weinumrankten, langgestreckten, flachen Fassaden, von Ampeln beleuchtet, trugen den Stempel vornehmer Abgeschlossenheit. –
Wir trieben vorwärts, und die fremde Welt lag in mir wie ein satter Rausch – und ich bewegte mich, ohne es zu wissen.
Dicht vor dem Tor von Fes hastete Pietro plötzlich an mir vorbei und schrie:
»Attention, Ramm, derrière nous... hussa!« und schon schoß Pietro an mir und Franz vorbei und nahm die Spitze. Dann hörte ich direkt in meinem Rücken: »Arrêtez, arrêtez les bandits, messieurs!« – Diese Aufforderung galt den herumstrolchenden Arabern. Und die Arme, die mich schon umklammerten, stieß ich von mir, holte mit meiner Weinflasche aus und haute nieder, was mir in den Weg kam. – »Hussa!« schrie ich nun auch, schwang die Flasche und warf sie dem Nächsten an den Schädel. Und nun vorwärts, gelaufen was die Lungen hergeben, – »hussa!«, ich sprang durch die Barriere, die mich halten wollte. Ich holte auf, Franz ruderte mit seinen Armen alles aus dem Wege – und dann ein Schrei: Pietro fiel und Franz stolperte und überschlug sich, schon standen wir auf einem Haufen und waren fest umkreist. 60
»Franz«, schrie ich, »hau drauf!« – Und dann ging's los, wir boxten, traten uns Raum und brachen durch. Wieder begann die wilde Hatz. Ich lachte schallend, je mehr wir sie hinter uns ließen. Wir liefen auf die Felsenkette zu und warfen mit Felsstücken auf die hinter uns. Wild waren wir und wehe dem, der seinen Schädel nicht schützte. – Mit jedem Schritt, den wir liefen, warfen die Berge Nebelschleier und die Nacht Dunkelheit um uns. Das Geschrei unserer Verfolger ging unter im Brodeln der Sturzbäche, und je höher wir stiegen, um so ruhiger wurde es. Tlemcen versank in ein Meer von Wolken, die unser Erlebnis aufsaugten.
Nur das Schleifen unserer Füße und der Schlag unserer Lungen kroch einem jeden drei Schritt voran.
Tlemcen! Vielleicht seh' ich dich noch einmal wieder – als Vagabund oder –? Gleich wie – dann will ich dich durchforschen, in deinen Gärten will ich schlafen, von deinem Rebensaft schlürfen, will mir Freunde werben in deinen Hütten, die mir die heiligen Sagen erzählen sollen. Und deine Sprache will ich erlernen, damit ich deine Lieder und ihre Melodien verstehe. Deine Andaluce will ich spielen können und den singenden Mädchen in deinen verwunschenen Gärten zuschaun. Nur weiße Schleier sah ich wehen und darüber den Sternenhimmel.
Wir liefen durch die Nacht und gratulierten uns zu unserm Glück; wir lachten und stolperten mit müden, steifen Beinen über Turenne nach Lalla Maghnia. Unsere Kleider waren zerfetzt, meine Jacke war in Tlemcen zerrissen von mir abgefallen, die Nacht war kalt, die Füße wund, und die Nahrung schlecht. Dazu war mein Körper noch geschwächt von der Dysenterie. Franz hatte sich bei seinen 61 sauberen Liebschaften im »village nègre« in Sidi eine Krankheit geholt, die er uns erst jetzt offenbarte. Er war schwach und fiebrig und meinte, daß er noch so eine Attacke nicht mit heiler Haut überstehen würde. Pietro hatte sich einen Dorn in den nackten Fuß getreten, und nun waren seine Zehenballen entzündet. – Unser Heil begann zu wanken. Dann kamen zwei Tage und zwei Nächte, wo wir vor Durst und Hunger nicht mehr kriechen konnten. Des Morgens sogen wir von den Alfagräsern den Tau der Nacht und unsere Schokolade rationierten wir nicht mehr in Rippen, sondern in Bruchteilen. Wir hatten alle Fieber, unsere Hosen knöpften wir überhaupt nicht mehr zu. Der Hunger war furchtbar, aber der Durst noch viel furchtbarer. Unsere Zungen waren dick, und unsere Sprache war ein dämliches Stammeln. Wir erinnerten uns an den ersten Morgen unserer Flucht, da sahen wir Schaf- und Ziegenherden. Jetzt wünschten wir uns eine ähnliche Begegnung und malten uns aus, wie wohl ein Ziegeneuter schmecken würde oder wie das Blut von Ziegen zu trinken sei. Ob wir's kalt oder warm trinken müssen – trotz Hunger und Durst krochen wir aber weiter. Wir warfen unsere Arme einander über die Schultern, um uns gegenseitig zu tragen – und fiel einer, dann fielen wir alle, und wollte einer hoch, so mußten wir alle hoch. – Dann kam die zweite Nacht, sie kam zu uns wie ein Schreckgespenst, denn ihre Kälte war für unsere ausgedörrten Leiber eine unerträgliche Pein. Wir träumten von unserm Ende – ja, es wurde der Gedanke aufgeworfen, zurück nach Tlemcen zu kriechen und uns freiwillig zu stellen. Der Gedanke kam von Franz. Ich hätte ihn ohrfeigen können und hätte es vielleicht getan, wenn ich die Kraft gehabt hätte. Das war keine Feigheit von Franz, sondern sein Fieber und 62 sein Erhaltungstrieb, der ihm diesen Gedanken auf die Zunge legte. – Wir lagen auf dem Felde, und einer kroch dem anderen auf den Pelz, um ein wenig Wärme zu haschen. Wir wechselten, einer lag unten, einer drüber und der dritte obenauf. Dann rutschte der zu unterst Liegende nach ganz oben – es war ein dämliches Spiel. – Von fern her heulten die Schakale. Schon lange. Dann kam mir der Gedanke, daß, wo Schakale heulen, irgendwo Vieh stinken muß. Ich wendete meinen Gedanken hin und her, ehe ich ihn meinen Kameraden klarmachte. Sie umarmten mich beide, und ihre trockenen Schnauzen schnupperten mir vor Dankbarkeit an Ohren und Wangen. Wir krochen, wechselten die Richtung, prüften das Echo, indem wir riefen, um den Standort der Schakale festzustellen. – Dann hörten wir Hundegebell und dann das vereinzelte Blöken von Schafen und Meckern von Ziegen.
Es ist merkwürdig, der Instinkt muß nur geweckt werden. In unserm Falle durch furchtbaren Hunger und durch Blutdurst – wir waren wie Tiere, und ich schwöre, ich roch das Vieh auf einem Kilometer Entfernung. Das Ziegeneuter schwebte mir vor der Nase – und ich ging nicht irre, ich schoß drauflos. Meine Beine wankten nicht mehr, und meine Zunge wurde mir locker durch irgendwelche Schleimquellen. – Pietro und Franz liefen in meinem Kielwasser und wie ich steuerte, so steuerten sie auch, wenn ich lag, lagen sie auch – ich schnupperte für sie, ich war ein wildes Tier – und dann lagen die Ziegen da. Sie lagen wie friedliche Kinder und schliefen unter dem Sternenhimmel Afrikas. Wir aber, wir Menschen mit nackten Leibern und zerrissenen Hosen und gedunsenen Köpfen und so schwachen Muskeln, wir warfen uns zu dritt über eine der friedlich schlafenden Ziegen: Franz 63 klemmte ihr die Kehle, ich und Pietro faßten die Hinterbeine und, was wir vor einer halben Stunde noch nicht konnten, wir liefen wie Raubtiere laufen, wenn sie ihre Beute haben. Wir liefen eine ganze Stunde, wir waren nicht mehr müde. Pietro und ich leckten abwechselnd am Euter, und Franz drehte allmählich den Hals der Ziege so weit, daß sie tot war, als wir nicht mehr vorwärts konnten. Wir setzten uns im Kreis um die Ziege und prüften sie auf ihr Fett. Franz meinte, wir müßten das Tier zur Ader lassen. – Wir hatten aber kein Messer. Pietro, der schöne eitle Pietro, hatte aber einen Metallspiegel. Der war aus blankpoliertem Nickel und hatte scharfe Kanten; aber nicht scharf genug, der Ziege die Adern zu zerschneiden. Darum wetzten wir den Rand des Spiegels an einem Felsstein – wir wetzten mit Fleiß. Und dann gelang das Geschäft. Das Blut floß noch, wenn auch dickflüssig und wir schmatzten, – wir zertraten dem Kadaver die Rippen und zerrten das Euter in unsere Hände und teilten es in drei gleiche Stücke und kauten und lutschten das saftige Euter. Als wir satt waren, ekelten wir uns, das Euter aber behielten wir in der Hand und krochen vorwärts, und wenn wir uns ansahen, dann lagen Schleier über unsern Augen – aber das konnte unser fieberndes Blut sein – oder auch das Blut der Ziege – ich weiß es nicht . . .
Wir kamen nach Lalla Maghnia. Ich hatte noch hundert Francs in meinem Geldbeutel. – Darum lagen wir am Abend in einem Café auf Kokosmatten und ließen uns mit schwarzem Kaffeesorbet bedienen. Der war süß und dickflüssig und schmeckte wundervoll aromatisch. Das Ziegeneuter lag hinter uns, wir fraßen Kuskus und Hirse, wir fraßen alles, was wir kriegen konnten, und tranken Wein. 64 Und die Zigarette, die wir rauchten, lullte das Bewußtsein unserer gefährlichen Lage ein. Als uns ein Araber fragte, wer wir seien, antworteten wir träumend: »Nous sommes déserteurs de la légion.« – Er lachte. – Unsere Herzen klopften. Der Koffein und der schwere Wein taten ihre Wirkung. Wir schliefen auf unsern Matten ein und schlangen unsere Körper im Halbbogen um das kleine Kohlefeuer auf schwarzem Rost. Wir schliefen inmitten einer Bevölkerung, die den Kopfpreis kannte, den die französische Behörde auf Deserteure setzte. Wir schliefen in dem Raum die ganze Nacht und tranken morgens Milch und aßen Kuskus und tranken Wein und rauchten und fühlten einen Himmel in uns, wie ihn nur die fühlen können, die nach einem Wüstenmarsch in eine Oase gelangen und die Lebensgeister mit Trunk und Speise wieder erwecken können. Wir baten den edlen Patron unserer Oase, noch eine Nacht in seinem Raume schlafen zu dürfen. Der Araber sah uns sinnend an, gab uns einige Lumpen, mit denen wir uns in die dunkelste Ecke dieser Raumhöhle verkrochen.
Diese zwei Ruhetage kräftigten mich so sehr, daß ich wieder Sehnsuchtspläne spinnen konnte. Ja ich wünschte mich zurück nach Tlemcen, das sich wie eine heilige Friedensstadt in meiner Seele spiegelte. Ich sagte mir, daß ich, wenn ich Spanisch-Marokko erreichen würde, hin zur atlantischen Küste wollte, nach Tander, weiter runter nach Larache, nach Casablanca. – Ich wollte weiter, aber alleine wandern. Die Rücksichten, die mir die Kameraden auferlegten, fand ich unerträglich. Was ich sah und fühlte, das empfanden sie nicht mit. Es war nur das Mechanische, das wir gemeinsam hatten. Wenn sie schliefen, dann erst rührten und erschlossen sich in mir die Quellen, 65 und ich fühlte dann erst den Rhythmus, der mich beseelte. Durch die gleichen Bewegungen und Ziele aber wurden wir zur Trilogie. Die Kritik und Beobachtung war unterbrochen. Mir wurde das schönste, das lebendige Erfassen der Dinge und des Seins vorweggenommen. Ich ahnte das schon in Sidi Bel Abbès. Und heute ist es mir kein Zweifel, wie ich wandern muß.
Furcht hatte ich bisher auf der Flucht nicht verspürt; davon war ich frei. An die Möglichkeit der Gefangennahme dachte ich nicht; aber der Gedanke, Afrika zu verlassen, erschreckte mich.
Lalla Maghnia liegt in einer großen Ebene, die von Kanälen zur Bewässerung des Bodens durchschnitten wird – wahrscheinlich erhalten sie ihre Wässer aus dem fernen Gebirgszug Monts des Traras. Durst hatten wir also fürs erste nicht mehr zu leiden; auch nicht, als wir die Ebene verließen und in die Höhen von Nedroma kamen. –
Die Schluchten des Monts des Traras sind mit Obstbäumen, Datteln und Feigen, reich bewachsen und die Quellbäche plätschern lustig in diesem fruchtbaren Gebirgsinnern. Grüne Matten, auf denen Ziegen und Schafherden weiden, leuchten weithin. Rassige Berberhengste sprengen leichtfüßig wie Gazellen die gewundenen Pfade hinan. – Es sind die Berber und Kabylen, die hier hausen. In primitiven Mauerwerken, unter Felsabhängen haben sie ihre Gelasse. Diese Wohnungen gleichen von außen Felsblöcken, und erst wenn man dicht davorsteht, erkennt man Hof und Wandung.
Ebenso urplötzlich, wie diese Wohnungen vor uns auftauchten und uns zur Vorsicht mahnten, tauchte jener Geselle in seinem Burnus auf, der über uns Unglück genug brachte. – Er stand da, mit freundlichem Lächeln, und 66 bot uns seinen Tabak an: »S'il vous plaît, faites vos cigarettes de mon tabac!« Wir nahmen dankend an. Und als er uns auch noch eine Tasse Kaffee anbot, waren wir entzückt und gingen mit ihm, bis, genau so plötzlich wie er vor uns, seine Behausung auftauchte.
Ganz Französling und Gentleman, wies uns der Berber ein Gemach zur Ruhe an und ging in den Hof und schloß die schwere Bohlentür.
Und dann warteten wir. Wir warteten eine halbe Stunde. Der Berber ließ sich aber nicht sehen. Als ich von Unruhe getrieben auf den Hof hinaustrat, sah ich, was ich zuerst nicht gesehen hatte: einen zweiten Ausgang an der Westseite; dieser Ausgang war verschlossen. – Pietro und Franz fanden die Sache ebenfalls sehr verdächtig. Wir bewaffneten uns sofort mit mächtigen Holzstücken, die in einer Ecke des Hofes lagen, und gaben uns an die Untersuchung der Hoftüren. Sie waren aber von außen verrammelt. Als wir das festgestellt hatten, wußten wir, daß über uns eine große Gefahr schwebte. Nach kurzem Überlegen beschlossen wir, Pietro auf die Mauer zu heben, damit er Aussicht halte. – –
Er war kaum auf der Mauer, als er schon aufgeregt schrie: »Avant, prenez la mure - la bas vient plusieurs des arabes!«
Ich schwang mich auf die Schulter von Franz, zog mich an der Mauer hoch und ließ mich die zwei abschüssigen Meter, die die Breite der Mauer ausmachten, langsam hinuntergleiten. Franz dagegen schwang sich mit gewaltigem Klimmzug auf die Mauer und rutschte mit Schwung die zwei Meter und fiel obendrein noch drei Meter senkrecht auf die Erde. Inzwischen war ich auch unten. Wir orientierten uns kurz über die Richtung der Flucht und 67 den Stand der Verfolger, die im Augenblick hinter einer mächtigen Bergzacke verschwunden waren. Aber ihr Rufen und blutdürstiges Juchzen hörten wir weithin – der Franzose zahlt auch für Köpfe ohne Rumpf. –
»Westsüdwest!« entschied ich und ruderte mit einem gewaltigen Sprung davon.
Die Verfolger waren hartnäckig und waren mehr als zehn. Sie kannten ihre Berge besser als wir und schnitten uns gewaltige Stücke ab. Wenn wir ihnen auch im Bergablaufen weit voraus kamen, im Steigen erschlafften unsere Lungen bald, und die Wadenkrämpfe verlangten Pausen. – Es war furchtbar, wenn wir die Berge hinunterstürzten und die kleinen Pfade fanden, ohne daß wir sie eigentlich sahen. Wir liefen mit nackten Füßen über die Bergspitzen, ohne uns zu verletzen. Das war wunderbar, geradezu unglaublich. Wir sahen eben keine Gefahren, daher liefen wir auch keine Gefahren. Sie lagen nur im Rücken. –
Da, knapp fünfzig Meter hinter mir, tauchten sie wieder auf, Pietro machte eine letzte gewaltige Anstrengung und entging dem Krummesser eines der Banditen. Ich drehte gerade meinen Kopf und sah das – und sah auch, wie Franz fiel. Er rutschte und kugelte den Banditen vor die Füße. – Es gibt einen grauenvollen Ausdruck im französischen Legionärdialekt: »Coup à la tête.« Und dieser Schlag schwebte über Franz. Ich schrie vor Wut. Meine erste innerliche Bewegung war, hinzulaufen und mich zwischen diese Aasgeier und den armen Franz zu werfen. Das wäre natürlich Wahnsinn gewesen. Aber diese heroische Regung meiner Seele war da – doch da ist das, was uns Menschen immer wieder hemmt, die Überlegung, die klaren Gedankengänge – man tut's eben nicht, was man fühlt. Und schon rasten einige dieser Kerle auf 68 Pietro und mich mit geschwungenem Messer zu. Pietro und ich liefen in verschiedenen Richtungen auseinander. Unser Heil lag nunmehr in der Teilung der Verfolger. Ich schrie Pietro noch zu: »Rencontre chez Nemours!« – »Oui, Dieu avec nous!« Und dann tauchten wir im Zickzack der Felsen unter. Ich jagte was ich konnte und brüllte vor Leben. Waren meine Beine erst im Zug, dann kannten sie kein Beben mehr, und die zwei faustdicken Muskeln an jeder meiner Waden wurden wie Stahlklötze.
Aber das war das Elend: Ging es abwärts, dann kam ich ihnen wohl hundert und auch zweihundert Meter voraus. Ging es dann aber wieder hoch, so spürte ich ihre Nähe in meinen Fersen. War ich ganz oben auf dem Berggrat, dann nahm ich Felsstücke und zielte. Aber sie kümmerten sich den Teufel um meine Wurfgeschosse. Sie wollten mich hetzen. Es waren nunmehr vier, die hinter meinem Kopf her waren. – Es kräht ja kein Hahn hier in den Bergen nach einem Mord – und die Behörden zahlen. –
Ich war aber jung und mein Brustkasten solide gebaut. Wenn mir auch das Herz bis in die Lippen schlug und mir vor den Augen weiße Punkte tanzten – ich lachte und jagte. Und dann kam wieder eine Bergspitze. Ich häufte Wurfgeschosse vor mich hin und zielte kaltblütig und traf. Einer schlug brüllend rückwärts und dann gleich noch einer. Das brachte Verwirrung. Und dann bombardierte ich die Bande, bis sich mein Herz und meine Lunge beruhigt hatten. Dann verschwand ich, schlug Haken und sah bald, daß sie eine falsche Richtung einschlugen. Als ich weit genug von ihnen ab war, stellte ich mich johlend auf eine Felsspitze und schaute nach Pietro aus. Aber den sah und hörte ich nicht. Das war auch nicht möglich, mein Schreien 69 kroch wohl bis zur nächsten Gebirgswand, brach sich dann aber und klang wie fernes Schafmeckern.
Und Franz? – Teufel, daß ich ihm nicht helfen konnte! – Ob sie ihn wohl . . .? – »Franz«, dachte ich damals, »wenn du noch lebtest, wenn du mich noch nötig hättest, ich käme, dich zu befreien!« –
Aber ich erfuhr nichts von seinem Schicksal – auch später nicht. – Wie stark war er – mit einem Arm hob er mich durch die Luft. Und schlechter als andere Menschen aus dem industriellen Westen Deutschlands war er auch nicht – Armer Franz! –
In der Nacht darauf öffnete sich der Himmel und schwemmte mit gewaltigen Wassermassen die durstige Erde. Schon am Abend setzte das Wetterleuchten ein. Als es nun in furchtbaren Strömen und mit unendlichem Krachen auf die Erde prasselte, kroch ich in den Bergspalten umher und suchte Schutz. Die Gewalt des Regens war aber so mächtig, daß ich mich an Strauchwurzeln und Gestein klammern mußte, um nicht fortgespült zu werden. Der Boden wurde glitschig, so daß ich mich kaum auf den Füßen hielt und keinen Schritt mehr zu gehen wagte. Dazu heulte ein Südwest, der mich in dem Gebirge von allen Seiten faßte und mir die Regenmassen auf die Haut peitschte, daß ich vor Schmerz sang. Die Wasserbäche sprangen von der Höhe über mich weg und zogen mir mein letztes Kleidungsstück, meine Hose, vom Leibe. Ich versuchte, die Hose festzuhalten, aber sobald ich beide Hände vom Gestrüpp löste, an das ich mich klammerte, fing ich an zu rutschen. Ich rutschte und mit mir meine Hose – aber diesmal getrennt. Nun begann ich die Jagd nach meiner Hose mit wenig Hoffnung. Ich fing sie aber doch noch, als sie über einer Steinspitze hing. Auf allen vieren kroch ich wieder hoch, 70 war dann aber so erschöpft, daß ich meine Hose vergaß, als die Erde unter mir an zu rutschen fing. Jetzt ließ ich sie sausen und lag mit nacktem Körper im Buschwerk.
Es regnete die ganze Nacht hindurch mit furchtbarer Kraft, und als es gegen Morgen aufhörte, da war ich kein Mensch mehr. Ich lag wie ein zusammengerolltes Etwas und starrte in den bedeckten Morgenhimmel, der mir nicht die ersehnte Wärme brachte. Dazu hatte ich seit dreißig Stunden nichts gegessen.
Ein letztes Bekleidungsstück aber hatte ich noch. Das war die Bauchbinde, die jeder Legionär zu tragen pflegt. Sie bildet den wirksamsten Schutz gegen die Dysenterie. Ich hatte sie bisher krampfhaft gehütet und vor allen Fährnissen bewahrt. Die wickelte ich mir nun zu einem Negerschurz. Aber wie ich es auch anfing, beim Gehen löste sich die Binde. Ich versuchte es auf manche Art und zuletzt schlang ich sie mir einige Male um den Hals (sie war mehrere Meter lang) und ließ sie vorn und hinten baumeln. – Ich hatte die schamhafte Absicht, bei einer Begegnung mit Menschen sie einfach zwischen den Beinen zusammenzubinden. Es war ein primitives Bekleidungsstück und wäre passend gewesen, wenn mir Tag und Nacht die Sonne auf den Pelz geschienen hätte. So aber fror ich schändlich und lief vor Frost den ganzen Tag. Am Abend fühlte ich einen heftigen Schüttelfrost, biß aber die Zähne zusammen und war dem Zufall dankbar, der mich an einen Strohschober brachte. Ich überlegte mir, daß, wo Strohschober sind, auch Menschen sein müssen. Mit dieser Hoffnung wühlte ich mich in den Strohberg ein und versuchte zu schlafen. Das ging aber nicht. Die Schakale heulten die ganze Nacht jämmerlich, und die Hunde des von mir in der Nähe vermuteten Farmergehöftes schlichen 71 lange um den Strohschober herum und ließen sich ausgerechnet vor meinem Loch nieder und bellten und bellten.
Am Morgen dieser schauerlichen Nacht war ich blau, und meine Fingerspitzen waren erstarrt. Ich steckte sie in den Mund, aber es schien mir, daß da auch nicht mehr Wärme war als draußen. – Ich suchte nach dem Farmergehöft. Eine alte Araberin, die meinen Weg kreuzte, schimpfte in ihrer Sprache und wies auf die Berge hinter mir. Ich verstand sie nicht, lachte sie an und ging weiter, bis ich hinter einer kleinen Erhöhung Holzbaracken sah. Ich band meine Bauchbinde zusammen und ging auf die Bauten zu. Ich ging durch ein Hoftor – da standen Männer, und als sie mich sahen, schüttelten sie sich vor Lachen. Ich lachte schämig mit und brüllte schließlich vor Verlegenheit. Aber dann brüllten die Männer noch viel lauter als ich. Ich konnte mir nicht denken, daß meine arme, nackte, klapprige Gestalt so viel Ergötzen erregen konnte. Ich suchte instinktiv nach einem andern Grund und schaute mich um: Hinter mir stand ein uniformierter Mann mit einer kantigen behördlichen Mütze, mit Gürtel und Revolvertasche. Der Mann faßte mich grob am Hals. Als ich den harten Griff fühlte, dachte ich gleich an die alte Araberin, die mich sicher hatte warnen wollen. – Ich hätte mich ohrfeigen können.
»Passeport?!«
Da mußte ich lachen. Ich wies auf meine Bauchbinde und hielt die uniformierte Grütze für einen Spaßvogel.
Ich setzte mich mit einer großartigen Bewegung über alle weiteren Fragen hinweg, und als er mich noch immer anstierte, sagte ich ihm ganz laut: »Je suis déserteur de la légion!« – 72
Mir war alles gleich. Ich wollte erst Kleider haben und dann Essen – was dann kam, blieb mir immerhin noch vorbehalten.
Und ich erhielt Kleider. Aus Barmherzigkeit von dem eine Hose, von einem anderen Hemd und Jacke. Auf Schuhe hätte ich schon verzichtet. Als mir aber auch diese angeboten wurden, gar noch leichte, war ich zu Tränen gerührt. – Und ich aß alles, was mir diese freundlichen Farmer auftischten. Auch feurigen Wein trank ich, und die Glutnebel, die mir durch Tage vor den Augen flimmerten, hoben jetzt mein Hirn und mein Herz. Die flüssige Kraft schoß mir wie frisches Leben durch die Adern. Ich wurde leutselig – ich war lieb und küßte den Frauen die Hände. In dem Polizeigardisten sah ich einen Freund, den ich auch freundlich behandeln wollte. Ich sah ihn so ergeben an, daß er vor Freude gluckste und sein Bauch tanzte und sein Gemüt in Gedanken schon den Kopfpreis einstrich.
Als nun der Gardist zum Aufbruch mahnte, wurde ich traurig. Ich ging zu dem Farmer und zu den Frauen, dankte ihnen und verabschiedete mich. Dann gingen wir, der große, dicke Gardist und ich, ein kleiner, satter Junge. Aber meine Hände waren kräftig, und mit meinen Beinmuskeln stand ich immer noch fest auf der Erde; auch mein Sinn und mein Mut waren noch hochfahrend. – Der Gardist führte mich zur Chaussee. Nedroma war nur noch drei Kilometer entfernt. Als nun die Farmergebäude in meinem Rücken lagen und wir zwei die Chaussee traten, dachte ich, daß meine Zeit kurz bemessen sei. –
Die Sonne schien wieder vom blauen Tropenhimmel und brannte meinem Begleiter so auf seinen zugeknöpften Pelz, daß er seine Rockknöpfe löste und seine Mütze vom 73 Kopf nahm. In dem Augenblick schwirrten mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ich beteure, ich wollte dem Mann nichts Böses tun. Aber der Erhaltungstrieb ist eine Macht für sich. In größter Ruhe und mit einer Selbstverständlichkeit, die mir heute noch erstaunlich ist, stieß ich dem Gardisten meine Faust auf den soeben entblößten Magen. Da jappte er und sah mich fast freundlich-stier an. Mich überkam ein großes Mitleid mit dem fetten Mann. Ich wollte wegspringen und den Moment seiner Bewegungslosigkeit nutzen. – Aber da kamen wieder lange Atemzüge, und seine Arme hoben sich – da schlug ich zum zweitenmal zu und ein drittes Mal. Das schien mir geraten in Anbetracht der kurzen Wirkung meines ersten Schlages. Er fiel um. Ich zog ihm seinen Revolver aus der Tasche und ließ ihn in meine Tasche wandern. Auch seinen Tabak holte ich mir. Dann nahm ich meine Bauchbinde und band sie ihm fest um die Füße, und seine Arme band ich ihm auf dem Nacken zusammen. Als er sich aber wieder muckte, stieß ich ihm nochmal meine Faust mit abgewandtem Kopf in den Magen. Ich konnte das Leidensgesicht nicht mehr ansehen, es war mir so widerlich, meine nun einmal gewonnene Chance mit Bosheit auszunutzen. Ich rollte den Mann in den zwei Meter tiefen Chausseegraben, stieg über ihn hinweg und lief die Berge an, um die sich die Chaussee in Serpentinen wand. Außer Sicht, schlug ich westliche Richtung ein und ließ Nedroma links liegen.
Der Abend dieses Tages fand mich am Meer, wo ich durch zwölf Stunden fest schlief. Die Brandung, die bis kurz vor meine Füße rollte, trug mich im Schlafe über die Meere. – Am Morgen war die See glatt und dehnte sich grün vor mir aus. Der felsige Grund gab dem Wasser 74 eine abgrundtiefe Farbe. Ich badete und schwamm von Riff zu Riff, trat das Wasser im Angesicht des schroff hochragenden Felsenufers. Weit schwamm ich hinaus, bis sich die Welt in mir überschluckte. Ich schoß in die Tiefe und atmete schon durch tiefes Wasser wieder die sonnige Welt. 75