Heinz Kükelhaus
Erdenbruder auf Zickzackfahrt
Heinz Kükelhaus

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Der Freiheit entgegen

Ich habe einmal Siebzehnundvier gespielt und verlor entsetzlich. Das kam so: Ich saß im Schnellzug Köln-Hamburg, es war im Januar 1917. In Bremen stieg Friedrich Balz in den Zug. Ich machte ihn mit »hallo« auf mich aufmerksam. Und dann kam er. Er reichte mir seine linke Hand, das tat er immer so. Er reichte sie – drücken konnte er keine Hand, denn er hatte einen steifen Daumen, der kerzengrade stand, und das bei allen Gelegenheiten, sogar im Schlaf. Der Daumen stand immer – und das war aufdringlich. Balz hatte noch mehr solche Leiden und Angewohnheiten. Er war Bauchredner, starker Raucher, Feinschmecker und Intrigant. Aber daran dachte ich nicht, als mir Balz seine Linke reichte. Ich kannte Balz schon ein Jahr, er war 15 Jahre und ich war 15 Jahre. Wir begrüßten uns so, wie wir uns kannten. Ich ihn herzlich und kameradschaftlich, Balz mich mit langsamer, hochmütiger Gebärde – er streifte den Glacéhandschuh von seiner linken Hand und steckte seine Zigarette in den linken Mundwinkel, wodurch er ganz kleine Augen bekam.

»Ferien gut verlebt?« –

Das schnodderte Balz durch seinen rechten Mundwinkeh während die Zigarette im linken Mundwinkel tanzte. Es sah famos aus. Ich wurde stolz auf ihn und sah mich im Abteil um – und wirklich, Balz und ich waren in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Ich wurde ganz höflich und half Balz aus seinem schweren Winterpaletot. Er klopfte mir auf die Schulter und meinte, ich sähe gut aus. 2

»Wieso gut?« fragte ich, »ich sehe doch immer gut und gesund aus!«

»Na, ich meine«, erwiderte Balz, »man kann sich mit dir sehen lassen.«

Ich weiß nicht mehr, ob ich stolz oder wütend war.

Balz setzte sich dann auf meinen Platz. Das tat er, als sei es ganz selbstverständlich. Und dann sah er ziemlich unverfroren dem netten süßen Backfischfratz in die Augen, an denen ich mich seit Essen erwärmt hatte. Das war mir denn doch zu viel. Ich überlegte, wie ich Balz von meinem Platz entfernen könne.

»Balz«, sagte ich, »komm, ich will dir mal etwas im Vertrauen sagen!«

Tatsächlich, ich brachte ihn von seinem Sitz hoch. Wir gingen auf den Gang hinaus.

»Na, dann beehre mich mal mit deinem Vertrauen.«

»Wie ist das«, fragte ich schüchtern, »kannst du mir nicht ein paar Zigaretten geben – ich will gerne zahlen?«

Er sah mich ziemlich verdutzt an, zückte sein Zigarettenetui und ich griff nach meiner Brieftasche. Ich wußte, ich hatte in irgendeiner Ecke fünfzig Pfennig liegen. Während ich nun die fünfzig Pfennig aus der tiefsten Ecke der Brieftasche heraussuchte, mußte Balz einen neugierigen Blick in meine Tasche getan haben.

»Was, du hast zwanzig Mark bei dir?« fragte er erstaunt. »Weißt du was?« – »Ja, und?« »Wir spielen Siebzehnundvier, dabei kannst du Geld gewinnen. Ich habe zehn Mark bei mir und wenn du die gewonnen hast, machen wir Schluß. – Ich habe Karten!«

Ich konnte nicht widerstehen. Die zwanzig Mark waren mein Taschengeld bis zu den Osterferien, und der Gedanke, mein Geld um zehn Mark vermehren zu können, 3 gab den Ausschlag. – Dreißig Mark! – Was konnte ich mir nicht alles leisten! Äpfel, Schokolade – ich wollte schon sehen. Hungern wollte ich dann nicht wie im letzten Vierteljahr.

Balz und ich gingen ins Abteil zurück und setzten uns einander gegenüber. Ich auf meinen Platz. Der Backfischfratz verblaßte. Balz mischte seine Karten, ich hob ab und das Spiel begann.

Als der Zug in Rotenburg hielt, hatte ich schon sieben Mark verloren und in Hamburg war ich um elf Mark fünfzig leichter. Als ich meinen Koffer aus dem Netz hob, wurde mir schlecht. Mir standen die Tränen in den Augen, – während Balz vor Wonne und Eifer glühte. Sein Gesicht war mir so eklig, und sein Daumen stand so kerzengrade wie nie.

»Mußt dir nichts draus machen«, sagte er, »wir gehen ins Café Bauer und trinken ein Glas Bier. Da gewinnst du dein ganzes Geld einfach wieder.«

»Das glaube ich nicht«, schluckte ich. »Ich verliere mein ganzes Taschengeld und du lachst mich noch aus. – Übrigens müssen wir in die Anstalt gehen.«

»Blödsinn«, meinte Balz, »wir flunkern, wir wären mit dem Sechsuhrzug angekommen. Keine Minute eher als nötig.« Dann trällerte Balz: »Das Grimme Haus hängt mir zum Halse heraus«, und dann sprach er so eifrig und geifernd auf mich ein, daß ich doch mit ihm zum Café Bauer ging. Als wir schon halbwegs da waren, merkten wir erst, daß wir noch die Koffer in der Hand trugen. Wir machten kehrt und gaben sie am Bahnhof zur Aufbewahrung. Und dann flogen wir mehr als wir gingen zum Café Bauer.

Balz mischte wieder, ich hob ab und das Spiel begann. 4 Die ersten Partien gewann ich. Ich flog und zitterte vor Freude.

»Balz«, sagte ich, »ich will keinen Pfennig von deinem Geld gewinnen. Wir spielen, bis wir quitt sind.«

»Mir egal, du bist ein Schleimer«, knurrte er.

Ich ließ mir den Titel ruhig gefallen und spielte weiter. Ich gewann noch einmal, dann war aber Schluß mit meinem Spielglück. Ich verlor. Ich sog an meinem Bier. Ich zitterte, wenn ich Balz' Daumen sah. Er wurde mir nachgerade zum Manometer meines Unglücks. Der Daumen stieg. Ich sah nur noch auf den Daumen und forderte meine Karten mit ganz toter Stimme.

Ich verlor mein ganzes Geld. Und als das letzte Spiel begann, stieg Balz' Daumen. Ich hatte das Verlangen, daß Balz' Daumen überschnappen sollte, daß er bersten sollte. – Ich verlor alles. Ich war tot. Ich konnte nicht heulen. Ich hatte nur eine Wut auf diesen Daumen. Und der brach nicht, schnappte nicht über. Seine Hand lag vor mir auf dem kleinen Biertisch. Ich ahnte irgendwie, daß der Daumen mich behext hatte, mich um mein Geld gebracht hatte. Ich wurde immer zorniger – und dann fuhr ich mit der rechten Hand über den Tisch, faßte Balz' Daumen und legte ihn um. Das mußte weh getan haben. Balz wurde ganz blaß und schaute mich an, wie man seinen Todfeind ansieht.

»Gemeiner Schleimer, du! – Was hat dir mein Daumen getan?«

Ich war zerknirscht, ich hatte Angst, daß er mein Bier nicht bezahlen würde, denn ich hatte keinen Pfennig Geld mehr.

»Nimm's nicht übel«, bat ich, »ich habe mein Geld verloren und dein Daumen ist schuld. – Gib mir bitte eine Mark zurück.« 5

»Ne, keine Mark. Dein Bier bezahle ich, deinen Koffer will ich einlösen, aber mehr nicht!«

Und dann stand er auf, zahlte und ging, und ich hinterher. Balz hielt Wort. Er löste den Koffer ein und fuhr mit der Straßenbahn. Ich glaubte nicht eher an seine Gemeinheit, bis er mir von der Plattform aus eine Fratze schnitt und abfuhr.

Ich schwor Rache und legte mir viele Pläne zurecht. Ich schleppte meinen Koffer bis nach Horn, wankte hundemüde die Gartentreppe zur Anstalt hoch und meldete mich zur Stelle. – Das war Pflicht, und ich tat es. Ich ging zum Aufsichtsbruder meines Wohnhauses. Und da war gerade der geistliche Leiter der Anstalt.

»Zurück von den Ferien, Herr Pastor«, meldete ich.

Ich machte meine Verbeugung und gab meine Hand im rechten Winkel.

»Na, mein Sohn«, fragte der Pastor, »wie war's denn? Was macht der Vater? (er hatte ihn nie gesehen) – jetzt schön fleißig, Ostern kommt!«

Und dann fuhr der Herr Pastor mir mit seinen langen Fingern durch die Haare und wartete gar nicht auf die Beantwortung seiner Fragen: »Es ist gut, mein Sohn!«

Ich verbeugte mich und ging aus dem Erzieherzimmer in den geräumigen Arbeitssaal. Da stand Balz und feixte mit dem Stubenältesten. Ich wußte, er erzählte. Ich schaute mich traurig und verlegen unter den Kameraden um. – Da waren sie alle wieder: Peters, Schultz, Kleist, Müller, Schütte, Koriath, alle 22 Köcheraner waren zusammen. Unser Wohnhaus hieß der »Köcher«. Und da war noch ein Haus: der»Adler«. Dann kamen die einzelnen Erziehungshäuser der Waisen und Nichtwaisen, die auf Staatskosten der Anstalt zur christlichen Erziehung anvertraut waren. 6

Im »Köcher« und »Adler« aber wohnten die Zöglinge des Paulinums mit realgymnasialer Bildung. – Und das waren wir, wir Köcheraner. Es herrschte Anstand hier unter den Augen der Erziehungsbrüder. – Darum gehe ich zu allen Kameraden und reiche ihnen die Hand. Und alle drücken mir die Hand im rechten Winkel mit links hochgezogener Schulter. Ich tue es auch, ich bin es gewohnt und muß nur unwillkürlich lachen, wenn Peters, der kleine zappelige Peters, seinen Hintern beim Händedruck so weit herausstreckt, daß sich alle hinter ihm amüsieren. Ich amüsiere mich nicht, sondern ich klopfe Peters wohlwollend auf die Schulter. Ich weiß mich ihm über, geistig und körperlich; ungefähr so, wie Balz mir körperlich über war. Das heißt, Balz war größer, aber auf einen Zweikampf war es noch nicht angekommen. Sein Ruhm war aber durchschlagend, er hatte seinen Nimbus. – Als ich Schniewind die Hand drückte, schaute er mich feindselig an. Das hatte seinen Grund. Ich hatte ihn einmal gründlich verkeilt, weil er mich verraten hatte, als ich Äpfel stehlen ging. –

Es läutete die Glocke vom Wirtschaftsgebäude zum Abendessen. Wir waren alle gespannt, was es geben würde, und wir waren hungrig. Den ganzen Tag auf der Reise! – Wir formierten uns, zwei zu zwei, und stürmen die Treppe des Wirtschaftsgebäudes, reißen die Tür zum Eßsaal auf – »stop«, das flüstert die Reihe lang, »langsam, der Pope ist da.« – Wir sind gedrillt, unsere hängenden Mägen verleiten uns nicht zur Disziplinlosigkeit, wir wippen auf den Zehenballen, ziehen den Schlips zurecht, putzen uns die Nase und lassen uns manierlich um den großen Tisch des Köchers nieder.

Wir sitzen nach dem Stubenalter, nicht nach der 7 glatteren Rechnung: »wieviel Jahre hast du auf dem Rücken?« – Ich bin der sechste in der Reihe und eineinhalb Jahre lebe ich schon in der Anstalt. Das will was heißen und gibt das Recht, als sechster in den Topf zu langen und von der dünnen Kriegssuppe die Fettaugen vor den andern zu angeln. Als ich zweiundzwanzigster war, habe ich abends nur Wasser bekommen. Beim Abendessen geht das noch – aber zum Mittagessen hat mir oft der Magen vor Kohldampf gebrüllt, tagelang, wochenlang. Aber das war einmal. Jetzt bin ich sechster und kriege schon mal Fleisch und Kartoffeln.

Der Pastor betet vor und nach dem Essen. Und während er betet, denke ich an meine heimatlichen Schmalzstullen; freilich amerikanisches Schmalz, etwas anrüchig, aber es waren wenigstens fettige Sachen. Zu Hause hatte ich sie mir selbst geschmiert und zuunterst in den Koffer gelegt. Jetzt malte ich mir aus, daß das Schmalz schon in alle Poren des Brotes eingedrungen sei – und dann nachher – unter der Bettdecke. Und dann war noch in der rechten Ecke des Koffers ein Paket mit Äpfeln, Nüssen und Apfelsinen. Ich malte mir das alles aus und schimpfte innerlich über das lange Schlußgebet des Pastors. –

Wir gingen in den Köcher zurück. Es kam das allgemeine Auspacken der Koffer, unsere Kleider wandern in die Kleiderkammer und die Lebensmittel in verschwiegene Ecken. Die Bücher zum Schulbeginn werden zurechtgelegt – und dann tauen wir auf. Brocken für Brocken fliegen die Ferientage und die kalte Fremdheit unserer plötzlichen Heimatlosigkeit in die dunkle Ecke hinter den riesigen Ofen, den wir im Halbkreis umstehen. Es ist kalt und der Arbeitssaal sehr groß. Wir stehen erst Schulter an Schulter und wärmen uns die Hände, und dann geht verstohlen ein Arm in den andern. 8

»Himmelherrgott, ist das blöde, hier zu sein!« fluche ich verlegen, als ich den Arm meines Nebenmannes auf meiner Schulter fühle. Ich schäme mich der Vertraulichkeit. Ich hätte das nie gewagt. Ich fange an, über jede Kleinigkeit zu lachen, und als ich den zweiten Arm auf meiner Schulter fühle, lasse ich meine Hände in den Hosentaschen verschwinden. Aber ich bin gerührt, ich lache und erzähle unter Tränen einen furchtbaren Witz, über den sich sogar einmal Soldaten totlachen wollten. –

Überhaupt die Soldaten! – Ich fange an zu erzählen. Vom Vater im Kriege, von den Onkeln und den großen Vettern, die in Flandern, die in Rußland! Ich werde warm dabei und schwitze vor Ofenwärme und vor Aufregung. Ich male mit breitem Pinsel. Ich fliege durch das endlos weite Rußland, steuere zum Balkan, springe zur Türkei, Teufel auch, das war meine Sehnsucht. Ich lasse Kanonen donnern und die Bomben spucken. – Ich fühle nicht, wie die Arme von meinen Schultern fallen, ich sehe nur meine Phantasiebilder und nicht das Grinsen meiner Kameraden. Ich spreche mich in Sehnsucht hinein, bis meine Bilder flügellahm in den glühenden Ofen prasseln. Und dann komme ich zu mir und schäme mich, wünsche mich meilenweit fort, wo andere erzählen und ich schweigen darf. –

Neun Uhr – Abendgebet – ich denke an meine Schmalzstullen, die jetzt schon unter dem Kopfkissen liegen. Ich habe Hunger und schiele auf die lispelnden Lippen des betenden Bruders und denke, ob die Soldaten auch so fleißig beten – und kann's nicht glauben und muß darüber nachdenken. Ob der Bruder auch betet, wenn er abends ins Bett geht? Und das kann ich auch nicht glauben. –

Wir turnen zum Schlafsaal die schmale Stiege hinauf – eisige Kälte – und dann liegen wir, der Saal wird 9 dunkel. Ich ziehe mir die Bettdecke über die Ohren und esse Schmalzstullen und weiß, daß noch viele essen, wenn auch keine Schmalzstullen. – Denn alles ist so still, seltsam still. Sie kauen alle, was sie haben und kauen morgen noch, dann aber ist Not. Die Fischklöße zu mittag, die blauen rationierten Kartoffeln, die Senfsoße und am Abend die Wassersuppe und am Morgen der Knust mit Kunsthonig – wartet nur, es kommt alles wieder zu hohen Ehren und selten schönen Genüssen. – Dann bin ich satt und schlafe und träume von Balz' Daumen und von meiner Rache.

 

So war unser Leben in der Anstalt. Totlangweilig und bleichsüchtig wie der Winter 1917. Da waren die Alltage mit ihren Schulpflichten und die Sonntage mit ihren Predigten. Das war alles hohl und leer. Unser Schauen war begrenzt, unsere Blicke glitten nicht über die Zäune der Anstalt hinaus und das Leben der Stadt Hamburg war verrauscht und gebrochen, ehe es noch an den kahlen Bäumen und Sträuchern unserer Gärten vereiste.

Die Aufgaben, die uns der Tag stellte, wären ein Nichts gewesen ohne irgendeine vage Hoffnung und den Ärger über die Kleinigkeiten unseres täglichen Lebens. Wir schwangen uns innerhalb unserer Wände von gekünstelter Aufregung zu Aufregung. Wir wurden boshaft zueinander und setzten uns in Widerspruch zu der Hausordnung. Das taten wir eigentlich ständig. Es waren nur einzelne unter uns, die mit Behagen ihre ruhige, umhegte Jugend in der Anstalt verschlissen – Ich empfinde diese Zeit heute als die traurigste und kampfloseste meines Lebens.

Zwei Monate lebte ich allein von den Rachegedanken, mit denen ich Balz umstellte. Das war keine häßliche 10 Eigenschaft. Es war mein ein und alles. Darüber verloren sich die Stunden und Tage. Ich ließ die schönsten Gelegenheiten, Balz zu schurigeln und zu demütigen, an mir vorübergehen. Ich wollte mir eben den einzig vernünftigen Gedanken, den ich durch Monate spinnen und hegen konnte, nicht vorzeitig nehmen. Ja, es kam so weit, daß ich Balz freundlich anlächelte und ihm sogar einen braunen Schuhriemen schenkte, als er einen suchte. Aber jedes Stückchen Schokolade, das ich ihn lutschen sah, und jeder Apfel, den er kaute, gaben meiner Phantasie neuen Schwung. Während der Morgenandacht in unserer kleinen Kapelle gedachte ich der Szene, als Balz mir eine Fratze schnitt und mit der Straßenbahn abfuhr. So lebte ich zwei Monate, dann wurde der Gedanke mir schal und ich ging zu Balz und sagte ihm, daß ich ihm dankbar sei, sehr dankbar. »Wieso?« fragte er erstaunt, »ich habe dir doch nichts Gutes getan!«

»Doch, lieber Friedrich, doch! Ich habe dich zwei Monate lang mit Fußtritten und Ohrfeigen traktiert. Davon habe ich innerlich gelebt. Aber das verstehst du nicht, lieber Friedrich, du bist ein Hohlkopf. Wenn du es aber noch einmal wagst, den Koriath zu treten, dann lasse ich diese zwei Monate wieder in mir aufleben und werde dich furchtbar verprügeln. – Im übrigen bist du mir Luft!« –

Als ich das gesagt hatte, hatte ich auch abgeschlossen mit der Leitung der Anstalt. Balz war nämlich der Liebling des Direktors. Und wer der Liebling des Direktors war, um den sammelten sich auch die Brüder. Nicht alle, aber doch die meisten.

Von einem weiß ich, daß er's gewiß nicht tat. Er war ein anständiger Kerl, ich hielt ihn für den weisesten Mann der ganzen Brüderschaft. Als dieser Mann im Köcher logierte, erkannte er sofort meinen inneren Jammer. – 11 Was tat da der weise Mann? Er kam eines Abends, als alle schliefen, an mein Bett und hieß mich aufstehen. Ich war starr vor Staunen. Wir gingen hinunter, durch den Arbeitssaal in das Erzieherzimmer. Und dann holte der liebe Kerl ein großes Paket aus dem Schrank und legte einen dicken Stuten und einen mächtigen Klumpen Butter vor mich hin.

»So, wir wollen mal eine gute Stulle essen!« meinte er. Dann wurden vier Schnitten Weißbrot abgesäbelt. Ich schwöre, jede Schnitte war doppelt so groß wie eine der Kriegsbrotscheiben. Ich dachte, ich träume und knurrte vor Freude, ich rieb mir meine Hände an meinem Nachthemd trocken, nachdem meine Handrücken die Tränen von den Backen weggewischt hatten. Ich wollte sprechen und wußte nicht, was ich sagen sollte. Als ich ein Wort herausbrachte, knarrte die Treppe. Ich schwieg und horchte und schaute dem lieben Kerl in die Augen. Ich schämte mich, vor den Kameraden etwas voraus zu haben. Und dann knarrte die Treppe immer wieder. Ich sah die weißen Nachthemden durch den Arbeitssaal zum Pissoir flitzen.

»Der Bettnässer fängt an und nun geht die ganze Bande!« Wir lachten und ich aß und fühlte die versteckte Art des Bruders zu animieren und zu unterhalten wie Gold, wie pures Gold. – Und dann erzählte ich ihm von dem Irrsinn und der großen Leere meiner Stunden und Tage. Darauf konnte er nichts erwidern. Er war zu klug und zu ehrlich, mir Demut in Sprüchen zu predigen. Ich sprach für alle, ich legte die Heuchelei von mir und zeichnete das Erziehungssystem, wie wir es sahen. Ich sagte mit tiefster Überzeugung: »Diese Jahre im Internat werden mich auf lange Jahre lähmen. Ich fühle mich so alt und finde keinen Anschluß zu der Zeit, in der Sie und 12 ich doch leben. Ich würge französische und lateinische Vokabeln und bleibe leer und werde ein Heuchler!«

Ob mich der Bruder verstanden hatte oder nicht, ich war für Wochen glücklicher und hielt den Mann, der mir Brot und Butter schenkte, für einen ausgezeichneten Menschen.

Zweimal war ich so kühn, durch Tage hindurch der Anstalt den Rücken zu drehen. Ich lag dann im Hamburger Hafen oder ging in den Sachsenwald. Kam ich wieder, flog ich in den Karzer und hörte Predigten und Ermahnungen und – das ist Tatsache – erhielt Wasser und Brot. Ich saß überhaupt oft im Karzer und einmal sogar eine ganze Woche lang bei Wasser und Brot. Das kam so: Lundt und ich hatten Sehnsucht nach den Gravensteiner Äpfeln unseres Schuldirektors. Der Garten dieses Mannes lag dem Köcher ziemlich nah. Als nun die Äpfel gelb und immer gelber wurden, hatten wir Angst, sie könnten gepflückt werden, bevor wir uns daran ergötzt hatten. – Da kamen Lundt und ich eines Abends auf den Gedanken, Kopfschmerzen zu heucheln. Wir erhielten die Erlaubnis, noch kurz vor Bettzeit in den Gartenanlagen spazieren zu gehen. So gingen wir in den schummrigen Herbstabend mit einem Rucksack unter der Jacke zum Garten, wo die Gravensteiner in den Wipfeln klatschten. Das ist keine Redensart. Die Bäume hingen so voll, daß ein Apfel den andern berührte und beim geringsten Luftzug klatschten die saftigen Früchte in den Bäumen. Vor den Bäumen war natürlich ein Gartenzaun, aber den nahmen wir ohne Zagen. Wir schüttelten an einem schweren Baum den unteren Ast – die Ernte war grauenerregend. Es hagelte und trommelte auf die Erde und die Hühner und Hähne in dem nahen Stall machten einen tollen Lärm. Wir packten 13 schnell den Rucksack voll und verschwanden. Die Äpfel teilten wir auf dem Schlafsaal und legten sie unter die Matratzen unserer Betten auf die Querbretter. Es waren einfache Betten, in denen wir schliefen. – Es kam dann Bettzeit, und wir gingen geschlossen in den Schlafsaal. – Wer beschreibt meinen Schrecken, als ich mein Bett sah! Das Kopfkissen lag schief, und die Bettdecke war zerwühlt. Lundt sah mich starr an und zuckte mit den Schultern. – Wir entkleideten uns und standen dann im Nachthemd an unserm Bett, als unten die Tür aufgerissen wurde. Und dann kamen sie herauf, der Pastor und der Direktor. Es war ein Donnerwetter, das sich über unsern Häuptern entlud. Jeder wurde einzeln gefragt, aber keiner wußte von dem furchtbaren Diebstahl im Garten des Direktors auch nur das geringste.

»Sehen Sie«, sagte der Pastor triumphierend zu dem Direktor, »von meinen Jungens hier ist es keiner gewesen!« – Und zu uns gewandt: »Legt euch hin!«

Ich stieg vorsichtig in mein Bett – mir zitterte jeder Muskel am Körper. Und dann faltete der Pastor die Hände und betete mit geschlossenen Augen. Er kam aber über die ersten zwei Sätze nicht hinaus. Ich wurde von einem Lachkrampf geschüttelt! Es fielen nämlich in polterndem Grollen ein paar Äpfel aus meinem Bette und rollten zu Füßen des Geistlichen. – Ich wehrte mich nicht, als ich aus dem Bett gerissen wurde. Das Toben der Stimmen hörte ich nicht, ich hörte nur mein furchtbar einsames Lachen. –

Den pädagogischen Sinn des Karzers habe ich nie begriffen. Wenn ich allein war, war ich wie ein alter gereifter Mann, der nicht einmal über gestohlene Äpfel und komische Situationen lachen konnte. – Lundt erzählte mir später, 14 Kanowsky hätte aus meinem Bette zwei Querbretter gezogen und sie in der Kleiderkammer versteckt. Wir hatten Kanowsky nicht gesehen, aber er uns. Kanowsky war böse auf mich, denn ich hatte ihm einmal gesagt, er hätte schmierige Ohren. Das vergaß er mir nicht. Er suchte mich zu verraten, wo er konnte. Das war ihm mit den Äpfeln gelungen. Ich habe ihm nichts getan. Ich glaube, ich hätte sogar für ihn gebetet, wenn nicht schon so viel vom lieben Gott erbeten wurde. Ich schämte mich vor dem lieben Gott, ihn auch noch zu behelligen, wo sie doch alle beteten in der Anstalt: der Pastor, die Brüder, die Kanditels, die Schwestern, die Lehrer, der Geschäftsführer, der Personalchef – alle beteten sie für uns, für uns Lausejungens. Also betete ich nicht, die hatten's ja übernommen.

So lebten wir in der Klausur. Wir waren ohne Kampfeslust und Tatendrang und wurden mit der Zeit dumm und unerfahren wie die Ochsen. Der Krieg verschwand – war einfach nicht. Da waren Zäune, und da war der Herr Pastor, der nur in der Kapelle den Krieg erwähnte.

Ich glaube, als in Hamburg im November 1918 geschossen wurde, waren viele unter den Zöglingen, die da glaubten, der Engländer habe Besitz von Hamburg ergriffen. Nur langsam sickerte die Tatsache durch: Revolution und Friede.

 

Lundt war ein guter Kamerad. Ihn fragte ich, als die Schüsse in Hamburg ballerten, ob er mit mir gehen wolle. – »Ins Rheinland, in die Heimat, um zu sehen, was los ist!« Er war dabei. Und so stiegen wir eines Nachts zum Fenster hinaus. Wir liefen im Zuckeltrapp nach Hamburg und setzten einen Stoß Wäsche ab. Den Erlös teilten wir. Lundt aber hatte Pech; der Steckrübenfraß und die 15 Fischklöße saßen ihm in den Knochen, und die Grippe überfiel ihn, wie sie eben Unterernährte überfällt. Ich setzte ihn in Harburg in einem Hotel ab und schrieb seiner Mutter und verschwand.

Ich stand nun allein in den kümmerlichen Straßen Harburgs. Ich fühlte keine Großzügigkeit in meiner Umgebung. Ich schlich nach Wilhelmsburg und versuchte vergeblich, mir ein Bild von meiner Person und meinen Ideen zu machen. – Solange es Tag war, kümmerten mich die steinernen Physiognomien des Städteklumpens und mein Ausgestoßensein wenig. Als aber das Frühdunkel und die pfeifende Kälte der Nacht kam, lief ich zurück nach Harburg.

Als ich den Bahnhof mit seinen Lichtern sah, wurde mir heimatlich. Das Empfinden habe ich auch heute noch, wenn ich einen Bahnhof sehe. Das läßt sich schlecht beschreiben, warum es so ist. Aber es ist so, bestimmt. Das Gefühl habe ich nicht alleine. Es sind hunderttausende, die die Bahnhöfe suchen und mit leeren Augen die großen gelben Wandfahrpläne studieren. Es ist etwas Besonderes, das uns Menschen den Bahnhof nahebringt. Ich meine unserer Geistes- und Seelenstruktur: das sind die Schnittpunkte, der traumhafte Wechsel, die Flucht vor den Krallen der Selbstqual, das Rätsel einer Welt, die an nichtssagende, kalte eiserne Schienen gebunden ist.

Der Bahnhof von Harburg hat allerdings schlechte Formen, ist ein unausgeglichenes, hingespucktes Etwas, eine störende anormale Seelenkonstruktion, eben ein kleiner Absteigebahnhof. Das merkte ich sofort, als ich mit einer Bahnsteigkarte auf den Schnellzug nach Bremen wartete – mit einer Bahnsteigkarte! Das war mir aber selbstverständlich. Und ebenso selbstverständlich stieg ich ein und 16 fuhr mit. Bis Bremen ging alles gut – ich lief immer hinter dem Schaffner her und ließ ihn nicht aus den Augen. In Bremen war der Ansturm auf den Zug ungeheuer. Ich glaube, es sollte einer der letztfahrenden Züge sein. Der Generalstreik hing in der Luft; das kann aber auch eine Falschmeldung gewesen sein, denn im Rheinland fuhren auch noch an den nächsten Tagen Züge. Natürlich wollte ich diesen Zug bis zu seiner Endstation benutzen. So ließ ich mich hinter Bremen von der Menschenmasse in dem Schnellzugsgang einkeilen. Mit dem Rücken lehnte ich an einem weichen Busen, von vorn ließ ich mich von einem gewaltigen Männerbauch tragen. Es war eine schlechte Nacht, aber ich hatte ja nur eine Bahnsteigkarte und war zufrieden, als ich in Düsseldorf noch im schönsten Frühdunkel ungesehen die Bahnhofssperre auf natürlichstem Wege umgehen konnte: den Schienen entlang, ein kleiner sachter Sprung, und ich stand auf der Straße, konnte nicht einmal meine Bahnsteigkarte loswerden. –

Da stand ich nun mit beiden Füßen auf dem Pflaster: ein kleiner, armer Junge mit kurzem Höschen, einer Pennälerkappe, mit primitiven Begriffen über die Revolution. Ich kam aus einer toten Welt und sah die lebende. Und es war nichts Wundersames daran, daß die Worte und Bewegungen der Menschen auf mich einwirkten wie eine bis ins Maßlose gesteigerte Kraft und Geistigkeit. Das schälte ich nämlich aus meinen Gefühlsschauern heraus: Kraft und Geist.

Ich stellte mich zwischen die Männer mit den starken Köpfen und den harten Händen. Sie aber schoben mich aus ihren Reihen, und einige Burschen zerrissen mir meine Mütze. Hätten sie mir wenigstens einen alten Hut dafür gegeben. Ich hatte doch keinen warmen Ofen, nicht mal 17 ein stinkendes Bett. Und ohne die Mütze war ich nicht einmal mehr ein Schüler. Meinen Jahren nach noch ein Kind. Aber ich wehrte mich gegen den Gedanken, die warmen Stuben und die weichen Betten meines Vaterhauses zu suchen.

Die Nächte trieben mich zu den erdversenkten Gerüsten der Zechen, zu den Baubuden der Maurer, in die Herbergen und Spelunken, auf die Polizeiwachen. – Aber der Tag lag in mir wie der Himmel. Losgebunden wie ich war, frei von Schule, Elternhaus, gab ich mich willig der Gegenwart, der eigenen Kraft hin. Nichts war in mir von Kritik, Wollen und Erbarmen.

Ich hungerte, denn das Betteln verstand ich nicht. Ich hatte es einmal in einem großen Hotel versucht, wurde aber sanft vor die Türe geführt. Da war nichts gegen zu machen. Vor einem Privathaus stand ich dann einmal eine Stunde und rang mit meiner Scham und ging dann weiter. Ich ging schnell und lief dann sogar. Ich wollte den Gedanken loswerden, gebettelt zu haben. Dabei wurde ich aber meinen Hunger nicht los und, wer weiß, wie schön ich noch in Deutschland das Betteln erlernt hätte, wenn mich nicht ein Bauer in sein Haus genommen hätte. Das tat er aus Mitleid, als er mich fröstelnd in einem Graben liegen sah. Und daß er mich zwei Monate als Knecht beschäftigte, das war auch Mitleid, denn es war wenig Arbeit da. So schälte ich Kartoffeln, fütterte die Kühe und lernte melken und Pferde putzen. Dafür hatte ich ein Bett und eine warme Küche und ein Essen, um das mich alle Städter beneidet hätten. –

Das wäre noch länger so gegangen als zwei Monate, vielleicht bis zum Frühjahr oder Sommer, vielleicht wäre ich mein Leben lang Knecht geblieben. 18

Es schwebt aber immer über mir eine fast magische Hand, die mich gerade dann am Kragen nimmt und treibt, wenn ich die Gemächlichkeit des Lebenstempos anfange zu genießen.

Bei dem Bäuerlein hatte ich viel gelernt. Ich konnte Kartoffeln schälen, so geschwind und sparsam, daß ich heute noch in hoher Gunst bei Hausfrauen stehe – wenn ich schäle. Und melken konnte ich, daß sogar die Bäuerin mich anstrahlte. Ich machte das aber auch ganz gerissen und mit einer Hingabe, die ohne gleichen war. Ich setzte meine Ehre darin, mehr zu zapfen als die Bäuerin und die Magd. Da waren sieben Milchkühe, und wir wechselten die Kühe – ich hatte aber immer mehr, zum mindesten einen Liter. Die Bäuerin gackerte jedesmal vor Freude und behauptete sogar, die Milch, von meiner Hand gemolken, sei fetter und würziger. Ich hatte meine Taktik: der Kuh klopfte ich unter den Bauch, zog ihr den Schwanz durch die Hinterbeine und kitzelte mit dem Quast das Euter, dann ging ich ein paarmal um die Kuh herum, schaute ihr verliebt in die Augen und fing an zu melken. Das spritzte dann und schäumte in dem Eimer, daß es eine Wonne war. Ich hatte die Kuh immer im Verdacht, daß sie sich gewaltig anstrenge, um sich für mich bis zum letzten Tropfen zu leeren. – Später las ich einmal in einer schweizerischen Zeitung von einem Manne, der dieselbe phänomenale Begabung hatte wie ich. Er molk jeder Kuh weit über den Durchschnitt die Milch aus dem Körper, dabei fett und von eigentümlicher Heilkraft für Lungenkranke und Tuberkulöse, so daß dieser Schweizer alle Aussicht hatte, ein reicher Mann zu werden. – Ich weiß nicht, ob das Reklame war für einen kleinen schweizerischen Kurort, in dem der Mann seine Praxis ausübte. Jedenfalls, 19 ein Wissenschaftler erklärte das mit Magnetismus und reklamierte den Mann für sich. Als ich das las, hatte ich der Landwirtschaft schon den Rücken gedreht. Und wenn es mir heute mal dreckig geht, denke ich immer: ich werde eben melken gehen! Damals war ich von meinen Fähigkeiten noch nicht überzeugt – es wäre dann sicher noch alles anders gekommen. Ich wäre Oberschweizer geworden, hätte viel Geld verdient und vielleicht einen berühmten Namen bekommen. Auch möglich, daß ich Magnetopath geworden wäre und den Menschen Tuberkeln und die Rachitis aus dem Körper gestrichen hätte. –

Aber da kommt eben die magische Hand und packt mich am Kragen: da war eine Magd bei dem Bäuerlein. Sie war einundzwanzig Jahre alt; ein schönes, stämmiges Mädel. Und ich hatte kurze Hosen und stämmige Waden, war überhaupt kräftig und sah von hinten aus wie zwanzig Jahre. Von hinten – von vorne verdarb mir mein Kindergesicht meine im Rücken liegende Männlichkeit. Zum Elend hatte ich dem Bauer vorgeflunkert, ich sei neunzehn Jahre, und das glaubte die Magd. Und wenn ich die Magd und ihr Getue sah, dann glaubte ich es selbst, daß ich neunzehn Jahre sei. – Dann kam die Magd eines Abends in meine Bettkammer – ich habe ihr nichts gesagt, sie kam von selbst und ich war innerlich gar nicht empört. – Als es aber bei uns in der Kammer still wurde und schwül und der Mond und die Sterne ihre Liebesampeln schwingen wollten, kam das Bäuerlein mit gekniffenem Gesicht und mit einer Stallaterne in meine Kammer. Als ich das dreckige Licht sah, wurde mir übel und ich heulte vor Scham, wie man mit sechzehn Jahren bei solchen Gelegenheiten heult. Das Bäuerlein aber war geisterhaft bleich vor Eifersucht. Es faselte von Undankbarkeit und zitterte, 20 weil es sich nicht so aussprechen konnte, wie es wohl wollte: Die Bäuerin hätte es sonst gehört. –

Ich zog mich aber in der Nacht noch an und ging schlaftrunken und müde durch Düsseldorf und war morgens in Duisburg. Ich trieb mich zwei Tage im Hafen herum, stand stundenlang auf einer großen Brücke und sah in das trübe, dunkle Wasser. Ich redete mir lange zu, die Füße über das Geländer zu werfen. Aber meine Füße taten mir nicht den Gefallen, sie blieben fest, und je mehr ich ihnen zuredete, desto fester klammerten sich meine Füße an die Erde. Da war nichts gegen zu machen. Auch nicht gegen meinen schmerzenden Hals und das Fieber, das mich überfiel. Ehe ich mir noch über die Ursache klar war, wackelten mir schon die Beine. Ich ging zur Herberge und lag mit vielen anderen Landstreichern den halben Tag auf Stühlen und Bänken. Und als der Abend kam, wollte der Herbergsvater mich nicht schlafen lassen. Ich hatte keine Papiere und kein Geld. Der Herbergsvater grollte, was mir überhaupt einfiele, ich solle ins Polizeiasyl kriechen. Das war grob, aber wahr. Ich schlich zur Polizei. Ich wußte, man muß einen Ausweis haben, wenn man bei der Polizei um ein verlaustes Lager bittet. So ohne Namen verschenken die keine Läuse. Aber mein Ausweis lag wohl noch bei dem Bäuerlein – und mir war es gleich, ob ich einen Ausweis hatte oder nicht. Mein Hals tat weh und jetzt wackelte mir der Kopf schon vor Fieber. –

Wie ein Suchender klopfte ich bei der Polizeiwache an und fand warme Gesichter und Teilnahme, ohne sie erwartet zu haben. Man fühlte mir den Puls, man telephonierte, man ratschlagte, während ich dämlich müde und träumend auf einem Stuhl saß und auf eine einsame Ecke wartete, wo ich mich langstrecken konnte. 21

Als man mich nach meinem Namen fragte, war ich zu müde, zu lügen. Ich sagte alles, auch was sie nicht wissen wollten. So müde war ich. Und dann dachte ich, daß zum Lügen Kraft und Talent gehört, während man die Wahrheit wie im Schlaf sagt.

Man gab mir keine Lauseecke zum Schlafen, man brachte mich in ein Krankenhaus. Da war ein weißes freies Bett zwischen drei anderen, eine zarte Dunkelheit und eine führende Hand, ein liebes Gesicht mit weißer Haube und ich fühlte eine ganz seltsame Demut in mir hochkriechen, Demut vor einem unbegreiflichen Feiertag mit langen Schwingen. –

Am nächsten Tage stand meine Mutter an meinem Bette und lachte mich an und schien froh, wie eine Mutter froh ist, wenn sie ihren Ausreißer wiederfindet. Ihre Freude tat mir fast weh. Denn darin lag die Wirklichkeit, daß ich gefangen war, daß wieder etwas geschehen würde, was mich unglücklich machen könnte, was ich nicht verstand. Und dann dachte ich an die warmen Stuben, die in meiner Mutter Augen leuchteten und wurde froh.

 

Ich sollte Landwirt werden. So wurde ich denn Schüler bei einem westfälischen Bauer. Er war ein wirklicher Bauer auf westfälischer Scholle. Ein Mann, wie eine westfälische Eiche, stolz und fromm, klug und starrsinnig. Er hatte eine zarte, sinnige Frau und studierende Söhne.

Ich arbeitete und lernte, ich holzte im Walde, bis meine Finger Frostbeulen hatten. Ich warf mit den Händen Kunstdünger und mistete die Ställe, ich pflügte und eggte – aber ich kam nicht ans Melken. Ich schleppte Zementsäcke und zerkleinerte Holz, ich säte und erntete und aß am Tisch der Familie. Wir beteten und gingen zur Kirche wie 22 in der Erziehungsanstalt. Wir logen Bildung und heuchelten Literaturkenntnisse – aber ich schälte keine Kartoffeln.

Ich weiß nicht, ob ich über das fiel, was ich nicht tat oder über meine Freundschaft mit dem Milchknecht der Molkerei des Ortes. Er war ein feiner Kerl und hatte die Welt gesehen und war mit seinen vierzig Jahren so jung wie ich. Wenn er erzählte, war Karl May ein toter Mann und alle abenteuernden Schriftsteller langweilig. Dabei war er klug, kannte die unregelmäßigen verba latina wie ich und las französische Romane im Original, was ich nicht konnte. Er war Milchknecht und ich war Eleve mit Familienanschluß. Das war natürlich eine Unmöglichkeit für den Hofbesitzer. Und für mich gab es nur eine Möglichkeit: ich ging deutlicheren Hinweisen aus dem Wege und suchte mir eine Stellung in Schleswig-Holstein. Das Versprechen des Milchknechtes, mir zu folgen, nahm ich als heiligen Ernst. Und ihm war's auch ernst, aber da stand ein Machtfaktor, den wir nicht eingerechnet hatten – der Tod. Der alte Lümmel soff gerne, und so fiel er eines Abends von seinem Milchwagen und brach sich das Genick. Das war das prosaische Ende eines romantischen Lebens.

Es war ein großes Gut in Schleswig-Holstein, das mich als Eleven beschäftigte. Das Regiment hatte hier ein Administrator, der gegen zehn verschiedene Gutsherren seine Stellung verteidigt hatte und zu meiner Zeit einem bankerotten Baron herrisch diente. Er diente als Herr. Das ist eigentlich ein Unikum. Aber wenn man den Baron sah und wußte, daß er nur durch eine Hypothek Besitzer des Gutes war, dann verstand man das eben. Der Baron war trotz seiner vierzig Jahre schon ein Greis mit einem Pfund Augengläsern und einem krummen Rücken. Ich 23 sah einmal, wie der Baron vor einem kriegsgefangenen Russen, der auf dem Gute geheiratet hatte, vor Angst über die Erde kroch. Hinter die Ursache bin ich nie gekommen, denn der Russe war schweigsam wie ein Grab.

Der Administrator aber war ein guter und schöner Mann. Er hatte eine kranke Frau und eine kranke Tochter. Dabei war der Mann ein Ochse an Kraft. Da gab es viele Tränen bei den Frauen. Ich wußte warum. Die Anna und die Lotti, die Seffi und die Marutschka, sie erzählten mir alles von dem tüchtigen, kräftigen Herrn Administrator.

Aber trotz der Zigaretten und der Liebenswürdigkeit des Administrators – die Hölle braute wieder Dampf unter meinen Füßen: ich hatte die Verwaltung des Getreidebodens, und da verschwanden nächtlicherweile mehrere Zentner Korn. Es kam ein anzügliches Wort, und ich ging.

Ich diente dann einem Grafen. Ich hatte nun einmal eine Vorliebe für die Grafen, nicht aus byzantinischen Gefühlen, sondern wegen der vielen Märchen meiner Jugend, die sich alle um Grafen und Prinzen drehten. – Der Graf war ein wirklich feiner Mann. Er war gnädig und leutselig. Er reichte mir die Hand von oben herab; das kam aber, weil er mächtig groß war. – Als ich nach einem Monat Vertrauensarbeiten zu erledigen hatte, wurde ich stolz. Ich wurde ein Graf vor Stolz und war manchmal ungnädig wie ein Graf, wenn meine Meinung nicht die senkrechte war.

Da war ein Arbeiter. Er war groß und stark und beredt und vertrat in politischen Dingen seine Meinung fest und sicher. Zum Unglück hatte ich noch gar keine feste Meinung und wurde frech, um das zu bemänteln, was ich nicht wußte. Das ist ein natürlicher Vorgang bei jungen 24 Menschen, die respektiert sein wollen. Ich wurde grob und dann sausten die Knüppel. Es war meine erste Gewalttat. Ich traf den Arbeiter mit einem dicken Stock am Kopf. Und als er fiel, lief ich fort. Ich wischte mir das Blut vom Kopf, denn ich hatte eine prächtige Wunde. Ich lief furchtbar schnell in mein Zimmer und warf das Notwendigste in den Koffer und fuhr nach Hamburg. Ich war in dem Glauben, den Mann getötet zu haben. Erst später, nachdem ich eine Boystelle in einem Hamburger Hotel gefunden hatte, erfuhr ich, daß es nur eine Betäubung war, die den Mann zu Boden warf. Ich schrieb ihm einen langen Brief und bat ihn um Verzeihung. Er schrieb mir auch wieder. Aber die Angst vor mir selbst saß mir in den Gliedern, wie man Angst hat vor einem unberechenbaren Gespenst. Und ich fand keine Ruhe, bis ich Tolleres und Größeres erlebte. –

Ich war ein feiner Boy, ich putzte meine Montur und verdiente viel Geld. Ich tat, was ich konnte. Aber der Geschäftsführer war ein komischer Kauz, einer von den vielen, die ich noch kennenlernte, welche an dem Knaben eine schmucke Taille lieben. – Pest! ich trat ihn vor den Leib und war ohne Stelle. Aber nicht lange. Ich kletterte in meiner einmal begonnenen Branche als Serviteur. Ich wurde Steward bei der Mitropa – und alles wegen einer galanten Verbeugung. Ich segnete dich damals, du gut bürgerliche Erziehung! Ich lernte, ein guter Sklave sein: Händedruck im rechten Winkel mit links hochgezogener Schulter. Und dann schwebte ich: Hamburg–Köln, Köln–Hamburg. Das wurde aber fade mit der Zeit. Auch hatte der erste Steward eine böse Natur. Ich fuhr aber weiter, dienerte und säckelte Trinkgelder, und suchte mir insgeheim eine andere Bahn. 25

Jeden dritten Tag traf ich in Köln mit dem Warschau-Paris-Expreß zusammen. Für einen französischen Steward dieses Expreßzuges regulierte ich eine Liebesangelegenheit in Deutschland, schrieb höllische Briefe, machte mich zum Laufkanal einer gallischen Amoure, daß mir der Schädel dampfte. Ich beteure, hier lernte ich den Freistil meistern.

Mein Plan war, den verliebten Franzosen nun auch einmal zum Knecht meiner eigenen Angelegenheiten zu machen. Ich wollte ihn beim nächsten Zusammentreffen um einen französischen Paß auf einen xbeliebigen Namen mit einem Freifeld für meine Photographie bitten.

Als ich das nun meinem würdigen Berufskollegen vortrug, war er erst sehr erstaunt und verzog seine Visage zu einem krassen Nein. Das heißt, verzog – ich las ihm aber seine geistige Negative von der Nasenspitze ab und erdrückte jede Gegenregung durch eine kräftige Handbewegung. Zuletzt wurde ich sogar so selbstsüchtig, meine Verdienste um seine Liebe über alle Maßen zu loben. Ich packte den Franzosen so an die Nieren, daß er mir versprach, meine Wünsche zu erfüllen. – Der Bursche kniff aber. Das ahnte ich schon im voraus. Als ich ihn beim nächsten Zusammentreffen unserer Züge auf dem Bahnsteig suchte, fand ich ihn nicht. –

Aber ich trug ja die Litewka der weltumspannenden Mitropa. So sauste ich durch die Wagen des Expreßzuges, sprang unter die Köche des Speisewagens und rief den Französling mit Namen. Und verdammt, ich sah ihn hinter den Spiegeltüren des geräumigen Speisewagens verschwinden. Ich flog ihm nach, und der da vor mir verhedderte sich an einer Türe. So war ich neben ihm, ehe er noch weiterlaufen konnte. Ich legte ihm meine Hand 26 um seinen Hals und zog mir sein Leidensgesicht vor die Augen und trichterte ihm mehr mit Gebärden als mit Worten meine Gegenwart ein. – Das verstand der Bursche. Zu meinem maßlosen Entzücken holte er einen französischen Paß aus seiner Tasche. Er reichte ihn mir und ich sah ihn an. Es war sein eigener Paß mit seinem Bild.

»Cher ami«, sagte ich, »da fehlt freilich das Freifeld für meine Photographie; aber ich will zufrieden sein, wenn du mir dein Ehrenwort gibst, für die nächsten drei Monate das Fehlen deines Passes nicht zu bemerken. Als er einwilligte, wurde ich zärtlich und nannte ihn meinen treuen Freund. Da war der Knabe auch gerührt und rückte eine Pulle besten Südweins heraus, die wir beide in schnellen, großen Schlucken leerten. –

Vierzehn Tage nach diesem Vorfall saß ich in dem Warschau-Paris-Expreß und fuhr in feudaler Verfassung, äußerlich und innerlich, nach Marseille. Als mein Steward, der wahre Inhaber meines Passes. mich in den sanft schwellenden Polstern eines Abteils hingeflegelt sah, zitterte ihm das Tablett in der Hand und die Weingläser tanzten einen absolut anderen Rhythmus, als ihn der Zug in die Schwellen und Schienen sang. – Das war aber sein kleines Hirn, das die Dinge und Geschehnisse nicht nahm, wie sie kamen. Ich an seiner Stelle hätte mich auch nicht eine Sekunde vergessen, sondern devot gelächelt. Als ich dann umstieg und meinen freundlichen Paßspender bleich an einer Wagentür lehnen sah, hatte ich ihn im Verdacht, daß er mehr als einer Flasche den Hals gebrochen hatte. Ich versprach ihm heilig. daß ich ihm seinen Paß sobald wie möglich aus Marseille zurückschicken würde. 27



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