Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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Das Wunder

In den nächsten Tagen kam Amey kaum zu sich selber. Briefe jagten sich und Besucher folgten hinterdrein. In dem Ostflügel, wo die Mehrzahl der Fremdenzimmer lag, wurde es froh. Keller, Küche und Vorratsräume erregten sich. Obwohl Amey von eigentlicher Arbeit so viel wie nichts verstand, und Mamsell auch vollkommen genügte um anzuordnen, so war Amey doch hier und dort und überall. Sie war bewegt, aber nicht ruhelos wie in den verflossenen Wochen. Nur wenn sie an den Zimmern vorüberkam, die Thomas Vernow bewohnt hatte, schien ihr Fuß sekundenlang zu zögern. Aber dies war seltsam; wenn sie an Thomas dachte, so sah sie ihn, wie sie ihn in Berlin gekannt hatte. Weder in der Burg noch im Wald, noch auf dem Wunschberg lebte sich die Seele von Thomas Vernow zurück für Amey. Die Hellbergs, sie selbst, ach, ihre schöne, geliebte Heimat – sie alle hatten dieser armen, zerspaltenen Seele die Ruhe nicht geben können. Sie mußte sich zurückerlösen in das große Geheimnis! Dann stand Amey wohl still. Ihr Blick träumte und verschleierte sich.

»Wir sollten den stummen Dingen viel tiefer glauben«, dachte sie. »Für die Menschen der großen Städte, die die Zusammenhänge verloren haben, mögen sie nichts bedeuten, aber uns, die wir hier draußen leben, sind sie wie Glieder des gleichen Leibes!« Hatte nicht Blanchefloor, das schöne, silbergraue Windspiel, Thomas Vernow abgelehnt vom ersten Sehn? Ebenso wie die alte Ariane? Waren die Burschen und Mädchen nicht um die Tanzlinde geschritten? Und ein kleiner Sarg fuhr vorüber, gerade als Thomas Vernow zum erstenmal in die Schloßallee einbog.

Und dann: »Wir alten Geschlechter«, dachte Amey. Sie erschrak. Sie kam an dem Zimmer im Westflügel vorüber, in dem sie geschlafen hatte, – damals. Sie hatte mit Thomas Vernow vor diesem Zimmer gestanden, aber um keinen Preis hätte sie ihm das Geheimnis jener Nacht anvertrauen können. Mußte aber der, der hier Herr sein sollte, nicht alles übernehmen? Allen Hellbergschen Segen und Hellbergschen Fluch? Ja, einer, der Macht hatte, gehörte dazu. Dieses Geschlecht konnte nicht aufhören. Es mußte sich erlösen. – – –

 

Nun waren sie alle gekommen. Überall sah man vor Staffeleien sonnenüberglühte, berauschte junge Gesichter. In den Alleen, im Park, vor den steinernen Göttern und auf der Höhe des Wunschbergs. Vor dieser breitausladenden, köstlichen Stiege, vor den kühnen Herrengesichtern über den spanischen Tellerkrausen, vor den preislosen Schätzen in Hallen, Gemächern und Galerien. Ihre bebenden Künstlernerven verschmolzen mit verblaßten Jahrhunderten wie mit diesen blühenden Sommertagen von heute. Aber in allem erspürten sie die Herrin, die Seele dieser verzauberten Welt. Sie spürten sie bis in die letzte Fiber. –

»Ach Gott,« sagte Amey zur Bronklava, wie sie mit ihr an den Pfirsichspalieren entlang ging, »nun hatte ich mich schon ganz damit abgefunden, daß sie mir aus lauter Dreiecken und Kreisen jeder seine Philosophie zwischen zwei Galeriefenster setzen würden. Aber man kennt sich doch niemals aus. Wenn ich nicht ganz verlassen bin, so behaupte ich, der Professor hat unsern Grabtempel vor, und es ist über alles Sagen, wie er die Schatten meiner Ahnen dort unter den Hängeweiden erwittert hat!« Die Bronklava lachte glücklich. Sie deutete auf Marsyas. Ja, Marsyas – vielleicht wußte er es selber nicht, aber Amey sah diesen Garten, diesen ganzen geliebten Garten in seinem heidnischen Pansrausch dort auf seiner Leinwand. – »Oh, ich dachte es immer,« sagte Amey, »diese neue Kunst ist in der Großstadt geboren. Der Fluch der steinernen Meere entfesselte diesen Notschrei: Er mußte wohl grell sein und gellend. Zu schwer hat der Mensch gegen den Menschen gesündigt! Aber der Mensch muß erlöst werden durch den Menschen!« Und der ganze selige Pansrausch blühte auf ihren Wangen und in ihren Augen.

Zwischen den Erdbeerbeeten tollte die Käthchen und stürzte mit einem Jubelruf in Ameys Arme, sobald sie ihrer ansichtig wurde.

Fräulein Winkler saß unter der blühenden Linde. Sie hatte nicht geruht, bis sie eine Spitze in die Hände bekam, von weißgekleideten Nonnen vor vielen hundert Jahren in einem Garten mit Lorbeer- und Orangenbäumen in Leinwand ausgenäht.

Fräulein Winkler kam nicht aus der Bewunderung heraus über die einhundertunddrei verschiedenen Klosterstiche und versuchte mit aller Kunst und stopfte einige winzige Löchlein dieser Spitze. »Ja,« sagte sie strahlend, »wenn das der Käthchen ihre Mutter erlebt hätte! Die war auch so. Die hat Blumen immer so sehr gern gehabt. Was die am Sonntag für Buketts zu Hause gebracht hat!«

Elisabeth Ewald konnte noch immer nicht recht an die Wirklichkeit glauben. Sie lag in ihrem Liegestuhl unter den Rosen, zwischen Burgen von Büchern und Obst und süßen und stärkenden Dingen. Aber das schönste war doch, wenn Amey selber sich neben sie setzte und mit der Hand leise dieses dünne Haar, mit dem der Sommerwind gespielt hatte, aus der großen bleichen Stirn strich.

»Liebling«, sagte Amey. »Ist es so, wie du geträumt hast im Winter?«

Nein! Es war tausendmal schöner als jeder Traum.

Und als der Sommer auf dem Gipfelpunkt stand, kam eines Morgens der Brief. – – –

 

»Don Lund wird kommen«, dachte Amey. »Don Lund und Nelli.« Ihre Augen wurden groß und fragten. »Ich will Nelli gesund pflegen«, sagte sie plötzlich zu sich selber. »Zum Glück will ich sie pflegen!«

Das Zimmer mit der rosengeblümten Tapete und den weiß und goldenen Empiremöbeln wurde zu Nellis Empfang bereitet. Es sah weithin über die blühenden Terrassen. In seinen lichten Farben war es wie eine Wiege des Glücks.

Und Doktor Lund? Wo würde Doktor Lund wohnen? Amey ging den langen hallenden Korridor herunter. Sie überlegte. Kein Zimmer schien ihr das richtige. Plötzlich fuhr sie zusammen. Wie war sie in den Westflügel geraten? Und vor diese Tür? Warum sah sie plötzlich klar zum Greifen das Bild der Yolanthe Hellberg? – Sie gab sich einen Ruck. Sie hatte den großen Schlüsselbund. Sie lachte leise und wurde rot, als sie aufschloß. Wie sie in den Erker trat, riß sie plötzlich ihr Kleid eng um die Knöchel. Als müsse sie ihren Rocksaum vor irgend etwas Entsetzlichem bewahren. Die Schauder jener Nacht standen wieder um sie her.

Aber wenn sie sich jetzt gegen jene Tür werfen wollte – kein Onkel Rhaban würde bereit stehn. Die Tränen brachen ihr aus den Augen. Aber wie sie noch wartete, ohne zu wissen worauf, kamen plötzlich starke, schnelle Schritte den Gang herunter. Amey riß die Tür auf. Sie erblickte Don Lund. Als ob sie sich retten müsse, flog sie Don Lund entgegen. Es sah aus, als wolle sie sich ihm an die Brust stürzen. Aber im letzten Augenblick begriff sich Amey. Sie warf sich zurück. Sie lachte erschrocken und glücklich. Sie hatte noch immer Tränen in den Augen, und sie strich mit der Hand über die Stirn, wie jemand, der entsetzlichen Träumen entging.

»So bin ich wieder zur rechten Zeit gekommen?« Don Lund reichte Amey den Arm. Er führte sie zart wie Onkel Rhaban und dennoch in einer Art, daß Amey die Empfindung hatte, als ob die Tätigkeit des Gehens ihr abgenommen sei. »Einmal schon verschob ich meine Reise nach Kleinasien für Sie um einen Tag«, sagte Don Lund. Er sah Amey lächelnd an.

»Wie köstlich es ist, wenn andre für uns wissen!« Amey war sich nicht bewußt, daß ihre Worte ungewöhnlich waren. Sie achtete auf diesen kleinen, brennenden Punkt in der Brust. Sie spürte ihn wie das Herz ihres Herzens.

»Nelli?« fragte sie plötzlich. »Wie geht es unsrer armen, lieben Nelli?« – –

»Es geht bergab mit ihr.«

»Bricht mir mein Herz?« dachte Amey. »Mein Gott, hilf mir, mein Gott. Was ist mit mir? Ich verwirre mich. Kann ein Mensch so böse sein? Kann er so grausam sein, wie ich bin?« Sie schlug die Hände vor die Augen. »Nelli soll leben«, rief sie flehend. »Thomas – Onkel Rhaban – mein kleiner Kinderfreund – alle sind tot. – Mir ist – ich müßte den Verstand verlieren, wenn auch Nelli stürbe!« Amey wankte.

Durch das Glasfenster einer Tür blickte man in ein grün durchkühltes Zimmer. Es war das Zimmer, in welchem Onkel Rhaban auf Amey gewartet hatte in jener Nacht. Don Lund wollte die Tür öffnen. Ein Riegel widersetzte sich. Aber was bedeutete ein kleiner, dünn gewordener Riegel! Im nächsten Augenblick hatte Don Lund Amey in die Arme gehoben. Er trug sie auf das Ruhebett, in die grüne Kühle, die dennoch von tausend Lichtfunken froh überstäubt war. Don Lund streckte Ameys Körper lang aus. Er bückte sich über sie und legte ihr die Hand auf die Stirn. »Auf die Länge der Zeit kommt es nicht an«, sagte er. Seine Stimme klang leise und eindringlich. »Die Länge der Zeit ist belanglos. Auf die Intensität kommt es an. Auf das höchste Ausmaß der Empfindung!« –

Er strich mit der Hand dreimal leicht über die Stirn Ameys. Er hob seine Finger, deren einzelne Glieder schlank und lang und zueinander im gleichen Verhältnis standen, jedesmal behutsam in die Höhe, als nehme er einen Schleier fort. Als er zum drittenmal die Hand in dieser Weise von der Stirn Ameys entfernte, schlug Amey die Augen auf.

»Wurde ich ohnmächtig?« fragte sie beschämt und ungläubig. Sie glitt schnell und leicht von der Couchette herunter. »Mir ist, als hätte ich mit köstlichsten Träumen geschlafen! Wie klug wir werden in unsern Träumen! Jetzt wollen wir zu unsrer lieben Nelli gehn.« Ameys Stimme staunte und war zugleich voll tiefer Zärtlichkeit. –

Nelli lag auf der Terrasse zwischen den Orangenbäumen und den uralten Myrten in den gewaltigen Kübeln. Die ganze Luft war voll von dem schweren und leidenschaftlichen Atem jener Blüten, die von allen gesteigerten Stunden im Leben der Frau, denen ihre Schwestern von alters her die Krone flochten, angenommen haben.

Nelli lag zwischen Kissen und Decken. Don Lund hatte alles angeordnet. Die alte Ariane und Elisabeth Ewald waren bei ihr gewesen. Nun hatte Nelli beide fortgeschickt. War sie auch bereits im himmlischen Jerusalem? Ihre Blicke wanderten von der langgestreckten Fassade dieses weißen, von der Sonne überglühten Schlosses die Terrasse herunter in verklärte Gärten, die dem Leben verwehrt sind und dem Alltag. Ja, nur solchen, die an das Leben kein Recht mehr haben, war der Zutritt erlaubt. Aber Nelli? Sie gehörte doch wohl nicht zu jenen? Sie fror ein wenig, sie war matt. Immer war da ein kleiner, scharfer Stich, wenn der Husten kam, und das Fieber vergaß sie an keinem Abend. Aber das alles war doch wohl nicht sehr schlimm? Oh, konnte denn noch ein einziger Mensch auf der Welt so glücklich sein wie sie? – Rosenrot flossen Erinnerungen über ihr abgezehrtes, kleines Gesicht. Sie waren so sehr gut zu ihr gewesen, seine Freunde in Friedenau. Aber doch, immer gegen Abend – etwas hockte ihr auf und ängstigte sie. Dann kam Don Lund mit der Geige. Dann entführte er sie in fremde Reiche, wo es keine Angst gab und keine Not. Das Frühlingslied von Mendelssohn zum Beispiel. Alle Vögel fingen an und alle Quellen. Die Knospen brachen auf, und der Wind, befrachtet mit den Geheimnissen aller Liebenden, tollte wie ein übermütiger Junge durch Felder und Wiesen. Ja, so war es: Don Lund spielte ein Nocturno von Chopin, und die dunklen Mäntel der Nacht sanken herab. Er spielte Bach – man stand im violetten Dämmer der Kathedralen, und hoch oben die Kreuze glühten vom Morgenrot. »Don Lund, mein Freund, mein Schönster, oh du mein Geliebter!«

»Schläft sie?« flüsterte Amey, als sie mit Don Lund auf die Terrasse trat.

Aber mit dem Tastsinn der Liebe, der auch durch geschlossene Lider die Nähe des Geliebten spürt, öffnete Nelli weit und glückselig die Augen.

»Nelli, kleine Nelli!« Amey bückte sich über sie und streichelte das schmale, durchleuchtete Gesicht. Sie lachte und scherzte und versprach alle Königreiche. Sie dachte nicht einmal daran, oh, welcher Trost, daß es ihr nicht einmal in den Sinn kam, ob auch der Weg zu Nellis Wunder sie selber vielleicht an einem Unersetzlichen vorüberführen könnte.

Amey ließ den Tee auf die Terrasse bringen. Helle zierliche Korbtische, altes Silber. Zwischen ängstlich zarten Täßchen, betupft mit China in rosa und grün und gold, zwischen Krausgebacknem und Splittergebacknem türmten Erdbeeren wie Korallenriffe. Amey und Don Lund reichten abwechselnd Nelli. Wie ein verwöhnter Kanarienvogel und als sei sie nie anders gewohnt gewesen, pickte und krümelte die kleine Kranke mit der silbernen Gabel an diesem und jenem. »Wenn mich nur niemand ruft«, sagte sie schelmisch von Zeit zu Zeit. »Wenn nur nicht gleich die Weckuhr schnarrt!« Und plötzlich setzte sie den Teller mit den Chinesen unter den zerbröckelten Kuchenstückchen auf ihre Knie, die sich ein wenig spitz unter der Decke abzeichneten. Ihre durchsichtigen Hände reichten nach rechts und nach links. »Erzählen«, sagte sie. »Bitte sprechen!«

So erzählte Don Lund. –

Als die andern zum Tee kamen, ging jeder behutsam, als dürfe ein Traum nicht gestört werden. – Sie sahen Nelli an. Ein Schein war dabei in ihren Augen.

»Singen!« verlangte Nelli, als Don Lund schwieg. Da sangen alle! Jene Lieder der Burschen und Mädchen, wenn sie durch die Johannisfeuer springen, und die so überrinnend voll von Süßigkeit und Trauer sind. Aber während sie sangen, suchten Ameys Augen plötzlich in großer Bangigkeit Don Lund. Stand nicht etwas auf der Terrasse? Zwischen den überblühten Orangen? Es stand still, kühl und fremd und doch sehr nah. Und als Don Lunds Augen Amey antworteten, griff Amey aus den Massen von Rosen auf dem Tisch schnell eine einzige dunkelrote heraus. Sie legte sie Nelli auf die Brust.

Amey und die alte Ariane hatten die Kranke zur Ruhe gebracht.

»Gibt es hier nicht ein verwunschnes Zimmer?« fragte Don Lund, als er mit Amey die Terrasse hinunter in den französischen Garten schritt. »Gibt es nicht etwas Ungelöstes und Geheimnisvolles in der Geschichte der Hellbergs?«

»Es ist wahrhaftig ein Ungelöstes in diesem Hause«, sagte Amey. »Ich war gerade in dem Zimmer, als Sie kamen.« Sie zog die Schultern nach vorn, als fröre sie. –

»Ich muß in dem Zimmer schlafen. Bitte, ja. Kennen Sie nicht die Geschichte vom Hans, der das Gruseln lernen wollte?«

Amey lachte. Wie Don Lund es sagte, stand das warme Leben um sie her.

»Ich muß sein Bruder sein.« Auch Don Lund lachte. »Aber bei mir hat es noch eine andre Bewandtnis, daß ich immer vergeblich auf der Suche nach der Fischhaut war. Ich kenne die Geister zu gut. Ich stehe mit ihnen auf du und du.«

»Ja«, rief Amey. »Stammen Sie nicht daher, wo die Leute das zweite Gesicht haben? Sie kommen vom Meer. Aber woher haben Sie den Beinamen der Heidjer?«

Don Lunds Augen, die eben den kühnen Adlerblick alter Wickinge hatten, träumten. Der Duft der blühenden Heide schien um ihn, gilbende Birkenzweige. Eidechsen nahmen die Sonne schon wichtig. Bienen brausten. Und die alten Könige unter den Steinblöcken träumten von der Liebe ihrer Jugend. »Ich bin in der Heide geboren«, sagte Don Lund. »Jeden Herbst, wenn sie blüht, muß ich hin!« Amey sah ihn an wie einen heimlich Verschworenen. Allerdings. Auch sie war gerufen worden, diesen Winter! Nicht Ruh gegeben hatte ihre Landschaft. Blut und Erde. Wer würde dieses letzte Mysterium ergründen?

Wie heimatlos sie waren, die Menschen der großen Städte! Ameys Blick umflorte sich leicht. »Aber kommen Sie nicht von einer Hallig? Jemand hat es mir gesagt. Ich glaube – Guntram Walmoden?« Ihre Stimme verriet Sorge. Zugleich war sie voll leiser Spannung.

»Guntram Walmoden!« Don Lund wiederholte den Namen, wie man von einem hoffnungslos Kranken spricht. »Die Unruhe in dieser Uhr versagte.«

»Ja, ja.« Amey betonte stark.

»Die Ausnahmen bestätigen immer nur die Regel. Wenn ihre Zahl jetzt auch anschwillt wie Legion, und als ob sie selber das Unumstößliche wären.« Don Lund warf sich plötzlich mit dem Oberkörper zurück. Sie waren durch das Taxustor getreten. Die Landschaft lag fein gezeichnet und geheimnisvoll umblaut. Wie die Landschaft auf einem Bilde Lionardos. »Die Aktivität unsrer Rasse wird sich zuletzt immer dem Buddhismus widersetzen. Wir Westler bedürfen der Erlösung durch die Tat

»Wie sehr ich um diese Anschauung gekämpft habe.« Amey atmete befreit. »Aber nun, wie war es mit der Hallig?«

Don Lund lächelte. »Mein Vater war Halligprediger. Auf einem Fleck Erde, nicht so groß wie Ihr Park, Baronesse, hat sich meine Jugend abgespielt. Aber trotzdem . . .« Don Lund brach ab. Sein Brustkasten wölbte sich.

»Das Meer?« Amey hatte plötzlich die Vorstellung einer außen getigerten und inwendig zartrosa gefärbten Muschel. Sie war ein kleines Mädchen und stand neben Onkel Rhabans Knie. Sie hielt die Muschel ans Ohr, sie hörte das Rauschen, und kleine geheimnisvolle Schauder liefen ihr kühl wie Wasserperlen den Nacken hinunter.

»Ja, wer das Meer rund um sich brausen hat!« Don Lunds Nasenflügel witterten. Es schien, als schmecke er Salz. »Manche meiner Freunde nennen mich auch Sindbad, den Seefahrer. Wir Halligkinder haben alle Sindbadblut in den Adern. Stellen Sie sich vor, die Lockung: Jeder Gischttropfen, der die Insel übersprüht – und in diesem Augenblick springt sein Bruder über die Felsenriffe von Koromandel oder auf die Mole von Brooklin! – Und jeder gehorcht demselben Gesetz: wenn der Mond befiehlt, erhebt er sich, und wenn er anders befiehlt, streckt er sich nieder. Es gibt kein größeres Geheimnis als das Meer.«

Er schwieg. Aber Amey sah es, als ob er mit der Hand darauf deutete: die fremden Frachten sah sie, an den Strand geworfen, und die fremden Toten. Aber ehe die Toten kamen, gellte es nicht: »Schiff in Not?« – Die Fedinge waren schon voll Salzwasser gelaufen, die Heuberge, wie Felsen vermauert, schwammen bereits. Die verkoppelten Schafe wurden losgerissen. Sind sie nicht höher als das Haus, die Wogen? Noch quält sich das Licht der Lampe durch die Ungeheuer mit den geschwollenen Bäuchen und den kochenden Mähnen auf zornig gespitzten Buckeln.

»Wer auf der Hallig aufwuchs, keinem andern steht der ganze Erdkreis so nah. Und kein andrer ist so tödlich allein. Wer auf der Hallig leben will, der muß sich in Felsgrund verankern.«

Don Lunds bartloses, kühnes Gesicht erschien wie aus Holz geschnitten. –

»Die großen Städte überschreien alles.« Er sagte es bestimmt und schnell. Wie den Schluß einer Gedankenkette.

»Der Kreuzberg!« dachte Amey. »Thomas! Der große Bruch!« Ihre Augen trauerten. –

Hier gingen sie durch den gestillten Juniabend. Alle Blumengesichter waren entsiegelt. Das Licht starb nicht. Es ging nur, um anderswo Tier und Mensch und Blühen zu segnen. Die unzähligen Nachtigallen des Parks mußten schweigend warten, bis das Wunder neu über sie hereinbrechen würde. Aber in den uralten Baumkronen schwangen immerfort Melodien, als ob verborgene Hände harften. »Der Gott war nicht im Wetter und nicht im Erdbeben«, sagte Don Lund. »Im stillen, sanften Sausen war der Gott.« Seine Stimme hatte die Farbe der Stunde. Aber seine Augen waren voll kühner Bilder. Er hatte Amey nicht den Arm geboten. Aber wie sie neben ihm ging auf dem Rain zwischen betauten Wiesenflächen, dem frommen Veilchenblau abendlicher Berge entgegen, faßte ein Rhythmus ihr Schreiten ineinander wie der Bau einer ewigen, kostbaren Strophe. »Gehn wir nicht Hand in Hand?« Amey staunte. Losgelöstsein schwang in ihren Schritten, Befreiung vom Zufälligen, Zeitlosigkeit. –

»Ich bin viel gereist«, sagte Don Lund. »Etwas fiel über mich her. Es hing mit der hygienischen Ausstellung zusammen, vor zehn Jahren. Alles in mir war erschüttert: Ich mußte fort und weiter sehen.« Er schwieg.

»Bitte«, Ameys Stimme zitterte leicht. Sie war die Resonanz eines überwundenen Grauens.

Aber schon im nächsten Augenblick tastete ihr Lächeln durch das blaue Licht des Abends. Sie warf den Oberkörper leicht rückwärts. – »Ich weiß es doch«, sagte sie. – »Alles klärte sich. Alles wurde zum Schluß ganz herrlich!«

Sie standen Blick in Blick. Blut träumte hinüber in Blut, und Seele in Seele. Nur das stückweise Erdwissen um ihre gewesenen Tage und deren Ertrag blieb ihnen vorbehalten zu glückseligem Austausch.

»Nun erzählen Sie, wie alles kam«, sagte Amey. Sie gingen wieder. Nicht näher, als daß eine Kerze zwischen ihren Schultern hätte brennen dürfen.

»Daß scheinbar nichts Neues geleistet wurde!« sagte Don Lund – »das entsetzte mich. Daß man sich mit dem ewigen Kreislauf abfinden sollte! – Es gab Schädel auf der Ausstellung – aus Kent und Assyrien und aus Amerika. Sie hatten alle dasselbe kleine Bohrloch. Denken Sie: vor Jahrtausenden, in allen Erdteilen sind Trepanationen nicht anders gemacht worden, als wie wir sie seit fünfzig Jahren machen. Aber noch vor fünfzig Jahren waren unsre medizinischen Instrumente Folterwerkzeuge im Vergleich zu denen früherer Kulturen.«

Don Lunds Stimme klang fern. Grenzlinien wurden weggeschwemmt. Zerstäubte Straßen standen ins Leben zurück, gigantisch, rheinentlang. Durchbraust vom Verkehr der Tagesposten. Paläste erragten, klare Tempel.

Was bedeutete ein wenig Dampf? Oder Elektrizität gegen so hohe Festlichkeit der Gebärde! – Und übrigens – wer hatte die Geheimnisse jener Vergangenheiten ausgeschöpft? Gab es nicht Bauwerke, übertürmt vom Schutt spätrer und geringrer Kulturen, so kühn in der Konzeption, so maßlos in den Verhältnissen, so vollendet in der Ausführung – andre Kräfte als ins Joch gespannte Sklavenleiber hatten der Materialisation dieser Hochgedanken dienen müssen!

»Zuerst ging ich nach Kreta«, sagte Don Lund. »Hippokrates zog mich. Das Wunder seiner Bäderanlage. Bedenken Sie: Steine, Meter im Geviert, ohne jede Bindung, nur durch das Gesetz der Schwere ineinandergefügt wie Glieder eines Leibes.« Er schwieg. Erschüttert von den Erinnerungen jener Eindrücke.

»Wir haben ein paar Figürchen«, sagte Amey langsam. »Onkel Rhaban brachte sie mit. Sie müssen sie sehn. Damen der Gesellschaft aus jenem Kreta des Hippokrates. Sie haben Wespentaillen und tragen Perücken und Reifröcke wie die arme Maria Lezcynska und die Favoritinnen der letzten Bourbonen.« Amey schwieg. Etwas schien an ihren Wurzelfasern zu zerren. So wäre es immer das gleiche: Süßlicher Modergeruch und der große Barbarenansturm? – Es brauchten nicht immer die hellhäutigen großen Kinder zu sein aus dem gletscherkühlen Nordland. Irgendein Primitives. Irgendein seiner selbst Unbewußtes. Ein tierhaft Gut und Böse. Ein ganz Erdgebundnes. – Und Jahrhunderte saugten es frei zur Seele. Und es blühte und war schön und unschuldig und gläubig für eine Zeit. Und war das Ja der Welt. Bis die Süchte aufbrachen. Dann fing das große Kranken wieder an. Das Relative. Die lauen, erstickenden Wellen des Zweifels und die Ungeheuerlichkeiten des erschöpften Blutes.

Amey wußte nicht, daß ihre Schulter der neben ihr ziehenden um eines Fingers Breite näher gerückt war. Wie eine ferne Legende erschien ihr das Leben, das sie gelebt hatte. Verblaßt, wie die Leben jener Gewesnen, für deren Ausmaß der Name einer Zahl noch nicht gefunden wurde. Zog sie nicht wie der Schemen ihrer selbst durch den verblauenden Abend? Wie die leichte, vergessene Gebärde einer ewig neu sich verschüttenden Hand?

»Darf ich?« Don Lund legte den Arm Ameys auf den seinen. Wie ein Herr eine Dame führt. Aber dennoch, wie er ihren Arm erfaßte und trug, schien es Amey, als würden ihre Seele, die wie ein Falter zwischen dem Heut und der Ewigkeit taumelte, erfaßt und getragen. Wo war es gewesen? Goldner Kahn? Goldner Kahn? – – Aus der Enge eines umhegten Gartens trug ihn sein Segel in die Unendlichkeit des Raumes? Amey stand still, jäh. Zuckte ein Blitz hernieder?

»Wie kennen Sie sich aus in diesem fremden Gelände!« sagte plötzlich Amey im Bemühen, sich zurückzurufen. Aber ihre Worte flatterten. »Ich bin die Herrin hier. Jede Wurzel und jeder Stein kannte schon meinen Kinderschuh! Aber Sie« –

»Oh, ich bin Pfadfinder!« Don Lunds Stimme wollte sorglos sein. Beim letzten Wort brach sie vonsammen. Wie eine Frucht bricht von der Süßigkeit des Seims.

Sie schwiegen. Sie bogen in die Allee ein. Ihre Linden waren über dreihundert Jahre alt. Man schritt wie in einem ungeheuren Tonnengewölbe. – Ein Kolüt flötete im Traum selig und bang. Ein weißes, wolkiges Ungeheuer tauchte auf. Es war der Schimmel des Milchwagens, der hinter seiner Laterne vorweltliche Dimensionen angenommen hatte.

»Erzählen Sie«, bat Amey leise. Sie waren noch weit von der Burg. –

»Ich ging nachher über den Peloponnes nach Indien.« Don Lunds Stimme hatte sich wieder in der Gewalt. »Ich habe mit den Hirten des Hymettos gelebt. Thymian und Menthe war unser Bett. Wir hatten Brot und Schafkäse. Aber oft genug war mein Mittagsmahl eine Handvoll grüner Oliven und ein Blick auf goldbraune, gestürzte Tempelsäulen. – Man mußte so lachen: Der Leipziger Platz mit Reklamen! Untergrundbahn! Sezession! Zeitung! Mein Gott – auf welchem Stern gibt es solchen Unfug?«

Don Lund sah aus, als wolle er einen Stern so übler Sitte an den Ohren nehmen. Auch Amey lachte. Ihr Herz in ihr war groß und fremd und süß.

»Ja, oder wenn man sich mit dem Hammer und dem Meißel in die Erdrinde einfrißt!« – Was an die dreitausend Jahre lang schlief . . . Stand er nicht plötzlich da? – Auch Amey mußte ihn erblicken: Hager, fremd, seine Blöße geborgen unter einem blutigen Fell: Jener früheste Mensch Europas. Auf dem unentfalteten Urgesicht die erste staunende Erschütterung des Bewußtseins seiner selbst. Eine leichte Kühle glitt über ihren Nacken.

»Und dann« – Don Lunds Stimme stieg plötzlich – »dann wußte ich es. Mit einemmal war ich gewiß geworden: Nicht das ewige Rund. Wohl der Kreislauf – aber – in der Spirale. Und im Gipfelpunkt der Spirale – und in ihrem Herzen . . .«

»Gott!« sagte Amey. –

Erschütterte auch der Raum vom Schlag eines ungeheuren Herzens? Waren sie selber dieses Herzens Schlag? –

Amey lehnte sich leicht an Don Lund. Sie wußte nicht, daß sie es tat. Eine Kerze zwischen ihren beiden Schultern hätte sie jetzt verschmolzen in einer Flamme. Aber in ihren Schritten stieg und fiel noch immer der Rhythmus jener uralten, köstlichen Strophe.

»Erzählen Sie«, bat Amey. Sie waren noch immer fern von der Burg.

»Ich kannte das Indien der Upanischads und das des Erhabnen, ehe ich Indien am Rande der Urwälder und in den Dschungeln erlebte!«

Don Lund schwieg jäh. Sein Atem kam hörbar.

Amey hob leicht die Handflächen. Ihr schlanker Hals streckte sich vorwärts. Ihre Nasenflügel witterten. Ihr schwingender Herrenschritt wurde behutsam, ohne an Sicherheit und Grazie zu verlieren. Sie hörte ein feines Knacken im Schilf. Die Nähe des Todes übersteigerte ihr Lebensgefühl zu panischem Rausch. Sie empfand die Blendung dieser metaphysisch grünen, blauen und roten Gestirne, die aufreizende Wildheit der Gerüche. Sie taumelte durch die süchtigen Nächte entschleierter Blüten. Zwischen trunkenen Verzückungen und phosphoreszierenden Agonien, zwischen Erdqualm, Moder, Ausgespienheit – und Katarakten von neuen Geburten. – Alle Menschengesetze entströmten wie Blut einer Wunde. Weltgrund brach auf, Krampf, Angst, kosmische Liebe: Geburt des Eros, welcher auch Thanatos heißt und bedeutet: letzte Vollendung. Sie redeten kaum noch. Amey empfing dies alles kaum in Worten. Es kam zu ihr geheimnisvoll. Wie Botschaft einer uralten, verlassenen Heimat, deren sie sich eben erst entsann. Plötzlich stand Don Lund still. »Ich war in der Wüste zuletzt«, sagte er sanft. »Vierzig Tage fastete ich am Fuße des Horeb.« – »Ja« – sagte Amey. Sie sagte es, als ob sie es längst gewußt habe. –

»Ich las die Bergpredigt dort. – Es war das letzte, was mein alter Herr und ich zusammen lasen, als ich mit dreizehn Jahren die Hallig verließ!« –

»Ja«, sagte Amey wie vorhin. Ein Ring schloß sich. Alle Höhen und alle Tiefen schloß er in wenigen Sätzen zusammen, einfach wie ein Kindergebet. »Selig sind, die reines Herzens sind . . .«

In diesem Augenblick kam es von der Terrasse: Grell, dumpf – dumpf, grell – das Gong. Festlich, in rhythmischem Wechsel, wie es Giacomos Art war.

»Wir kommen!« rief Amey.

»Ich habe Konfessionen gemacht!« Don Lund staunte schamhaft ergriffen. Sie strebten voran zwischen den schwebenden Gerüchen des betauten Heliotrop. »Die Dunkelheit war schuld. Diese taumelnden Sterne. Man ist so körperlos. Die Seelen sind einmal so ganz aufrichtig miteinander!«

»Und bei Tageslicht?« Auch Ameys Stimme bebte noch, wie sie zu scherzen versuchte. Aber schon ging sie wieder an diesem Arm ganz fest und sicher auf dem geliebten Boden der Heimat. Sie hatte die Empfindung, als ob sie ein paar große Cherubsflügel von den Schultern ablöste und bis auf weiteres in einer Truhe verschloß.

»Oh, bei Tage . . .« – Don Lund lachte übermütig. »Man hat soviel zu tun. Man hat gar nicht Zeit.« –

»Ist es dies?« dachte Amey. »Ist dies das einzige, worauf es ankommt: Gott leben! – Bei Tag! Wenn die Welt erst still wird, – oh – zum Lohn darf man dann ein wenig über seinen Geheimnissen träumen!«

Das heftige Glück des Entdeckers färbte ihre Wangen, wie sie in den Bereich der erhellten Terrasse trat. – – – –

 

Man hatte sich zur Nacht getrennt.

Don Lund schwang sich auf die Fensterbrüstung des Spukzimmers. Der französische Garten lag wesenlos und zugleich leidenschaftlich aneinandergedrängt unter der schmalen Sichel des jungen Mondes. Der Jasmingeruch lastete hier. Das Lusthaus am Ende des Rosenspaliers erschien unter der grünlichen Patina seines Kupfers wie überlaufen von Gletscherwassern. Die Frösche konzertierten. Ihre Chöre trugen eine einzige letzte und seltsam verschlossene Nachtigallenstimme.

Don Lund sann: Die Frösche, die einzelne Nachtigall, der Jasmin? Ob auch hier die Aldobrandinische Hochzeit über dem Spinett und in verblaßten Farben an der Wand des kleinen Lusthauses gemalt war?

Erinnerungen . . .

Würde sie nicht sogleich hereintreten, im dunkeln Mantel?

Don Lund glitt herunter von der Fensterbrüstung. Er stand steil. Seine Nägel gruben sich in das Holz der Fensterverkleidung. – Stand er nicht einmal schon grade so? – – Sein Atem stieß, als er sie wieder lebte, jene Nacht. – Das Gesicht war ihm längst bekannt gewesen. Konnte man nicht jede Woche fast das Porträt in irgendeinem illustrierten Blatt finden? Auf Rennplätzen, bei Kaisermanövern, auf Jagden, Skier an den Füßen, auf Indiendampfern, in Prunksälen? Immer mit dem gleichen, verächtlichen, firnkühlen Lächeln um die Lippen. Durch Zufall war Don Lund trotz der nahen Verwandtschaft seiner Herrschaften und dem regierenden Hause bisher niemals in persönliche Berührung mit der Herzogin Anna Sibylle gekommen. Jetzt war sie Gast auf Solitüde, einem kleinen, sommerlichen Barockschloß ihres Schwagers. – Man hatte Vollmond. Das Heu stand in Hocken. Man lebte ein wenig à la Trianon. Die petits bals champêtres waren an der Tagesordnung. Es gab auch ein Naturtheater, verschnittene Buchenhecken. Don Lunds Herrschaften waren nicht sehr wohlhabend, aber sie hatten Kultur und Geschmack. Es gab ein kleines, feines Melodrama auf dem Naturtheater. Der Verfasser wünschte nicht genannt zu werden. Aber die Herzogin Anna Sybille und Don Lund waren die Hauptdarsteller. – Einen Atemzug lang, während einer Probe hatte Don Lund das Gesicht seiner Gegenspielerin verändert gesehn. Er mußte sich getäuscht haben. Ein leises Schlagen der Wimpern – ein kurzer, flimmernder und hingegebener Blick. – Es war unmöglich, selbst im Affekt des Spiels. Am Haupttage waren sich auch alle Zuschauer einig, daß Anna Sibylle, so blendend sie aussah, durch ihre Unbewegtheit die Wirkung des Stückes ein wenig beeinträchtigt habe. An diesem Tag sah Don Lund zum erstenmal den regierenden Herzog neben seiner Gemahlin. – Die Ehe war kinderlos. – Die Rennen begannen. Der Herzog reiste schon am folgenden Tag. Die Herzogin wünschte noch zu bleiben. Die ländliche Ungezwungenheit war heilsam für ihre Nerven. Man lebte weiter im Freien. Es gab Picknicks, Jagden, Tennis, Ruderpartien. Man kam kaum noch ins Haus. Die Herzogin befahl Don Lund des öfteren zu ihrem Partner. Niemand fand es ungewöhnlich. Am wenigsten Don Lund selber. Seine Ausnahmestellung an dem kleinen Hofe war etwas, das nicht mehr erörtert wurde.

Dann wurde ein Tag endgültig für die mehrfach verschobene Abreise der Herzogin festgesetzt. Der letzte Abend kam. Man hatte bis spät auf den Wiesen getanzt. Verschiedene eifersüchtige Herzen atmeten auf. – Es gab immer eifersüchtige Herzen in der Umgebung Don Lunds. – Anna Sibylle beachtete Don Lund wenig an diesem Abend. Als sie ihn verabschiedete, war sie ganz regierende Fürstin, ganz Etikette, das firnkühle, verächtliche Lächeln um die geschwungenen Lippen.

Nein – morgen früh – sie wollte den Unterricht nicht unterbrechen – Don Lund und sein Zögling waren beurlaubt.

Nach Mitternacht war es dann . . .

Don Lund fühlte wieder dieses seltsam Ziehende in seinen Gliedern. Sein Atem kam mühsam. Er mußte immerfort an diesen kleinen Blutstropfen denken. Wie eine winzige rote Perle stand er auf der etwas vorgeschobenen Unterlippe dieses unbändig hochmütigen Gesichts gegen den Türpfosten seines Zimmers gelehnt.

»Hoheit befehlen . . .«

Don Lunds Stimme klang fern und metallos.

Nein. Es kam kein Befehl. Anna Sybille stand steil. Plötzlich begann sie. Sie warf sie hin. Achtlos, wie man Dinge hinwirft, die einen nichts angehn: Die Geschichte ihrer Ehe. Sie verachtete ihren Mann. – – –

Sie war jäh wieder verstummt. Sie sah Don Lund an. – Ja – kann man zum zweitenmal so vollkommen das gleiche sich einbilden? Bis auf das Schlagen der Wimper?

Don Lund beugte den Kopf etwas vor. Seine Hände wurden eiskalt. Aber sie rührten sich nicht. Im nächsten Augenblick riß sich die Herzogin zurück wie zur Flucht. Aber von der Heftigkeit der Gebärde hatte sich der dunkle Mantel ein wenig verschoben. – Über der Brust. – Sie war ausgegangen, wie Monna Vanna ausging . . . – – –

Don Lund fing an zu gehen. Hin und her. Mit schwingend hastigen Schritten. Warum heut? Warum trat dies heut zu ihm? War es nicht abgetan längst?

Aber es wurde ihm wohl nicht gespart. Es gab geheime Boten, die Stunden aufriefen. »Amey!« Er sagte diesen Namen, wie er bisher gesagt hatte: »Gott!«

Dann trat er noch einmal hinzu. Nahe. Wie damals. Als sich der dunkle Mantel verschob und die Gestalt darin taumelte. Er saugte den verwirrenden Duft eines reifen, köstlich gepflegten und entflammten Leibes. Er hörte seinen Atem keuchen. Der Schweiß trat in kleinen Tropfen aus seiner Stirn. »Erlöser« stammelte eine Stimme, die sich nicht mehr in der Gewalt hatte. – Eine zitternde Hand tastete an seinem Hals . . . .

Da hatte Don Lund vergessen, daß die hochmütigste Frau des Landes zu ihm gekommen war. Wie mußte sie mißhandelt sein in ihrem Tiefsten und Süßesten! Die vielen standen vor ihm – die vor ihr kamen, bei Nacht und bei Tage, verhüllt oder entblößt. – Was war um ihn, daß man ihn unaufhörlich bedrängte? Sein Vater hatte ihm einfach und klar die Richtung gezeichnet. Zehn eherne Säulen türmten sich wegentlang. Warum machte man ihm den Weg so hart? – Oder ging es anderen ebenso? Würde dies die ewige tödliche Lockung bleiben zwischen Geschlecht und Geschlecht? Gab es keine andere Erlösung als durch das Blut?

»Du sollst nicht ehebrechen«, befahl plötzlich Don Lund. – Er hatte keine andere Waffe gewußt. Er stieß die versucherische Hand zurück.

Ein Lachen klirrte. Als er sich wieder umkehrte, war der Spuk zerronnen. Hatte er geträumt? – Aber am andern Morgen – Nun, man redete nicht laut über die Einzelheiten. »Die Herzogin war plötzlich verstört worden«, stand in den Blättern zu lesen – vom Fieber befallen. – Sie hatte wohl gemeint, ein Bad . . .

Aber diese ganz von grünen Linsen und Algen überdeckten toten Teiche wie schamlose Verräter sie sind!

Don Lund und sein Zögling machten oft zeitige Morgenspaziergänge.

»Ein Schwan, Doktor Lund? Wie kommt ein Schwan auf den toten Teich!«

Im nächsten Augenblick gellte eine junge Stimme. – – – Jeder wußte davon. Man wußte auch noch mehr. – – Aber von all diesem konnte natürlich nicht laut gesprochen werden. – – –

Pfui! – Don Lund atmete hart. – Die Welt war schamlos unter der dünnen Oberschicht. Wie die trägen, toten, überwachsenen Teiche. – – –

»Erlöser!« – Nun – wer die zehn ehernen Säulen wegentlang stehen weiß, mußte sich wohl nicht bei solch einem hingebrochenen Stolz aufhalten? Um eine Erlösung sich mühen jenseits des Blutes? – Etwas durchschütterte seinen ganzen Körper. Aber er riß sich sogleich zusammen. Er setzte seine Zähne fester aufeinander. Dies war unwiederdringlich. – Er stand lange bewegungslos. – Wer ging durch das Leben ohne eine heimliche Wunde? Er machte eine abweisende Handbewegung. Ein jeder mochte fremde und dunkle Kapitel haben im Buche seiner Zeitlichkeit.

Don Lund sann. »Mein alter Herr!« sagte er plötzlich. »Mein lieber, alter Herr!« Seines Vaters Gesicht stand vor ihm. Bartlos, kühn, gebräunt wie das seine. Hart, wie aus dem Alten Testament. Dieses Gesicht entfaltete sich plötzlich, erlöste sich im Wunder letzter Hingabe. – Schuld? sagte etwas in Don Lund. – Etwas schien aufs neue ihn zu reißen, als wanke der Boden unter seinen Füßen. Aber – wie er noch stand, als ob er einen neuen Halt brauchte, eine tiefere Eingründung – etwas kam zu ihm – verschwebend über den lastenden Jasminen der Nacht, ein Duft süß und keusch. »Amey!« stammelte Don Lund. Wie er bisher allein gesagt hatte: Gott! –

Da stürzte Don Lund in die Knie. – – –

Er blieb lange in dieser Stellung. Das Gesicht in den Händen, inbrünstig, gestillt und vergeben. Wie der weite Pilger vor dem Schrein. – Nachher tastete seine Hand . . . Ein Schal lag auf der Truhe, neben der er kniete. Er war sanft und seidig und erdelos. Wie eine Wolke. Von ihm kam der Duft. Der schmale, junge Mond berührte ihn. Er war von krokusblauer Farbe.

Don Lund warf sich auf das Ruhebett in seinen Kleidern. Er bettete sein überflammtes Gesicht in den Schal. »Der Hans, der das Gruseln kennen wollte«, sagte er, leise und selig lachend. Die Spannung seiner Glieder löste sich wie seine Seele. – – –

Don Lund konnte nicht lange gelegen haben, als diese seltsame Kühle über sein Gesicht ging. Er sprang auf. Er warf sich gegen die Tür. Gegen dieselbe Tür . . . Scharf und tödlich gerichtet stand er. Wie im Harnisch. Auf der Stelle, von der es hieß, daß der unterirdische Gang von der Ruine dort münde, was wehte dort? Wie eine blaue Wolke. Eine gebückte Gestalt? Sie suchte, und suchte.

»Wer ist es?« dachte Don Lund. »Was wird gesucht?« Eine weiße, sehr schmale Hand – kannte Don Lund nicht diese Hand? – nahm Scherben auf – Oder Tränen? Es war mühselige Arbeit. – Aber nun hatte sie wohl alle beisammen. – Ja, und nun sah Don Lund auch das Gesicht. Er erschrak. War es jene Frau aus der dunkelsten Nacht seines Lebens? – Hatte sie ihn angesehen mit diesem verführerischen Giocondalächeln? Aber ihre Hände bluteten. Das konnte Don Lund nicht ertragen. Er nahm behutsam die scharfen Splitter aus den armen Händen und von ihm berührt, fügten sie sich ineinander wie Kristalle mit zartem Klingen und formten ein Herz. Es erschien wie durchlodert. Als Don Lund das lodernde Herz zurückreichte, erkannte er das Gesicht. »Dein Herz, Amey,« sagte er, »Dein Herz?«

Er sah zu, wie sie ihm den Panzer abnahm und ihr flammendes, seliges Herz in seine Brust setzte. Die Brunnen der Ewigkeit rauschten. – – – – –

Der Himmel war zart rosa geworden und perlgrau und wie Emeranthen. Die Sonne sollte geboren werden. Don Lund saß auf dem Ruhebett, sein Gesicht in den Schal Ameys verborgen. Mit wachen Augen träumte er noch einmal den Traum der verflossenen Nacht. Da wußte er: Nicht den zehn ehernen Gesetzsäulen, die sein Vater am Wege seines unbewahrten Herzens errichtete – seinem eigenen Gesetz hatte er gehorchen müssen. Sein eigenes Gesetz aber befahl den Harnisch um den Leib; bis die eine Frau zu ihm trat, die das kristallne Herz mit der Flamme trug, und ihm in die Brust setzte. Er würde nicht wissen hinfort, ob es das ihre war oder das seine. – – – – – – – –

 


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