Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Amey nahm Thomas Vernow mit zur Abendtafel. »Ein Freund von mir, Herr von Odebrecht.« Herr von Odebrecht tat ein paar höfliche Fragen. Man war bereits gewöhnt daran, daß die Baronesse Hellberg ihre Freunde nicht ausschließlich aus ihrer gemeinsamen Gesellschaftsklasse wählte. Gott ja, man sah sich ja so etwas einmal an. Er war früher auch mal in ein Atelier gegangen. Dort hatte man ihm die wunderbarsten Exemplare vorgeführt. Musiker, nun die waren ja schon eine ganze Zeitlang in der Gesellschaft. Ganz begreiflich. Herr von Odebrecht war nicht musikalisch. Aber es wirkte sehr gut. – Bruckner – er wird Bruckner spielen – wissen Sie. Die Herren Maler und Bildhauer – als Herr von Odebrecht jung war, trugen sie wehende Haare, Sammetjacketts und Schlipse groß wie Segel. Jetzt konnte man sie im Äußern manchmal nur schwer von einem Attaché unterscheiden. Die Zeiten hatten sich geändert. Herr von Odebrecht hatte zum Glück keine Ahnung von dem Atelier der Bronklava und den jungen Leuten, die dort aus und ein gingen.

Dieser Freund der Baronesse Hellberg schien sich schriftstellerisch zu betätigen. Übrigens war äußerlich auch um ihn nichts Beunruhigendes. Die Art, wie er sein Haar trug, kurz rasiert an dem mächtigen Hinterkopf und nur das Scheitelhaar flach zu beiden Seiten gebürstet, die hohe, schmale Gestalt mit dem tadellosen zur Taille hin sich verengenden Gehrock, der Schnitt des Beinkleids, die Stiefel, die Hände, all dieses ließ nicht die geringste Besorgnis aufkommen. Und dennoch war um diesen jungen Mann etwas, was Herr von Odebrecht mißbilligen mußte. Selbst die gute Form, die weder durch ein Zuviel noch Zuwenig an irgendeiner Stelle verraten hätte, daß sie nicht aus der Kinderstube stammte, und die selbstverständlich war wie die des Herrn von Odebrecht – nicht einmal diese Form konnte völlig in Sicherheit wiegen.

Also Philosophie war das besondere Feld des Herrn Doktor? – Ja – nein – wie man es nehmen wollte. Vielleicht stand augenblicklich Nationalökonomie im Vordergrunde des Interesses. –

Sieh da – Nationalökonomie! Ein feines Rot stieg Herrn von Odebrecht unter die niemals üppig gewesenen Schläfenhaare. Er hatte eine heimliche Angriffsstelle. Darauf also war es abgesehen! Er musterte Thomas Vernow sekundenlang, unauffällig und scharf.

Nein, wie kam er darauf, in diesem sympathischen jungen Mann einen Angreifer zu wittern? – Er fragte die Generalin, ob sie Erfolge bei ihren Vorträgen konstatieren könnte.

Aber kaum hatte die Generalin ihre ausführlichen und beglückenden Angaben beendet – die Höflichkeit gegen sie gestattete es gerade eben, – als Herr von Odebrecht wie von einer verbotenen Frucht gelockt, sich schon wieder zu Thomas Vernow hingewendet hatte. Die Angelegenheit mit den zwei Büdnergrundstücken war schuld daran. Durch den Tod ihres Besitzers waren sie vor zwei Jahren frei geworden, und Herr von Odebrecht hatte sie erworben. Aber wie käme er dazu, diese Sache mit einem ihm völlig Fremden zu erörtern? Er schwieg. Es war nicht leicht für ihn. Er fühlte, wie sein Kragen anfing, ihn zu beengen. Seine alte Mutter pflegte diese Veranlagung den Zornesbraten zu nennen. – Herr von Odebrecht ging sie noch einmal durch, alle die Schreibereien und Fahrten und Verhandlungen. Mit dem Landrat – das mochte sein, man verkehrte freundschaftlich. Aber die Gemeinde war zum Regierungspräsidenten gegangen, und als das nichts half, zum Grundbuchamt und der pommerschen Landgesellschaft. So ein Tropfen prozeßgieriges Bauernblut hatte ihm ein paar Jahre verekelt. Nun – überall waren seine Angreifer abgewiesen worden. Seit ein paar Monaten hatte er Ruhe. Obwohl ihm die zweihundert Morgen Acker kaum noch Spaß machten. – Aber gestern, da er sich eben entschieden hatte, wie das Land bewirtschaftet werden sollte – ausgerechnet gestern war die Nachricht gekommen, daß die Gemeinde beim preußischen Landwirtschaftsministerium den letzten Einspruch erheben wollte! Der Zornesbraten schwoll fast sichtlich bei diesem Gedanken. Herr von Odebrecht stand vor einem Erstickungsanfall. »Damaschke«, fuhr er plötzlich heraus gegen Thomas Vernow. Es klang, als hätte er die Faust vor ihm auf den Tisch geschmettert.

»Wie beliebt?« Thomas Vernow sah den Angreifer an. Kühl, befremdet.

Herr von Odebrecht griff sich in die Kandare und riß sich herum. Das war ihm wahrhaftig auch noch nicht passiert! Vor einem ganz Fernstehenden derart Haltung zu verlieren! Vor dem Freund dieser schon reichlich aparten kleinen Hellberg.

»Ich wüßte gern die Meinung eines Herrn von Fach über das Thema Damaschke.« Die Stimme klang durchaus verbindlich. »Verzeihung,« sagte Thomas Vernow, »Adolf Damaschke ist mein Lehrer. Er steht für mich außerhalb aller Diskussion.«

»Gewiß hat er seine ausnehmenden Vorzüge. Darum ist es so vollkommen unbegreiflich, wie er überall den Großbetrieben den Krieg erklärt. Glauben Sie mir, mein Herr Doktor, wenn es zum Krieg kommt – und das ist ja doch nur eine Frage der Zeit, dann werden die Großbetriebe unser Volk ernähren!«

Amey sah zu Thomas Vernow hin. Über Großbetriebe und Kleinbauern verstand sie nichts, und vor Krieg, ach Gott, schauderte ihr sicherlich. Aber jetzt saß sie auf dem Balkon mit dem Kranz in der Hand. Unten sollte das Turnier ausgefochten werden. Sie wußte, wem ihr Kranz die Helmzier schmücken wollte.

»Was den Krieg anlangt,« – die Augen Thomas Vernows sprangen plötzlich aus ihren tiefen Lagern, »ich bin nicht Berufsmilitär und gestatte mir, meine Ansicht darüber zurückbehalten zu dürfen. Sollte dieses Furchtbarste, was es heute beim Fortschritt der Technik geben könnte – sollte der Krieg kommen, so muß er sich nach allen Konstellationen zuerst zum europäischen und danach zum Weltkrieg auswachsen. Einem solchen Kriege könnte Deutschland nicht standhalten. Es würde dann auch hinfällig werden, ob der Großgrundbesitz uns ernährt oder nicht. Das Ende würde doch dasselbe sein.«

»Sie sind nicht Militär«, wiederholte Herr von Odebrecht milde.

»Nicht Berufsmilitär.« Thomas Vernow betonte. »Einen Angriffskrieg würde ich immer für verbrecherisch halten!«

»Und wenn wir uns verteidigen müßten?« Die Generalin warf sich dazwischen.

»Wenn jemand meine Mutter beschimpfte,« Thomas Vernow sprach leise, als ob dieses Thema zwischen Braten und Fisch zu behandeln ihn schmerzte, er sah zu Amey hinüber, »wenn dies geschähe, so wird man allerdings nicht fragen, ob es zehn sind oder ein einziger. Man wird dem nächsten die Faust ins Gesicht schlagen und dann wieder dem nächsten und so fort. So lange bis man auf der Erde liegt.« – Eine starke Bewegung ging um den Tisch, wie Rauschen im Walde. Wie der Wald freudig aufrauscht, wenn in die Schwüle des Tages der Trompetenstoß des Windes fährt. Ehe der Wind Orkan wird und Herrschaft erhält über den Wald.

»Und Sie sollten glauben können,« Herr von Odebrecht hatte das preußische Landwirtschaftsministerium vergessen – er lächelte wissend und ein wenig von oben herab, »Sie glauben, daß wir zuletzt auf der Erde liegen werden?«

»Wie wäre es anders möglich? Wer die ganze Welt gegen sich hat?«

»Die ganze Welt?« Die Generalin staunte entrüstet. »Das sagen Sie uns? Die ganze Welt ist unser Gast und unser Freund.« Sie sah den Tisch entlang. »Heute nicht. Es ist Zufall. Die drei Miß Pembrokes sind im Theater und unser guter Freund Ikujama aus Tokio hat sein Studium abgeschlossen. Er will zurück in seine Heimat. Wie war er entzückend.«

»Unser guter Freund Ikujama«, Thomas Vernow lächelte höflich, wie Ikujama zu lächeln pflegte. »Verzeihung, gnädigste Frau, ich kenne ihn auch. Er war mein Schüler. Er wird jetzt genug wissen. Er und seine anderen Freunde, alle hier. Sie sind alle auf dem Wege nach Hause. Sie wollen jetzt die Nutzanwendung ziehen für sich aus unserer Freundschaft. Sie wollen alle zurechtkommen, wenn es sich um Kiautschou handeln wird.«

»Um Gotteswillen,« der Kammerherr wurde nervös, »verzeihen Sie, Herr Doktor. Ich finde, diese Ansichten grenzen ans Frivole.«

»Ich bitte um Entschuldigung!« Thomas Vernow verneigte sich leicht gegen den Kammerherrn, der seine Nadel mit dem Skarabäus zum drittenmal in der Krawatte zurechtrückte. »Nicht ich war es, der dieses Thema lancierte.«

»Nein,« Herr von Odebrecht kam ritterlich zu Hilfe, »ich bin der Schuldige. Verzeihung, meine Herrschaften! – Sie meinen also,« fuhr er fort, zu Thomas Vernow gewendet, »Sie können nicht meinen, der Großgrundbesitz sei im Unrecht? Wer kann den Boden so erfolgreich ausnützen, wie der Großgrundbesitz, der die Mittel zu einer vollwertigen Nutzbarmachung des Bodens besitzt?«

»Ich möchte in diesem Punkt nicht widersprechen«, sagte Thomas Vernow. »Obwohl durch Verstaatlichung ganz ähnliche Resultate erreicht werden können. Aber« – er stockte. Er wollte das Wort Bauernlegen nicht anwenden.

»In bezug auf Brennereien und derartige Betriebe haben Sie gewiß recht.« Herr von Winzingerode, der nur selten und mit einer auffallend leisen und stockenden Stimme etwas sagte, sah Thomas aus klaren, sehr hellen und freundlichen Augen an. »Aber im übrigen dürfen Sie mir ein Wort aus Ihrem Wörterbuch nicht ausschalten, Herr Doktor, ich meine: Idealismus!«

»Ich möchte es gewiß nicht, Exzellenz.« Thomas' Stimme war ehrerbietig. »Wollen Sie mich gütigst belehren?«

Der alte Herr heftete die hellen Augen, die aussahen, als ob ihnen keine Sonne etwas antun könne, forschend, lange und väterlich liebevoll auf Amey, ehe sie sich wieder zu Thomas Vernow kehrten. »Der Großgrundbesitz muß jede Verstaatlichung des Bodens übertreffen, einfach, weil unsre ganze Seele an dem Lande hängt, das uns immer gehört hat. Um es unsern Kindern vererben zu können, darum bringen wir Opfer, wie kein verstaatlichter Betrieb sie bringen würde. Darum halten wir durch in schlechten Jahren. – Ich meine nicht nur in einzelnen schlechten Jahren – sondern in ganzen Epochen. In der Caprivischen zum Beispiel, als die Schutzzölle fielen.«

Thomas' Gesicht entspannte sich. Dieser Gegner erschien ihm fast wie ein Verbündeter.

»Aber kann man die Zeit zurückschrauben, Exzellenz?« fragte er mit derselben Stimme wie vorhin. »Konnte man die Entwicklung aus dem agrarischen in das Industrie-Deutschland vermeiden?«

»Wahrscheinlich ließ es sich nicht vermeiden. Vielleicht läßt es sich nur beklagen!« Wieder ging der Blick Herrn von Winzingerodes erst zu Amey. »Ich wollte nur darauf aufmerksam machen: als alles vom Lande in die Städte und in die Fabriken zog, hat der Großgrundbesitz durchgehalten! In einer Zeit, als der Händler uns für den Zentner Kartoffeln eine Mark bezahlte. Der Bauer – hören Sie – sieben Bauern in einem Vierteljahr sind zu mir gekommen – ich sollte ihnen ihre Höfe abkaufen damals!«

Bei den beiden ersten – Herr von Winzingerode gab es gerne zu – hatte er aus ganz persönlichen Gründen nicht gezögert. Die Grundstücke rundeten so schön den Besitz ab. Beim dritten und vierten hatte er überlegt. In derselben Woche noch hatte ein Industrieller zugegriffen und dort eine Kolonie schlechtgebauter und schauderhafter Villen hingesetzt. Das fünfte, sechste und siebente hatte Herr von Winzingerode dann wieder gekauft und sich mit Sorgen und Hypotheken und unerhörter Arbeit belastet. Aber wenigstens nicht diesen Spekulanten sollte das gute alte Land in die Hände fallen.

»Ich bitte mich nicht mißzuverstehen«, sagte Thomas Vernow. »Dies erscheint mir alles als gerecht und selbstverständlich. Wenn freilich der vermögende Grundherr doch auch leichter durchhalten konnte als der Bauer und Büdner. Aber ich bin nicht gegen den Großgrundbesitz im allgemeinen. Bei Waldwirtschaft zum Beispiel kommt er neben dem Staat doch allein in Betracht. – Nur gegen ungesunde Verhältnisse geht unser Kampf. Wo mehr Grundbesitz in einer Hand ist, als bewältigt wird – ich denke an bestimmte schlesische Herrschaften – dreiundzwanzig Güter umfaßt eine, oder wo eine Landgemeinde zur Gesundung es verlangt, daß ihr Bauern- oder Büdnereigentum erhalten oder wieder hergestellt wird. Ich habe soeben einen Fall in bodenreformerischer Hinsicht ausgearbeitet.« Er sah Herrn von Odebrecht an, in einer besonderen Art, sekundenlang.

»Für eine bestimmte Gemeinde im Stolzener Kreise sind Neusiedlungen zur Lebensfrage geworden. Zur Zeit des alten preußischen Bauernkönigs waren dort fünfzehn Vollbauern ansässig. Jetzt gibt es keinen einzigen mehr in der ganzen Gemeinde. Drei Kleinbauern und zwei Büdner verfügen über etwa zweihundert Morgen Land im ganzen. Alles andere ist an den Großgrundbesitz übergegangen.«

Herr von Odebrecht stürzte ein Glas Sauerbrunnen hinunter. »Aber man verfährt nicht mehr wie früher in der Landwirtschaft. Die Zeiten haben sich geändert. Der Fruchtwechsel spielt eine zu große Rolle. Bei leichterem Boden, zum Beispiel Pommern, wir brauchen viel Hackfrucht, Kartoffeln. Wie soll der Bauer bei unsern großen Entfernungen die Kartoffelernte zur Bahn schaffen?«

»Nun,« Thomas Vernow lächelte leicht, »wurden nicht zu diesem Zweck die Brennereien angelegt? Wenn schon Brennereien sein müssen, weshalb sollte nicht hier durch Verstaatlichung auch der Bauer beteiligt werden?« –

»Aber die Leute wollen ja gar nicht mehr auf dem Lande bleiben«, sagte die Generalin. »Meine halbe Lebensarbeit besteht darin, sie von der Stadt zurückzuhalten.«

Thomas Vernow drückte nervös sein Brot zwischen den Fingern.

Herr von Winzingerode schien für heute nichts weiter sagen zu wollen. Ameys Blick, der ihn befragte und nur mit dem liebevoll väterlichen Lächeln beantwortet wurde, streifte die Generalin, die plötzlich aufgeschreckt, die Augen noch runder als sonst, Thomas Vernow anstarrte. Eine Vision von etwas Beängstigendem schien vor ihr aufzusteigen.

»Worüber werden Sie heute abend sprechen? Wenn man so unbescheiden sein darf?« Amey sah unschuldig aus.

»Über die Bedeutung der Taufe und des heiligen Abendmahls.« Die Generalin richtete sich auf und drückte den Kehlkopf heraus. Sie stand schon ihren Kontoristinnen gegenüber. Das aufgeschreckte Gesicht bekam plötzlich etwas von der Würde eines Konsistorialrats.

»Ah,« sagte Amey, »über Symbole.« Die Generalin wurde unruhig.

»Ich meine es allerdings mehr so zu fassen, daß diese Gnadenmittel ebenso wichtig sind wie der Katechismusunterricht in der Schule und im Gebrauch nicht vernachlässigt werden dürfen. Ich habe in meiner Gegend Wunderschönes erreicht. Es ist so ungeheuer wichtig, daß der Staat von der Landeskirche gestützt wird.« Die Generalin sah zu Thomas Vernow hinüber. »Er hat seinen vornehmsten Halt an ihr in diesen Zeiten der Auflösung.«

»Diesen Standpunkt verstehe ich vollkommen.« Thomas verneigte sich.

Die Generalin glänzte auf. »So sind wir doch derselben Meinung?«

»Ich bitte widersprechen zu dürfen«, sagte Thomas Vernow. »Man kann den Standpunkt eines Menschen, von ihm aus gesehen, sehr wohl verstehen, ohne ihn deshalb zu seinem eigenen zu machen.«

Der Kammerherr und Exzellenz von Winzingerode beurlaubten sich in diesem Augenblick.

»Das Positive, das Positive«, schwirrte es zur Mitte des Tisches hinunter.

Aber die Duse und die Sechsten Ulanen und eine Gavotte, die Fräulein von Odebrecht bei Hof tanzen sollte, stritten mit dem Positiven um sein Recht.

Die Generalin allein fischte dieses Wort mit sicherer Hand aus dem Wirbel zu sich zurück. »Wenn jemand nur ein positiver Christ ist, Herr Doktor, darin liegt alles für mich!«

»Es gibt so wenig Positives heutzutage, gnädigste Frau.« – »Wird sie mich jetzt zwingen, öffentlich Bekenntnis abzulegen?« dachte Thomas Vernow. »Ich glaube kaum, daß der Glaube, der unserm Volk verlorengegangen ist, sich durch äußere Hilfsmittel wieder festigen läßt. Unsere alten guten Kirchenlieder und Sprüche haben gewiß schon manchem in der Stunde der Not geholfen. Trotzdem halte ich es für unwahrscheinlich, wenn wir in der alten Art und Weise fortfahren, daß sich in bezug auf das Volk eine Hebung der Religion erwarten läßt!«

»Ja, bitte.« Herr von Odebrecht hatte das Bewußtsein, daß Thomas Vernow vorhin seine allereigenste wunde Stelle im Sinne hatte, so weit herabgewürgt, um einigermaßen harmlos erscheinen zu können. »Es ist soviel von der Erziehung zur Persönlichkeit heutzutage die Rede. Aber wie denken Sie sich die Erziehung der Masse zu Persönlichkeiten ohne religiöse Grundlage?«

»Persönlichkeit?« Die Stimme von Thomas Vernow bebte. »Dieses Wort in Verbindung mit dem Begriff Masse würde ich mir allerdings nicht gestatten anzuwenden. Mit der Pflege der Einzelseele sollte man jemand locken können, der gerade als Einzelseele weder Sinn noch Berechtigung hat? Nur als geballter Klumpen wird ihnen ja doch eine beängstigende Bedeutung zuerkannt.«

Die Generalin hatte gerade nach der andern Seite hin eine Auskunft erteilt. Frau von Sellentien wollte gern mitgehen in den Vortrag. Ob sie sich dazu umkleiden müsse. Sie war nachmittags auf einem musikalischen Tee gewesen. – »Aber im Gegenteil, meine Liebe. Die jungen Mädchen freuen sich ungemein an Toiletten.« – »Aber welchen neuen Weg würden Sie vorschlagen?« Die Generalin mußte sich Thomas Vernow zuwenden. »Alle Einseitigkeit liegt mir fern. Im Gegenteil. Jede andere Meinung ist mir rasend interessant.«

»Es geht nicht länger«, dachte Amey. »Ehe der Nachtisch kommt, muß ich meinen Ritter erlösen. Dies ist doch schon mehr Tortur bei kleinem Feuer.« Ihre Augen träumten von der tiefen Glückssehnsucht der Menschen, die aller Glaubenssysteme heimliche Wurzel war. Der Kreuzberg stand vor ihr. Der schmerzhafte Drang, erlöst zu werden aus der Unzulänglichkeit. Einzugehen in das letzte Wirkliche, was über allen Zeiten, über allen Kulturen ist und über allen Glaubenssystemen. Von der großen beseligenden Brüderschaft aller, vom Reiche Gottes auf Erden träumten ihre Augen.

Thomas hatte noch der Generalin Rede zu stehen. Was für ein Spuk narrte ihn? Weshalb war er hier neben dieser unglaublichen Fragerin? Was wußte sie von der verzehrenden Sehnsucht jener, die aus dem Garten Eden, dem holden Garten ihrer Kindheit, der Güte und Schönheit und der Unschuld, ausgestoßen waren, nachdem sie vom Baume der Erkenntnis genossen hatten? Die in der entgotteten Welt auf dem Dornen- und Distelacker des Tages werkten vom Morgen zum Abend, damit sie ihre Seele nicht schreien hörten. Ach, um das verlorene Paradies klagte sie, in welchem Gott selber lustwandelte. – – – Die tiefe Sehnsucht, vor Amey zu knien, seinen Kopf auf ihren Schoß zu betten, seine Not und sein Verlangen hinzugeben in ihre Erlösung, überfiel Thomas. Er vergaß, wo er war, und wenn er antworten sollte.

»Wir müssen leider gehen.« Amey berührte den Arm von Thomas. »Es ist höchste Zeit für unsere Verabredung.«

Diese Berührung, mit der sie ihn von den andern aussonderte, sich zu ihm bekannte, war wie Balsam auf fließendes Blut. – Thomas Vernow nahm schnell Ameys Stuhl hinter ihr fort. »Verzeihung,« sagte er zu der Generalin, »ich muß dieses interessante Gespräch abbrechen.«

Gerade als Thomas Vernow die Tür des Eßsaales hinter Amey und sich zumachte, kam der Generalin die Erleuchtung: »Mein Gott!« Sie hätte fast aufgeschrien. In welche Gesellschaft war da die süße, ein bißchen aparte kleine Hellberg geraten! Doktor Vernow! Jawohl, jetzt war sie ganz sicher. Er hatte eine glänzende Probepredigt gehalten und war einstimmig gewählt worden. Bötzows waren Patronatsherren. Sie waren ganz begeistert. Am nächsten Tage hatte er ihnen geschrieben, daß er die Stelle nicht antreten könne, weil er Gewissens halber aus der Landeskirche ausscheiden müsse. – – –

Amey und Thomas gingen schweigend zu Ameys eigenem kleinen Salon. »Warum,« fragte etwas in ihnen beiden, »warum darf so etwas sein? Und niemand hat die Macht, diesem Fetischdienst das Echte entgegenzusetzen?«

»Ich kenne wohl Menschen,« sagte Amey, »hier ist zum Beispiel ein altes Fräulein von Winkler, du glaubst nicht, wie goldig sie ist. Wo sie geht und steht, trägt sie fromme Blättchen mit sich und teilt sie aus an Straßenbahnkondukteure, an Kutscher, an Gemüsefrauen in den Markthallen. Sie sind oft grob und abscheulich gegen sie. Aber nichts kann sie hindern. Sie lächelt ihnen zu und bittet, nur bei Gelegenheit einmal einen Blick hineinzutun. Oh – ich finde das übermenschlich. Es ist Bekennertum alten Stils. Sie hat schon viele entwaffnet und zu einem Nachdenken über sich selbst gebracht durch ihre unendliche Güte.« – Und sie erzählte weiter von Tante Mimi Asseburg, die jedes Jahr die Bibel einmal durchlas und von jenem Pastor Wiesner, den sie einmal auf Reisen getroffen hatten. Diese Seele von einem Menschen. »Er glaubte an die sieben Schöpfungstage wortwörtlich. Das Rote Meer stand für ihn wie aus Backsteinen, und er hätte lobpreisend jeden Scheiterhaufen bestiegen!«

Thomas Vernow lächelte, wie man einem geängsteten Kinde zulächelt, das sich mühsam beruhigen will. Seine Augen wußten nichts von diesem Lächeln. Sie hingen an Amey in schmerzhafter Inbrunst. Seine Hand liebkoste verloren ihr Haar. »Diese ergreifenden Kinder Gottes!« sagte Amey. »Haben sie nicht etwas Anthropomorphes? Wie Ursteine, die für sich allein im Felde liegen? – Meine alte Ariane ist ebenso, meine alte Kindermuhme. Du kannst zu ihr gehen mit einem großen Kummer. Sie schlägt drei Kreuze und ruft Sankt Agatha an, Sankt Vitalis und Sankt Ägidius. Sie bürstet dein Haar su su und sieht dich an hingegeben und zugleich fremd und verstört. Du legst dich hin und schläfst ein, wie sie dir die Bettdecke glatt streicht und unaufhörlich murmelt, und der Geruch von Weihrauch geht aus ihren Kleidern in deine Träume. Aber wenn du am Morgen aufwachst, ist sie wieder da, die heimliche Not und das heimliche Fragen. Thomas . . .« Ihren feinen bebenden Körper gab sie dicht in seinen Schutz. »Weißt du es nicht? Wird es nicht kommen? Einmal« . . . Die Stimme versagte ihr. Tränen traten in ihre Augen.

Thomas sah auf sie herunter, auf diesen schmalen Hinterkopf mit dem Haar, braun wie das Laub auf dem Waldboden, das ganz weich war und ganz locker und ein wenig in großen Wellen lief, und aus dem dieser zarte Duft zu ihm aufstieg. »Amey,« sagte Thomas, »du mußt nicht.« Seine gesunde Hand schloß sich zur Faust. Er kühlte sein brennendes Gesicht in ihrem Haar – »Amey!« – Bilder jagten sich. Sein Blut sprang. Würde einmal? . . . Würde dann? . . . Seine Sehnsucht und sein Verlangen sagte: »Ja.« Aber ein anderes wurde unsicher. Etwas wußte sich und grübelte. »Kann ich nicht einmal nur empfinden?« stöhnte etwas in ihm. »Dieses Heiligste und Süßeste – muß ich es betasten und muß es zerfasern mit meinen Gedanken? Gibt es nichts Ganzes in mir? Gar nichts urhaft genug . . . Ist denn alles zerrissen und zerstückt? Nicht einmal dieses? Nicht einmal Amey? – Wie kann der Mensch, der seine Liebe weiß, wie kann er Gott erleben!« Er starrte an Amey vorüber in den warmen Bernstein der verhängten Lampe. »Wir sind es nicht,« dachte er trübe, »die mit jenen rechten sollten!« Das flächige Gesicht der Generalin stand vor ihm. Seine Augen sanken tiefer zurück. »Amey«, sagte er plötzlich sanft. »Das religiöse Talent ist genau so wie ein anderes. Nur man pflegte es bisher nicht so zu nennen. ›Gnade‹ hieß es die Bibel. Gott verstocket, welchen er will, und er läßt glauben, welchen er will. Die Reformierten wußten genau, was es mit der Prädestination auf sich hat. Nur das wußten sie nicht: Sie wußten nicht: der Talentlose, der, den Gott nicht begnadete, er geht schon unterm Fluche! Sie brauchten seine Strafe nicht erst in das Jenseitige zu verlegen!« Sein Atem mühte sich. Kleine Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. »Verzeih mir, Amey! Süßeste, vergib mir. Aber du fragtest. Sieh, wie wir horchen und warten! Aber wer schlägt ihn tot, unsern Intellekt? Nur einmal, sekundenlang. Hinter jeden Schleier haben wir uns gedrängt. – Aber den inwendigen Glanz? Die inwendige Stimme?« Er senkte den Kopf. Und wieder kam der Duft von Ameys Haar zu ihm. Wie der Duft von etwas Keimendem und Werdendem und des Gewesenen zugleich, der Duft der Zukunft, die in tausendfältigen Vergangenheiten wurzelt. Etwas schien um ihn zu kreisen. Seine Knie wurden schwach. Wenn es kein Du mehr gab und kein Ich . . . Wenn die letzte Schranke fiel . . .

»Einmal dennoch – Amey, Amey . . .« – – – – – – –

 

Amey saß auf dem kleinen niedrigen Sessel, auf dem sie zu sitzen pflegte, wenn Thomas bei ihr war und neben ihr kniete. Vor ihrer doppelten Zimmertür ging es hin und wieder auf dem friesbelegten Korridor: Behutsame Geräusche einer sorgfältig gepflegten Pension. Aber selbst wenn das Leben draußen auch zudringlicher gewesen wäre, hätte es Amey nicht ereilen können. Sie dachte an Thomas, zugleich war sie weit fort. Auf dem Wunschberg war sie. Sie spürte den Geruch dieser stoffbezogenen Zimmer mit den Möbeln so vieler Epochen. Sie spürte die Herzschläge der Hellbergschen Frauen, die aus den tiefen Fensternischen über die Wälder geschaut hatten bis zur blauen Linie und auf ihr Wunder gewartet.

Ja – Amey hatte doch an Thomas gedacht? – Wie sonderbar, daß sie plötzlich ganz deutlich Nellis Stimme im Ohr hatte: »Er ist fort. Ich sterbe fast vor Sehnsucht. Aber mir ist doch, als ob ich immerfort in der Sonne stünde!«

Amey lächelte wie in einem unbegreiflich schönen Traum.

Es klopfte. »Herein!«

Vier Sträuße? Amey faßte sich. »Aber von wem?«

Der weiße Flieder war von Fräulein von Gärtnern.

»Ach Gott, Ninon! – Das Herz, das bereits nach Süden schiffte wie eine vergessene und erfrorene Winterschwalbe! – Die dunkelroten Rosen, –natürlich von Thomas. Sie waren sein täglicher Gruß. Amey legte sie sanft an ihr Gesicht. – Aber dieser Frühling! – Maiglöckchen und rosa Kamelien mit köstlich grünen und glänzenden Blättern ganz in dunkle süße deutsche Warmhausveilchen gebettet? – Auch dieser Strauß war von Thomas.

»So ist dein Duft,« – stand auf einem kleinen, abgerissenen Notizblatt, »Je me meurs de toi!«

Amey erschrak. Erst als sie diese Blumen geordnet hatte, wunderlich abgewandt von ihnen, zusammengefaltet in sich, fiel ihr Auge auf den vierten Strauß. Es waren schlanke japanische Iris in diesen zarten perlmutternen Tönen mit einem kostbaren alten silbernen Bande gebunden. Eine Karte begleitete sie: Günther Bartholomé, Freiherr von Ebingerode-Wendenfurth. – –

Ja – also der Minister? Er war gestern Abend abgereist. – Nun, es war doch wohl nicht neu für Amey, ein wenig verwöhnt zu werden! Amey roch an diesen Blumen, in denen die Natur scheinbar zum Wissen ihrer selbst gelangte und für ein Höchstmaß von Seele den vollkommnen Stil erfand.

Plötzlich lachte Amey. Wie furchtbar nett und lieb waren zuletzt doch immer die Menschen! Es gab wirklich keinen einzigen auf der Welt, den man in Bausch und Bogen abtun konnte, zumal die Männer. An einer Stelle waren sie immer Spielkinder. – Vielleicht auch der Oberhofprediger? Amey staunte. Ja, was wußte sie zuletzt von ihm? Vielleicht wurde er in größter Freiheit geboren und war nur später gerade wie der Minister in eine überlebte Form eingeschmiedet. »Laß sehn, wenn wir ihn in die Wüste entführten?« dachte Amey. »Wenn er nur die bernsteinfarbnen Himmel um sich her hätte! Den Sphinx und die veilchenfarbne Silhouette der Pyramiden! Ja, und dann täglich ein Dutzend Datteln und ein ganz wenig Reis und kaltes Huhn! Und Achmet, dieser königliche Achmet, der sich für uns getötet hätte! Oh, wie wollte ich alle seine Ringe um ihn her zerplatzen hören wie beim eisernen Heinrich!« – Amey lachte glücklich. Sie spielte mit ihren Sträußen. – »Nein,« – sie errötete plötzlich – »nicht nur die Männer! Auch die Frauen. Vielleicht sogar die Generalin mit den Vorträgen in großer Toilette. Und die mystische Frau von Wickede . . . Nur daß sie es einem recht viel schwieriger machen. Sie sitzen viel gewundener in ihrem glatten Gehäuse. – Ich auch?« dachte Amey. »Wahrscheinlich auch ich. Nur ich weiß nichts davon. Gar nichts. Ich bin wirklich so sehr zufrieden, wenn sie mich in der Sonne sitzen lassen und Pfirsiche essen!« –

Sie rollte sich zusammen wie ein Kätzchen. Ihre Gedanken gingen zu Nelli und über sie hinweg. Mein Gott – Elisabeth! Und sie wußte von gar nichts. Und Amey war fast eine Woche nicht bei ihr gewesen!

Sie sprang auf die Füße. Vergaß sie? – Dies alles, die ganzen letzten schmerzhaften Wochen sollte sie vergessen können? Sie flog in ihre Sachen. – – –

Ja, und wie hätte sie es jemals verwinden sollen, wenn sie an diesem Nachmittag nicht bei ihrer kleinen Freundin gewesen wäre? Dieses Mal öffnete die Tante mit dem Tierbändigerblick. – Lieschen? – Nein, im Bett lag sie nicht direkt. Der kleine dunkle Alkoven . . . – sie hatte immer gedacht . . . Fräulein Amey . . . Sie war das ja wohl anders gewohnt. – Aber nein – wie sich Lieschen jetzt freuen würde!

Nur – Elisabeth Ewald hatte selbst zum Freuen keine Kraft. Wie schwer, wie schwer war solch ein Kopf! Ameys Hände zitterten, wie sie die Nadeln aus dem schön frisierten, tiefen Knoten herausnahm und das schmerzhaft dünne Hälschen sah, das diesen glühenden Kopf zu halten hatte.

Nachdem sie geholfen hatte – nur ein wenig, denn sie spürte das schamhafte Entsetzen ihrer kleinen Freundin, sich vor ihr zu entblößen – war Amey fortgelaufen. Sie hatte zusammengekauft, worauf sie Hand hatte legen können in der Eile. Der Doktor mußte gleich mitkommen in ihrem Auto, das voll Flaschen, Paketen und Blumen war.

Also Grippe. – Bei diesem zarten Körper mußte die Kranke sehr gepflegt und geschont werden.

»Eine Pflegerin?« Der junge Doktor, der einen sonderbar großen Adamsapfel über einem Jägerkragen hatte, und ein Paar schöne südländische Augen, sah Amey grübelnd an, als sei sie ein Medikament, über das er entscheiden müßte. Das Resultat schien reichlich verwirrend. Aber durch irgendeine hilfreiche Gebärde Ameys kam Zutrauen in seine fernen, traurigen Augen. Eine Pflegerin? – Das war ja vielleicht nicht nötig.

Aber das Bett! In diesem dunkeln, luftlosen Alkoven, den man Amey anzusehen nicht zumuten wollte – nein – hier durfte das Bett nicht bleiben! Amey faßte die eiserne Kopfstange. Ihre schmalen Hände spannten sich. Wie Elfenbein drückten die Knöchel aus der Haut. Sie sah den Doktor an.

Im nächsten Augenblick schien es Elisabeth, als schwebe sie direkt in den Himmel hinüber. Für einen kräftigen Mann, der zu allem entschlossen war und die Tante in dem knappen braunen Kleide mit der Knechtsgestalt und den Knechtskräften bedeutete ein Bett mit solch einem kleinen, gebrechlichen Wesen doch wohl nichts Besonderes? – »Jeden Tag komme ich wieder, Liebling! Ja, jeden Tag!« Ameys Herz wog schwer. Am liebsten wäre sie geblieben. Aber sie dachte: Thomas.

Trotz aller Eile kam sie eine Stunde später als ausgemacht war. Thomas hatte sämtliche Zeitungen, die herumlagen, in zentimeterschmale Streifchen gerissen. »Wir haben keine halbe Stunde mehr!« Seine Stimme zitterte.

Ja, Amey wußte, daß er eine Gruppe junger Handwerker heute Abend unterrichtete! Sie sah plötzlich ein abgerissenes Notizblatt vor sich: »Je me meurs de toi!«

Sie setzte sich auf seine Knie, ungerufen, zum erstenmal. Sie umschlang ihn. »Wir haben das Leben vor uns, Thomas. Denk, wieviel Jahre! Und heut – meine arme kleine Kranke! Morgen war es vielleicht zu spät – ich mußte doch? Mußte ich nicht?« – Sie fing an, ihm zu erzählen. –

»Ich kann nicht mehr«, sagte Thomas plötzlich. Etwas Dickes war in seiner Kehle. Amey sah ihn an. Fassungslos. Er drückte ihren Kopf zurück.

Ja – und dann erfuhr Amey zum erstenmal, wie ein Mann küßt, dem die Zügel ganz entglitten. –

Als Amey aus dieser Raserei auftauchte, sprang sie herunter von Thomas' Knien wie jemand, der sich rettet. Sie bemerkte nicht ihr zerwühltes Haar und wußte nicht, daß ihre zarte Haut an Gesicht und Hals wie mit roten Malen besät war. Sie hatte eine seltsame Empfindung: Etwas war geschehen, das sich zwischen sie und ihr Gestern stellte. Etwas war genommen. Sie würde diese Liebe bewußt erleben hinfort.

»Thomas!« Sie sah ihn an wie die Mutter ein armes, verirrtes Kind ansieht.

»Vergib mir!« murmelte Thomas. – »Ich kann nicht teilen. Du weißt. Der kurze Augenblick – ich verlor die Besinnung. Ich muß jetzt fort.« – Er küßte die Hand Ameys, demütig, als habe er ihren Mund verscherzt.

Plötzlich schien ihm etwas klar zu werden, was er vorhin gar nicht begriffen hatte: »Grippe? Du darfst nicht mehr hin!« Er stand mit der Uhr.

»Ich bin Ihre einzige Freundin«, sagte Amey betont.

»Du gehörst mir! Dein Leben. Alles!«

»Es geht doch nicht gleich um das Leben!« Amey lachte. »Ein wenig Grippe! Onkel Rhaban bekam sie jedes Jahr. Und im Dorf – wir lebten doch auch nicht auf einem andern Planeten . . . Unser Arzt ist zwei Stunden weit, und die Bauern sind hart wie Holz und mißbilligen grundsätzlich Ärzte. Was wäre geworden ohne die Hausapotheke der goldnen Amey?« – – –

»Goldne Amey!« . . . stammelte Thomas.

 

Als Thomas fort war, saß Amey noch immer und staunte: »So eng will er mich? – Ich aber dachte mit meiner Angelrute alle da drüben auf hoher Flut herzulocken zu unsrer goldnen Insel!«

Der Gong wurde angeschlagen, ein paarmal, hastig, klanglos und blechern. »Wie für eine Herde zum Trog!« dachte Amey. »Und das arme abgehetzte Serviermädchen seufzt: Das ist endlich die letzte Fütterung!« – Giacomos Art, den Gong zu behandeln, fiel ihr ein. Diese lockende Rhythmik, die zu einem Fest einlud.

Im Speisezimmer stürzte sich die Generalin auf Amey. Endlich mußte sie ihre furchtbare Kenntnis anbringen. »Kind, Liebste!« – War es nicht gefährlich, mit dem Feuer zu spielen? Wußte sie, daß er früher Geistlicher war, ihr Freund, Dr. Vernow? Ausgetreten aus der Kirche?

Die Generalin hatte sie nicht überraschen können. Wie ein Schiffer kam Amey sich vor. Hier war ein runder, kleiner, glatter Hafen. Draußen überstürzten sich Seen auf Seen. Sie aber drückte den geteerten Südwester in den Nacken und sprang ins Verwegene. »Ich habe alle Ketzer immer abgöttisch geliebt«, sagte sie mit zärtlichem Lächeln. Und als der Oberhofprediger plötzlich zu ihr hinübersah, begannen die schönen und schlimmen Hexen in ihren Augen einen rätselhaften und wunderbaren Tanz.

Die Generalin war vollkommen paralysiert. Amey verspürte eine unbezwingliche Lachlust. Zugleich tat ihr etwas leid. »Oh, ich muß zuweilen gottlose Dinge reden,« sagte sie entschuldigend, »oder begehen. – Denken Sie, als ich Kind war, erschreckte ich meinen Onkel Rhaban einmal zu Tode. Der gute Herr Pfarrer lobte gerade so sehr die fünf klugen Jungfrauen, die ordentlich für Öl gesorgt hatten, – und gerade da fliegt ein Zitronenfalter wie ein Goldplättchen am Herrschaftsstuhl vorbei. Ja, ich kletterte eben eiligst auf die Brüstung!« – Sie sah sich um. Wie ein Kind, das eine Liebkosung erwartete.

Die Generalin gab Zeichen eines wiederkehrenden Lebens. Sie seufzte auf. Sie lächelte mitleidsvoll und nahm von der Mayonaise, die Fräulein Fink nach einem bayrischen Klosterrezept ausgezeichnet herstellte. »Das arme Kind«, dachte die Generalin. »Lieber Gott, bei solcher Erziehung!«

»Onkel Rhaban?« Ein eben angelangter, älterer Herr, Militär, wandte sich an Amey. »Verzeihung! Handelt es sich um den Baron Rhaban Hellberg-Arwinde?« Amey blickte schnell auf. Sie sah in ein Paar klare, gute Augen in einem markanten Moltkegesicht. »Sie kannten meinen Onkel Rhaban?« Sie sprach leise.

»Haben Sie niemals den Namen Fritz Neudeck gehört, Baronesse?«

Ach Gott. – Erzählte nicht Onkel Rhaban aus seiner Jugendzeit? – Bei Großvater Pahlen, auf Ubelarde, hatten die Hellbergschen Brüder mit Fritz Neudeck zusammen manche Kadettenferien verlebt!

»Meine Jugend war einfach«, sagte der Oberstleutnant. »Fast hart. Wie die der meisten Offizierskinder, wenn kein Vermögen vorhanden ist. Ich möchte es gar nicht anders gehabt haben. Der Wille zur Tat und zur Pflichterfüllung fährt nicht schlecht dabei. – Aber wenn dann die Ferien kamen! Bei Großvater Pahlen! – Sie kennen Ubelarde?«

Ob Amey das Schloß mit den sieben Türmen nicht kannte? Wie mußte es einem kleinen Kadetten, dessen Schwestern das Lehrerinnenexamen machten, erschienen sein!

»Man stieg in den Zug, ein gehorsamer Junge, und man verließ ihn als Prinz. Nie vergeß ich den Augenblick, wenn der Jagdwagen mit den Goldfüchsen in die Schloßallee einbog!« Ameys Gesicht versonnte sich.

»Vetter Rhaban konnte so herrlich erklären«, fuhr Herr von Neudeck fort. »Ich sah zu ihm auf, obwohl er kaum älter war als ich. Es war mein Höchstes, wenn er mich grünen Dachs in Führung nahm. Aber wir Neudeck Jungens haben den Soldatenberuf im Blut. Er war Tradition in unserer Familie seit 200 Jahren. Außerdem war das Korps am wenigsten kostspielig. Unser Vater war als Hauptmann gestorben.« –

Amey sah den Oberstleutnant an. Bei Onkel Rhaban hatte ein Höchstmaß von Kultur eine Art Zeitlosigkeit erzielt. Er war so jung und so alt, wie er vor zwanzig Jahren erschien. Herrn von Neudeck hatte eine harte Jugend, ein hartes, zusammengerafftes Leben eine Kraft, eine Frische verliehen, die mit seinem blühweißen Haar seltsam kontrastierte. Die Sicherheit und Geschlossenheit eines Menschen, der in der vergangenen Epoche, dem Staate Bismarcks, wurzelte, ging von ihm aus wie der gute Schatten einer Eiche, die zwischen wogenden und übergluteten Äckern ragt, die jedes Jahr neu beginnen müssen.

»Wer es so gut hat!« dachte Amey. »Fernab vom Fieber der Tage und vom Streit des Menschen gegen den Menschen. Ganz geschlossen in einer einzigen Hingabe. Ob es Staatsgefühl heißt, oder Kaiser, oder Familie, oder Vaterland, oder Gott – alles das speist sich ihnen doch aus denselben Gründen und wächst in den gleichen Himmel. –

»Ja,« dachte Amey – »das ist wie Heimatluft. Wie das verlorene Paradies!« Sie sah Thomas vor sich, den Spiegel seiner Augen ermüdet und vom Zweifel überhaucht. Ihr Blick streifte den Oberhofprediger. »Oh, diese armen Auguren!« dachte Amey. »Das Unbeweisbare sollen sie verkünden. Aber ihr kleinster Nerv hat tausend Augen und weiß sich. Ja, so wurde dann selig Unbewußtes und das Namenlose rubriziert.« Ihre schmale Gestalt reckte sich plötzlich wie ein Hellbergscher Speer: »Mein kühner Ketzer«, dachte Amey. »Mein armer, wahrhaftiger, ungläubiger Thomas!«

An der andern Seite des Tisches verbreitete sich die Generalin über die Schöpfungsgeschichte und den Urbeginn des Lebens. Aber Ameys Augen streiften wieder den Oberhofprediger. Jemand fragte, ob der Student der Rechte in Tübingen gleichen Namens mit ihm, sein Sohn wäre. – »Mein zwölfter«, sagte der alte Herr. »Er ist mein Benjamin.« – Die kühlen kleinen Augen verschleierten sich plötzlich leicht. Das beherrschte Diplomatengesicht entspannte sich sekundenlang. »Er vergötterte seine Frau«, sagte jemand leise. »Sie starb bei diesem letzten Kinde. – Es zieht ihn immer wieder nach Berlin, wo er seine Frau hatte, und wo sie begraben liegt!«

»Ach«, – Amey sah den Oberhofprediger an. Mit neuen Augen. »Was wissen wir von Kompromissen,« dachte sie, »die wir um gar nichts zu sorgen haben? Vielleicht kämpften sie blutschwer, als sie die zwei Kammern einrichteten und gut durch eine Doppelwand trennten: Die eine mit dem Intellekt und der Forschung und die andere mit der Offenbarung und dem Amt und der Familie!« – –

»Später verloren wir uns aus den Augen, Rhaban und ich.« – Die große, kraftvolle Gestalt des Oberstleutnants beugte sich wieder zu Amey herunter. »Von Hannover aus kam ich ein paarmal zu Ihnen. Aber Sie waren immer auf Reisen!«

»Hannover!« Herr von Odebrecht, den eben wieder ein Gedanke an seine aufgekauften Grundstücke erregte, blühte auf. Zwanzig Jahre versanken. Er war wieder der liebenswürdige Schwerenöter und Herzbezwinger. Er war dort auf Reitschule kommandiert. – »Charmante Leute. Gott – der Abschied! – Sieben Tage wurde gefeiert. Mit sämtlichen Lehrersfrauen habe ich mich geküßt!« Seine Augen blitzten kühn zu Amey hinüber. Es blies zur Attacke. Der alte Kavallerist witterte Abenteuer und Kampf. – Fräulein Fink hatte den Anfang des Gesprächs nicht aufgefangen. In ihrer unendlichen Bescheidenheit hatten selbst die langen Pensionsjahre sie nicht ganz frei gemacht. Sie hörte immer ihre eigene Stimme so peinvoll, wenn sie eine Äußerung tat. »Ach, dann kannten Herr Rittmeister vielleicht einen Professor Schneegans in Hannover?« Sie wagte einen kleinen Beitrag zur Unterhaltung.

Herr von Odebrecht bedauerte.

»Ich dachte nur, weil Sie so bekannt mit Lehrern schienen.« Die Mäuschenbewegungen wurden noch scheuer und spitzer, und das ganze kleine Gesicht der Pensionsinhaberin schien trostlos nach einem Versteck in ihrem eignen Speisezimmer auszuschauen. Herr von Odebrecht lachte dröhnend.

»Nö, nö, nicht Schullehrer . . . Seit dem Maturum . . .«

Amey fühlte die rote See im Nacken. »Mein Onkel Rhaban hatte allerlei Beziehungen zu hannöverschen Gelehrten«, sagte sie schnell. »Er schätzte sie ungemein. Mir ist – gerade der Name Schneegans – ich habe ihn öfter erwähnen hören.« – Sie hatte ihn niemals gehört. Aber diese Lüge würde ihr verziehen werden. Odebrecht rückte unruhig in seinem unmöglich hohen Halskragen. Jetzt verlangt sie, daß ich Peccavi mache, diese tolle kleine Hexe. »Kavalleristen sind Barbaren«, sagte er entschuldigend zu Fräulein Fink. »Wir haben leider Gottes immer mehr Interesse für unsere Pferde als für unsere Kinder.«

Amey sah ihn an, zärtlich, dankbar. »Die Menschen sind nicht bösartig von Natur«, dachte sie, wie sie in ihr Zimmer ging. »Sie sind nur unbedacht wie die Kinder, die dem Rattenfänger nachliefen. – Ach – wenn ich die rechte Melodie wüßte! – Und dann den Weg! – Nicht in den Berg hinein, auf die Höhe!« – – – – – – –

 

Als am folgenden Morgen das Zimmermädchen Amey das heiße Wasser brachte, waren die Augen des blassen, kleinen Dinges rot und verschwollen. Amey empfand eine große Scheu, Erwachsene nach ihren Tränen zu fragen. Aber plötzlich sah sie das entsetzte Gesicht Nellis vor sich, und Elisabeth Ewald. – Da fragte Amey.

Nachher trat sie ans Fenster. Sie stützte ihre Hände auf das Gesims. – Auch solche Dinge lagen jenseits der blauen Linie? –

»Ich fahre hin.« Amey kehrte sich hastig um. »Sogleich fahre ich hin!« Ihre Stimme klang leise und eindringlich. Ihre Hand strich zart über die demütig gesenkte Schulter.

Das kleine Stubenmädchen war aus Berlin gebürtig. Sie hatte noch keine Herrschaft gehabt, die Wert legte auf derartige Gepflogenheiten. Aber plötzlich ergriff sie die schmale weiße Hand, die von so vielen Männerlippen berührt worden war, und küßte sie.

Nachher, während Amey im Auto saß, stand immerwährend das Bild vor ihr, dem sie entgegenfuhr: Die Schwester des kleinen Hausmädchens war an einen Arbeiter in einer Farbenfabrik verheiratet. Er hatte infolge von Bleiweißvergiftung monatelang im Krankenhaus gelegen. Bei seiner Entlassung waren die schwächliche Frau und die Kinder in bitterster Not. Da hatte er die erste Unregelmäßigkeit begangen. Es kam nicht sogleich ans Licht. Und da – . . . Es sollte jedesmal das letztemal sein, Gott im Himmel, ja. Auf irgendeine Weise wollte er es einholen und gutmachen. Aber beim drittenmal war es mißglückt. – Es stand alles ganz klar und deutlich vor Amey! Helle unbarmherzige Bilder. Der Moment, als es herausgekommen war. Als man ihn nach Moabit brachte. Drei Jahre Gefängnis! Amey verband keinerlei Vorstellung damit. Sie wußte, wie es in russischen Gefängnissen aussah, aus Tagebüchern und Romanen. Das war hier belanglos. Die Gewölbe mit den meterdicken Mauern, von der Newa umspült, diese übelriechenden, von Unrat versehrten und unmenschlichen Gelasse mit den eisernen Handhaben in der Wand für die Fußketten, sie kamen für das peinlich ordentliche, humane Deutschland wohl nicht in Betracht. – Wie wunderbar! Etwas Grelles und Barbarisches stand plötzlich vor Ameys Augen. Wie konnten ihr nur ein paar bunte, genähte Pantoffeln einfallen? Ausnehmend häßlich. Sie konnte das Bild nicht los werden. Sie grübelte. »Ariane!« Ah so! Ihre alte Ariane pflegte solche Bettschuhe zu tragen. Sie ließ sich nicht davon abbringen. Jedes Jahr kam ein Mann mit einer Kiepe, dem sie ein solches Paar Scheusäler abkaufte. Ja, und nun wußte Amey plötzlich: Diese Schuhe waren von Gefangenen gearbeitet worden! –

Vielleicht, – es mochte nicht das Schlimmste sein, Schuhe machen, wenn sie auch sehr unschön waren. Aber drei Jahre lang? – Ob sie alle Schuhe machten? Wenn nun vielleicht . . . Es gab ja so vielerlei Berufe in der Welt! Maurer zum Beispiel, Briefträger, Gärtner, Nachtwächter. Es fielen ihr nur solche ein, bei denen die Leute im Freien waren. Lauter von Luft gebräunte Gesichter sah sich vor sich, harte muskulöse Arme und Beine, die einen ordentlichen Schritt nahmen. Sie saßen dann tagaus, tagein . . . Etwas Furchtbares stand plötzlich vor ihr. Sie erinnerte sich genau. In der Leutestube war davon die Rede. Sie hatte es aufgefangen, im Vorübergehen. Ein Lehrer in der Stadt, ein allgemein beliebter und tüchtiger Mann hatte jemanden erschlagen. Die Frau war schuld, hieß es. Er war zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt worden, weil er das Grausige im Affekt verübt hatte. – Wieder standen die bunten und unschönen Pantoffeln vor Ameys Augen. Dieser auch? Ein ganzes Leben lang . . . Irgend etwas schien herabzusinken. Etwas schüttete sie ein, langsam. Der Atem wurde ihr schwer. Sie vergaß fast, weshalb sie in das Auto gestiegen war. Plötzlich hielt es mit einem Ruck. Amey erschrak. »Ja, so.« – Also hier vor diesem Hause hatte er gestanden. Vorgestern abend. Amey fröstelte. Sie erinnerte sich deutlich. Sie war in ihren Pelz gewickelt mit Thomas aus dem Theater heimgefahren. Sie hatten in der Taubenstraße noch etwas gespeist. Es war so hell und festlich. Aber als sie fuhren, hatte sie gedacht: Wir sind doch nicht in London? Daß es in Berlin so einen dicken Nebel geben konnte! Wie ein zottiges, gelbes und kaltes Tier drängte er hinter ihnen drein in den Wagen. An diesem Abend war es.

Amey fuhr zusammen. – Stand er dort und sah hinauf? Ganz deutlich hatte sie diese Hand mit der matten und ein wenig krankhaft gelblichen Haut gesehen, die er zum Schirm über die Augen deckte. »Wie sie noch in die Schule gingen, sind sie sich schon gut gewesen.« – Schluchzte nicht jemand? – »Wie die Engel im Himmel haben die beiden miteinander gelebt. Und es ging ja auch alles, bis so schnell nach der Käthchen die Zwillinge kamen!«

»Die Käthchen«, hatte das kleine Hausmädchen gesagt. Es handelte sich um ein Kind, dem man in demütigem und hohem Glück entgegengelebt hatte. Feine kleine Liebesworte hatte man ihm gegeben. Amey fing an, auf und nieder zu gehen. Es erschien ihr unmöglich, sofort hinaufzusteigen. Wie lange mochte er hier unten gestanden haben, ehe er es wagte . . . –

Dieses widerwärtige Haus! So völlig war es mit Plakaten bedeckt, daß man die Empfindung bekam, es sei aus Glas gebaut. Bis in den letzten Winkel mußte es seine Geheimnisse preisgeben. – Nun machte er die Tür auf. Nun stieg er hinauf. Stufe um Stufe. Wie ein fremder Mensch, der zum allererstenmal dieses Haus betritt. –

Seine Frau hatte ihn abholen wollen in Moabit mit der Käthchen – die Zwillinge waren um Weihnachten gestorben, – aber sie war zu schwach. Ja, und dann hatte er sie vor sich, die kleine verhärmte Gestalt, die er zwei Jahre besessen, und von der er drei Jahre geträumt hatte. Der Hungertyphus stand in ihrem Gesicht geschrieben, und als er sie in den Armen hielt, war ihm, als zerginge sie, wie Schnee zergeht. – Amey fühlte eine leichte Kälte im Nacken.

»Welche Größe,« mußte sie plötzlich denken, »welche Unschuld! Zu seinem Fabrikherrn ist er gegangen, der ihm das alles hat geschehen lassen. Und diesen Mann hat er gebeten! Um Vergebung hat er ihn gebeten. Um Arbeit. Und um einen Vorschuß auf diese Arbeit!«

Ihre Mundwinkel zogen sich ein wenig herunter. – »Ja, er liebte die große Geste«, dachte sie, »dieser edle Mann und Wohltäter. Für eine Tuberkulosenheilstätte ein paar tausend Mark. Nun – die rechte Hand wußte wohl sehr genau, was die linke vorhatte!« – –

Amey lief plötzlich die Treppe herauf, als liefe sie um ihr Leben. »Er ließ ihn gar nicht erst in seine hohe Gegenwart gelangen!« schien jemand ihr nachzurufen. Der Kommerzienrat sollte gerade gefeiert werden. Und der Rote Adlerorden! – Zwanzig Mark! Bedenken Sie diesen Edelmut! Volle zwanzig Mark ließ er ihm herausschicken durch einen Buchhalter. Von einer Anstellung könne natürlich nicht gut die Rede sein!« – –

Er hatte ihm das Geld vor die Füße geworfen!! Ameys Augen flammten. Ihre Mundwinkel zogen sich noch ein wenig tiefer herab. Rasse hatte er, dieser bestrafte Bösewicht!– Aber dann – –

Sie hatte den vierten Treppenabsatz erreicht. Etwas schlug ihr aufs Herz wie eine harte Hand: Dies hier war unwiederbringlich. Niemand auf Erden konnte dieses wieder ausheilen. –

Einen Abend und eine Nacht hatten sich die zwei Ausgestoßenen noch gegönnt. Übrigens, sie hatte nicht darum gewußt. Ganz behutsam, ganz ahnungslos hatte er sie hinübergehoben. – –

Eine Tür schlug. Schon die dritte Tür, solange Amey hier stand und sich nicht entschließen konnte. Eine rauhe Stimme unter ihr fing an, ein häßliches Lied. Ameys schmale Schultern zogen sich nach vorn. Aber plötzlich raffte sie sich zusammen. Sie schöpfte tief Atem. Jetzt schon wollte sie der Mut verlassen? – Indessen hatten sich Füße auf Filzsohlen der Tür genähert. Ein dickes, gutmütiges Gesicht sah durch den Spalt. Das Fräulein brachte wohl etwas zum Kunststopfen? Ja, dann würde sie ausgezeichnet bedient werden. Es gäbe Damen, die schon zehn Jahre wiederkämen. Seide, Wolle, Spitzen . . . Nicht? – Amey schüttelte den Kopf. Ach so, wegen Böhms. Gott ja, wer das doch wohl gedacht hätte! –Sie standen noch immer in der Entreetür. Nein, der konnte keiner was nachsagen. Sie war doch noch jung. Die hätte leicht einen gekriegt, so einen . . . Die gutmütigen Augen in dem umfängigen Gesicht zwinkerten. Aber alle die zwei Jahre, das war immer, als ob sie ihr Kränzchen aufhätte.

»Und die Käthchen?«

Nein, die war nicht mehr da. So recht gern hätte Fräulein Winkler sie selber behalten, aber – Kunststopfen – davon wurde keiner reich. So ein liebes Kind wie die Käthchen. – Ja. – Gartenplatz 17 – da wohnte das Fräulein von der Armenpflege. Die hatte die Käthchen heute früh abgeholt. –

Fräulein Winkler hätte gern noch sehr viel erzählt. Aber es ging nicht. Heute ging es wirklich nicht. Verzeihung. Und vielen Dank indessen. Also Gartenplatz 17. – Aber als Amey dort anlangte, konnte sie vorerst nur eine eng beschriebene Karte in den Briefkasten stecken. Es war niemand zu Hause. –

Als Amey am Abend und ermüdet wie nach dornenvoller Pilgerfahrt ihre Stubentür öffnete, witterten ihre feinen Nasenflügel. Etwas quälendes war in die Atmosphäre ihres Zimmers gedrungen. Sie ging ohne zu zögern auf den kleinen Tisch zu, auf dem ihre Post zu liegen pflegte. Ein einziger, riesenhafter, rotbrauner Brief lag da. Wie ein häßliches Seetier. Etwas Brutales war um diese stumpfe Blutfarbe. Mit gespreizten Fingern, als ob er abfärbte, zerriß Amey den Umschlag mit dem Geruch von Haremsfrauen. Eine gleichfarbene, gedruckte Karte fiel heraus: Lydia Mendel zeigte der Baronesse von Hellberg-Arwinde ihre Verlobung an. Ihr Verlobter war der Kommerzienrat Nethur. – – – – – – – – – –

 


 << zurück weiter >>