Friede H. Kraze
Amey
Friede H. Kraze

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Der große Bruch

Das Pensionat in einer der vornehmen und stillen Straßen von Berlin W., das Amey gewählt hatte, wich letzten Endes nur wenig von denen ab, die sie in Florenz, Rom, Paris oder München kannte.

Ob ihr hier an der Mittagstafel die Offenbarungen kommen würden? Eine Exzellenz hatte Amey zu ihrer Rechten. Er war Minister in einem der mittleren Kleinstaaten. Außerdem gehörte seine Familie zu den Reichsunmittelbaren. Man hatte ihm seine Platzkarte für die erste Reihe rechts zur Hand Gottes gleich in seine 200 Jahre alte Barockwiege gelegt. Von der Hofsonne und seiner eigenen Aura geblendet, hatte er die Menschen immer nur in dem sanften Dunstblau der Niederungen erblickt. In ihrem nahen und natürlichen Zustand kannte er sie kaum. Die Wahrheit zu sagen, wäre ihm ihr natürlicher Zustand ebenso geschmacklos erschienen, als wenn er sich ohne Präpendenzkreuz und Ordensband zur Hoftafel begeben hätte. Fräulein Fink hatte ihm den Oberhofprediger gegenübergesetzt, den Herrn mit den kleinen, ausnehmend klugen Augen, den schönen gepflegten Händen und dem schmallippigen Mund ohne jede Schwingung in dem glattrasierten Diplomatengesicht. Vielleicht war Amey als Nachbarschaft nicht ganz so glücklich gewählt. »Wie werde ich diese beiden Gefestigten erschrecken,« dachte Amey, »mit meinem Primitiven! Wohl bin ich feige, aber was hilft das, wenn man mit Impulsen behaftet ist!« Und so kam es, daß gerade, als der Minister etwas vom Dreiklassenwahlrecht sagte, und wie der Himmel ganz augenscheinlich noch einmal die Sache der Konservativen gestützt habe, daß Amey von einem kleinen Teufel geritten wurde, der sie mit unschuldigen Augen und mit ihrem zärtlichen Lächeln fragen hieß, ob nicht der Gott der Konservativen mit dem der Sozialen sich des öfteren ein wenig in den Haaren läge. Der Minister hätte vom Gesichtspunkt der Barockwiege aus diesen Einwurf eigentlich als peinlich und befremdend durchaus ablehnen müssen. Aber von dieser Wiege unabhängig hatte er sich in aller Stille zu einer wenngleich exklusiven, so doch ganz fest umrissenen Persönlichkeit ausgebildet. »Ich glaube behaupten zu dürfen, daß Sozialismus und Atheismus wohl nur zwei Namen für die gleiche recht diesseitige Angelegenheit sind«, sagte er und stieß dabei ein wenig mit der Zunge an. Aber er hatte diesen Naturfehler so kunstvoll zu verwerten gelernt, daß er mehr wie ein Reiz wirkte. Er lächelte verbindlich. Nur seine Augen blieben schwermütig. »Wenn die Inkompetenz einmal ans Ruder kommt, werden alle, die der Masse jetzt das Wort reden, sich an die Köpfe fassen. Und die sogenannte Befreiung dürfte sehr deutlich an Helotentum erinnern. Wenn erst jeder Politik machen darf, wird er sehr bald für seine Tasche politisieren. Kanaille bleibt Kanaille.« – Es war keine Schwermut mehr in seinem Blick. – So hatte sein Vorfahr ausgesehen, wenn er für den frierenden Holzdieb seiner meilenweiten Wälder das Halseisen befahl.

»Mit Politik sollte sich nur der Berufene beschäftigen dürfen. Leute mit Sinn für das historisch Gewordene und mit Verantwortungsgefühl. – Übrigens muß man so etwas im Blute haben. Überlegenheit läßt sich nicht züchten!« Als entsänne er sich, daß an dieser Tafel vielleicht nicht jeder sein Blut bis zu den Kreuzzügen hin rückwärts bestimmen konnte, gab er dem Oberhofprediger einen schnellen Blick. Aber die Generalin Wesenberg hatte jenen ausschließlich mit Beschlag belegt. Der Minister riß seinen ausnehmend langen und schmalen Oberkörper, der zum Zusammensinken neigte, energisch und befreit zusammen. Eine Formverletzung hätte er sich nicht vergeben. »Verzeihung, Baronesse!« Mit einem hinreißenden Lächeln wandte er sich zu Amey. »Ich verirrte mich in Ihnen allzufern liegende Gebiete . . . War es nicht eine kleine Blasphemie, mit der Sie mich vom Wege ablockten?«

Amey fühlte die rote See im Nacken. Wenn ein Fehdehandschuh, gleichviel, ob es ein dänischer war, achtknöpfig, parfümiert und ganz der Abdruck einer feinen, verwöhnten und oft geküßten Frauenhand – immerhin aber doch ein Fehdehandschuh – wenn er nun mit einem solchen Lächeln aufgehoben und zurückgereicht wurde . . . War das am Ende nicht ein wenig zum genieren?

Aber während der Minister etwas Entzückendes über die Burg sagte und über die weit bekannten Sammlungen Onkel Rhabans, mußte Amey immerfort denken: »Das historisch Gewordene – die Überlegenheit des Blutes – und . . . mein Gott!«

Onkel Rhaban hatte sich in dieser Weise niemals geäußert. Daß er sich trotzdem stark damit beschäftigte, hatten seine Tagebücher verraten. Aber Amey hatte die Empfindung, daß der Minister sich eben hatte hinreißen lassen. Er faßte seine Beredsamkeit in diesem Punkt als Entgleisung auf. Sie durfte nicht Vorteil daraus ziehen und ihn weiter aus sich herauslocken. – Und ehe sie sich entschließen konnte, was sie durfte und was nicht, war der Minister bereits aufgestanden. Er verabschiedete sich von Amey in dieser besonderen Art, die ritterlich war und zart, wie von einem Kavalier der alten Schule und die eine feinste, Amey so wohlbekannte Huldigung ausdrückte. In einer Stunde reiste der Minister. –

Die Generalin Wesenberg schien nur darauf gewartet zu haben, daß Ameys Aufmerksamkeit frei würde.

Ihre weit aufgerissenen braunen Puppenaugen standen samt dem lächerlich kleinen Mund eigentlich ganz unbegründet in dem Gesicht mit den flächigen Wangen. Die Generalin sagte soeben etwas über Zigarettenarbeiterinnen. Es konnten auch Handschuhnäherinnen sein, sie wußte es selber nicht genau. Sie wollte ihnen heute abend einen Vortrag halten. Ameys Gedanken waren noch bei dem Minister. Dennoch staunte sie. Nicht so sehr deswegen, weil in ihrer Familie Frauenvorträge noch nie erörtert worden waren. Oder weil bei den Hellbergs bis dahin die Funktion der Frau eigentlich nur im Schönsein bestanden hatte. Sie mußte denken: »Die armen kleinen Mädchen! Um des Himmels willen, sie haben gewiß eine Menge zu tun gehabt tagsüber und würden nun gern mit ihresgleichen vergnügt sein. Statt dessen sollen sie dieser guten Generalin zuhören, Ein wenig wirkt sie immer wie Schlafpulver. Und nun – über den Einfluß der Familie auf Staat und Kirche!« Amey pries sich glücklich, daß sie nicht erwählt wurde, über die Bedeutung so großer Worte sich zu äußern. »Alles ist Gnade,« sagte in diesem Augenblick die Generalin und nahm eine Gabel voll Mayonnaise. »Ich hätte früher niemals gedacht, daß ich imstande sein würde, öffentlich auch nur einen Satz zu reden. Aber heutzutage gibt es doch kein Seitabstehen mehr für Frauen unserer Stellung und . . . ich muß wirklich sagen,« – sie sah sich glücklich im Kreise um – »wem der Herr ein Amt gibt, . . . Und wenn man dann fühlt, wieviel Gutes man wirken kann!«

»Ich tue ihr Unrecht«, dachte Amey reuevoll. »Sie hat so viel religiöses Empfinden wie ein Walfisch. Aber sie ist wirklich überzeugt von ihrer Mission. Was kann man mehr verlangen? Ja . . .« sie seufzte. Gerade da entstand am unteren Ende des Tisches eine leichte Erregung. Das servierende Mädchen flüsterte mit der Pensionsinhaberin, die um Entschuldigung bat und mit ihren lautlosen Mäuschenbewegungen das Zimmer verließ. »Ihr Essen wird wieder kalt werden«, sagte Amey zu ihrem Nachbarn zur Linken. »Oder sie wird gar nichts bekommen.«

Der Kammerherr sah sie entgeistert an. »Wie meinen, Baronesse?« Man hörte Stimmen draußen. Im Erker wurde behutsam eine Anzahl Gedecke gelegt. Als Fräulein Fink zurückkam, machte sie mit einer ihrer so überaus höflichen und zugleich ängstlich zusammengerafften Gesten die Speisenden damit bekannt, daß die Tafelrunde um eine Anzahl neuer Gäste vermehrt werden würde.

»Wohnen denn nicht alle Leute, die bei Hofe ausgehen wollen, traditionell im Windsor?« fragte Amey den Kammerherrn.

»Es gibt Ausnahmen, Gnädigste!«

Der Kammerherr schien innerlich in Anspruch genommen. Man legte in seinen Kreisen Wert auf sein künstlerisches Urteil. Er hatte selber ein Bändchen Gedichte herausgegeben, bei einem jener Verläge, die sich vom Autor die Herstellungskosten, phantasievoll nach oben abgerundet, voraus bezahlen lassen. Außer in einigen Agrarzeitungen hatte die Kritik keine Notiz davon genommen. Der Kammerherr pflegte seit Jahren mit dem Büchlein in Goldschnitt kleinere Verpflichtungen auszugleichen. Aber jedes neue Talent, das eine seiner sechs Zeitungen feststellte, gab ihm ein kleines Gallenfieber. Nun – etwas ganz Tolles war passiert. Irgendein Bekannter hatte ihm das Bild eines jungen Künstlers zugeschickt, den er ein wenig lancieren möchte. Der Kammerherr, der außerhalb seiner literarischen Belastung ein feiner und gütiger Mensch war und nach dem Maß seiner bescheidenen Mittel half, wo er helfen konnte, wurde verfolgt von diesem Bilde. Auf Schritt und Tritt.

Es war keine jener wilden Klexereien, die er verabscheute. Sondern sauber, fast peinlich ordentlich gemalt, stellte es eine Straße dar, trüb, mit himmelhohen Häusern, die schief und krumm alle durcheinander zu stürzen schienen. Dies Bild war gräßlich. Oder es war ganz und gar verrückt. Der Kammerherr beratschlagte soeben mit sich, ob er die Baronesse Hellberg, die, wie er schon herausgefunden hatte, künstlerisches Urteil und Geschmack besaß – wenn auch vielleicht ein wenig extrem – ob – er sie ins Geheimnis ziehen sollte. Amey ahnte nichts von des Kammerherrn ehrenvollen Absichten, sie betreffend.

»Dies sind sicher lauter märkische Grundbesitzer« dachte Amey. »Sie sind so sehr fadengerade. Und an ihren Toiletten kann man es auch merken, daß sie alle auf ow endigen oder zu den Trebbins und Welgenthins und solchen gehören. – Wie hübsch muß es gewesen sein . . .« Amey verträumte sich – »als sie sich in ihren Raubnestern einmal gegen die faule Grete stemmten. Aus dieser Romantik sind jetzt ein wenig nüchterne Landhäuser geworden. Aber sie haben noch immer ihre alten Seen. Und dann sind sie doch die Essenz alles adligen Wesens und die Pfeiler von Kirche und Thron. Uns andere sehen sie doch ein bißchen als nicht ganz comme il faut an. Ob das gute Fräulein Fink nur plötzlich soviel mehr zu essen hat?«

Ameys Augen gingen zum Oberhofprediger, der mit seiner Nachbarin in ein Gespräch über die sittliche Verwahrlosung auf dem Lande vertieft war. Wie ein Mann von Welt verstand er die unmöglichsten Dinge fein zu verwolken und gesprächsfähig zu machen. »Er ist klug«, dachte Amey. Pfarrer Bruns stand plötzlich vor ihr. Sie erblickte ihn in einem kleinen griechischen Grabtempel, der ganz voll war vom Geruch der Wachskerzen und Treibhausblumen, als dieser schmale zinnerne Sarg dort aufgebahrt stand. Ihre Lippen bebten. Sie hatte das qualvolle Verlangen, mit jemandem zu sprechen, der Onkel Rhaban gekannt hatte . . . Sie sah sich in diesem niedrigen Pfarrhaus hinter den gekappten Linden, die der Westwind nicht wachsen ließ. Draußen, in schöner Entfernung voneinander, wohnten Menschen, die Gesichter hatten wie aus Holz geschnitten, und die Zeit brauchten von einem Satze zum andern. Drinnen brodelte der Kessel auf einem messingenen Kohlenbecken, das schon ein paar hundert Jahre lang diesen Kessel zum Sieden gebracht hatte. Ein Mädchen, mit Scheiteln dunkelgelb wie reife Felder, ging auf und nieder mit großen und ruhigen Bewegungen . . . »Nein«, dachte Amey plötzlich. Sie mußte etwas herunterschlucken, was ihr hoch und schmerzhaft im Halse saß. »Es wäre Fahnenflucht.«

»Kennen Sie Huysmanns ›Là-Bas‹?«

Amey mußte sich erst sammeln.

»Ich glaube, mein Onkel Rhaban schätzte den Roman.« Sie empfand irgendeine heimliche Abwehr gegen Gespräche mit Frau von Wickede, ohne daß sie einen Grund dafür hätte angeben können. Vielleicht war es das Gesicht. Es war archaistisch langgezogen mit fast weißen und auffallend hochgewölbten Brauen über eigentümlichen Augen. Man hätte sich einbilden können, man sähe durch den Kopf hindurch. Der Körper war scheinbar in lauter Schleier und Tücher sehr weichen Falles und raffinierter Farbenzusammenklänge hineingeschlungen.

Frau von Wickede bat, ihr diesen Roman leihen zu dürfen.

»Ich werde Ihnen sehr dankbar sein«, sagte Amey höflich und abwesend zugleich.

Sie nickte liebevoll einem jungen Mädchen hinüber, das mit schwärmerischen Augen an ihr hing.

Es war ein ausnehmend unschönes Fräulein von Gärtnern. Ihre Eltern behaupteten trotzdem, daß sie an Ninon von Lenclos erinnerte.

»Groß ist die Macht des Suggestiven«, dachte Amey mit innerlichem Vergnügen. »Auch mich haben sie fast so weit. Ich kann mir die arme kleine Anita nur noch umglüht vorstellen, bis zu ihrem – ich glaube – vierundsiebzigsten Lebensjahr!«

Und während Frau von Wickede mit ihren sonderbaren Augen Amey ansah und etwas von Paracelsus sagte, oder war es Swedenborg? Und der Kammerherr gerade zum Entschluß gekommen war, Amey in das Geheimnis des Bildes mit den schiefen Häusern einzuweihen – gerade da schien das Ereignis dieses Tages eintreten zu sollen. – Noch einmal wurde Fräulein Fink beunruhigt, und jetzt entstand am Tischende ein leises Aneinanderschieben der Gedecke. »Exzellenz Yukujama«, sagte Fräulein Fink wieder mit dieser bestimmten Armbewegung, die sich jetzt aber über ihre Ängstlichkeit hinausgeschwungen hatte und stolz und bedeutend war. Ein japanischer General war schließlich doch immerhin etwas. – Amey sah glücklich zu ihm hin. »Kokoro«, dachte sie. Aber als sie vom Tisch aufstanden, wußte Amey bereits, daß sie auch hier sich resignieren mußte. Der General kam nicht aus dem Japan der Samurai, des Schinto, der priesterlichen Geisha. Er entstammte der Epoche, die mit Mukden und Port Arthur beginnt. Er war einer jener, wie sie auf unsere Universitäten und technischen Hochschulen kommen, auf unsere Werften, in unsere Fabriken, zu Krupp und zu Zeiß, und in denen das alte Japan zur Legende wurde wie für uns das Deutschland vor 70 und 71. – – –

 

Als Amey an diesem Nachmittag mit sich beratschlagte, ob sie am Abend in ein Konzert gehen sollte, oder dieses Stück von Georg Kaiser ansehen, über dessen Lektüre der Kammerherr ganz erblichen war und das einen fremdartigen und geheimnisvollen Zauber auf sie selbst ausübte, gerade da wurde vom Zimmermädchen eine Karte bei ihr abgegeben: »Lydia Mendel.«

Mein Gott, Lydia. Amey erschrak. Sie hatte wirklich vollkommen auf sie vergessen. Aber es war ihr von Kind auf eingeschärft worden, nur in den alleräußersten Notfällen ihres Lebens Gebrauch von einem Nein zu machen. Sie seufzte ein wenig. »Ich lasse bitten«, sagte sie. Und während sie auf ihren Besuch wartete, stand wieder diese eigenartig beklemmende Szene in der Pension Rosetti in Rom vor ihren Augen, wo sie Lydia Mendel kennenlernte. Amey hatte aus dem Speisesaal kommend das Stockwerk verwechselt. Als sie ihre vermeintliche Zimmertür öffnen wollte, schien es ihr, als hörte sie von drinnen einen klagenden Schrei.

Sie entsetzte sich und begriff nicht. Aber im sichern Glauben an ihr eigenes Zimmer öffnete sie. Ein schwüler Geruch, wie er in den Kleidern von Haremsfrauen zu Hause ist, schlug ihr entgegen. Das war der Geruch, der immer um Lydia Mendel war. Lydia stand mitten im Zimmer. Ihre Augen funkelten böse und lustvoll. Sie hatte den Zeigefinger erhoben, der Amey durch einen riesigen Smaragdring verletzte. Auf dem rotsamtnen Taburet vor Lydia saß in bittender Stellung aufgerichtet ein winziges schneeweißes King Charleshündchen. Der kleine Leib und die seidenen Pfötchen bebten. Hatte Amey recht gesehen? War unter dem hängenden Ohr ein roter Fleck? In diesem Augenblick bückte sich Lydia. Sie griff das Hündchen, drückte es zusammen wie einen Ball, schleuderte es in einen seidegefütterten Korb und lachte. Als sie sich hastig umkehrte, sah Amey, daß ihre Füße nackt waren. Der große Zeh steckte in einem goldenen Futteral. –

Während Amey in ihren Gedanken Lydia mit den nackten Füßen und den goldenen großen Zehen vor sich sah, trat die heutige Lydia in einer raffiniert eleganten Wintertoilette in ihr Zimmer. »Ach«, dachte Amey und sie fühlte, wie ihre Brauen sich schmerzlich in die Höhe zogen. Was war es doch nur mit diesem Körper! Warum machte er ihr soviel Unbehagen? Es war eigentlich ein zierlicher Kleinmädchenkörper. Nur Hüften und Brust waren reif. Aber dieser Körper hat eine unbeschreibliche Fähigkeit, sich dem andern ins Bewußtsein zu bringen. Ob Lydia Chiffon trug oder Seide oder diesen Mantel aus Seal: immer sah man nur ihren Körper.

»Amey«, rief Lydia in diesem Augenblick. – Als die Bedeutung der kleinen blauen Halbmonde am Grunde der polierten Nägel Lydias Amey aufgegangen war, hatte Lydia ihr diesen Namen abgerungen. – »Um Gottes willen nicht rühren! Eine Viertelwendung nach links den Kopf, bitte.« Noch immer hatte Lydia diese hohe eigensinnige Kinderstimme. »So. – Gerade so standst du damals vor dem Adorante in den Thermen. Rechts Tizian, bis in die Wimpern. Aber links warst du braun wie ein Velasquez.«

»Bitte«, sagte Amey.

»Ja, aber siehst du denn nicht, wie unbegreiflich dies alles ist?« Lydia beachtete die verborgene Abwehr nicht, oder sie hatte sie gar nicht empfunden.

»Du bist doch eigentlich Botticelli, oder Burn Jones? Dio mio, was bist du zuletzt?« Sie musterte Amey wie ein Ausstellungsstück. »Du mußt in mein Atelier kommen. Ich habe da allerlei zusammengetragen, Archaistisches, Gotik, Japan, den Orient. Und Sachen von heut . . . . Du bist der Stilbruch aus zwei bis drei Richtungen. Du bist nicht gestern, und du bist nicht heut. – Mein Gott, bist du morgen?«

»Bitte.« Amey warf sich erschöpft auf den niedrigen Sessel.

Lydia hockte sich neben Amey auf die Lehne. Sie schien nicht zu bemerken, daß Ameys schmale Gestalt sich immer enger in sich selbst zusammenzuraffen schien. – Nein, daß sie Amey ausgetüftelt hatte! Durch Eisenhardts über die Baronin Borgh. – Sie war halb krank gewesen vor Sehnsucht.

»Trotzdem hast du zwei Jahre lang nichts von dir hören lassen.« Amey lächelte mühsam. Nach der Einleitung ihres Gesprächs wagte sie nichts mehr über Kunst zu sagen. Und dies war das einzig mögliche Thema zwischen ihr und Lydia.

»Nach ihren Leuten kann man nicht fragen«, dachte Amey unglücklich. Der Großvater, dessen Heiratsakten nicht ganz einwandfrei schienen und mit dem Lydia damals in Italien reiste, war bald danach gestorben. Sie war auf St. Domingo geboren. Ihre Mutter hatte als schöne und ziemlich umfangreich gewordene Witwe in zweiter Ehe einen Berliner Zigarrengroßkaufmann geheiratet. Im Grunewald gehörte ihnen eine prachtvolle und stillose Villa. Aber Amey glaubte zu wissen, daß Lydia im Innern Berlins irgendwo ein Atelier besaß.

»Ich habe eine Leidenschaft.« Lydia war aufgestanden. Ihre Brauen stellten sich schräg und scharf. Sie fing an, im Zimmer hin und herzugehen. »Das Sonderbare ist seine Jugend. Auch inwendig. Trotz aller Geisteskultur. Er weiß noch gar nicht, worum es sich handelt. Darin liegt der Reiz für mich.« Ihre Augen kniffen sich ein. Die Pupille verengte sich zu einem senkrechten Strich. Das Skrupellose ihres Gesichts, wie Onkel Rhaban es einmal genannt hatte, konzentrierte sich im Unterkiefer. Plötzlich hielt sie inne auf ihrem raubtierhaft eingekerkerten Hin und Her.

»Du«, schrie sie plötzlich. Ihre Nüstern wurden saugend und unschön. »Du wirst mir helfen! Thomas Vernow muß wissen, daß du meine Freundin bist!« Sie überfiel Amey mit jäher Zärtlichkeit.

»Freundin?« dachte Amey.

»Ich werde kommen, ja.« Ihr Herz schlug wie ein Vogelherz. Sie hätte ebensowohl versprochen in diesem Augenblick, in einen glühenden Krater zu springen.

Als Lydia fort war, öffnete Amey beide Fenster. »Den ganzen Orient hat sie mir hier gelassen.« Ihre zarten Nasenflügel bebten, wie sie die versehrte Großstadtluft in tiefen Zügen und als Befreier einatmete. »Freundin?« dachte sie noch einmal empört.

Es gab Geschichten in Tausend und eine Nacht. Als Kind konnte man sie nicht verstehen. Verstand sie sie jetzt? Amey fühlte im Nacken die rote See. – Wie wunderbar war das. Es blieb immer das gleiche. Die Leute auf der Burg, die Dorfleute, und wen sie auch sonst gekannt hatte: bis zu einem Punkte kamen sie immer. Bis zu einem Punkte nahmen sie sie mit. Aber plötzlich verstummten sie und sahen sie an. Dann bekamen sie alle das gleiche und sonderbar behutsame Lächeln.

»Nun, und hier?« dachte Amey. Die Generalin mit den Vorträgen erweckte geringe Hoffnungen. Wenn man sie zehn Jahre mit Handschuhnäherinnen zusammensperrte, sie würde doch immer nur von ihrer Mission reden und von den kleinen Mädchen keine Ahnung haben. Die mystische Frau von Wickede schien über allerlei Erfahrungen zu verfügen, aber ihre Wege dazu waren Amey unsympathisch. Der Herr Oberhofprediger müßte doch einiges wissen vom Leben. Erstlich sollte es sich so gehören für ihn. Und dann, wie er z.B. gestern so manches sagte, vielmehr nicht sagte . . . Aber fragen konnte man ihn doch nicht gut . . . An diesem Abend bei Tisch aber sollte Amey ein Fingerzeig kommen, und zwar aus einer Richtung, von der sie es sich niemals erträumt hätte. Der neu angelangte Oberhofjägermeister, einer der Märker auf ow, ließ ein Wort fallen, das augenscheinlich nicht für das Ohr der Damen bestimmt war. Frau von Wickede hatte ebenso wie Amey einen Satz aufgefangen. Als sie ihre spektralen Augen, von denen Amey neuerdings überzeugt war, daß sie sie künstlich umrandete, unschuldig und wissend zugleich auf den Oberbürgermeister heftete, gab dieser höflich und unwiderstehlich dem Gespräch eine andere Richtung. So viel aber hatte Amey begriffen: es handelte sich um eine Frau ihrer Kaste. In einem wogenden Hut und besonderer Toilette war sie zu einer besonderen und späten Stunde auf der Friedrichstraße gesehen worden.

 

Amey hatte für diesen Abend vor, eine viel besprochene Tänzerin zu sehen. Sie war bereits dafür angekleidet. Aber automatenhaft, und als gehorche sie einem fremden Befehl, entnahm sie jetzt ihrem Schrank einen Sammetmantel. Er war bronzebraun oder grün, wie die Wälder zur Zeit der großen Verwandlungen, und mit einer Seide von einem schweren, feuchten Rosa gefüttert. Sie nahm den großen weichen Sammethut von der Farbe des Mantels, in den sich zwei Chrysanthemen von diesem gleichen schweren, feuchten Rosenrot schmiegten. In dieser Toilette, die für den hohen Tag gedacht war, stieg Amey in die Droschke. –

Tänze? Amey staunte. Sie hatte die Duncan tanzen gesehen, Ruth St. Denis, die Sent Mahesa, Rita Sachetto, alle, die als Stars in dieser Kunst genannt wurden. Aber wenngleich in höchster Vollendung, waren das immer nur Menschen gewesen, die tanzten. Dies? – Die Fischhaut kroch Amey über den Rücken. War eine arme, nackte Seele aus dem Sarge gestiegen? Eine Seele, die sich niemals ausgesagt hatte? Kam sie hierher, in ihre Grabtücher gewickelt, vom Diesseitigen gezwungen und das Jenseitige bereits im Auge? Oder – war das auch vielleicht ihre eigene Seele, die aus ihr hinausgegangen war und sich aussagte?

Amey raffte den kostbaren, mit Silber gestickten Schal enger um die Schultern. Eine neue Nummer begann. Auch die Tänzerin trug jetzt ein reiches Kleid von dem Bronzegrün, wie der Wald zur Zeit seiner Verwandlungen. Wenn es sich beim Tanz in Falten und Kurven aufwarf, schmiegte das Unterkleid von demselben feuchten und schweren Rosa, wie Amey es trug, sich um die schlanken, rassigen und entblößten Beine. Allegro con brio. – Ja, – so – gerade so mußte es sein, wenn es über einen herfiel: – Stürmen und Demut, Rausch und Stille – hingeschmiegtes Verlorensein: Ein Bild stand plötzlich vor ihr. Eins von jenen, die mit einer neuen Sprache reden: Die Windsbraut von Kokoschka. Der Mann und die Frau, die in der Wolkenmuschel ruhten. Um sie brauste und brandete es in grünen und grauen Wolkenseen, von glühweißen Gischten zornig überzackt. Die Hölle war um sie her. Aber was vermochte die Hölle über sie! Was vermag der Sturm über den Herrn des Sturmes! Für ihn und seine Braut waren diese abgründig ultramarinblauen Himmelstiefen, zwischen dem Klaffen der grauen und grünen Seen. So ultramarinblau, so abgründig und selig war ihr Traum, den sie träumten in ihrer Hochzeitsnacht in der Wolkenmuschel, während die wilden Hunde um sie her bellten und tosten und auf den gesträubten wilden Mähnen ihrer Rücken ihres Herrn Schlummer trugen. Ihres Herrn und seiner Geliebten.

Ameys Augen sahen weit. »Das Wunder?« dachte sie. »Wird jetzt das Wunder geschehen?« Aber wie sie so dachte und auf das Ungeheure wartete, das nun kommen mußte, den letzten Aufstrom und das ganz und gar Grenzenlose . . . Was geschah? Was für ein kühler, spitzer Luftzug? Welches feindliche weiße Licht? Etwas lächelte, mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Was bedeutete das? Sah man sich vielleicht im Spiegel zu, wenn? . . . Mein Gott, wer registrierte denn da! Wer legte denn fest, in unanfechtbaren Sätzen? Amey starrte mit weit geöffneten Augen auf die Tänzerin. Lachte sie über sich selbst? Diese da? Die Seele? Lachte sie über ihre süßen Verlorenheiten? Wie sie plötzlich ging, mit kleinen, bewußten Schritten und aufgespreizten Fingern, die Augen kühl und überklug.

»Ich wußte es«, dachte Amey. Sie zitterte an allen Gliedern. »So mußte es kommen. Der Baum der Erkenntnis! Der Zweifel! Und jetzt zerfleischt sie sich.«

Das feuchte Rosa der Unterkleider wurde von Lichtwerfern bepurpurt. Wie blutige Fahnen zischte es um die entblößten Beine. Sie rasten und flüchteten. Aus der großen Not stürzten sie sich in die größere, bis das jähe Stehen kam: »Wie wichtig du dies alles nimmst. Wie wichtig du dich selber nimmst!« Dann hängte sich die große Ermüdung an den Schritt, das Schleppende und das Ziellose.

Amey fröstelte. Sie sah sich um.

Als ihre Augen suchten, trafen sie zwei andere in der Reihe hinter ihr. Eigentlich waren es blaue, geschliffene Augen, aber sie erschienen matt, wie Stahl unter dem Hauch eines Mundes. Riefen sie diese zwei Augen? Amey hatte nicht Zeit, darüber nachzudenken. Drüben an der Saalwand hielt ein Gesicht sie fest. Wie kam es in die Stadt, dieses kühne Gesicht von einem warmen, bronzenen Braun? Sie stand unter dem fremden Adel dieses hellen Blickes, an dem nichts vorübergegangen war, dem gar nichts erspart wurde und dem eine tiefe Güte und ein feinstes Verstehen zufiel als Beute vieler dunkler und gefährlicher Fahrten. – Kannte Amey dieses Gesicht? Sie konnte sich nicht entsinnen. Aber es erschien ihr tief vertraut. »Alles erste ist wahr, nicht das letzte«, dachte Amey. »Der Aufstrom, das Wunder und das Ungeheure!« – Sie kehrte sich ab. Beruhigung überkam sie. Glück ohnegleichen. Sie war auf dem Wunschberg. Die Rosen blühten. – –

Die verbrauchte Luft, beschwert von dem Atem, den Ausdünstungen und den künstlichen Wohlgerüchen Tausender, wurde plötzlich bewegt durch geöffnete Türen und drängte sich widerlich ins Bewußtsein. Es war Schluß. Amey sah zu der Wand hin. Sie sah das Gesicht nicht mehr. Der grell erleuchtete Saal erschien ihr plötzlich dunkel. Ganz ohne Sinn war alles. Sie ging. Die Augen hinter ihr, die sie vorhin gerufen und nicht wieder losgelassen hatten, empfand sie nicht. Ohne Bewußtheit ihrer Umgebung ließ sie sich ihre Garderobe geben. – Sie stieg in eine Droschke. Über dem Tanz hatte sie vollständig vergessen, mit welchen Gedanken sie vorher gespielt hatte. Plötzlich erinnerte sie sich. Die rote See überflutete ihr Gesicht vom Nacken her. Ein Grübeln trat in ihre Augen, während der Kutscher noch wartete. Und während das Gesicht an der Saalwand plötzlich zum Greifen deutlich wieder vor ihr zu stehen schien, mit diesem strahlenden und wissenden Blick, den sie ewig schon gekannt hatte . . . »Bahnhof Friedrichstraße!« sagte Amey zu dem Kutscher. – – – – – – – – – –

*           *
*

Seit Tagen drückte ein dumpfer Nebel über Berlin. In den Vorstädten war er milchig und grau, nach dem Innern der Stadt zu von einem schweren rauchigen Gelb. Wie eine Schanze türmte er sich zwischen dem Firmament und der Stadt. Jeder Atemzug, jede Ausdünstung, jede Träne und jede Gier, alles ballte sich zusammen unter dieser lastenden Decke. Die geheimnisvolle Atmosphäre der Weltstadt, voll ungezählter Leben und dennoch gespenstisch, die Großstadtnacht, die von Schlaf nichts weiß, stand auf den Straßen. Amey sah das flutende Drängen. Etwas in ihr zog sich zusammen und wich zurück. Etwas andres lockte und rief. Amey stieg aus.

»Ich bin nicht mehr Amey von Hellberg«, dachte sie. Ob es allen so ging, die jetzt hier waren? Es schien noch stärker als am Tage, dieses Gefühl, das Berlin ihr immer einflößte: dieses Sich-vollkommen-verlieren. Sie hatte einen Moment gezögert, als die Pferde sich rührten. Etwas wie Ermattung war in ihren Knien. Aber als die Empfindung des Sichverlierens über sie kam, wurde sie plötzlich ganz ruhig. Als ob dies alles sie selber gar nicht mehr beträfe. Ihr Ausdruck entspannte sich. Sie schritt wie in ihren heimatlichen Wäldern, die den Hellbergs gehörten seit Hunderten von Jahren. Wie die Herrin ging sie, die mit allem verwurzelt ist und von allem ein Teil und dennoch ausgesondert und von einem Letzten geschieden.

Ob Onkel Rhaban einmal hier war um diese Zeit? – Wahrscheinlich. Es schien so üblich. Sie hatte hin und wieder Andeutungen gehört und hatte manches gelesen in alten und neuen Büchern. Aber eins wußte sie gewiß: er war hier gegangen, wie sie ging. »Er suchte nicht. Vielleicht, daß er gewahrte?« Amey ging weiter. In ihr Herrengefühl, in ihre eigne Fremdheit und in das Lächeln einer Erinnerung verschlossen. Sie war den Männern ausgeliefert. Aber irgendwie konnten sie nicht an sie heran. Die Glaswand war um sie her.

Nach und nach fing Amey an zu sehen. Die Auswärtigen erkannte sie. Wichtige und unbescholtene Leute in ihren kleinen Provinzstädten, Rechtsanwälte, Bauleute, Bankbeamte. Sie hatten nur eine Nacht, und sie machten hastige Überschläge, wie diese eine kostbare Nacht auszupressen wäre bis auf den letzten Tropfen. Sie erkannte jene, für die es keine Geheimnisse und keinen Schleier mehr gab und die andern, die noch fiebernd und voll heimlicher Schauder dem großen Rätsel und dem Unbekannten entgegen warteten. Sie wußte nicht, daß kaum einer, der mit seinen Blicken sie berührte, sich einer Erregtheit, eines Wunsches, einer Erschütterung oder einer Sucht erwehrte. Sie wußte nicht, daß viele, die ihr entgegengekommen waren, hinter ihr wieder umkehrten und auf der andern Seite der Straße oder dicht auf ihren Fersen, den Sammetmantel von der Farbe der Wälder zur Zeit ihrer Verwandlungen nicht aus den Augen ließen.

»Was ist?« dachte Amey. »Was ist mit mir? Bin ich eine Frau wie andre Frauen? Ich glühe nicht, ich schaudre nicht. Ich warte nur. Immer noch warte ich. Nein,« sagte sie zu sich selber, »der Mann, dieser Mann hier, er kann mir nichts offenbaren.«

Vor ihr ging einer. Er schien ohne Hals. Sein Kopf saß tief in gepolsterten Schultern. Die Rechte lag in einer rohen besitzenden Art auf dem Arm eines kleinen niedlichen Dinges von Mädchen. Die andere Hand trug er auf dem Rücken. Sie hatte Finger wie die Goldharken des Croupiers. Als das Gesicht, zu der Hand gehörig, sich zur Seite wandte, sah Amey die Säcke unter den Augen wie bei einem Truthahn und Wulstlippen. Aber das kleine blasse und hilflose Ding an seiner Seite, in dem billigen Mäntelchen und dem wahrscheinlich selbst aufgeputzten Hut? War da nicht Abwehr? Und dennoch irgendein geheimes und grausiges Gesetz? Amey verwirrte sich an den blitzenden Schauläden entlang. Ein paar Mädchen gingen vor ihr. Werfenden Schrittes. Sie hatten hochgeraffte Röcke und seidene, rauschende Unterkleider über stelzenhaften Stiefeletten mit unmäßigen Schnallen. Sie drückten die Brust heraus und wiegten sich in den Hüften. Unter ihren ungeheuren Blumenhüten flimmerten durch Atropin aufgerissene Pupillen. Der Stift hatte ihre mangelhaften Brauen vervollkommnet. Das untere Lid ihrer Augen war von der Natur gedoppelt, wie bei allen Priesterinnen der Aphrodite.

Amey hörte sie lachen, dieses künstliche, metallose und auffordernde Lachen, das ein Ziel sucht und sich selber hört. Sie erschrak. Dann sah sie andere. Scheue, mit Augen, die noch von einer Scham gehütet wurden. Angstvoll Wartende, denen der Mann nicht Lust, sondern Brot bedeutete. Und die, welche nach Zärtlichkeit verlangten, oder nach Taumel und Brünsten und silbernen Peitschen. Sie sah die freiwillig gekommen waren, die ein Schicksal trieb und die ganz Schamlosen und ganz Verzweifelten. – Sie fühlte ihr Herz sinken. »Bin ich entartet?« dachte sie. »Sind es uralte Instinkte, die mich jenen nahebringen?« Ihre Füße wurden schwer. »Nein! Nein!« Und plötzlich schien es ihr, als ob ein feines Klirren durch die gläserne Wand ging, die sie von den letzten Dingen schied. In dem Augenblick, als sie hilflos wurde und nicht mehr geschützt war in ihrem Unberührten – wurde sie angeredet.

Sie stand wie ersteint mitten im Menschenstrom. Entsetzen trat in ihre Augen. Das Gewühl um sie her fing an sich zu stauen. Sie sah etliche der verschminkten Gesichter mit aufdringlicher Neugierde sie anstarren, und sie empfand den Atem von Männern, die getrunken und geraucht hatten. Die Tränen traten ihr in die Augen.

Dem Mann, der sie angeredet hatte, stieg plötzlich eine feine Röte in die Wangen. Es war ein junges, anziehendes Gesicht. Nächte hatten schon Schatten unter die tiefliegenden Augen gemalt. Aber nicht Nächte dieser Art. Seine Blicke sprangen hervor wie auf Beute. Im nächsten Augenblick aber schon hatten sie sich zurückgenommen. Sie erschraken, staunten demütig, wurden schamvoll und bedrängt.

Amey empfand ihn plötzlich nicht mehr als Angreifer, sondern als Retter. »Ein Auto.«

Er verneigte sich.

Im nächsten Augenblick fühlte sie einen jungen starken Arm, der ihr Wanken stützte, wie sie einstieg.

»Verzeihung, gnädige Frau«, sagte jemand neben ihr. Der Tonfall hatte etwas Dringliches und schmerzhaftes, trotz der schamvollen Kargheit der Worte. Sie nickte. Sie lächelte. Dieses zärtliche Lächeln, das jedem Mann den Sinn verwirrte, und von dem sie selber nichts wußte.

»Gehen Sie heim«, flüsterte sie. »Wir verirrten uns.« Aber ehe sie noch vollendete, kam ein Blick zu ihr . . .

»Darf ich nie wieder . . .?« Jemand stammelte, über ihre Hand gebeugt.

In demselben Augenblick erklang die Hupe. Das Auto kurbelte an, und ehe Amey Antwort geben konnte, brauste es durch den Nebel, der gelb wie Bernstein und voller Geheimnisse war. Aber während um Ameys Lippen noch das zärtliche Lächeln träumte, sah sie noch einmal drüben auf der Straße das blasse, kleine hilflose Ding in dem billigen Mäntelchen. Die Finger wie Goldharken lagen brutal und besitzerisch auf dem kindlichen Arm. – »Wie feige ich bin«, klagte plötzlich Amey. Sie verschlang schmerzhaft ihre Hände und fühlte ihre Tränen stürzen. »Vielleicht hab' ich nicht viel Böses getan bisher. Aber – oh – wieviel Gutes zu tun habe ich unterlassen.«

Am anderen Morgen war Ameys Kopfkissen naß. Diese Träume waren grausig gewesen. Ging es nicht um das kleine Mädchen in ihren Träumen? – Aber dann war da plötzlich ein Gesicht. Amey versonnte sich, als sie versuchte, es sich vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Aber sie empfand es wie die Wärme ihres Blutes und wie das Herz ihres Herzens. Sie lag plötzlich weit wach. Der Mann, der sie angesprochen hatte? . . . O nein. – –

»Im weißen Schnee . . .
Im grünen Klee« . . .

Sie sang beim Ankleiden? In einem fremden Hause? Sie errötete und lachte klingend und leise. Sie ging auf und nieder in ihrem Zimmer, wie in ungeduldiger Erwartung eines Glückes. Plötzlich blieb sie stehen. »Ihr Armen!« sagte sie. Ihre Stimme bebte in leidenschaftlicher Ergriffenheit. – »Ihr Ärmsten!« Aber immer blieb eine starke jubelvolle Hoffnung bei ihr. –

Nachher klopfte es. Das Zimmermädchen brachte Amey ihre Post. »Oh!« Ein riesiges Kuvert, flammend rot, als hätte die Hölle eine Papiermanufaktur aufgemacht, mit der eigensinnigen Kinderschrift Lydias. Ameys Brauen zogen sich gequält und ergeben zusammen. Als sie gelesen hatte, tauchte sie ihre Fingerspitzen noch einmal in ihr Waschwasser. »Komm heut«, schrieb Lydia, » ich beschwöre Dich. Du mußt. Thomas Vernow kommt heut.«


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