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Februar 1927
(Jeßner dementiert.) Anläßlich der scharfen Kritik, die Leopold Jeßners Hamlet-Inszenierung im Berliner Schauspielhause als Parodie des Wilhelminischen Hofes erfahren hat, entgegnet Jeßner in der ›Voss. Ztg.‹ Eine Parallele zwischen dem König Claudius und dem letzten preußischen König ist selbstverständlich niemals beabsichtigt worden. Auch nur die Möglichkeit einer solchen Auffassung ist weder dem Regisseur noch einem seiner Mitarbeiter jemals in den Sinn gekommen. Wenn wirklich eine derart entwürdigende Taktlosigkeit beabsichtigt worden wäre, so hätte sie logischerweise schon von der ersten Szene an in die Erscheinung treten müssen. Daß dies nicht geschah, beweist, daß es sich hier nicht um die porträthafte Darstellung eines angeborenen körperlichen Leidens handeln konnte. Zum Ausdruck kommen sollte vielmehr der durch das »Schauspiel« herbeigeführte körperliche Verfall als Folge eines seelischen Zusammenbruches. Nichts in meiner Vergangenheit berechtigt dazu: mir einen so schmählichen Verstoß gegen das natürlichste Taktgefühl zuzumuten.
Oder, sagen wir, zuzutrauen. Aber höher geht's auf der Treppe schon nicht mehr. Es handelt sich also nicht um einen angeborenen, nur um einen erworbenen Körperfehler. Der seelische Zusammenbruch des Königs Claudius äußert sich in plötzlicher Armverkürzung. Doch nehmen wir an, daß dieses Gebreste ihm bis zur Schauspielszene wirklich nicht angehaftet hat – nicht bloß nicht bemerkt wurde –: warum hat dann der expressionistische Regieschwindel, der den seelischen Zusammenbruch in physischer Veränderung darstellt, just zum Ausdrucksmittel des verkürzten Arms gegriffen? Als ob die entwürdigende Taktlosigkeit darin bestände, daß der Geburtsfehler, und nicht darin, daß das Gebreste vorgeführt wird. Daß auf der Szene des neuzeitlichen Regieunfugs wie mit den Gliedmaßen der Dichtung auch mit denen der Figuren verfahren werden kann, das darf man schon glauben, und was jeder Betrachter jener schandvollen Hamletfratze gesehen hat, kann von keiner Verwahrung des Herrn Jeßner bestritten, höchstens von Furcht oder Reue aus der Welt geschafft werden. Herr Jeßner versuche es, mit der Erklärung hervorzutreten, daß der seelische Zusammenbruch in der Schauspielszene heute noch auf dieselbe Art körperlichen Verfalles dargestellt wird wie in der Erstaufführung. Aber was bedeutet derlei »Symptom« gegen den Zusammenbruch des deutschen Theaterwesens! Der ehemalige Hausherr des preußischen Staatstheaters, den man gezwungen ist in gemeinsamen Schutz mit Shakespeare zu nehmen, hat die deutsche Welt nicht so zugrunderegiert, wie Herr Jeßner und seinesgleichen die deutsche Bühne.
Unlängst, an einem Sonntag, mußten die ältesten Leser das Folgende wahrnehmen. Zum erstenmal, nicht etwa in der Gerichtsrubrik, nein in der Literaturrubrik – in der Besprechung einer Novelle von Berthold Viertel durch Herrn Zweig – lasen sie, der Autor habe unter anderen Werken
eine fanatische Bekenntnisschrift für Karl Kraus
geschrieben, und ferner, der Held seiner Novelle werde
in einem Abenteuer mit einer kleinen Hure
vorgeführt. Das war etwas viel auf einmal. Es schmeichelt mir, daß bei der ersten Gelegenheit, da sich die Neue Freie Presse das Wort »Hure« erlaubte – obschon sie vielleicht bei einer »kleinen« Hure unliebsame Gedankenverbindungen für ausgeschlossen hält –, auch meinen Namen über die Lippen gebracht hat. Sie weiß, daß ich stets gerade auf diesem Gebiete den Kampf gegen soziale Vorurteile geführt habe und wo es stärkere Journalisten gibt, immer auf Seite der schwächeren Huren gewesen bin. Aber für die treuen Leser, welche die Traditionen des Blattes schon durch die Seifenannoncen über dem Leitartikel durchbrochen fühlen, war es sicherlich ein Chok. Handelt es sich doch um Gebiete des Wissens, die nicht ohne behutsame Aufklärung, nicht allzu jäh erschlossen werden sollten. Jenen nun, die sich über die durchgreifende Neuerung entrüsten dürften, wird die Neue Freie Presse schon mit dem Mut ihrer Überzeugung und mit dem Blattgefühl, das eben auch eine Anpassung an den Zeitgeist vorschreibt, zu begegnen wissen. Es werden sich aber voraussichtlich Gruppen bilden, und was wird sie mit solchen Lesern anfangen, die überhaupt nicht verstanden haben, was ihnen ihr Blatt da auftischt? Es verlautet denn auch bereits, daß aus dem Lager der ältesten Biache, die nie anderes als die Neue Freie Presse gelesen haben, lebhafte Anfragen eintreffen: »Fanatische Bekenntnisschrift für Karl Kraus? Erstens, wer ist das, was heißt das? Bekenntnisschrift für einen Unbekennten? Was hat er selbst für Schriften geschrieben? Zweitens, wie ist das zu verstehn mit Hure? Was ist das, was heißt das? Schreibt sie fürs Blatt?« Denn zu Rebussen sind sie nicht aufgelegt, und schließlich muß man zugeben, die Neue Freie Presse hat sich vielleicht ein bißl übereilt.
Juni 1927
Dem Wahrheitssucher bliebe nichts übrig, als in alten Jahrgängen der ›Arbeiter-Zeitung‹ und der ›Reichspost‹ nachzuschlagen, aus der Zeit, wo die städtischen Versorgungsanstalten noch christlichsozial verwaltet waren, um zu finden, daß damals was links gedruckt ist, rechts, und was rechts gedruckt ist, links zu lesen war – »weil«, nach Grillparzer, »was Brot in einer Sprache, Gift heißt in des andern Zunge, und der Gruß der frommen Lippe Fluch scheint in dem fremden Ohr«; (das ruft diesen Schmerz empor). Ist, was heute rechts zu lesen, Wahrheit, so ist es doch Lüge, wenn man bedenkt, daß diese Überredung der Nächstenliebe – wir wollen sie Samariterror nennen – ganz bestimmt auch im Dienste der christlichen Politik geübt wurde oder würde; und ist, was heute links zu lesen, Lüge, so liegt ihr doch die Wahrheit zugrunde, die den Vorgang selbst zu einem Greuel der Menschheit macht. Denn deren ganzer Jammer und nicht bloß der von Invaliden und Tuberkulösen faßt einen an, der Ekel vor einem politischen Handel, der selbst dem Tod noch Stimmen abfängt: wenn man erfährt, daß Ärzte dem leidenschaftlichen Verlangen nicht gewehrt haben, auf Autobussen und Tragstühlen zum Bekenntnis geschleppt zu werden, und daß dieser äußerste Beweis für die Allgemeinheit des Wahlrechts noch als sentimentales Fibelstück Verwendung findet. Die Demokratie hat das Glück der Spalierbildung durch den Stolz ersetzt, einmal selbst »schreiten« zu dürfen, zur Urne, und wer's nicht mehr kann, wird eben getragen, da er doch die Empfindung des dulce et decorum nicht entbehren möchte, sich für Herrn Mataja oder für Herrn Eldersch zu entscheiden, und wenn's in eigener letzter Stunde wäre. Und gewiß ist er ja noch immer beneidenswerter als der Herr Volksvertreter, der's vielleicht den Hundertzwanzig aus Alland zu verdanken hat, daß er es geworden ist.
Beruf und Gesinnung.
Eine Leserin schreibt uns: »Die Notiz in der Arbeiter-Zeitung vom Donnerstag über den sozialdemokratischen Chauffeur hat mir ein Erlebnis, das ich dieser Tage hatte, aufgeklärt. Es läutete nämlich an meiner Wohnungstür und als ich öffnete, stand ein Mann draußen, der mir einige Drucksachen mit den Worten: »Das können S' gleich in den Ofen stecken« in die Hand drückte. Als ich dann die Druckschriften ansah, merkte ich, daß es Wahlaufrufe und Stimmzettel der Einheitsliste waren. Ich war natürlich sehr verwundert über den sonderbaren Agitator. Aber jetzt ist es mir klar: der Mann hat die Verteilung der Einheitsliteratur, für die er bezahlt wurde, pflichtgemäß besorgt, aber als pflichtbewußter Sozialdemokrat hat er den Empfängern empfohlen, die Schandschriften zu verbrennen.«
Aber ich glaube mit der Vermutung nicht fehlzugehen, daß, wenn die ›Reichspost‹ eine analoge Zuschrift einer auf die Grenze von Beruf und Gesinnung so feinfühlig bedachten Leserin gedruckt hätte – also zum Ruhm eines sozialdemokratisch tätigen, jedoch christlichsozial gesinnten Agitators, der innerhalb der übernommenen Pflichtleistung deren Zweck sabotiert –, daß dann die ›Arbeiter-Zeitung‹ nicht versäumt hätte, den Mann einen Lumpen zu nennen. Und sie hätte – aus einem Moralbewußtsein, das nicht bloß durch die Schädigung der eigenen Sache provoziert wäre – die Zeitung wie die liebe Leserin belehrt, daß die »Verteilung«, für die der Mann bezahlt wurde, keineswegs »pflichtgemäß besorgt« sei, wenn ihr Sinn durch die Warnung vor dem Verteilten ins Gegenteil verkehrt wird, daß die Verwunderung über den »sonderbaren Agitator« natürlich und berechtigt war, und daß es auch einen Uriasbrief für den Absender gibt, wenn der ungetreue Bote seinen Inhalt entwertet. Gewiß soll sich die Gesinnung vom Beruf nicht beeinträchtigen lassen; aber diese Freiheit hat sie, auch wenn grimmigste Lebensnot ihr ihn aufgedrängt hätte, doch nur außerhalb des Berufs, der, einmal übernommen, nicht von der Gesinnung beeinträchtigt werden darf. So hoch sie im Range der Lebensgüter stehen mag, höher steht doch wohl Treu und Glaube selbst in dem schlechtesten Handel, den zwei miteinander eingegangen sind. Die Verherrlichung des Betruges, welche Parteigesinnung immer sich durch ihn bewähren mag, taugt nicht zum Lesestück für die politische Fibel. Da tun wir nicht mit!
Die Formen parteipolitischen Hohns, in deren jeder an und für sich schon der Ekel der Wirklichkeit und der Ekel der Satire in einander übergehen, verwachsen im Zeichen Schönpflug-Chat roux zur kulturellen Einheit. Die durch nichts als durch Tendenz und Meinung beglaubigte Polemik weist ja tausend Fälle auf, in denen es ihr gelingt, dem Gegenstand des Abscheus Sympathien zu werben. So hat mir ehedem die Musketenironie über Jägerwäsche und Röllchen, die ihr doch geistig geradezu angewachsen waren, eben diese als das Kennzeichen einer höheren Zivilisation erscheinen lassen. Mit den Parteisatirikern – soweit sie mir nicht die abgeluchsten Vorstellungen und Klischees, wie »der junge Biach«, »Springinsgeld«, »Kasmader« u. dgl. bis zur Unkenntlichkeit verschandeln – verhält es sich nun so, daß einem die Wirklichkeit der einen Partei, die der satirische Gegner treffen will, wie auch die, die beide treffen wollen, eben dadurch rehabilitiert wird. Zu den entsetzlichsten Dingen des Wiener Lebens gehört für mich nebst dem Pupperl und dem Momenterl das »Ho-ruck!«. Aber als das Motiv brachialer Vorstellung eines Wahlsiegs, als das Schwelgen in der Sphäre eines Möbelpackertums, dessen Geistigkeit ja freilich die österreichische Politik durchaus erfüllt, ringt es selbst jenes scheußliche »Rrtsch – obidraht!« aus Luegers Zeiten nieder. Was ich gleichfalls nicht mehr lesen möchte, aber sicher noch oft lesen werde und was womöglich noch mehr peinigt, ist die satirische Verwendung einer Parole, die, so grauslich sie als Element der politischen Wirklichkeit ist, als satirisches Zitat den ihr anhaftenden Ekel noch steigert. Nämlich die Formel: »Darr Jud!« Es ist eine der Satirischkeiten eines Jargons, der überhaupt keine Verbindung mit dem ursprünglichen Wienertum mehr hat, außerhalb der neuwienerischen Welt völlig unverständlich, und atmet jenen pestilenzialischen Humor aus, der, nur im hiesigen Klima möglich und sich immer wieder auf »das Götz-Zitat« berufend, in dieser Perspektive ein eigenes Witzblatt erschaffen hat. Es ist geradezu ein Schulbeispiel für die Erscheinung, wie das satirische Klischee den Ekel des stofflichen Inhalts in sich aufnimmt. Geistiges Gemeingut der Parteien ist jetzt der »Zerspring«-Humor, den Wechsel des Wahlglücks zwischen Leopoldstadt und Ottakring begleitend. Den ›Wiener Stimmen‹ jedoch, deren Klang sich die österreichische Versammlungssprache sonst völlig angenähert hat, eignet als Spezialität der fettgedruckte Titel: »Die Partei Nobelschani«. Trostlos. Schon das Wort »Schani« könnte einen lebensüberdrüssig machen; was es mit einem »Nobelschani« für eine Bewandtnis hat, weiß vollends kein Europäer. Und nun gar die scherzhafte Anwendung auf eine politische Partei und in den Balkenlettern eines jener ausgelassenen Titel, die jetzt nicht nur jüdeln, sondern auch schon christeln. Oder was fängt ein Kulturmensch mit der Überschrift an: »Wählerfang mit Kotzen«, zumal wenn im Untertitel vom Gastwirtgewerbe die Rede ist. Da ihm die Wendung »jemanden mit der Kotzen fangen« nicht gegenwärtig oder nicht bekannt ist, reagiert er wohl im andern Sinne des Wortes. Ich meinerseits habe gewiß sprachlich viel zur Unübersetzbarkeit des Wiener Lebens und zur Abschreckung des Wiener Fremdenverkehrs beigetragen. Aber dergleichen geht über meine Kraft. Nur wenn ich es wieder zitiere, kann es zur Not seine Position im deutschen Schrifttum behaupten.
zur Beethoven-Feier:
Dem Mann maßlos wütender Wortgewitter, dessen Liebe den Nächsten mit der Peitsche Reinheit heischender Virtus striemte, wälzt Schicksalsfinsternis undurchdringliche Nebelschwaden vor des Hörganges Pforte. |
Beethoven wird taub. |
Das kann dem Leser, dem solch undurchdringliche Nebelschwaden vor des Hörganges Pforte gewälzt werden, auch passieren. Denn, wie sich der Erfinder dieser Sprache einst kürzer ausgedrückt hat: »Schälle täuben«. Wie dem immer sei, jedenfalls sieht man, daß er der Alte geblieben ist, daß er durch das schurkische Attentat, welches ihn zum Blutzeugen gegen diese deutsche Nachkriegswelt gemacht hat, nicht, wie das Gerücht behauptete, der Kraft verlustig ging, seine Satzgebilde zu formen. Bedauerlich genug, daß sich Gesundheit nicht anders ausdrückt, erfreulich, daß sie sich ausdrückt. Und man darf mir schon glauben, daß ich solche Gelegenheit zum Dementi mit einem positiven Gefühl benütze: auch als die zu einer menschlichen Anerkennung, die dem Manne gebührt, der für die sagenhafte deutsche Freiheit mehr getan, weil mehr gelitten hat, als alle diese Protestliteraten zusammen, die sich in Gruppen hervorwagen, um unter einen verständlicheren Leitartikel ihre Namen zu setzen. Ich habe es mir seit damals versagt, seine Arbeiten, die er fast nur mehr in Wien veröffentlicht, zu lesen, und sicher war es bloß um dieser Erklärung willen meinem Blicke verhängt, auf den einen, vollkräftigen Satz seiner Beethoven-Huldigung zu fallen.
Dieses ist von Werfel, für Mosse zu Ostern:
Der Fanatiker.
Wehleidig, wie noch immer nicht gesundet
Von langer Krankheit, schaut er müde drein.
Er wählt, abwesend, unter Näscherein,
Von denen ihm die süßeste nicht mundet.
Braun ist sein Aug' von Ekel untergrundet.
Ein graues Lächeln hängt wie Spinnweb fein
Im Runzelwerk: Die Welt ist so gemein!
Man hat ihn schon im Mutterleib verwundet.
Das Stichwort fällt! Der noch wie Uferweiden
Im Winde des Gespräches schlaff sich wand,
Hebt eine Stirn nun, steinern ausgespannt.
Das Kinn zielt scharf. Nun sollen andre leiden!
Schon blitzt, um uns ins Lügenherz zu schneiden,
Sein Brillenblick, der Glaserdiamant.
Man sagt, es gehe gegen mich. Ich wüßte nicht, wie er zu der Beobachtung gekommen wäre. Möglich, daß ich in der Zeit, da ich den Dichter in der Maienblüte meiner Sünden und seiner Begeisterung ein paar Mal an meiner Seite hatte, müde und wehleidig dreingeschaut habe. Das ist aber schon lange her und von Ekel untergrundet war mein Auge erst später, als sich das Erlebnis der Haßliebe an einem dieser Verehrer nach dem andern wiederholte. »Näscherein« und gar solche, die sich so pragerisch reimen, habe ich selten genossen, und richtig ist nur, daß mir bald die süßeste, welche man in Deutschland für Lyrik hält, nicht gemundet hat. Ich erinnere mich, daß ich etwa im Jahre 1913 nach dem Abendessen einige sogenannte »Scheidl«, die geradezu ein Gedicht waren, zu mir genommen, diese Gewohnheit aber zugleich mit dem Genuß der echten Werfel eingestellt habe. Es könnte nun sein, daß das Motiv der »fünfzehn Indianerkrapfen«, für das ich vergebens nach einem Anhaltspunkt in meinem Leben suchte, aus solchem Bezirk visionärer Eindrucksbildung – der Dichter sah mir auf die Lippen – in die Erpresserjournalistik gelangt ist. Daß ich mich je im Winde des Gesprächs mit Werfel wie Uferweiden schlaff gewunden haben soll, ist eine starke Übertreibung und vielleicht die hysterische Übertragung eines Jüngers, der sich damals im Mänadenzustand vor mir gewunden hat, bis er sich selbständig machte und mich nebbich überwand. Es kam, nach jener großen Zeit, da das Vaterland die Begeisterung für Görz verlangte, die Epoche des Sturms und Drangs auf den Bankverein, welcher sich aber auch nicht erobern ließ, hierauf spiegelmenschliches Besinnen, etliche Libretti mit und ohne Musik von Verdi, von dem »La donna e mobile« ist, und dazwischen öfter ein Gedicht, das meines Wesens Bild als das eines Fanatikers, eines Torquemada, kurz als das eines Menschen zeichnete, der keine Gefühlsschlamperei in der Literatur duldet. Aber immer so, daß es etwas unbestimmt war und auch gegen einen andern gehen konnte. Ich habe natürlich gar nichts dagegen, daß es sich auf mich bezieht, wiewohl manches nicht zu stimmen scheint. Das mit dem Brillenblick, dem Glaserdiamanten, ist gewiß nicht richtig. Ich trage wohl eine Brille, weil mein Auge kurzsichtig ist, aber mein Blick ist es keineswegs. Nicht die Brille, die nur bei Erfassung äußerer Mißeindrücke hilft, macht meinen Blick zum Diamanten, der das Gläserne bricht; sondern von Natur schneidet er ins Lügenherz. Daß der Dichter sich zu einem solchen bekennt, um meine Unerbittlichkeit anzuklagen, ist vielleicht eine Fleißaufgabe zu dem Gerichtstag, den er über sich zu halten pflegt. Dennoch möchte ich ihn, streng, aber gerecht ermahnen, in seinem Läuterungsbedürfnis nicht zu weit zu gehen. Ich fühle mich nicht getroffen, wohl aber belästigt, und er sollte sich doch ein Beispiel an mir nehmen, der sich so lange als nur möglich zurückhält, jenen Gerichtstag über sich zu halten, durch den hervorkäme, welcherlei Menschlichkeiten ich literaturreif gemacht habe. »Nun sollen andre leiden!«: es ist einfach nicht wahr, daß dies mein Wunsch ist, und ich habe es mein Lebtag immer so lange vermieden, als es mit einem öffentlichen Interesse nur irgend vereinbar war. Diese Abspiegelungen meiner Wesensart, wie sie sich vazierenden Verehrern darstellt, diese Versuche, mit mir bei Mosse oder wo immer in Sonetten anzubinden, wünsche ich ehestens eingestellt, nicht weil sie mich betreffen, sondern weil sie der klägliche Ausweg eines Betroffenen sind, der zugleich nicht dichten und nicht polemisieren kann. Wie rein sachlich in künstlerischen Dingen ich urteile, rücksichtslos bis zum Fanatismus, wenn es sich um Verse handelt; wie da den Glaserdiamanten – schon blitzt er – kein Mitleid abhält, andere leiden zu lassen, beweise ich allerdings gerade in diesem Fall. Denn wiewohl das Gedicht offenbar gegen mich geht, bringe ich doch die Objektivität auf, zu erklären, daß es ein Dreck ist.
Das Verkehrsministerium hat, zur Verständigung im Verkehr und zur Verkehrung des Verständigen, aber damit halt die Zeit vergeht, angeordnet, daß künftig der Plural von »Wage« »Waagen« geschrieben werde, um diese ewigen Verwechslungen mit dem Plural von »Wagen«, der nach wie vor so geschrieben werden soll, tunlichst hintanzuhalten. Hierauf hat sich der Lokalspötter der Neuen Freien Presse gemeldet, darauf ein seriöser Leser, der die ministerielle Maßnahme verteidigt, da insbesondere bei »Kinderwagen« eine Verwechslung sehr leicht passieren könne. Und dann erschien das Folgende:
[Wagen und Waagen.] Ein Leser schreibt uns: Der Verfasser der Zuschrift unter obiger Marke im vorigen Samstagabendblatte hat unrecht; die Mehrzahl des Wortes Wagen in der Bedeutung eines Vehikels hat den Umlaut, es heißt also nicht die Kinderwagen sondern die Kinderwägen. Das Doppel-a in den Kinderwaagen ist also von diesem Standpunkte aus nicht nötig.
Das druckt die Neue Freie Presse, ohne mit der Wimper zu zucken. Nun gibt es allerdings eine deutsche Nebenform des Plurals von Wagen: Wägen, wie Mägen und Kragen, welche aber die jüdische Hauptform ist. Daß diese dem Verfasser der Zuschrift, die der Neuen Freien Presse imponiert hat, vorschwebt, beweist die apodiktische Hinstellung der Norm. Es ist fast so, wie wenn in einen Streit, ob man eine oder »auf eine« Sache zu vergessen habe, sich das Arbitrium mischte, daß man »an« sie zu vergessen hat. Zum Glück aber hat sich schließlich noch ein Belesener gemeldet, der mit Hinweis auf den »Kampf der Wagen und Gesänge« bei Schiller und von diesem Standpunkte aus die Kinderwägen in die Leopoldstadt zurückrollte. Worauf sich freilich wieder das Ministerium melden könnte, um darzutun, wie gerade dieses Zitat die Reform rechtfertige. Denn wer in Wien kennt sich schon aus, was für Wagen auf Korinthus' Landesenge gemeint sind.
(Die Behauptung, daß in der ›Neuen Freien Presse‹ Artikel erscheinen könnten, die irgendwelchen persönlichen Gefälligkeiten entsprechen würden, ist so lächerlich, daß sie wohl kaum einer besonderen Widerlegung bedarf.
Anm. d. Red.)
Nein, aber auch auf so was zu verfallen!
Mai 1929
Bln-Lichterfelde, 15. September
An Karl Kraus, Wien.
Es kann Ihnen nicht ganz gleichgültig sein, von einem Abseitsstehenden zu erfahren, in welcher Weise u. wieweit hier in Berlin auf Ihre September-Fackel hin Resonanz erfolgte. Selbstverständlich kann ich nur von eigenen Erfahrungen u. denen eines engeren Bekanntenkreises sprechen, möchte also nicht verallgemeinern.
Soweit mir deutlich, hat kein ehrlicher Deutscher je Alfred Kerr's Art, seine Ärmlichkeiten u. Erbärmlichkeiten ernst genug genommen, um ihm überhaupt die Achtung einer Auseinandersetzung zuteil werden zu lassen.
– Ich glaube deswegen, Sie überschätzen das, was Sie so fanatisch bekämpfen. Man hat oft den Eindruck, als boxten Sie in einen weichen Brei; als fänden Sie überhaupt keinen Widerstand, der für einen Mann Ihres Formates »lohnte«!
Man wünscht Ihrer wahrhaft kritischen Kraft u. Fähigkeit einen größeren Gegner; einen, der eine anständigere Art des Kampfes verbürgt. Sie kommen bei der Kleinheit u. Unfähigkeit Kerr's, ein ethisches Niveau zu halten, selber in Gefahr, Ihre Stimme u. stahlharten Blick an ein Figürchen zu verlieren, das all dessen nicht würdig ist, nicht lohnt, u. – last not least – es nicht erträgt. – –
Lieber Karl Kraus, Sie werden mir die Offenheit, die Sie selbst von jedermann verlangen, nicht übelnehmen u. auch nicht läßlich belächeln.
Ich wiederhole: Kerr's Beamtung entspricht nicht Ihrer Bemühung. Dieses Mißverhältnis ist für den unparteiisch Lesenden das eigentlich Ärgerliche, u. nicht das Ding der Polemik an sich. – –
Die gelegentlichen mageren Feuilletons mögen von einer gewissen Lesersorte (die alles andere als auserlesen ist) goutiert werden.
Die sind nicht zu bekehren; u. auf sie kommt es nicht drauf an.
Aber wer Ohren hat, zu hören u. ein gesundes Hirn, der »weiß« ohnedies. Mit der Sprache kann ja gelogen werden, die Sprache selbst aber lügt nie.
Das weiß auch Kerr. Darum sein Versteckenspiel in Klammern u. geklaupten Stil; daher seine zehnfache Not, aus der er hundert Tugenden zu machen sucht; deswegen seine Maske der Offenheit u. Öffentlichkeit.
Und doch:
auch dieser Mensch, der sich sicher verschiedentlich unangenehm bloßgestellt hat, ist nicht so radikal zu beurteilen, einzuteilen, aufzuteilen u. zu verurteilen, wie Sie es versuchen.
Wir kennen doch von Kerr wirklich echte, menschliche Töne u. zumindest einen guten Willen zu sauberer Gesinnung – –
Man vermißt Ihrerseits ein Wort über diese Seite der Gestalt; die andern liegen so offenbar u. so leicht verwundbar, daß man ihm vor einem Kampfe ein Schild reichen sollte, sich zu decken; nicht so sehr seinetwegen, als um des Kampf-Niveau's wegen.
Jeder Haß ist weicher Brei.
Aber die Frage des Mutes, was »meinte« dieser Mensch, wenn er so sprach, was »meint« überhaupt sein Dasein, ist nicht von Ihnen gestellt worden.
Schließlich leugnen Sie (wie auch Kerr) die Tatsache, daß aller Irrtum, jeder Irrtum, ja sämtliches Halb-, Falsch- u. Besserwissen »Weg« ist; daß sehr wohl ein Weg-Stück, das ich heute nicht mehr gehen würde, gestern noch wahr u. ehrlich war. Es ist leicht, Widersprüche aus solcher »Bewegung« herzuleiten u. mit langem Finger darauf zu weisen.
Kennen Sie Otto zur Linde aus Bln-Lichterfelde? – –
Auch ich weiß nicht, was mir die Berechtigung gibt, diesen völlig improvisierten Brief zu schreiben; Ihnen, dem viel Älteren u. Erfahreneren. Vielleicht die innere Nötigung, in geistigen Dingen Stellung zu nehmen. – – Wo ist eine Stimme u. adliger Wille? Sie haben beides. Ich glaube, Ihre besten Leser erwarten von Ihnen weniger »Antworten auf Antworten«, sondern neue, tiefere Fragen um wesentliche Dinge. Aufrichtig Ihr . . .
Wien, 25. September
Sehr geehrter Herr!
Es ist überaus dankenswert, daß Sie Herrn Karl Kraus erfahren lassen, in welcher Weise u. wieweit in Berlin auf die September-Fackel hin Resonanz erfolgte. Wiewohl Sie sogleich einschränkend fortsetzen, daß Sie selbstverständlich nur Ihre Meinung u. die Ihres engeren Bekanntenkreises wiedergeben können, so halten Sie doch Ihre Aufschlüsse für so wichtig, daß Sie mit Recht die Erwägung beiseite lassen, ob er nicht vielleicht auch schon andere Mitteilungen, entgegengesetzter Art empfangen habe, aus denen er gleichfalls erfahren konnte, in welcher Weise und wieweit in Berlin Resonanz erfolgte. Die Ihre hat entschieden den Vorzug, daß sie Argumente beibringt, die er in dreißig Jahren noch niemals gehört hat. Da ist vor allem der Einwand der Geringfügigkeit des Themas und der Überschätzung des bekämpften Gegners. Der Herausgeber der Fackel kann Ihnen gar nicht genug danken, daß Sie ihn endlich darauf aufmerksam gemacht haben. Aber wenn er in diesem Fall noch für seine Verirrung geltend machen könnte, daß er es doch eben auf das Mißverhältnis zwischen der Geltung einer wirkenden Null u. deren Nullität abgesehen hatte, so belehren Sie ihn, daß ja den Herrn Kerr in ganz Deutschland noch nie jemand ernst genommen habe. Kein ehrlicher Mann habe seinen Ärmlichkeiten u. Erbärmlichkeiten bisher überhaupt die Achtung einer Auseinandersetzung zuteil werden lassen. Vor diesem Faktum, welches sich natürlich nicht etwa daraus erklärt, daß es so wenig ehrliche u. mutige Leute in der deutschen Literatur gibt, können die Huldigungen, die sämtliche führenden Geister Deutschlands kürzlich dem Kerr zuteil werden ließen, und die Macht, die er über die ganze Theaterwelt ausübt, entschieden nicht in Betracht kommen. Sie haben nun einmal den Eindruck, als werde hier in einen weichen Brei geboxt. Damit haben Sie gewiß recht, und der Eindruck muß nicht einmal darauf zurückzuführen sein, daß durch den Angriff etwas, das nie Konsistenz hatte, coram publico in Brei verwandelt wurde. Vielmehr dürfte der Mißgriff des Angreifers darin bestehen, daß er gewähnt hat, vor der geistigen Welt erst darstellen zu müssen, daß sie einen Brei für Bergkrystall halte, während sie in Wahrheit die Beschaffenheit längst erkannt hat und nur aus irgendwelchen Gründen es nicht wahr haben will oder sagen wir aus Feigheit unterlassen hat, es zu sagen. Sie bedauern, daß der Angreifer hier keinen Widerstand findet, der für einen Mann seines Formates lohnte, daß er seine Stimme u. stahlharten Blick an ein Figürchen verliert, und wünschen seiner wahrhaft kritischen Kraft u. Fähigkeit einen größeren Gegner. Er wäre Ihnen für umgehende Angabe der Adresse verbunden. Sollte ein solcher wider Erwarten im heutigen Geistesleben vorhanden sein, so besteht freilich die Gefahr, daß vor der anerkannten Größe des Gegners die Gegnerschaft verschwindet. Aber Sie meinen es offenbar menschlich sehr gut mit dem Herausgeber der Fackel, dem Sie zu einer anderen Weltanschauung zureden wollen und der dankbar schon in der Ansprache »Lieber Karl Kraus« die Wärme des Mentors spürt. Wohltuend berührt dabei auch die Bescheidenheit, mit der Sie zugeben, daß Sie einen viel Älteren u. Erfahreneren beraten, nicht wissend, was Ihnen die Berechtigung gibt, diesen völlig improvisierten Brief an ihn zu schreiben. Er weiß es leider auch nicht, aber er kann Sie darüber beruhigen, daß es das eben im Leben eines Polemikers gibt, der als Zubuße zu seiner großen und planvollen Arbeit auch auf jede Improvisation vorbereitet sein muß. Von Übelnehmen oder gar läßlich Belächeln, wie Sie es fürchten, kann gar keine Rede sein. Warum sollte denn nicht auch der Erfahrenere empfänglich sein für Argumente von so überraschender Neuheit, wie es die Ihren sind? Wenn sich der erwartete Erfolg des Insichgehens nicht sogleich einstellt, so liegt der Grund in etwas anderem. Das Problematische Ihrer Belehrung besteht ausschließlich in einer schwer leserlichen Handschrift, die gerade den Weg zu den wertvollsten Erkenntnissen verrammelt. Mit Mühe war ihr eben noch zu entnehmen, daß die Berliner Leser der Fackel nicht so sehr das Bedürfnis haben, Aufschlüsse über Herrn Kerr zu erhalten, als neue, tiefere Fragen um wesentliche Dinge, die dem Herausgeber der Fackel dann wahrscheinlich aus Berliner Leserkreisen beantwortet würden. Was den Kerr betrifft, so wiederholen Sie kategorisch: »Kerrs Beamtung entspricht nicht Ihrer Bemühung«, und hier ergebe sich ein Ihnen ärgerliches Mißverhältnis. Wie schade! Und der Polemiker hatte, ahnungslos wie er in den Verhältnissen der deutschen Publizistik ist, gewähnt, er habe erst das Mißverhältnis zwischen einer Nichtswürdigkeit und deren Beamtung als des ersten und maßgebendsten Kritikers aufzudecken. Sie sagen nun mit so glücklichem Ausdruck von den gläubigen Lesern des Herrn Kerr: »auf sie kommt es nicht drauf an«. Was aber die Sprache betrifft, in deren Geheimnisse Sie den Herausgeber der Fackel einführen, so belehren Sie ihn in Bezug auf den Kerr: »mit ihr könne gelogen werden, sie selbst aber lüge nie«. Was so viel besagen soll als: daß jeder bessere Mensch in Deutschland ohnehin schon weiß, wie es mit dem Kerr bestellt ist. Das sagen zwar immer jene, die es erst aus der Fackel erfahren haben, doch wir wollen hoffen, daß es bald auch wahr sein wird. Das Erfreulichste an Ihrem Zuspruch ist aber, daß sie plötzlich »Und doch« ausrufen, um bei diesem Grad schärfster Erkenntnis auch die guten Seiten des Angegriffenen hervorzuheben, nicht ohne den Schmerz, solche Gerechtigkeit beim Angreifer zu vermissen. Der Vorwurf jedoch, daß in der Polemik die wirklich echten, menschlichen Töne Kerrs u. zumindest sein guter Wille zu sauberer Gesinnung zu kurz gekommen wären, ist insofern unbillig, als ja gerade seine pazifistische u. weltbürgerliche Sinnesart hervorgehoben wird gegenüber seiner gelegentlichen Neigung, den Feinden zur Ernährung schimmelfeuchtes Stroh zuteil werden zu lassen u. noch Rheumatismus im Popo. Außerdem könnte man doch auch nicht sagen, seine wirklich echten, menschlichen Töne seien nicht anerkannt worden, als er dem Amtsgericht Charlottenburg den Aufruf des Tiroler Antisemitenbundes gegen den Herausgeber der Fackel unterbreitete und gewissenhaft zu bedenken gab, »ob Antisemitismus gegen Kraus mitsprach oder nicht«. Während dieser nun alles getan zu haben glaubte, wenn er die Individualität im unverkürzten Abdruck ihrer eigenen Werke sich entfalten ließ, erkennen Sie eben darin einen Akt der Ungerechtigkeit. Ja, Sie wünschen im Grunde, er hätte, wo der Unwert einer Erscheinung wie des Kerr ohnedies zu Tage liegt, mehr deren Wert hervorgehoben. Demnach stellt sich heraus, daß der Kerr doch eigentlich ein größerer Gegner ist als es zuerst den Anschein hatte, ein solcher, den Sie dem Herausgeber der Fackel wünschen, ja dessen positive Qualitäten die Gegnerschaft verstummen machen könnten. So käme man allmählich zu der Einsicht, daß dies die richtige Antwort auf die Schurkereien der Schriftsätze gewesen wäre. Vollends vermissen Sie die Untersuchung: »was sein Dasein meint«. Mit dieser Forderung betreten Sie freilich ein Gebiet der Lebensweisheit, dessen Erschließung möglicherweise bis zu Steiner, wenn nicht gar bis zu Keyserling führt und auf den Polemiker zunächst verwirrend wirkt, freilich nicht ohne jede Gewähr, daß sich die guten Folgen noch einstellen werden. Als besonders eindrucksvoll empfindet er heute schon die Mahnung, nicht Widersprüche aus solcher Bewegung herzuleiten u. mit langem Finger darauf zu weisen. Indem wir der Hoffnung Ausdruck geben, daß Sie damit nicht auf das Plagiat an der Apokalypse anspielen wollen, zeichnen wir mit vorzüglicher Hochachtung
Der Verlag der Fackel.
Das ›Neue Wiener Journal‹ hat in der jüngsten Zeit mir gegenüber einen Ton der Hingebung angeschlagen. Das ist die Folge strenger, aber gerechter Massage, die ich ohne Ansehn der Partei und Konfession allen besseren Herren von der Presse angedeihen lasse und deren Wirkung sich bald auch am ›Abend‹ erweisen wird. Man hat beobachtet, daß sie sich in meinem Salon die Türklinke reichen, man hat auch die Instrumente aufgefunden, aber der Polizei ist es nicht gelungen, sie zu saisieren, weil sie selbst damit bedient wird. Lippowitz jedoch hat in den letzten Wochen auch Schläge vom Schicksal erlitten. Es ist ihm zwar geglückt, dem Gerichtssaal, dem er grundsätzlich in sämtlichen Funktionen fernbleibt, auch als Zeuge zu entgehen und die Möglichkeit zu vermeiden, mit dem Schatten seines ermordeten Redakteurs konfrontiert zu werden. Für 100 Schilling Disziplinarstrafe, die er noch knapp vor der Verhaftung einer Inserentin hereinbringt. Aber die in Ehrendingen feinfühlige Wiener Gesellschaft empfindet es doch nachgerade als unbillig, den Bekessy zu entbehren und den Lippowitz zu haben. Mit Schober steht er auf dem Neckfuß. Der liefert ihm Erinnerungen an Bela Kun zum Ersatz dafür, daß er ihm die einzige anständige Rubrik entvölkern möchte. Doch es gelingt ihm nicht. Denn wenn er täglich der Opfer zweie schlachtet – und glaubet an Liebe und Treue –, wachsen am nächsten Tag viere dazu, und Lippowitz behält sowohl den Polizeipräsidenten als die Delinquentinnen. Der Vorteil für ihn besteht auch darin, daß er täglich in der Gerichtssaalrubrik daraufhinweisen kann, daß »nach den Erhebungen der Polizei mehr erotische als reelle Massage betrieben« werde, was jene Leser der Annoncenrubrik, die ganz sicher gehen wollen, beruhigt. Mehr als das Geschäft hat immerhin das Ansehen gelitten, da es sich ja mit der Zeit doch herumspricht, worin jenes besteht. Er macht darum jetzt öfter den Versuch, mich auf seine Seite zu bringen, etwa indem er mich als einen Autor hinstellt, dessen Stoff das Privatleben von Wiener Persönlichkeiten bildet. Natürlich perhorresziert er solche Befassung nicht anders, als er die Tätigkeit seiner Inserentinnen beanstandet, sobald sie verhaftet sind. Er hat Telegrammspesen aufgewendet, um sich die Nachricht eines Berliner deutschnationalen Blattes übermitteln zu lassen, und gehofft, mir mit Lettern faustdick wie die Lüge den Gefallen einer Reklame zu erweisen, auf die ich als affärensüchtiger Schlüsseldramatiker doch ausgehe. Die Wahrheit an der Nachricht war, daß eine Nichtaufführung der »Unüberwindlichen« Herrn Schober erwünscht und dieser Wunsch der Vater des Gedankens ist, daß diesbezüglich der Castiglioni mit dem Einspruch vorangehen könnte. Ich höre fern die großen Stiefel trappen; nur daß sie diesmal der andere anhaben soll. (Schober macht alles, ob aber Castiglioni persönlich hervortreten kann ist zweifelhaft.) Nein, die Preußen lieben zwar einstweilige Verfügungen, aber so schnell schießen sie doch nicht. Die Nachricht – an der bloß richtig war, daß ich »Berlin mit meiner Anwesenheit beglücke«, da ich tatsächlich die »Briganten« vortrug – hatte eine maßvolle, wenngleich energische Behandlung zur Folge:
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Neues Wiener Journal, 14. Februar:
Wir erhalten folgende Berichtigung: Im Vollmachtsnamen Karl Kraus' fordere ich die Berichtigung der in Ihrer Nummer 12.635 vom Freitag, dem 25. Januar 1929, Seite 5, mitgeteilten, meinen Mandanten betreffenden Tatsachen gemäß § 23 Preßgesetz. Sie berichten unter dem Titel
Karl Kraus' neueste Affäre.
Einspruch gegen die geplante Berliner Aufführung eines Schlüsseldramas aus der Wiener Gesellschaft,
daß Karl Kraus »bereits wieder in eine neue Affäre verwickelt« ist, indem »im Theater am Schiffbauerdamm als nächste Vorstellung im Studio die Satire ›Die Unüberwindlichen‹ unter der Regie von Bert Brecht vorbereitet« wird, »ein Schlüsseldrama schlimmster Sorte, in dem führende Persönlichkeiten der Wiener politischen und Finanzwelt verunglimpft werden«, und »nun von Seiten einer in diesem Stücke verspotteten Persönlichkeit Einspruch gegen die Aufführung erhoben und der Schutz, der nach dem reichsdeutschen Gesetz dem Privatleben gewährleistet ist, erbeten« wurde; »falls, woran nicht zu zweifeln ist, diesem Einspruch Folge geleistet wird, müßte die Premiere unterbleiben«.
Die in diesem Bericht enthaltenen tatsächlichen Behauptungen sind unwahr. Es ist unwahr, daß »Die Unüberwindlichen« ein Schlüsseldrama aus der Wiener Gesellschaft sind, gegen welches einer der darin vorkommenden Persönlichkeiten nach dem reichsdeutschen Gesetz der Schutz des Privatlebens gewährleistet ist. Wahr ist, daß den »Unüberwindlichen« Vorgänge des öffentlichen Lebens, wie die Ereignisse des 15. Juli 1927, die Angelegenheit der Leumundsnote für Emmerich Bekessy und dessen publizistische Beziehungen zu führenden Persönlichkeiten der Wiener politischen und Finanzwelt zugrunde liegen. Es ist unwahr, daß von Seiten einer in diesem Stücke verspotteten Persönlichkeit Einspruch gegen die Aufführung erhoben wurde. Wahr ist, daß ein solcher Einspruch nicht erhoben wurde. Es ist somit unwahr, daß Karl Kraus bereits wieder in eine neue Affäre verwickelt ist. Wahr ist, daß er im Zusammenhang mit der geplanten Aufführung der »Unüberwindlichen« in keinerlei Affäre verwickelt ist. Es ist unwahr, daß als nächste Aufführung im Studio des Theaters am Schiffbauerdamm »Die Unüberwindlichen« vorbereitet werden. Wahr ist, daß dieses Stück als übernächste Aufführung vorbereitet wird und als nächste Aufführung »Wolkenkuckucksheim«, ein Versspiel auf Grundlage der »Vögel« des Aristophanes von Karl Kraus.
Dr. Oskar Samek.
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Wir brauchen ein anderes Preßgesetz, dann werden solche Mißbräuche künftighin unmöglich sein. Kommentar überflüssig.
Der peinlich korrekte Abdruck und der bescheidene Zusatz sollten dem ›Abend‹ ein Beispiel sein. Natürlich brauchen wir ein anderes Preßgesetz, und ohne Zweifel ist die totale Überflüssigkeit eines Kommentars noch nie so anschaulich und so rührend in Erscheinung getreten. Selbst wenn nicht gleich darunter etwas unter der Spitzmarke:
e (Sind Sie niedergeschlagen,) abgespannt und nervös . . .
empfohlen wäre, so wäre ich versöhnt und bereit, da dies alles ja in der Schoberwelt spielt, Treue um Treue zu bieten. Denn hier bekundet sich eine Ergebung, die wirklich dartut, daß die Massage doch kein leerer Wahn ist. Und weit und breit nichts als Resignation. Was soll man denn machen, wenn Schober einen Bericht aussendet, die Assistentin habe gestanden, daß sie an den Kunden des Salons
sogenannte »Spezialmassagen«
ausführte? Nein, das kann Lippowitz doch nicht an dem Tag erscheinen lassen, wo es hinten ohnedies schon mit so viel Wehmut des Abschieds heißt:
Letzter
Tag
Spezialmassagen
Mir sei nur noch die Bitte gewährt, im Bunde der Dritte zu sein und sie fortzusetzen.