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Januar 1921
»Masseusen« und »Maniküren«
Exemplarisch bestrafte Gelegenheitsmacherinnen
Die immer krasser auftretende Sittenverderbnis in Wien –
sagt das Neue Wiener Journal
veranlaßt Polizei und Strafbehörde zu schärferen Maßnahmen gegen die sogenannten Masseusen und Maniküren, die unter diesem Titel in ihre »Salons« Herren locken, um ihnen dort Gelegenheit zum Verkehr mit Frauen und Mädchen zu bieten.
Ei, von allen Gelegenheiten, die das Leben dieser Zeit und dieser Stadt zu bieten haben, nicht die gefährlichste, und von einer Falle, in die man gelockt wird, könnte wohl nur die Rede sein, wenn die Herren das gefunden hätten, was verheißen war. Aber wie lockten denn jene? Wie erfuhren die Herren und ferner die Behörden davon? – –
durch verdächtige Zeitungsinserate, in welchen sich Frauenspersonen feinen Herren zur Massage oder zum Maniküren anboten – – unterhielt in der Salvatorgasse eine aus fünf Zimmern bestehende, luxuriös eingerichtete Wohnung und empfahl sich als »äußerst geschickte Maniküre«. Die Erhebungen bestätigten –
daß sie es war? Nicht doch, sondern
den Verdacht in vollem Umfang. Die Kupplerinnen nahmen von den Mädchen die Hälfte des Liebeslohnes in Anspruch.
Und wie viel mußten sie davon den Zeitungen geben?
Welch glänzenden Geschäftsgang sie aufzuweisen hatten, geht aus den vorgefundenen Aufzeichnungen hervor – – im August sogar 18.630 Kronen verdiente, wozu noch der Reingewinn aus den verabreichten Speisen und Getränken kam.
Nach Abzug der Kosten für die Zeitungsinserate.
– – daß sie nach den beschlagnahmten Gebrauchsgegenständen wie Ruten und Peitschen und dergleichen, widernatürlichen Umgang begünstigten – – Aber auch in der Wohnung der sauberen Schwestern selbst wurden Herrenbesuche empfangen – – sie suchten ihr schändliches Vorgehen so gut es ging zu beschönigen – – Die näheren Details aus der geheim geführten Verhandlung entziehen sich der Veröffentlichung.
Zum Unterschied von den Inseraten in derselben Nummer:
Masseurin für Herrschaften
– – – – – – – – – – – – –
Vorzügliche Masseurin
empfiehlt sich den ersten Kreisen
– – – – – – – – – – – – –
In der Rubrik, in der sonst »Material über die Fackel« angeboten wird. Das sittlich Gravierendste, was man dieser vorwerfen könnte, dürfte wohl die seit jeher vertretene Ansicht sein, daß gegenüber dem Ruf seines redaktionellen Teils die Masseusen-Inserate geradezu eine Rehabilitierung des Neuen Wiener Journals bedeuten. Die Gelegenheit, die es den Masseusen und Maniküren macht, ist die weitaus unbedenklichste von allen, die seine Mitarbeiter je hatten, und wer sich über Empfehlung des Neuen Wiener Journals nach Gebühr mit Ruten und Peitschen traktieren läßt, handelt moralischer als der Hermann Bahr, denn während jener sich einer öffentlichen Anregung zu einem privaten Vergnügen bedient, beichtet dieser am Sonntag dem Lippowitz, daß er unter der Woche einen Rosenkranz gebetet habe. Das ist mehr als widernatürlicher Umgang, das ist Exhibitionismus krassester Art, ganz abgesehen davon, daß man unmöglich glauben kann, ein alter Feuilletonist, der doch noch einen andern Ehrgeiz kennen muß, als zur Fußwaschung heranzureifen, habe wirklich in einer Salzburger Kirche ein Erlebnis gehabt, wenn er es in Wien an die große Glocke hängt. Es mag ja, da hier von einem geschlechtlichen Unterschied kaum gesprochen werden könnte, der Fall sein, daß aus Journalisten mit der Zeit alte Betbrüder werden, die zwar nicht mehr unterm Strich gehen, aber noch ein Tagebuch haben. Allein die Schaustellung ihrer Himmelfahrten, und noch dazu in einem Judenblatt, ist weit obszöner als die Handlungen, die das Neue Wiener Journal seinen Masseusen und Maniküren vorzuwerfen hat. Denn man verkenne nicht, daß seine Moral schon daran Anstoß nimmt, daß sie eben die Gelegenheit gemacht haben, zu der das Neue Wiener Journal Vorschub leistet. Die Objektivität seiner Gerichtssaalberichterstattung, die nicht umhin kann, zuzugeben, daß die Anlockung durch »verdächtige Zeitungsinserate« geschehen ist, weil es ja doch schwer hielte, zu glauben, daß die Masseusen und Maniküren ihre Geschicklichkeit aus dem offenen Fenster verkündigen, leidet keineswegs durch den Umstand, daß sie auf das Neue Wiener Journal selbst offenbar nicht den geringsten Eindruck macht. Denn daß Masseusen hinter den reellen Absichten, die ihr Name verheißt, auch noch andere Bestrebungen verbergen können, welche die Moral eben jener Kreise verletzen, denen sie zugutekommen, stellt sie tief unter die Journalisten, die so ehrlich sind, hinter dem sozialkritischen Ernst, mit dem sie das Laster angehen, gleich dessen Propaganda zu betreiben. Nur ein Umstand wäre geeignet, die Autorität des Neuen Wiener Journals herabzusetzen. Wollte es sich nämlich darauf berufen, daß die fünf Angeklagten über die von ihm eingeräumte Unsittlichkeit hinaus auch noch des Verbrechens schuldig waren, unerfahrene Mädchen, ja ihre eigenen Töchter dem von ihm geforderten und geschmähten »Schandgewerbe« zuzuführen, so würde ein negatives Ergebnis der Untersuchung, ob nicht gerade diese »Frauenspersonen« dem Neuen Wiener Journal die feinen Herren zu verdanken hatten, keineswegs beweisen, daß das Neue Wiener Journal ihre Annoncen abgelehnt hat, sondern leider nur das eine: daß nicht alle Masseusen und Maniküren Vertrauen zum Neuen Wiener Journal haben und manche eben doch in ihrer Anhänglichkeit an die Neue Freie Presse nicht wankend geworden sind. Über die Gründe ihrer Haltung befragt, würden sie der Wahrheit die Ehre geben und sagen, daß feine Herren das Neue Wiener Journal nicht lesen.
März 1921
In den Tagen, da das Publikum die größten Schwierigkeiten hatte, das Prinzip der Entpragmatisierung im Postdienst zu verstehen, wurde es zugleich in die Einsteinsche Relativitätstheorie eingeführt. Herr Felix Salten, der bisher nur berufen wurde, wenn es galt, bei besonderen Gelegenheiten einen Einblick in die Geheimnisse des spanischen Zeremoniells zu eröffnen, und der den Weltkrieg, der zu dessen Erhaltung unternommen wurde, mit der Devise »Es muß sein« beglaubigt hatte, war ausersehen, an der Spitze des Blattes »Einsteins Gegenwart« zu verklären. Daß ihm dies ebenso gelingen würde, wie die Schilderung einer Wachparade, konnte vorweg keinem Zweifel unterliegen. Nur daß freilich, um an die Persönlichkeit Einsteins nur halbwegs die Begeisterung wie an die Wilhelms II. zu wenden, ein Übergang notwendig ist:
Denken wir an die Berühmtheiten der letzten Jahre, dann zieht ein armseliger Reigen, halb verbrecherisch, halb toll an unserer Erinnerung vorüber; Menschen, die vom Zufall ihrer Geburt oder vom augenblicklichen Vorrang ihres Handwerkes oder durch die Konjunktur des Zusammenbruches emporgehoben waren und Macht über unser Leben bekommen hatten.
Wie anders Einstein. Ein Mann, dem zur Vollkommenheit nur eines fehlt, daß der Kaiser Franz Joseph sein Wirken nicht erlebt hat, zu dessen achtzigstem Geburtstag Salten die Worte fand:
Darwin und Haeckel, und Richard Wagner und Ibsen und Brückner, und Edison und Marconi, Feuerbach und Nietzsche, Marx und Lassalle, diese ganze bunte Fülle, dieses unermeßliche Gedränge von gestaltenden Geistern, Schöpfern, von Eroberern der Erde, all dies zog an ihm vorbei. Ob er es nun bemerkt hat oder nicht, ob er es als Erlebnis zu nennen weiß oder nicht, ob er es schätzt oder verachtet, oder überhaupt auseinanderhält, er hat auf seinem Throne dennoch von all dem einen Hauch verspürt, hat die Welt sich verändern und sich entwickeln sehen und ist von dieser Entwicklung in seinem eigenen Wesen angerührt und gefärbt worden.
Was hätten wir von Franz Joseph, dem so früh Dahingegangenen, zu erwarten gehabt, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, auch noch die Relativitätstheorie auf sich wirken zu lassen. Während aber seine Persönlichkeit von allen wissenschaftlichen und künstlerischen Errungenschaften angezogen war, während er in seinem Wesen von ihnen angerührt und gefärbt wurde, konnte dem mit ihm Schulter an Schulter kämpfenden Wilhelm II. und zwar gleichfalls von Salten nachgesagt werden, daß »seine Epoche von ihm gestempelt, von ihm gefärbt wurde«. Eben deshalb aber war auch der Eindruck, den Salten auf dem Penzinger Bahnhof von ihm empfing, von seiner »echten, tiefen Menschlichkeit«, die, wenn man von den zehn Millionen Toten absieht, »Lebensfrische und Daseinsfreude rings um sich her verbreitete«, der »elektrisierenden Wirkung«, die von ihm ausging, »ein unvergeßlicher«. Auch schon von Berlin her, wo Salten ihn einst, »umdröhnt vom eisernen Schritt der Gardefüsiliere«, beobachtet hatte, als er »wie aus großer Tradition hervorgeritten kam«. Was nun Einstein betrifft, der von Salten mehr in das Gedränge der Geister gewiesen wird, das an den Herrschern vorbeizudefilieren hat, und zwar unmittelbar angeschlossen an »Kopernikus und Galilei, Kepler und Newton«, so kann Salten den Lesern der Neuen Freien Presse nur folgende Aufschlüsse geben:
Im Gang der Gestirne waren Unregelmäßigkeiten beobachtet worden. Unerklärlichkeiten waren festgestellt, für deren Bewältigung keine bekannte Methode der Mechanik mehr genügte. Probleme ergaben sich, im Kreislauf der Sterne ebenso wie in der Bewegung der »letzten, aller direkten Wahrnehmbarkeit entrückten Atombestandteile der Körperwelt«. Um diese Probleme genau auseinanderzusetzen, müßte ich ein Gelehrter auf dem Gebiete der Physik sein, die mir fremd ist. Ich müßte Einsteins Theorie und alle ihre Folgen so genau und gründlich verstehen, wie ich sie nur ungenau und nur in losem Umriß ahne. Aber alle Gebildeten begreifen mit mir und ich begreife es mit ihnen ohne viele Mühe, daß die Bogendifferenz, die geringe Bogendifferenz von 45 Bogensekunden, um welche die Drehung der Merkurbahn im Sinne der Bahnbewegung von ihrem astronomisch errechneten Wert abwich, eine Beunruhigung der Wissenschaft sein mußte, je mehr und je stärker sein mußte, je hartnäckiger sich diese Differenz allen Aufklärungen entzog. Es muß uns Außenstehenden, denen der Zugang zur höheren Mathematik verschlossen ist, auch die Tatsache genügen, daß die neuen Berechnungen, die auf Grund des Einsteinschen Prinzips angestellt wurden, jene Differenz beseitigten, alles Unregelmäßige und alle Unerklärbarkeit zum Schwinden brachten, womit die Theorie Einsteins als die allein gültige erwiesen war.
Die Auslegung, die von den Berechnungen Knieriems abweicht, zeigt die Relativitätstheorie als das beherrschende Prinzip für die Einstellung des Feuilletonisten auf die Welt. Alle Gebildeten begreifen mit ihm. Die Drehung der Merkurbahn – unmittelbar vor einer Verwaltungsratssitzung – hatte sie beunruhigt. Seit aber im Sonnenspektrum die Farbe stagelgrün entdeckt wurde, ist alles wieder in Ordnung.
Es gibt noch solche in dieser trüben Zeit, die einem wenig zu hoffen übrig läßt. Aber während es sonst immer schlimmer kommt, als man gedacht hat, geschah ausnahmsweise einmal das Folgende:
Aus Berlin wird uns berichtet: Das Publikum des Staatstheaters erlebte am Samstag bei der Aufführung der »Sterne« eine Überraschung von ungewöhnlicher und, um es gleich zu sagen, höchst sympathischer Art. Bassermann war plötzlich erkrankt.
Doch nicht darin bestand, um es gleich zu sagen, die Annehmlichkeit. Sondern:
Ersatz war in der Eile nicht zu beschaffen, und so entschloß sich der Autor Hans Müller, die Rolle des Galilei zu übernehmen. Das Wagnis war um so größer, als der Dichter bis dahin niemals die Bühne betreten hatte. Aber es gelang ihm sehr gut. Vor der Aufführung teilte der Regisseur Dr. Bruck dem Publikum mit, aus welchem Grunde Müller die Rolle übernommen habe, und er bat im Namen des Verfassers um freundliche Nachsicht. Die Bitte war, wie sich sofort zeigte, überflüssig. Das Spiel Müllers war sicher und gewandt. Das Publikum war gepackt von der sicheren Darstellung. Im Dichter wurde der Darsteller, im Darsteller der Dichter wiederholt stürmisch gerufen.
Das Publikum war über den grauen Alltag so hinausgehoben, daß es Müller nicht wiedererkannte, indem es, als sich ihm der Dichter der »Sterne« zeigte, den Darsteller des Galilei zu sehen begehrte und als dieser hervorkam, nach dem Dichter der »Flamme« rief. Wie man sich täuschen kann. Wenn man mich damals, als Müller mir im Gerichtszimmer gegenübersaß, als Mensch zum Menschen sprach und aus Gründen der Nächstenliebe durchaus nicht zu bewegen war, seine Ehrenbeleidigungsklage aufrechtzuhalten, sondern zu jeder Ehrenerklärung bereit schien – eine Überraschung von ungewöhnlicher und, um es gleich zu sagen, höchst sympathischer Art –, wenn man mich damals, vor einem Schauspiel von geringer Standhaftigkeit, gefragt hätte, welche Rolle ich dem Dichter auf der Bühne zutrauen würde – jeden seiner Könige, hätte ich gesagt, soll er verkörpern, jeder Sänger oder fahrende Gesell mag ihm liegen, jeder Rittersmann oder Knapp, aber kein Bekenner, der vor meinem Scheiterhaufen dabeibleiben wird, daß ich ihn beleidigt habe; alles soll er spielen, nur die Galileigestalt soll er nicht spielen, hätt ich gesagt. Nie hätte ich ihm den Galilei zugetraut und nicht einmal den von Hans Müller! Ich habe ihn sprechen gehört, und wenn er auch von Lampenfieber nicht frei war, so gewann ich mir doch ein Urteil über seine darstellerischen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Ein gewisses Pathos ist da, aber in den entscheidenden Momenten fehlt die Kraft, und die Aussprache ist nicht frei von einem gewissen Anklang, der zwar dem Müllerschen Vers scheinbar zustatten kommt, jedoch auf der Bühne, und namentlich auf der des ehemaligen Berliner Hoftheaters, befremden muß. Bassermanns Erkrankung ist bedauerlich. Doch wenn ich nun bedenke, daß an der Stelle, wo einst Matkowsky gestanden, heute Hans Müller einen Erfolg errang, dann merke ich erst, wie sehr sich der Geschmack des Theaterpublikums gewandelt hat.
. . . denn jeder dritte Wagen bleibt irgendwo stecken, eine stumme Illustration der berühmten Worte: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders u. s. f.« . . .
Sagt die Reichspost, bekanntlich eine der feinsten Humoristinnen, über den Wiener Autobus, nicht wissend was sie tut, wiewohl sie jedenfalls einen Pik auf Luther hat, weil er zu Worms nicht widerrufen hat, Gott helfe ihr, Amen. Wenn sie den Autobus, den sie für eine »marxistische Erfindung« hält, nicht verleumdet, so würde er die Eigenschaft, nicht anders als stehen zu können, mehr noch als mit Luther mit einer in rasendem Lauf befindlichen Figur ihres Zeichners Schönpflug teilen. Viel delikater ist sie, wenn sichs um jene theologische Persönlichkeit handelt, mit der Luther einmal eine Begegnung hatte, die man sich mit einem Redakteur welcher Konfession immer zu haben wünscht; da sagt sie nur, einer hätte ausgerufen, es möge einen andern der . . . holen, während doch die Neue Freie Presse dem Beruf, der ihr am meisten wider den Strich geht, wenigstens das H läßt. Übrigens brauchen die Protestanten wegen des Vergleichs, für den Luther herhalten muß, nicht bös zu sein. Die Bildung der Reichspost, die nur eine Lücke umfaßt, hat zum Beispiel auch für einen gewissen Thomas von »Aquini« Raum. Und selbst die Ungläubigen haben sich damit abgefunden, daß sie einmal von »Lassalles kommunistischem Manifest« gesprochen hat, welches somit vielleicht das einzige Werk ist, das sie für keine marxistische Erfindung hält. Mein Gott, man muß zufrieden sein, wenn die Reichspost »Schinken« als Maskulinum, »Butter« als Femininum und insbesondere »Gas« als Neutrum erkennt. Dagegen bin ich nicht sicher, ob ihre Schriftleiter gegebenenfalls nicht die Wendung gebrauchen würden: »Ah, sie regnet!« Aber natürlich nicht aus Unbildung, sondern nur aus Humor. Während zum Beispiel mich die Vorstellung, auf einem Kontinent leben zu müssen, wo es die Reichspost gibt, trübsinnig macht.
In unsre gestrige Besprechung der Aufführung des »Reigen« in den Kammerspielen hat sich ein sinnstörender Druckfehler eingeschlichen. Es soll dort heißen: Und zu diesen Naturgefühlen gehört es, daß der Akt, der den Gipfelpunkt sämtlicher Akte des »Reigen« bildet, im Geheimen abgetan wird. Es gibt ein einziges Lebewesen, das sich an dieses Naturgebot nicht hält: der der Natur entfremdete, degenerierte, rasselose Straßenköter.
Der Gedanke hat die Berichtigung gelohnt. Denn es ist doch klar, daß die jetzt von der geistvollen Gemeindesteuer betroffenen Rassehunde es im Geheimen abtun und zwar nicht nur, weil das die Herrschaft so veranstaltet, sondern weil sie ein Schamgefühl haben. Keinem Dobermann würde es einfallen, wenn er schon überhaupt so ein widernatürliches Gelüste hat, es vor Leuten zu betätigen. Denn es ist widernatürlich. Tuts ja doch nur der »der Natur entfremdete«, degenerierte, rasselose Straßenköter. Es ist gut, daß das richtiggestellt ist. Die Setzmaschine hatte sich zuerst geweigert und die Stelle verhoben, aber nun mußte sie klein beigeben. Die besseren Hunde, die das 8 Uhr-Blatt lesen, werden bestätigen können, daß es so ist und daß sie sich nicht von ihren Herren beschämen lassen, die doch auch nicht gleich in den Animierlokalen sich dem widernatürlichen Trieb, auf dem wie alles in der Welt leider auch das Inseratengeschäft beruht, hingeben. Der Text ist rein. Ein Druckfehler hatte sich, um den Sinn zu stören, eingeschlichen, aber nun ist er draußen. Das Naturgebot verlangt nicht die Begattung, sondern deren Diskretion. Das einzige Lebewesen, das sich an dieses Naturgebot nicht hält, ist der Straßenköter, dieser Proletarier der Natur, und für den hat das 8 Uhr-Blatt so wenig übrig wie für die Proletarier aller Länder. Er ist nicht nur der Auswurf unter den Hunden, sondern unter den Tieren überhaupt. Möge er, ob er vergnügt oder mißvergnügt ist, auf die Straße gehn. Die andern Lebewesen, alle, haben noch ein Schamgefühl und lassen die Öffentlichkeit nicht in ihr Privatleben hineinsehen. Selbst die Fliegen machen's im Zimmer ab, und die Löwen ziehen sich bekanntlich bis in die Wüste zurück, um den Schiebern das Ärgernis zu ersparen. Nur mit Überwindung aller Naturgefühle, die sie im Tabarin befestigt haben, wohnen diese den Aufführungen des »Reigen« bei, von dessen Duldung der Kritiker der Reichspost eine Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten befürchtet und dessen Besprechung Wien von allen Seiten auf einem geistigen Niveau gezeigt hat, daß kein Hund so länger leben möchte.
Bis jetzt wurden fünf Tote geborgen, und zwar der Fabrikant Ludwig Altschul, Wien, 4. Bezirk, Karlsplatz 3, der siebenjährige Sohn des früheren Bahnerhaltungsvorstandes in Wien, Wenger, Staatsbahnrat Robert Hackl, eine Frauensperson und ein italienischer Chauffeur aus Villach, welche noch nicht agnosziert sind . . .
Dem Polizistenjargon, der sich bei Durchsuchungen in Stundenhotels betätigt, ist die Bezeichnung endlich abgewöhnt worden, und er muß sich dazu bequemen, eine Frau selbst dann als Frau anzuerkennen, wenn sie von ihrer Eigenschaft, eine zu sein, Gebrauch gemacht hat. Der Journalistenjargon kehrt bei Durchsuchung eines Leichenfelds zur altösterreichischen Terminologie zurück. Der unsägliche Jammer von Felixdorf, der wie die letzte Strafe der Natur an einem heillosen Staat anmutet, der von der niedrigsten Stufe zivilisatorischer Einrichtungen noch in den Abgrund eines Weltkriegs taumeln mußte, läßt doch das Lichtbild einer Kompagnie schauen, die obenauf bleibt: Die Geretteten, die den Sterbenden nicht Platz machen wollten, die Lebenden, die die Toten beraubt haben, und die Schreibenden, die einen verstümmelten Leichnam als Frauensperson agnoszieren.
November 1921
Die Presse – Auge und Ohr der Welt. Einen bemerkenswerten Sieg hat die »Chicago Tribune« soeben in dem Prozeß errungen, den der Bürgermeister von Chicago gegen sie angestrengt hatte. Es war beantragt, das Blatt wegen Kreditgefährdung zu einer hohen Geldentschädigung zu verurteilen . . . Die hohe Schadenersatzsumme, die die Stadtverwaltung forderte, wurde damit begründet, daß der Stadt durch diese Angriffe ungeheure Schwierigkeiten bei der Aufnahme von Krediten entstanden seien. Das Gericht stellte sich indessen auf die Seite der verklagten Zeitung und wies die Klage zurück. »Hätte die Stadt Recht bekommen«, erklärte der amerikanische Richter, »so wäre den städtischen Beamten mit dem Urteil ein Mittel in die Hand gegeben worden, die Presse einzuschüchtern und ihre Gegner zum Schweigen zu bringen. Die Presse ist aber heute Auge und Ohr der Welt. Sie ist der Anwalt der Schwachen und Leidenden und leuchtet mit der Fackel der Wahrheit in die Tätigkeit der an hoher Stelle stehenden Beamten. Ohne sie würden die Handlungen von Wohltätern der Allgemeinheit unbeachtet bleiben und den Schwindlern und Gaunern die Möglichkeit geboten werden, ihr verbrecherisches Treiben ungestört fortsetzen zu können.«
Daß dies – vorläufig für die amerikanische Presse – urteilsmäßig festgestellt wurde, ist sicherlich dankenswert. Vielfach ist ja noch das Vorurteil in Geltung, daß die Presse der Anwalt der Starken und der Handelnden sei und daß sie für jede Information dafür zu haben sei, das Publikum über die Tätigkeit der an hoher Stelle stehenden Beamten zu belügen oder sie wenn sie verdienstlich ist, zu behindern. Daß gerade durch die Presse die Handlungen von Wohltätern der Allgemeinheit unbeachtet bleiben und durch sie den Schwindlern und Gaunern die Möglichkeit geboten wird, ihr verbrecherisches Treiben ungestört fortzusetzen, an dem die Presse mit Gewinn beteiligt ist. Daß aber dafür ohne sie der Weltkrieg nicht entstanden wäre und wenn er schon unvermeidlich war, ohne sie die Hyänen sichs nachher nicht so gemütlich gemacht hätten. Allerdings ist zutreffend, daß die Presse das Auge und Ohr der Welt ist. Denn die Welt ist so blind und so taub, daß sie sich die Presse gefallen läßt.
Was aus der Geschichte wird, wenn sie der Journalist einrichtet. Prager Leser bekamen das Folgende:
Wien, 22. Oktober.
– – und die österreichischen Monarchisten hätten nicht die Absicht, das Unternehmen zum Ausgangspunkt einer Aktion zu machen. Heute nachmittag um ½3 Uhr sprach der Vertreter des Exkaisers beim Bundespräsidenten vor und teilte ihm mit, daß die Abreise des Exkaisers und seiner Gemahlin nach Ungarn mittels Flugzeug erfolgt sei. Ein Probealarm in Wiener-Neustadt – –
Natürlich ist »heute nachmittag ½3 Uhr« Prager Zeitrechnung, und es war der Bundespräsident der Schweiz. Die Vorstellung, daß der österreichische den Besuch des »Vertreters« empfangen wird, der ihm im Auftrage des Exkaisers mitteilt, wie dieser diesmal es angestellt hat, um Österreich um- und hinterzugehen, und daß er sich unverhaftet entfernt, weil doch der österreichische Bundespräsident froh ist, wenigstens den Vertreter hier zu haben, und was die beiden Herren über die künftigen Pläne des Exkaisers und seiner Gemahlin, etwa über die Rückreise, gesprochen haben mögen – all das beschwert kein Redakteurshirn und infolgedessen auch kein Leserhirn. Nur daß die Setzer, die doch dazwischen eingreifen, nicht ihre Macht benützen, um in einem wohltätigen Sinne zu intervenieren, ist mir immer erstaunlich. Im alten Tagblatt soll es einen Metteur gegeben haben, der der Redaktion jeden Artikel, der ihm zu blöd war, schonungslos zurückgegeben hat. In welcher Druckerei wäre heute, wo doch das Niveau der täglichen geistigen Leistung noch erheblich gesunken ist, eine derartige Initiative aufzutreiben? Gewiß hat der Handsatz eine größere persönliche Überwindung verlangt als die Bedienung der Setzmaschine. Aber schließlich steht doch auch da ein Mensch mit fünf Sinnen dabei, und sich vorzustellen, daß ein Organismus von dem Inhalt einer Nummer der Staatswehr, des Salonblatts, der Wiener Stimmen oder von einem Leitartikel des Benedikt vorher gewußt hat, ohne es zu verhindern, könnte einen wohl trübsinnig machen. Ich habe mir schon gedacht, ob ich, um mir die Martern, die ich täglich bei einem nur flüchtigen Blick über das stereotypierte Weltbild erleide, zu lindern, nicht wenigstens als Setzer in die Neue Freie Presse kommen könnte, um dort durch gütliches Zureden oder, wenn nicht anders möglich, durch Streik, passive Resistenz, Sabotage Ordnung zu schaffen. Den Plan, es mit Geld zu versuchen, habe ich wegen der Teuerung aufgeben müssen.
Die ›Staatswehr‹ ist in der Lage, den Text einer neuen »Österreichischen Monarchistenhymne« mitteilen zu können, die von Kasmader herrühren dürfte und in der unter anderm das folgende vorkommt:
Herr Kaiser, Herr Kaiser, wir halten dir Treu',
Schwarzgelb, wir, die Legitimisten,
Dir Treu' bis zum Tod, ohn' Wanken und Reu',
Als öst'rreichisch fühlende Christen!
Die Liebe zum Erzhaus schon sogen wir ein
An unseres Mütterleins Brüsten –
Und da gibt es noch Leute, die einer Freigabe der Fruchtabtreibung widerstreben! Nein, sich nur auszumalen, daß so ein armer Wurm die Liebe zum Erzhaus an des Mütterleins Brüsten einsaugt, und nichts als diese, eben weil wegen der Liebe zum Erzhaus alle nahrhafteren Stoffe ausgegangen sind – es ist wahrhaft gräßlich. Was sind das aber auch für entmenschte Mütterlein, die, wohl wissend, daß sie nichts als Liebe zum Erzhaus abgeben können, dem armen Säugling noch die Brust darbieten! Das heißt wirklich zum Schaden den Spott fügen. Der Säugling schreit, und sie stillen ihn mit Erinnerungen an Habsburg, dessen Interessenvertretern es bekanntlich schon einmal gelungen ist, die Milch der frommen Denkart in Liebe zum Erzhaus zu verwandeln. Und doch, so etwas wächst heran, wird Offizial und weist mit Stolz auf das Kindheitserlebnis.
Gesprochen am 30. Oktober
Gewiß, ein Monarch kann auf Regierungsdauer ein Trottel sein, das widerstreitet nicht dem monarchischen Gedanken. Wenn er sich aber auch in der Zeit, da er kein Monarch mehr ist, wie ein Trottel benimmt, nämlich durch die Art, wie er wieder ein Monarch werden möchte, so sollte man doch meinen, daß auch die Anhänger des monarchischen Gedankens ihm die Eignung hiezu absprechen müßten. Freilich huldigen ja die Anhänger des monarchischen Gedankens auch der Anschauung, daß ein Trottel, der einmal ein Monarch war, gar nicht aufgehört habe, einer zu sein, nämlich ein Monarch, so daß ihn der Umstand, daß er sich auch während der Unterbrechung als ein solcher gezeigt hat, nämlich als ein Trottel, nicht hindern könne, der Monarch zu werden, der er immer war und ist. Woraus ferner hervorgeht, daß auch die Anhänger des monarchischen Gedankens nie aufhören, das zu sein, was sie sind und immer waren, nämlich Anhänger des monarchischen Gedankens.
Dieser Tasso hat keinen stark bezeichnenden Zug der Eitelkeit, der Zerstreutheit, der Nachlässigkeit – man weiß, wie Dichter sind – und die Heftigkeit kommt bei Aslan nicht aus Tassos nervösem Temperament, sondern – –
Man muß sich dazu das Kopfnicken der Börseaner vorstellen, die das zum Frühstück lesen: man weiß, wie Dichter sind. Nicht werden sie wissen, wo doch jede Familie ihren Tasso hat, zerstreut, schlampig, bitt Sie wie schon Dichter sind, man weiß doch, man steht sich mit ihnen aus, alles vergessen sie, nur nicht eigenhändig signieren!