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April 1923
Der urkomische Hermann Bahr plaudert in der Neuen Freien Presse über den heiligen Philippus Neri, und an einem Tag, wo sie sich wirklich mehr für die »Verhaftung des Seifen-Trebitsch« interessiert. Gleichwohl hat sie die Geistesgegenwart, seinen Ausführungen mit der dem Thema gemäßen Andacht zu folgen. Nur an einer Stelle, wo ihr die Geschichte gar zu inbrünstig wird, wo es von Heiligen nur so wimmelt und sich klar herausstellt, daß sie das Opfer einer Verwechslung von Kuverts geworden ist, indem nämlich Herr Bahr ein der Reichspost zugedachtes Manuskript der Neuen Freien Presse geschickt hat, kann sie sich nicht enthalten, dazwischenzujüdeln. Das sieht dann so aus:
Und der heilige Ignatius hat einmal gesagt, daß ihm eine Viertelstunde der Sammlung im Gebet genüge, um aller inneren Unruhe Herr zu werden, selbst wenn sein Lebenswerk zerstört und die Gesellschaft Jesu aufgelöst würde wie Salz im Wasser. (Wir möchten das interessante Essay Hermann Bahrs nicht mit einer Polemik verbinden, trotzdem es in mancher Hinsicht unserer Weltanschauung widerspricht. Anm. d. Red.)
Dann konnte er wieder fortfahren:
Und bei Thomas von Kempen heißt es . . .
Es ist das aus den Kriegszeiten bekannte »Wir möchten nicht«, mit dem die Deutung der Generalstabsberichte versucht wurde und dessen Schalmeienton die Jerichoposaunen immer angenehm ablöste. Aber warum sie ausgerechnet jene Stelle bewogen hat, »das« interessante Essay zu unterbrechen und ihm das falsche »trotzdem« zu bieten, also in einer Verwahrung zwei Grammatikfehler zu machen? Weil ihrer Weltanschauung offenbar die Vorstellung widerspricht, daß die Gesellschaft Jesu aufgelöst würde wie Salz im Wasser.
daß mein Entschluß, jenen Austritt zu vollziehen, ins Werk gesetzt werde, war der Umstand, daß die Reichspost, also das offizielle Organ katholischer Interessen, dem Zeichen des Kreuzes nunmehr seine endgiltige Bestimmung zuerkannt hat:
Das Inseratenkreuz. Jetzt, nachdem schon ganz Wien weiß, daß die Notizen, die in den Wiener Zeitungen mit einem + versehen sind, als bezahlte zu werten sind, jetzt, nachdem sich das Berufungsgericht schon lange damit abgefunden und erklärt hat, diese Art der Bezeichnung genüge, wenn es sich um die Kenntlichmachung bezahlter Notizen handle, jetzt kommt der Hofrat Höflmayer neuerlich und erklärt als Vorstand des Strafbezirksgerichtes I in einer Verhandlung gegen die drei Eigentümer und Herausgeber der »Kronenzeitung«, daß auch die von den Wiener Zeitungen derzeit neugewählte Form der Erkenntlichmachung gezahlter Ankündigungen im Textteile des Blattes den Anforderungen des neuen Preßgesetzes nicht entspricht und zuwiderhandle . . .
Die Reichspost, die da weiß, wie das Kreuzzeichen zu werten ist, erkennt offenbar in dem Umstand, daß der Hofrat Höflmayer gegen den Stachel des Hofrats Wessely lökt, also in der Verurteilung der Kronenzeitung wegen des Kreuzes, einen Angriff auf Thron und Altar. Sie ist froh, daß wir einen Wessely haben, wenngleich dieser die Presse nur als die sechste Großmacht gelten läßt, während der Bischof von Limburg geschrieben hat:
Die Macht der Presse ist die größte Macht der Welt. Es muß dem katholischen Volke zum Bewußtsein gebracht werden, daß Gaben und Opfer für unser Pressewesen Gott wohlgefälliger sind und den Interessen unserer Kirche und der Seelen bisweilen besser dienen als Stiftungen von kirchlichen Geräten, ja sogar von gottesdienstlichen Feiern.
Somit ist es klar, daß die Verwendung des Kreuzes für Korruptionszwecke, die ja die Macht der katholischen Presse nicht minder als die der jüdischen stärkt, nicht Gotteslästerung, sondern im Gegenteil Gottesdienst ist, ja besser als dieser. (Ähnlich wie etwa das Segnen von Bomben und giftigen Gasen.) Was dem katholischen Volke erst heute zum Bewußtsein gebracht wird, konnte ich aber unmöglich schon seinerzeit wissen, als ich Katholik wurde. Ich hatte den unbedachten Schritt unternommen, aber ich kann zu meiner Entschuldigung sagen, daß es wenigstens in dem guten Glauben geschah, daß + etwas anderes als Bezahlung bedeute und alles andere Gott wohlgefälliger sei als Gaben und Opfer für das Pressewesen (und als die Tötung des Nebenmenschen). Ganz Wien wußte das damals noch nicht, und niemand hätte es auch nur ahnen können. Ich schwankte jetzt, ob ich den Austritt bei Rudolf Mosse oder bei Haasenstein & Vogler anzeigen solle, man riet mir aber, es beim Magistrat zu tun, wo es bestimmt nichts koste. Es war auch viel einfacher als ich mir vorgestellt hatte, es ist sicherlich der einzige Amtsweg in Österreich, der sich, ganz abgesehen von der Annehmlichkeit des Ziels, ohne Scherereien vollzieht, und da ich ihn nicht einmal selbst gehen mußte, so beginne ich wieder an Wunder zu glauben. Wenn die Katholiken eine Ahnung hätten, wie bequem er ist und daß man von allen Wegen, die los von Rom führen, auch den wählen kann, wo man zuhaus bleibt, die Reichspost könnte über viele ein Kreuz machen. Die besten Dinge geschehen ja hierzuland nicht, weil die Formalitäten so umständlich sind oder weil man glaubt, sie seien es. Ich konnte also der Volkszählung, die ich wohl zum letzten Mal mitgemacht habe, in diesem Punkte schon mit reinem Gewissen entgegensehen. Was die Frage nach der Rasse anlangt, so habe ich sie leider nicht beantworten können, da ich nur mit Sicherheit weiß, daß ich nicht jener angehöre, in deren Geistigkeit sie ihren Ursprung hat. Mitglied der Cherusker in Krems war ich nie und gedenke auch fürder nicht mein Leben nach ihren Statuten zu führen. Wenn die Herren Kasmader, Pogatschnigg (und Gemahlin), Übelhör, Homolatsch, Winfried Hromatka i. a. B. und Frank – und speziell der Herr, der die Vertreter der Rasse, auf die ers abgesehen hat, auf dem Concordiaball als die »Vertreter des Geistes« anspricht –, wenn sie hier einen größeren Einfluß gewinnen sollten, als ihren kulturellen Belangen zukommt, so gibt es ja noch Gegenden jenseits des Waldviertels. Mein Heil habe ich verwirkt, nach dem Hedl trachte ich nicht, und Funktionären, die zwar entgegenkommend sind, aber nicht verhindern können, daß man auf der Ringstraße mit Gummiknütteln und im Theater mit Stinkbomben traktiert wird, werde ich alstern auch keine Träne nachweinen.
Juni 1923
Frau Lucy Weidt war in Rom, sie hat den Papst geschaut, »ganz in blendendem Weiß«, sie hat den Kardinal gesehen, »ganz in Rot«, sie hat den ungarischen Gesandten Grafen Somssich besucht, ganz in Weiß, und auch der österreichische Gesandte Kwiatkowski war anwesend, ganz in Schwarzgelb. Der Clou von allem aber: sie war bei Mussolini, der unt'risch ganz in Schwarz war, aber außen »eine Art Jagdkostüm von brauner Farbe mit hohen Ledergamaschen trug«. Er geht ihr mit vollendeter Höflichkeit entgegen, was umso wohltuender ist, als sich ja der Faszismus noch nicht völlig konsolidiert hat und an manchen Orten Italiens auch Frauen an ihn glauben müssen. Noch überraschender ist, daß Mussolini deutsch spricht. Er beherrscht es, denn er beherrscht alles. Selbst der Priester, der die neuvermählte Prinzessin gesegnet hat, unterließ es ja nicht, ihn als »den Mann mit den eisernen Muskeln und dem eisernen Willen« zu feiern, worauf sich Mussolini dankend verbeugte. Er ist aber nicht nur stark, sondern auch gerecht wie Breitbart, denn er belobt Polizisten, die ihn wegen Schnellfahrens aufschreiben, und die italienische Fibel ist seines Ruhmes voll wie nur ehedem die österreichische vom Ruhm des angestammten Herrscherhauses. Um aber auf Frau Weidt, die Gnade vor seinen Augen gefunden hatte, zurückzukommen. Sie erzählt, in Italien blühe es überall, nämlich in der Natur. Da kann es sich der Interviewer nicht versagen, auch seinerseits ein Scherflein von einer Blüte beizutragen:
Duftige Rezensionsexemplare hat die erfolgreiche Interpretin Richard Wagners in Italien und im lateinischen Südamerika in das kühle Wien mitgebracht.
Natürlich aus Italien, nicht aus dem lateinischen Südamerika. Sie versucht aber auch selbst eine Schilderung zu geben.
Bitte, urteilen Sie nicht zu streng über meine journalistische Leistung.
Schalkin, er wird schon nicht. Was hat also Mussolini zu ihr gesagt, der das Deutsche beherrscht? Wie verlief die Unterredung? Man stellt sich das mit einem Holofernes so vor, daß wenn das erste Herzklopfen vorbei ist, er die Frage stellt: »Was verschafft mir aber eigentlich das Vergnügen?«, und sie antwortet: »Man sagte mir, Menschenleben schonen Sie nie, Sie sind eine kleine Bosheit, Sie. Man sagte auch – ich kann's nicht glaub'n von so einem Herrn – daß Sie ein Judenfresser wär'n.« »Es ist nicht so arg, ich hab' nur die Gewohnheit, alles zu vernichten. Setz dich und speis mit mir.« Nicht doch, in einem Satz hat er alles, was zu sagen war, gesagt:
Ich kenne Wien und bin entzückt von dieser Stadt. Ich habe auch einer Aufführung von Schnitzlers »Reigen« beigewohnt.
Wien kennen und nicht von dieser Stadt entzückt sein, das ist für den, der das Italienische beherrscht, soviel wie Neapel sehn und nicht sterben. Was nun Schnitzlers »Reigen« betrifft, so bedeutet er zwar keinen Eindruck, der vom Gesamtbild Wiens geradezu untrennbar wäre, aber wahrscheinlich hat Herrn Mussolini die Intervention der Wiener Faszisten bei der Aufführung angeheimelt. Auf die Frage, ob er sich nicht auch »Tristan und Isolde« einmal ansehen wolle, antwortete er – italienisch –: »Leider bin ich an diesen Tisch gefesselt.« Aber da er eiserne Muskeln hat, so würde er auch als Ausbrecherkönig seinen Mann stellen.
Zwanzig Minuten dauerte mein Besuch. Ebenso liebenswürdig wie der Empfang gestaltete sich die Verabschiedung.
In Sperrdruck; wahrscheinlich, weil einen ja bei einem Mann mit eisernen Muskeln schon gar nichts wundernehmen würde. Er ist aber ganz anders. Oh, der frißt aus der Hand:
Frau Weidt läßt auf dem Tische des Ministerpräsidenten die Veilchen des italienischen Osterfrühlings, die sie mitgebracht hat.
Das heißt, natürlich keins von den Rezensionsexemplaren, die sie in das kühle Wien mitgebracht hat, sondern solche, die sie eigens für Mussolini mitgebracht hat. Und was sagte er? Also da soll man sehn! Nein, er ist nicht so, er ist ganz anders:
»Blumen«, sagte Mussolini galant beim Abschied, »sind das Entzückendste auf der Welt.«
Das ist von außerordentlicher Schlichtheit und wie viel steckt doch darin. Er frißt aus der Hand. Ingomar war ein unbezähmbarer Sohn der Wildnis dagegen. Freilich gelingt das nicht jeder Parthenia; aber der wär's sogar mit Horthy gelungen. Auch er hätte sich nicht anders verabschiedet, wenn ihm Frau Weidt Veilchen geboten hätte. Da könnte traun selbst Hitler Menschliches nicht zurückdrängen. Wenn sich so mancher österreichischen Brust, der der schleichende Bolschewismus schwer auflag, der Seufzer entrang: Einen Horthy braucheten wir halt, oder einen Rinaldini, oder irgendeinen andern der Stars mit eisernen Muskeln und Hersteller der Ordnung, die die Schlamperei nicht leiden können, wenn die Toten herumliegen – so sieht man jetzt, daß unter solchem Regime auch das Wiener Herz nicht zu kurz käme.
Das macht er so:
Schutz für die Wiener Messe.
Drohende passive Resistenz bei Post, Telegraph und Telephon.
Wien, 17. März.
Schützet die Wiener Messe! Was kann es Natürlicheres geben als diese Parole? . . .
No also ich könnte mir, wenn's drauf ankommt, schon was Natürlicheres denken, aber in Gottes Namen, schützet die Wiener Messe. Nach dem Punkt im Titel hätte man allerdings vermuten können, der Schutz sei ihr bereits gewährt und sei eine Tatsache wie die drohende passive Resistenz. Denn diese verlangt er nicht etwa, sondern konstatiert sie, jenen aber verlangt er. Freilich, wenn er verlangt, so ist es auch schon so gut wie erfüllt. Der Wunsch ist des Gedankens Vater, aber aus Pietät für diesen darf er im Titel kein Rufzeichen machen. Wenn der Titel zum Beispiel der Ausruf wäre: Gott über die Welt!, so wäre es so gesetzt:
Gott über die Welt.
Und ehe man merkt, daß es nur ein Seufzer ist, der folgerichtig zum Schlußsatz führen muß:
Die Zeiten sind zu ernst und die Not zu groß
hätte man den Eindruck, daß er etwas von Gott über die Welt für das Blatt bekommen hat.
Wenn Monarchisten auf richterliches Verständnis hoffen dürfen, sobald sie Republikaner ermorden, so setzen sie es umsomehr für jene Fälle voraus, wo sie sie nur beleidigen. Denn hier können sie sich sogar damit rechtfertigen, daß sie es nicht so gemeint haben. In dieser Methode werden täglich Fortschritte erzielt. Während aber der Verteidiger des Herrn Hussarek immerhin noch die Möglichkeit offen gelassen hat, daß das Wort »Schurke« nicht nur »geschickt«, sondern auch »ehrlos« bedeute, berief sich jetzt ein anderer monarchistischer Angeklagter, der einen republikanischen Politiker »Schuft« genannt hatte, darauf, daß dieses Wort überhaupt »keine Beleidigung sei: es stamme aus dem Hebräischen ›Schofai‹ und dieses bedeute ›Volksbeauftragter‹ oder ›Heerführer‹. Damit konnte er natürlich kein Glück haben, immerhin aber durch ehrliches Bestreben Sympathie erwecken. Von vornherein verloren wäre dagegen ein Republikaner, der etwa einen habsburgischen General einen Schurken und Schuft genannt hätte. Denn daß er habe sagen wollen, jener sei ein geschickter Heerführer, würde man ihm gewiß nicht glauben.
[Grillparzer als politischer Denker.] Unter diesem Titel brachte Dr. Werner Riemerschmied in der Politischen Gesellschaft eine Auswahl aus Grillparzers politischen Schriften, Aphorismen und Gedichten zum Vortrage. Der junge Vortragskünstler, dem eine warme und sehr modulationsfähige Baritonstimme nachgerühmt werden kann, verfügt über überraschend reife Auffassung und sehr bemerkenswerte Technik . . . Den verbindenden Text zwischen den einzelnen Teilen des Vortrages bildeten Ausführungen des Wiener Schriftstellers Doktor Korningen, die in mancherlei Beziehung von den eingebürgerten Auffassungen der Grillparzer-Interpreten abweichen, auch in einem gewissen Gegensatz zu dem geistigen Bilde stehen, das Dichter wie Eulenberg und Hohlbaum von Grillparzer entworfen haben. Nach diesen Darlegungen wäre insbesondere der alternde Grillparzer nicht als »idyllische Laertes-Natur« zu betrachten, sondern eher als ein Typus von der Schärfe eines Gajus Marius. Grillparzers Charaktereigenschaften suchte der Vortragende aus dem Dionysischen seines Wesens zu erklären . . . Höchst interessant wirkte auch der Nachweis, daß selbst die Slawen der Grillparzer-Zeit den Zusammenhang zwischen Österreich und Deutschland als etwas Unzerreißbares ansahen . . . Diese Ausführungen wurden mit lebhaftem Beifall entgegengenommen.
Es muß aber auch fesselnd gewesen sein. Immer hatte ich bisher den alternden Grillparzer eher für einen Typus von der Schärfe eines Gajus Marius gehalten, aber da kann man ja nichts machen, die Leute haben ihre eingebürgerten Auffassungen, lassen sich nicht ausreden, daß er eine idyllische Laertes-Natur war, und stützen sich dabei auf Eulenberg und Hohlbaum, auf die ich mich nie stützen würde. Nun wird glatt nachgewiesen, daß er ein Gajus Marius, freilich mit einem Alzerl Dionysos war, woraus sich dann auch die Haltung der Slawen unschwer erklärt. No und dazu der schöne Bariton, der wieder das Bild Grillparzers als politischen Denkers zur Geltung brachte – also es muß schon interessant gewesen sein. Wenn ich jetzt nur noch wüßte, was eine idyllische Laertes-Natur ist!
In der Neuen Freien Presse findet sich die folgende pietätlose Äußerung: . . .
Sie laufen ja noch vielfach frei herum, diese noblen Herrschaften, sie haben Automobile, leben in Saus und Braus, in Jubel und Freuden als Nutznießer des Weltunterganges, als Hyänen des Schlachtfeldes, auf welchem die Menschheit sich verblutet . . .
Da kann man einer Hyäne nur zurufen: Such's Herrl! . . . Aber was nützt das – die Gracchen können zusperrn. Das 8 Uhr-Blatt entrüstet sich über Wurzlokale, die ›Bohemia‹ verurteilt Erpressung und nationale Verhetzung, das Neue Wiener Journal tadelt Sensationen, die es nicht ausgeschnitten hat, und wird sich demnächst über journalistischen Diebstahl aufhalten, die Neue Freie Presse beklagt sich über Hyänen beim Weltuntergang – die Welt steht auf kein' Fall mehr lang!
Es gibt wohl kaum etwas Unappetitlicheres als den Humor, den sich die alles außer Geist, Herz und Takt besitzende Klasse zulegt, wenn sie die Leiden, die sie mit dem unbotmäßigen Proletariat »sich auszustehen hat«, unter ihresgleichen zum Besten gibt. Der aufreizendste Vertreter dieser Note ist jener st–g, der auch ohne diese liebliche Abkürzung die Überlegenheit seiner Witzarmut und die Süffisance seiner Leere gleich hinter den Personalnachrichten nicht verleugnen kann. Ein Schmuckstück dieses Mittelstandshumors ist die bekannte »Perle«, als welche das die Herrschaft tyrannisierende Dienstmädchen bezeichnet wird, noch weit wertvoller als der bekannte »Obolus«, den der »Zerberus« des Hauses vereinnahmt. Nun hat sich dieser Plage, die in der Regel als ein uns schreibender und trotz den schweren Zeiten zu Schmonzes aufgelegter »Junggeselle« einhertritt, ein weiblicher st–g gesellt, der mit umso größerer Kompetenz das Leid der Hausfrau gestaltet, das ihr durch die Folgeerscheinungen eines weltgeschichtlichen Umsturzes zugewachsen ist, der auf sie nicht Rücksicht genommen hat, und das sich als die folgende Reihe »bitterer Lad« herausstellt:
Ein Ofenputzer, den ich einladen ließ, meinen häuslichen Herd doch noch vor den Feiertagen in Ordnung zu bringen, sagte mir mit der überraschenden Begründung ab, er werde in den letzten Tagen der Karwoche nicht mehr in Wien sein, weil er die Ostern auf der Rax verbringe, was allerdings von einer seltenen Berufsfreudigkeit zeigt, die augenscheinlich selbst in Stunden der Muße auf die Nähe von Kaminen nicht völlig zu verzichten vermag, andererseits aber auch von der Einträglichkeit des Ofenputzergewerbes ein anschauliches Zeugnis ablegt . . . Daß ein anderer, ein Telamon, dessen über alle Maßen imposanten Bizeps ich mir gern zu Nutz und Frommen meiner klopfbedürftigen Spannteppiche dienstbar gemacht hätte, mir mit milder Gönnerhaftigkeit empfahl, meine Perser doch lieber vom Vakuum-Cleaner »aussuzeln« zu lassen, weil das beim Klopfen unvermeidliche »Staubschlicken« in keinem erträglichen Verhältnis zu den herrschenden Weinpreisen stehe, hat mich ebenso nachdenklich gestimmt, wie der gutgemeinte Rat eines Pinselvirtuosen, mit dem ich behufs Ausmalung meiner Küche in Unterhandlung trat, »Schaun S', gnä' Frau«, sagte treuherzig der Biedermann, der im Gegensatz zu den beiden ersterwähnten ablehnenden Elementen die Arbeit tatsächlich übernehmen wollte, »schauen S', überlegens S' Ihnen's nit lang: derweil S' no handeln, steigen do schon wieder die Arbeitslöhne . . .«
Man kann gegen die Einführung der Prügelstrafe alle möglichen Bedenken vorbringen – daß jedes andere Mittel bisher versagt hat, diesem Gesindel Menschlichkeit oder wenigstens den Takt beizubringen, ihre Unmenschlichkeit nicht noch an die große Glocke zu hängen, steht doch fest. Nicht daß das Gesindel einem arbeitenden Menschen einen Ausflug in die Berge mißgönnt, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der ein solches Beginnen als Absurdum vorausgesetzt wird, ist die Infamie, die einmal den Versuch lohnte, die Hosen hinunter- und die Röcke hinaufzuziehen. Die Telamonen sind zu gar nichts anderem auf die Welt gekommen als das Gebälk dieser Gesellschaft zu tragen, und sie spottet der Möglichkeit, daß sie einmal auslassen könnten. Wenn sie schon allzulange keine Furcht gehabt hat, wird sie frech. Dann fürchtet sie den imposanten Biceps nicht, sondern empfindet nur Hohn bei der Vorstellung, daß er sich der gottgewollten Aufgabe entziehe, zu Nutz und Frommen ihrer klopfbedürftigen Spannteppiche dienstbar gemacht zu werden. Aber in Wahrheit sind nur deren Besitzer klopfbedürftig, die Spannteppiche sind es beiweitem nicht so häufig, wie der Wahn zu wenig geklopfter Megären es an jedem Morgen in jedem Wiener Hof gebietet, um diesen zur Hölle zu machen. Wie viel von unbefriedigter Sexualität, Hysterie und Ehemisere da tagtäglich zum Himmel stinkt als der Staub, den die Kreatur der Kreaturen schlucken muß, und zum Himmel brüllt als der Lärm, der weit und breit keinen Schlaf und keine Arbeit zuläßt – das erfüllt schon ein Tohuwabohu des irdischen Wahnsinns. Es ist nicht anders: die ganze Schurkerei dieser Gesellschaft triumphiert darin, daß sie sich für die eigene, selbstbeschlossene Naturverkürzung noch dort am fremden Leben entschädigt, wo sie für ihre mottenfräßigen Instinkte nichts gewinnt als die Rache am Sündenbock und die Bestätigung ihrer Macht an der Wehrlosigkeit. So prügelt sie Kinder, wie sie Dienstboten mißbraucht, um auf Gegenstände zu schlagen; die Familienwut wird einfach auf Sklaven und Teppiche überwälzt, aufgeschlagen, und nichts bleibt als die von mir im »Traumstück« berufene Hoffnung, daß einmal die Pracker zur richtigen Verwendung, zur verkehrten, gelangen werden. Als wäre der Rat, den jener Telamon gab, die Perser doch lieber vom Vacuum-Cleaner aussuzeln als den Menschen tuberkulös werden zu lassen, doch wenigstens dort, wo schon die Maschine den Menschen ersetzen kann, sich ihrer zu bedienen, nicht menschlicher als der Hohn der Megäre über solche Zumutung! Dieser nichtswürdige Hohn noch zu der feigen Bestialität des Teppichklopfenlassens, die sich selbst Ohren und Nase, aber auch das Herz vor dem Werk verschließt, zu dem sie andere nötigt – wer je ein Zimmer nach dem »Hof« bewohnt hat, kann nichts lebendiger erleben als den Wunsch, daß sich seine Gefangenen endlich auf die Gasse begeben, um dem Haus zu zeigen, wie viel's geschlagen hat!
Oktober 1923
(Fräulein Mann.) In der Kärntnerstraße gab es Donnerstag nacht ein Aufsehen. Um die erste Morgenstunde sammelten sich um eine elegant gekleidete Blondine mit duftigem weißem Kleid, schwarzem Tüllhut, durchbrochenen Strümpfen mehrere gewerbsmäßig in der Kärntnerstraße promenierende Mädchen an und kicherten und lachten. Ein Wachebeamter trat auf die Gruppe zu. Es stellte sich heraus, daß die weißgekleidete Schöne mit dem rosigen Teint ein zwanzigjähriger Mann war. Er wurde wegen der Verkleidung und wegen des Ärgernisses, das die Szene erregt hatte, arretiert. Er gab an, er habe sich bloß einen Spaß machen und in der Verkleidung seine Geliebte in einem Stadtcafé besuchen wollen. Die Maskerade habe er mit den Kleidern seiner von Wien abwesenden Mutter gemacht. Er wurde mit vier Tagen Arrest bestraft.
Also nicht einmal ein richtiggehender Transvestit und dennoch Aufsehen und Ärgernis. Man denke an die Friedrichstraße, wo man die Männer überhaupt nur daran erkennt, daß sie Frauenkleider tragen, und selbst da noch im Ungewissen tappt. Aber warum Ärgernis in einer Welt, in der doch so wenige, die Hosen anhaben, Männer sind und wo Leute, die eine Soutane tragen, die Staatsgeschäfte führen?
warnte:
Arische Mädchen! . . .
Von dem Tage an, da ihr diesen Lüstlingen verfallt, seid ihr für euer deutsches Volk verloren.
Was die deutsche Sitte betrifft. In den Belangen der deutschen Sprache dürften sie kaum mehr zu verderben sein.
Das schlesische Kind.
Und als ich kam in die freundliche Stadt,
da schwangen die Türme die Glocken,
Es war kein friedliches Festgeläut,
es war kein Hochzeitsfrohlocken,
Es war ein klagend dumpfes Gedröhn,
es war ein bitteres Zürnen,
Es hämmerte weiter in Blut und Mark,
es staute sich hinter den Stirnen
Und rüttelte alle Schlaffheit wach
und bohrte sich ins Gewissen:
Es wurde ein Kind, es wurde ein Kind
von Handgranaten zerrissen.
Was ist geschehen? Es lief über Feld
ein kleiner zehnjähriger Racker
Und fand ein lustig glitzerndes Ding
im frühlingsduftenden Acker;
Ein Ei aus Silber mit hölzernem Griff,
das nahm das Kind voll Vertrauen,
Welch köstliches Spielzeug! und hob es auf,
um es genau zu beschauen.
Da brüllte ein feuriger Wirbelwind,
es war wie von höllischen Bissen
Zerfetzt und hingeschleudert das Kind,
von der Handgranate zerrissen.
Die Glockentöne schwingen sich auf
gleich Vögeln in schwerem Fluge
Und hinter dem armen Kindersarg
geht schweigend im Leichenzuge
Die ganze Stadt, die ganze Stadt,
Arbeiter, Bürger und Bauern.
Heut' sind sie einig endlich einmal
in einem gemeinsamen Trauern.
Und allen hämmert es dumpf in der Brust
und nagt es heiß im Gewissen:
Es wurde ein Kind, ein deutsches Kind
von Handgranaten zerrissen.
Das ist der Soldatenübermut;
sie übten Krieg in den Wiesen
Und scherten ums Höllenwerkzeug sich nicht,
das sie dort liegen ließen.
Und blieb auch so eine Granate zurück
im Gras und hinter den Hecken,
Wir kennen das Ding; und finden es die,
so mögen sie d'ran verrecken.
Es sind ja nur Deutsche, was schadet es uns,
wenn Deutsche d'ran glauben müssen – –
So wurde ein armes deutsches Kind
von Handgranaten zerrissen.
Die Glockentöne verdichten sich
zu einer tönenden Wolke.
Es ist wie ein bitteres Grabgeläut
dem ganzen zerrissenen Volke.
Und alle die Männer ballten die Faust,
die hinter dem Sarge gehen
Und beißen die Zähne zusammen: »Dereinst
kommt ein rächendes Auferstehen!«
Schon steht vor Gott, schon klagt vor Gott
im Hemdchen, blutig zerschlissen,
Das arme, deutsche Schlesierkind,
das die Handgranate zerrissen.
Da bleibt nur noch ein Reim übrig, denn das ist wohl, nachdem er fünf Jahre lang dem Soldatenübermut, und zwar dem deutschen belletristisch gedient hatte, einer der dreistesten Kriegshetzer, die es heute noch gibt. Sie übten Krieg in den Kriegen und ließen die Handgranate liegen: das wäre der Reim der Menschlichkeit, dessen ein so miserabler Reimer niemals fähig ist, der nur die tschechischen Handgranaten auf den Wiesen bemerkt, die sie dort liegen ließen. Aber an dem Grauen des Falls, daß wieder ein Kind von einer solchen zerrissen wurde, hat weder die tschechische Provenienz der Handgranate noch die deutsche des Kindes auch nur den geringsten Anteil; diese gewiß einen noch geringern als jene. Es ist wohl auch schon an einer deutschen Handgranate ein tschechisches Kind zugrundegegangen und es hätte von der nämlichen tschechischen auch ein tschechisches zerrissen werden können. Selbst wenn die Militärübung, die gewiß der gröbste Unfug ist, der unter der Sonne begangen werden kann, in einer rein deutschen Gegend stattfand, so ist es nicht nur eine Infamie, das Liegenlassen der Granate als einen Plan darzustellen, sondern auch eine Dummheit, anzunehmen, daß in solcher Gegend kein einziges nichtdeutsches Kind existiert, das auf der Wiese das Spielzeug finden könnte. Als ob im militärischen Tun und Lassen als solchem nicht genug des Wahnwitzes enthalten wäre. Für die Schande der Menschheit, daß es Handgranaten gibt und daß mit ihnen zuerst Erwachsene und dann Kinder spielen, welcher Nation immer beide angehören mögen, hat ein solcher Blutsudler kein Gefühl und keinen Vers, der tragische Vorfall taugt ihm bloß dazu, den Vorsatz, wieder deutsche Handgranaten zu fabrizieren, Arbeitern, Bürgern und Bauern einzuimpfen und zum nationalen Racheschwur zu erhitzen, glücklich, sie wenigstens darin »endlich einmal einig« zu wissen. In klägliche Verse gebracht, ergibt dieser Geisteszustand ein Festgedicht, um die Pfingsten eines Hakenkreuzlerblattes würdig einzuläuten, es ist von Herrn Karl Hans Strobl, und die Judenpresse ist stolz darauf, ihn zu ihren Mitarbeitern zu zählen.
ist bekanntlich die Schutzpatronin, an die sich die frommen Bauern in ihren Nöten halten. Sie steht zwar nicht im Kalender, aber in den ›Innsbrucker Nachrichten‹, und zwar so:
Die Wiener Merkantilbank Zweiganstalt Innsbruck
vormals H. Bederlunger & Co.
unter Patronanz des Zisterzienserstiftes Lilienfeld
Aktienkapital und Reserven zirka 5 Milliarden Kronen
verzinst bis auf weiteres Gelder ohne Kündigung mit 9 Prozent, mit Kündigung nach Vereinbarung, und besorgt alle Arten von Bankgeschäften kulantest.
Eigentlich ist es die Umkehrung eines Sachverhaltes. Aber eine Annonce des Zisterzienserstiftes Lilienfeld, daß es unter der Patronanz der Wiener Merkantilbank stehe, dürfte nur aus dem Grund bisher nicht erschienen sein, weil die Tatsache, daß die Kirche in Österreich unter der Patronanz der Banken steht, zwar bei den Wahlen zur Geltung kommt, jedoch auch offenkundig genug ist, um nicht vor den Wahlen hinausposaunt zu werden. Der Umstand, daß der Gläubige denn doch vielleicht keinen so guten Magen hat wie die Kirche, so daß es zu Umdrehungen (Konversionen) kommen könnte, verlangt schließlich seine Berücksichtigung. Aber eigentlich könnte schon das Bekenntnis wahrer Religiosität, wie es jene Annonce bedeutet, vollauf zu dem Entschlusse genügen, aus der Merkantilbank auszutreten.
verdient nach einem ihrer letzten Communiqués zweifellos die Polizeidirektion,
deren Streben, den Interessen der Bevölkerung zu dienen, im Publikum und bei der führenden Tagespresse bisher stets gewürdigt wurde.
War einmal die Neue Freie Presse streng und tat sie der braven Sittenpolizei Unrecht, indem sie sie fälschlich eines geradezu ungeheuerlichen »Mißgriffs« beschuldigte, so erhielt die Fackel eine Berichtigung. Aber diese vermag das Streben durchaus nicht zu würdigen, weil sie, selbst wenn der Sittenpolizei nicht der geringste Mißgriff passiert, auch mit dem Griff nicht einverstanden ist, ja schon nicht damit, daß es eine Sittenpolizei gibt. Denn was gehen die Polizei unsere Sitten an? Auch wenn sie noch so eindringlich versichert, daß sie in diesem Punkt nur um unsere Gesundheit besorgt sei, so stellt sich, wie ein Halbweltblatt mit sensationeller Absicht, aber sachlicher Berechtigung entdeckt hat, leider heraus, daß der Punkt, nämlich der, aus dem zwar alles zu kurieren ist, wenngleich auch alles zu infizieren, uns noch immer hieramts als »schwarzer Punkt« angemerkt wird. Aber das wünschen wir nicht mehr. Von erfolgreichen Razzien, Rekognoszierungen von Chambres séparées, Ausräucherung von Liebesnestern und dergleichen strategischen Notwendigkeiten, die keine sind, wollen wir nicht mehr hören und bitten den kultivierten Mann, in dessen Namen sich das alles begibt und der doch in Genua mit Europäern zusammengekommen ist und dort, sowohl in den Kreisen der Diplomatie wie in deren Umgang, »gewerbsmäßige Unzucht« in Fülle geschaut hat, dafür zu sorgen, daß dieser Begriff aus dem Vorstellungsleben der Wiener Polizeidirektion definitiv verschwinde. Ich möchte ihn überhaupt nur noch zur Kennzeichnung der führenden Tagespresse, die das Streben der Polizeidirektion würdigt, gelten lassen. Es ist ja ganz gewiß wahr, daß die Kuppelei »ein in die strafgerichtliche Kompetenz fallendes Delikt« ist, aber abgesehen davon, daß es tagtäglich von der führenden Tagespresse begangen wird – wenn die Behörde wegen jeder strafbaren Handlung einschreiten wollte, wie viel hätte sie allein wegen des täglich verhöhnten § 26 des Preßgesetzes zu tun, der noch dazu erst erschaffen wurde, während die Sittlichkeitsparagraphen ein alter Trödel sind, den zu strapazieren jedem Kriminalisten eben die Schamröte ins Gesicht treiben müßte, die sich ihm leider noch immer vor dem Naturereignis des Geschlechtsverkehrs einstellt. Es ist doch wirklich kaum erträglich, zwar keinen Kaiser zu haben, aber in Fragen des allerpersönlichsten Lebens auf das Gutdünken einer Obrigkeit angewiesen zu sein, also einen Umsturz erlebt zu haben, von dem alles, nur nicht jene Sittenkommission berührt sein soll, durch deren Medium sich der weiland Kaiser Franz für unsere Privatangelegenheiten interessiert. Wir verdanken diesem Umsturz und meiner Nachhilfe immerhin die Ausmerzung des lieblichen Wortes »Frauensperson« aus dem Wörterbuch der Moralbureaukratie und möchten nun auch den Eifer, mit dem sie der Sache anhängt wie eh und je, entbehren. Dagegen bliebe der Sicherheitsbehörde, die vielleicht in keiner Epoche notwendiger war als in dieser, ein weites Betätigungsfeld, wenn sie, abgesehen von dem populären und zumal seit der Heldenzeit in Ehren gehaltenen Delikt des Diebstahls, einem noch immer zeitgemäßen Strafparagraphen, nämlich dem gegen Mord, ihre ausschließliche Aufmerksamkeit und womöglich die präventive Obsorge zuwenden und überzeugt sein wollte, daß die Freudenmädchen im Allgemeinen nicht gefährlicher sind als die Hakenkreuzler. Was die Preßfreiheit anlangt, der jetzt gern mittels eines auch schon zweifelhaften Paragraphen die Grenze vor der »Herabwürdigung« der behördlichen Autorität gesetzt wird, so dürfte es der Polizeidirektion hinlänglich bekannt sein, daß ich sie, nämlich die Preßfreiheit, vom Gesichtspunkt einer Kulturgesetzgebung als ganze verneine und wünschen würde, die Machtmittel des Staates täglich in hundert Fällen aufgeboten zu sehen, die uns – meist als analoger Eingriff in die Freiheitsrechte des Privatmenschentums – ein Greuel und eine Qual sind. Wird sie ausnahmsweise zum Schutz dieser Lebensgüter in Anspruch genommen, so schütze ich sie. Vollends aber will sich mir die Urbanität und Weltgewandtheit eines Mannes, der während des Kriegs den Zumutungen der Menschenmaterialverwalter ehrenhaften und besonnenen Widerstand geleistet hat, nicht mit einem moralischen Dunstkreis verbinden, in dem es noch immer »schwarze Punkte« gibt, ein kaum zu verbergendes Behagen an der Möglichkeit des »Abschiebens« zum Ausdruck kommt, untersucht wird, ob in einem Hotel Mädchen mit ihren »ständigen Freunden« einkehren oder mit »neuen Freunden«, die Trinkgelder, die der Portier erhielt, communiquéfähig sind und mit gehaltenem Pathos die Tatsache vermerkt wird, daß eine Artistin 800.000 Kronen Monatsgage hatte, »während ihr Budget sechs Millionen betrug«. Man denke. Aber sonst sind wir saniert und das Selbstgefühl eines Staates ist gesund, dessen Hofräte bloß den Weg über den Schottenring machen müssen, um ein Einkommen, mit dem sie nicht auskommen konnten, zu vergrößern, und dessen Oberfinanzräte in Massen von den Bankdirektoren, die sie zu besteuern hatten, »übernommen« werden, da es ja erfahrungsgemäß den Wächtern bei den Räubern noch besser geht als den Räubern bei den Wächtern. Doch wenn unter aller Prostitution – und verpönt ist nach wie vor nur die des Geschlechts und erlaubt ist, was nicht gefällt – der Fall der armen Artistin der ungefährlichste und der honorigste ist: welche vom sittenpolizeilichen Standpunkt anfechtbaren Möglichkeiten böte nicht jedes Gelage der Hautefinance, an dem teilzunehmen die Welt der Würde für eine Ehre hält? Und welches Sittenbild bietet das Leben einer führenden Tagespresse, von der gewürdigt zu werden, sie den offen einbekannten Ehrgeiz hat!
weiß deshalb nur das Folgende auszusagen:
Ist sie wirklich da? Niemand hat mit ihr gesprochen, niemand hat sie gesehen.
Ein Trugschluß. Weil er nicht mehr da ist, glaubt er, sie sei nicht da. Aber gerade der Umstand, daß niemand mit ihr gesprochen, niemand sie gesehen hat, beweist doch, daß sie da ist.
Selbst dem Gesandten ihres Landes, der sich als aufmerksamer Diplomat ihr vorstellen wollte, blieb die Tür ihres Zimmers verschlossen.
Diese Mitteilung – in dicken Lettern – kommt schon immerhin dem Geständnis nahe, daß sie da ist. Aber es soll auch dartun, daß es keine Schande für einen Journalisten sei, von ihr nicht vorgelassen zu werden, wenn das sogar einem passieren kann, den das Land und nicht das Blatt gesandt hat. Man gehört so für den Augenblick des Hinauswurfs gleichsam zum diplomatischen Korps und muß sich taktvoll benehmen. Man tut infolgedessen, als ob man noch immer nicht wüßte, daß sie da ist.
Ist sie wirklich da? Der polizeiliche Meldezettel überzeugt. Unter den Angekommenen des 15. d. findet sich folgende Eintragung:
»Eleonora Duse, Private, geboren in Vigevano am 3. Oktober 1859, verheiratet, katholisch, Staatsbürgerschaft: Italien, Heimatsort: Venedig, frühere Wohnung: Venedig.«
Sie ist also da. Es kommt heraus.
Sie bewohnt zwei Zimmer (III. Etage, Nr. 308 und Nr. 309). Ihre Kammerfrau Maria Avogadro leistet ihr Gesellschaft und pflegt die Frau, deren 64jährige Reize manchmal der Nachhilfe bedürfen.
Dafür ist die Kammerfrau noch rüstig.
Auch ein Impressario ist mitgekommen . . .
Der hat infolgedessen schon etwas mehr Verständnis für die Bedürfnisse der Presse und erzählt etwas über die Lebensgewohnheiten der Duse, die bei weitem nicht so göttlicher Natur sind, wie man sich vorgestellt hat und wie man gefunden hätte, wenn man sich persönlich hätte überzeugen dürfen:
Aber auch die Duse gehorcht den Funktionen, die der menschliche Organismus verlangt. Wie eine brave Bürgerin nimmt sie um ½9 das Frühstück, das ihr zwar nicht der Kellner mit seinem männlichen Blick auf die eben Erwachte serviert, sondern die Kammerfrau, die mit allen Geheimnissen vertraut ist.
Aber keins verraten will. Und was ließe sich da alles erzählen! So ist man auf Mutmaßungen angewiesen nebst den paar Details, die der »Impressario« hinwirft:
Um 1 Uhr rollt das Mittagessen heran. Einfache Menüs, für drei Personen serviert. Zum Nachtmahl jedoch gibt es nur Milchspeisen.
Wie gefällt ihr Wien?
Sie wollte auch in den Prater hinunter. Im letzten Augenblicke zögerte sie: die Duse ist ja nicht fürs Volk. Sie hat auch im Prater nichts zu suchen.
Sie scheint aber auch nicht für die Presse zu sein, die bei ihr etwas zu suchen hat.
Doch die Kammerfrau erzählt –
Diese tüchtige Person scheint wirklich alles zu machen. Im Hinauswerfen erzählt sie noch. Und zwar:
daß das Gehen der Sechzigjährigen Mühe verursacht und sie häufig mit Franzbranntwein eingerieben werden muß.
Offenbar wollte sie ihre Herrin entschuldigen, die sonst gern selbst dem Herrn einen Tritt versetzt hätte. Gut, daß sie's nicht tat. Wer mit ihr in Berührung kommt, weiß, wie unberechenbar sie ist:
Die Duse ist sehr unangenehm auf den Proben. Jähzornig und hysterisch.
Sie ist kein Star, sie will eine Göttin unter den Mitspielenden sein.
Und diese müssen es sich gefallen lassen.
Da können die Reporter von Glück sagen, daß sie nur mit der Kammerzofe zu tun bekamen und sogar erfuhren, wie diese heißt:
Die Kammerzofe heißt Desirée, das heißt die »Verläßliche«. Sie ist eine verläßliche Zeitungsfeindin, sie hat alle Reporter verjagt, die sich vor dem Appartement angesammelt und gewartet haben . . .
Ist diese Zurückhaltung Stolz oder berechnende Reklame? Fast scheint diese Askese ein Geschäftskniff zu sein.
Jedenfalls ist die Reklamesucht der Duse, die nichts mit Zeitungsleuten zu tun haben will, auffallend. Das ganze Jahr hindurch keinen Schmock vorlassen, das heißt denn doch die Askese ein bißchen zu weit treiben. Man habe der Duse garantieren müssen, daß sie »keinem Fremden« hinter der Bühne begegnen werde. Von der Garderobe zur Bühne, von der Straße zum Bühneneingang, ja von der Hoteltüre zum Auto habe ein Teppich gelegt werden müssen – was freilich schon deshalb nicht ganz wahr sein dürfte, weil man von eben jenen Örtlichkeiten die Schmöcke nicht weggebracht hat. Aber wenn's ihnen nichts genützt hat, so soll es doch wenigstens der Duse schaden:
Ihr Erfolg am heutigen Abend steht bombenfest. Man wird sie feiern als die größte Künstlerin, die noch lebt. Doch der Mensch, die Frau Duse im Privatleben, ist mit allen Schwächen und Kleinlichkeiten behaftet, die sich ein skurriles Gehirn nur wünschen und ausdenken kann. Die Duse ist auf der Bühne ein großer Mensch und im Alltag eine kleine Frau.
Man sieht, er ist zu diesem Eindruck gelangt, ohne die Duse im Alltag gesehen zu haben. Es geht dann umso leichter. Und da ist denn zu sagen: Es dürfte wohl keine Stadt der Welt geben, in welcher sich derartiges abspielen könnte, und weder das Verkehrsleben in den Abruzzen noch die Einrichtung der sizilianischen Blutrache weist ähnliche Formen der Vergeltung auf. Ein Parlament, das da nicht zum Rechten sieht und keinen Polizeischutz fremder Künstler gegen die Hotelbanditen der Presse vorkehrt, soll mir nicht gewählt, sondern gestohlen werden!