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Sprüche und Widersprüche

Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb.

Es gibt zweierlei Vorurteil. Das eine steht über allem Urteil. Es nimmt die innere Wahrheit vorweg, ehe das Urteil der äußeren nahegekommen ist. Das andere steht unter allem Urteil; es kommt auch der äußeren Wahrheit nicht nahe. Das erste Vorurteil ist über die Zweifel des Rechts erhaben, es ist zu stolz, um nicht berechtigt zu sein, es ist unüberwindlich und führt zur Absonderung. Das zweite Vorurteil läßt mit sich reden; es macht seinen Träger beliebt und ist auch als Verbindung eines Urteils mit einem Vorteil praktikabel.

Das Vorurteil ist ein unentbehrlicher Hausknecht, der lästige Eindrücke von der Schwelle weist. Nur darf man sich von seinem Hausknecht nicht selber hinauswerfen Iassen.

Man unterscheide Menschen, die im Frühling den Winterrock ablegen, und Menschen, die die Ablegung des Winterrocks als unfehlbares Mittel zur Herbeiführung des Frühlings ansehen. Die ersten werden eher den Schnupfen kriegen.

Was sind alle Orgien des Bacchus gegen die Räusche dessen, der sich zügellos der Enthaltsamkeit ergibt!

Wie abwechslungsvoll muß das Dasein eines Menschen sein, der durch zwanzig Jahre täglich auf demselben Sessel eines Wirtshauses gesessen hat!

Passende Wüste für Fata Morgana gesucht.

Man glaubt gar nicht, wie schwer es oft ist, eine Tat in einen Gedanken umzusetzen!

Ein selbstbewußter Künstler hätte dem Fiesko zugerufen: Ich habe gemalt, was du nur tatest!

Nichts beweist mehr gegen eine Theorie als ihre Durchführbarkeit.

Die Moralheuchler sind nicht darum hassenswert, weil sie anders tun, als sie bekennen, sondern weil sie anders bekennen, als sie tun. Wer die Moralheuchelei verdammt, muß peinlich darauf bedacht sein, daß man ihn nicht für einen Freund der Moral halte, die jene doch wenigstens insgeheim verraten. Nicht der Verrat an der Moral ist sträflich, sondern die Moral. Sie ist Heuchelei an und für sich. Nicht daß jene Wein trinken, sollte enthüllt werden, sondern daß sie Wasser predigen. Widersprüche zwischen Theorie und Praxis nachzuweisen ist immer mißlich. Was bedeutet die Tat aller gegen den Gedanken eines einzigen? Der Moralist könnte es ernst meinen mit dem Kampf gegen eine Unmoral, der er selbst zum Opfer gefallen ist. Und wenn einer Wein predigt, mag man ihm sogar verzeihen, daß er Wasser trinkt. Er ist mit sich im Widerspruch, aber er macht, daß mehr Wein getrunken wird in der Welt.

Als stärkster Erschwerungsgrund galt mir immer, daß einer nichts dafür gekonnt hat.

Ich habe, Gott sei Dank, oft übers Ziel und selten neben das Ziel geschossen.

Ein Paradoxon entsteht, wenn eine frühreife Erkenntnis mit dem Unsinn ihrer Zeit zusammenprallt.

Bald sind es zehn Jahre, daß ich nicht mehr zu mir selbst gekommen bin. Als ich das letzte Mal zu mir kam, gründete ich ein Kampfblatt.

Meine Leser glauben, daß ich für den Tag schreibe, weil ich aus dem Tag schreibe. So muß ich warten, bis meine Sachen veraltet sind. Dann werden sie möglicherweise Aktualität erlangen.

Die Stiere aller Parteien haben sich darüber geeinigt, daß ich die Unzucht propagiere. Es ist freilich wahr, daß ich als das einzige Mittel gegen die Dummheit die Anerkennung der Schönheit empfahl und daß ich auf die durch Jahrhunderte geübte grausame Verschüttung und boshafte Verunreinigung der Quelle alles Lebens alle Übel dieser Welt zurückführe. Aber habe ich mich darum für die Sexualität der Stiere begeistert?

Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage, und ich sage nicht, was sie hören möchte.

Mein Wunsch, man möge meine Sachen zweimal lesen, hat große Erbitterung erregt. Mit Unrecht; der Wunsch ist bescheiden. Ich verlange ja nicht, daß man sie einmal liest.

Ich schnitze mir den Gegner nach meinem Pfeil zurecht.

Eine Notlüge ist immer verzeihlich. Wer aber ohne Zwang die Wahrheit sagt, verdient keine Nachsicht.

Wahrheit ist ein ungeschickter Dienstbote, der beim Reinmachen die Teller zerschlägt.

Phantasie hat ein Recht, im Schatten des Baumes zu schwelgen, aus dem sie einen Wald macht.

Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist. Sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist.

Jede Erkenntnis sollte so erschütternd sein wie die eines Bauern, der eines Tages erfährt, daß ein kaiserlicher Rat und ein Hoflieferant dem Kaiser nichts raten und dem Hofe nichts zu liefern haben. Er wird mißtrauisch.

Wenn wir einen Fehler längst abgelegt haben, werfen uns die Oberflächlichen den Fehler und die Gründlichen Inkonsequenz vor.

Auf einem Kostümfest hofft jeder der Auffallendste zu sein; aber es fällt nur der auf, der nicht kostümiert ist. Sollte das nicht einen Vergleich geben?

Man verachte die Leute, die keine Zeit haben. Man beklage die Menschen, die keine Arbeit haben. Aber die Männer, die keine Zeit zur Arbeit haben, die beneide man!

Wer offene Türen einrennt, braucht nicht zu fürchten, daß ihm die Fenster eingeschlagen werden.

Gedanken sind zollfrei. Aber man hat doch Scherereien.

Die wahre Grausamkeit ist von keinem Machtmittel beschränkt.

Der Nationalismus, das ist die Liebe, die mich mit den Dummköpfen meines Landes verbindet, mit den Beleidigern meiner Sitten, und mit den Schändern meiner Sprache.

Der gesunde Menschenverstand sagt, daß er mit einem Künstler bis zu einem bestimmten Punkt »noch mitgeht«. Der Künstler sollte auch bis dorthin die Begleitung ablehnen.

An einem Dichter kann man Symptome beobachten, die einen Kommerzialrat für die Internierung reif machen würden.

Der »starre Buchstabe des Gesetzes«? Das Leben selbst ist zum Buchstaben erstarrt, und was bedeutet neben solchem Zustand die Leichenstarre der Gesetzlichkeit!

In einem geordneten geistigen Haushalt sollte ein paarmal im Jahr ein gründliches Reinemachen an der Schwelle des Bewußtseins stattfinden.

Seit vielen Jahren schon versäume ich den Frühling. Aber dafür habe ich ihn zu jeder Jahreszeit, sobald ich die Stimmung eines Tags der Kindheit mir hervorhole, mit dem jähen Übergang vom Einmaleins zu einem Gartenduft von Rittersporn und Raupen. Da ich vermute, daß es dergleichen nicht mehr gibt, halte ich persönliche Erfahrungen in diesem Punkte geflissentlich von mir fern.

Tag des Grauens, dazuliegen, wenn die Pferdehufe der Dummheit über einen hinweggegangen sind, und weit und breit keine Hilfe!

»Sich keine Illusionen mehr machen«: da beginnen sie erst.

Man muß oft erst nachdenken, worüber man sich freut; aber man weiß immer, worüber man traurig ist.

Der Fortschritt feiert Pyrrhussiege über die Natur.

Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut.

Wenn eine Kultur fühlt, daß es mit ihr zu Ende geht, läßt sie den Priester kommen.

Der Weltschmerz ist die Gicht des Geistes. Aber man spürt es wenigstens, wenn das schlechte Wetter kommt.

Die Gerechtigkeit ist immer gerecht. Sie meint, daß das Recht ohnedies Recht habe; folglich gibt sie's dem Unrecht.

Die Sonne hat Weltanschauung. Die Erde dreht sich. Widersprüche im Künstler sind Widersprüche im Betrachter, der nicht Tag und Nacht zugleich erlebt.

Den Autoren wird jetzt geraten, Erlebnisse zu haben. Es dürfte ihnen nicht helfen. Denn wenn sie erleben müssen, um schaffen zu können, so schaffen sie nicht. Und wenn sie nicht schaffen müssen, um erleben zu können, so erleben sie nicht. Die andern aber tun beides zugleich, die Künstler. Und ihnen ist nicht zu raten und nicht zu helfen.

Kunst ist das, was Welt wird, nicht was Welt ist.

Der Künstler soll mehr erleben? Er erlebt mehr!

Wenn ich vortrage, so ist es nicht gespielte Literatur. Aber was ich schreibe, ist geschriebene Schauspielkunst.

Viele, die in meiner Entwicklung zurückgeblieben sind, können verständlicher aussprechen, was ich mir denke.

Ein Knirps stand dicht vor mir und erwartete eine Ohrfeige. Ich schlug aber nach hinten, traf einen wassergefüllten Koloß, und beide lagen da. Ich hatte Schlag- und Schallwirkung genau berechnet.

Was man mir als Einwand bringt, ist oft meine Prämisse. Zum Beispiel, daß meine Polemik an die Existenz greift.

Der Satire Vorstellungen machen, heißt die Verdienste des Holzes gegen die Rücksichtslosigkeit des Feuers ins Treffen führen.

Die Satire wählt und kennt keine Objekte. Sie entsteht so, daß sie vor ihnen flieht und sie sich ihr aufdrängen.

Wäre der Inhalt meiner Glossen Polemik, so müßte mich der Glaube, die Menge der Kleinen dezimieren zu können, ins Irrenhaus bringen.

Meine Mängel gehören mir. Das macht mir Mut, auch meine Vorzüge anzusprechen.

Um einen Irrtum gutzumachen, genügt es nicht, ihn mit einer Wahrheit zu vertauschen. Sonst lügt man.

Was ein anderer nicht weiß, entscheide ich diktatorisch. Aber ich frage ihn gern über das, was ich weiß.

Ich habe schon manches Stilproblem zuerst durch den Kopf und dann durch Kopf und Adler entschieden.

Kunst ist das Geheimnis der Geburt des alten Wortes. Der Nachahmer ist informiert und weiß darum nicht, daß es ein Geheimnis gibt.

Der Gedanke ist das, was einer Banalität zum Gedanken fehlt.

Meine Sprache ist die Allerweltshure, die ich zur Jungfrau mache.

Ich mische mich nicht gern in meine Privatangelegenheiten.

Die Blinden wollen nicht zugeben, daß ich Augen im Kopfe habe, und die Tauben sagen, ich sei stumm.

Ich spreche von mir und meine die Sache. Sie sprechen von der Sache und meinen sich.

Wenn ich die Feder in die Hand nehme, kann mir nichts geschehen. Das sollte sich das Schicksal merken,

Ich lasse mich nicht hindern zu gestalten, was mich hindert zu gestalten.

In mir empört sich die Sprache selbst, Trägerin des empörendsten Lebensinhalts, wider diesen selbst. Sie höhnt von selbst, kreischt und schüttelt sich vor Ekel. Leben und Sprache liegen einander in den Haaren, bis sie in Fransen gehen, und das Ende ist ein unartikuliertes Ineinander, der wahre Stil dieser Zeit.

Wenn ich die Verlorenheit der Welt an ihren Symptomen beweise, so kommt immer ein Verlorener, der mir sagt: Ja, aber was können die Symptome dafür? Die müssen doch und tun's selbst nicht gern! – Ach, ich tu's auch nicht gern und muß doch.

Wer jetzt übertreibt, kann leicht in den Verdacht kommen, die Wahrheit zu sagen. Wer erfindet, informiert zu sein.

Aussprechen, was ist – ein niedriger Heroismus. Nicht daß es ist, sondern daß es möglich ist: darauf kommt es an. Aussprechen, was möglich ist!

Das Leben ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre.


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