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Beim Mittagmahl betrachtete ihr Mann sie mit mißtrauischen, feindseligen Blicken. Sie leuchtete ja förmlich vor Glück! Wie diese Musik sie erregt und verwandelt hat! Die Musik – oder der Komödiant!
Am Abend wußte er es. Frau Professor Hofer hatte die beiden im Stadtpark gesehen und hatte es voll Entsetzen an Frau Bachelmayer weitererzählt. Dr. Bachelmayer fühlte sich verpflichtet, es dem Freund mitzuteilen.
Er kam zornbebend heim. Beschimpfte sie; nannte sie eine Dirne. Eine Flut von Wut und Haß und Galle überstürzte sie, besudelte sie, warf sie zu Boden: »Du hast mein Lebensglück zerstört durch deine Kälte und Lieblosigkeit, nun richtest du mich auch noch 182 öffentlich zugrunde! Morgen weiß es die ganze Stadt. Diese Schande, diese Schmach, dieser Skandal! Keinen Funken Ehrgefühl hast du im Leib, du ehrlose Dirne! Sich diesem Musikanten hinzuwerfen, diesem Komödianten! Das ist deine Krankheit, dein Leiden! Deine Gier nach fremden Männern, nach Zigeunern, der du bisher nicht frönen konntest . . .«
Sie taumelte zurück vor diesem Ausbruch giftigen Hasses. Aber sie weinte nicht. Nur das Herz raste in toller Hast. Sie schnappte erstickend nach Atem, die Erregung lähmte die Stimme. Dann rangen sich gurgelnde Laute los, und dann warf sie ihm Worte entgegen: »Ja, ich bin eine Dirne, aber deine Dirne war ich, nicht seine! Denn du hast mich ohne Liebe genommen und geschändet und mißbraucht und hast nach meiner Seele nie gefragt und hast gar nicht gewußt, daß ich eine Seele habe, denn du hast ja selber keine . . .!« Aber ihre zitternden Worte gingen unter in der Flut seines Zornes.
Dann wies er sie ins Schlafzimmer. Er selbst betrat es nicht, sondern legte sich, spät in der Nacht erst, auf dem Diwan im Speisezimmer nieder.
Die Turmuhr der nahen Basiliuskirche schlug Mitternacht. Da war es Elsbeth endlich gelungen, sich aus diesem Meer von Verwirrung, Demütigungen und quälender Unsicherheit zu einem Entschluß durchzukämpfen. Morgen wollte sie das Haus ihres Mannes verlassen und zu ihrer Mutter zurückkehren. Es war ein furchtbares Entweder-Oder, aber sie erkannte, daß ihr keine andere Wahl blieb. Man würde 183 sie nicht freudig empfangen, es würde gräßliche, erniedrigende Auftritte geben – aber hier konnte sie doch nicht mehr bleiben.
Und dann –? Das wußte sie nicht. Ihr Kopf war viel zu erregt, zu verwirrt. Das Denken schmerzte sie so. Nur ganz langsam konnte sie von einem Satz zum andern vorschreiten, immer wieder geriet sie auf Abwege und verirrte sich und fand sich nur mühsam wieder zurück. Es war, wie wenn sie mit Aufbot der letzten Kräfte durch ein wildes, verflochtenes Dorngestrüpp sich hätte einen Weg bahnen sollen.
Sie wußte nicht, ob ihre Schuld so groß war, wie ihr Mann sie auffaßte. Ja, sie konnte aber auch viel größer sein. Es war ja vielleicht wirklicher Ehebruch. Denn auf die Gedanken kam es an. Was war die Tat? Doch nur ein Gleichnis.
Ob auch ihm ein Teil der Schuld zukam? Wer konnte es sagen! Er wußte es nicht besser, er handelte, wie es seinem Wesen, dem Herkommen, dem Mechanismus entsprach. Sie aber hatte die bessere Einsicht, sie traf die größere Schuld, sie war schwach gewesen.
Und wenn sie bei der Mutter war: was dann? – Ach, sie wußte es nicht. Das mußten wohl andere besser entscheiden können. Vielleicht ließ sich eine Versöhnung herbeiführen, wenn Körner ruhiger geworden; vielleicht kam es zur Scheidung – wie hieß es nur gleich? Ja: »aus alleinigem Verschulden der Gattin«. Sie wird also dann noch einmal öffentlich vor Gericht an den Pranger gestellt werden: seht da die Dirne, die Ehebrecherin! Alle werden mit Fingern auf sie weisen, 184 die Beamten, die Professoren, alle. Sie wird ausgestoßen sein, boykottiert. Kein Mensch mehr wird sprechen wollen mit ihr . . .
Als sie am Morgen das Schlafzimmer verließ, war Körner bereits ausgegangen. Er hatte frühzeitig das Haus verlassen und war aus der Stadt gefahren. Er konnte sich heute nicht in den Straßen zeigen mit seiner Schande. Er war vernichtet, geschlagen. Alle seine Pläne, die schon der Erfüllung nahe waren, zusammengestürzt. Lechner wird triumphieren. Und an all dem ist seine Frau schuld, die Dirne! –
Elsbeth ging zur Mutter. Am Rathausplatz sah sie Frau Bachelmayer mit ihrer Magd vom Markt zurückkehren. Plötzlich machte die Dame kehrt und rannte wie gehetzt davon. Elsbeth lächelte. Man floh sie wie eine Aussätzige. Oh – man brauchte nur ein wenig gegen die bürgerlichen Moralgesetze zu verstoßen und schon hatte man Ruhe – köstliche Ruhe!
Die Mutter war zu Hause. Sie schämte sich, heute auszufahren. Man würde mit Fingern auf sie weisen: seht, da ist die Mutter der Ehrvergessenen, die sich dem Zigeuner hinwarf, dem fahrenden Musikanten. – Auch Herr Lungnitzer war da, man hatte offenbar gerade beraten.
Frau Stadler empfing die Tochter mit schonungslosen Vorwürfen. Alles bekam sie zu hören: ihre ganze Jugend wurde ihr vorgehalten, ihre Launen und Zimperlichkeit, ihre überspannten Ideen, ihr müßiges Leben, das solche Folgen zeitige. Elsbeth konnte garnicht zu Gehör kommen, um sich zu verteidigen. Es wäre 185 ja doch auch jedes Wort vergeblich gewesen. – Nicht einmal zum Sitzen lud man sie ein.
Der alte Lungnitzer hatte seine Schwiegertochter immer sehr zuvorkommend und mit einer Art respektvoller Untertänigkeit behandelt. Er nannte sie immer »Frau Elis«, wobei er den Ton auf die erste Silbe legte. Er war auf Dr. Körner nicht gut zu sprechen, und da er wußte, daß die Elis unglücklich verheiratet war, so maß er alle Schuld dem Gatten bei.
Jetzt aber handelte es sich um etwas anderes. Jetzt stand die Ehre eines Mannes auf dem Spiel. Und wenn auch eines ihm unlieben, verhaßten Mannes – in solchen Fällen ist das nebensächlich. Da muß ein Mann zum andern Mann stehen. Mochte sie zehnmal unglücklich verheiratet sein – dazu hatte sie kein Recht, den Gatten öffentlich zu hintergehen, ihm die größte Schande zuzufügen, die es für einen Mann geben kann.
Er sprach also auch. Und jetzt zeigte es sich leider, daß er gewohnt war, mit Bauern und Viehhändlern umzugehen: er wurde grob, er wurde brutal. Er schrie ihr Beleidigungen zu, zu denen er kein Recht hatte.
Elsbeth stand ganz still und reglos. Sie war totenbleich. Sprechen konnte sie nicht. Aber wenn man nur hätte denken können. Nur Ruhe, nur klar bleiben! Also, wie war das jetzt? Hier in diesem Haus würde man sie nicht aufnehmen – das meinten sie doch wohl mit ihrem Schelten und Toben. Nur Ruhe. Gott, wenn sich die Gedanken doch nicht bei jedem Schritt in diesem Dickicht von neuem auf Irrwege verloren hätten! Wer sprach denn jetzt vom Fluß? Davon 186 redete doch niemand! Das war doch ganz lächerlich. Man mußte doch nur wissen, wohin man gehen sollte. Ja, richtig, die Mutter sagte es ja gerade:
»Du gehst zu deinem Mann zurück. Dort ist dein Platz. Ich werde mit ihm reden. Und du wirst ihn um Verzeihung bitten. Du wirst dir seine Verzeihung verdienen! – O, diese Schande! Ich getrau' mich nicht einmal aus dem Haus! Was wird sich der Lungnitzer denken, wie ich dich erzogen hab!!«
Herr Lungnitzer nickte.
Elsbeth verließ lautlos das Zimmer. Es war jetzt alles ganz klar. Sie wird jetzt zu ihrem Mann zurückkehren. Dort ist ihr Platz. Und sie wird ihn . . .
Da kam der Stiefbruder. Er wußte natürlich alles. Gleich wird er auf die andere Straßenseite gehen und dort ein Plakat lesen. Was spielt man heute im Kino?
Er sah die totblasse Frau auf sich zukommen. Mit zwei Schritten war er bei ihr. Er grüßte sie wie eine Fürstin und küßte ihr die Hand. Ah – er wußte es natürlich noch nicht. Da sagte er:
»Kann ich dir helfen, Elsbeth?«
Sie starrte ihn fassungslos an. »Du sprichst noch mit mir? Weißt du denn nicht, daß ich eine . . .«
»Rede nicht so etwas! Kann ich dir helfen? Du hast es mir damals versprochen, daß du dich an mich wenden willst, wenn . . . es so weit ist . . .«
Sie schwieg. Wenn man nur klar denken könnte! Dann würde so vieles besser.
»Also komm heute um drei Uhr in den Volksgarten, zur Kaiserlinde. Jetzt weiß ich nicht . . .« 187
Er küßte ihr wieder die Hand und ging.
Vom Stadtpark her kam Frau Professor Hofer mit ihrem Kinderwagen. Sie erblickte Elsbeth, riß den Wagen so heftig herum, daß das kleine Mädchen zu schreien begann, und hastete in eine kleine Gasse hinein. Es war ja auch unendlich peinlich für ein ehrbare Frau, ihr zu begegnen.
Daheim fand sie eine leere Wohnung. Die Magd hatte nichts gekocht und war verschwunden. Elsbeth atmete hoch auf. Wenigstens allein sein durfte sie jetzt.
Sie legte sich auf den Diwan. Nach kurzer Zeit war sie eingeschlafen.
Sie schlief fast zwei Stunden. Dann erwachte sie hungrig. Sie aß etwas kalten Schinken.
Ja, um drei Uhr im Volksgarten. Was sollte sie ihn bitten?
Sie grübelte. Es war totenstill um sie. Von der Basiliuskirche klangen die Stundenschläge.
Elsbeth saß reglos. Eine scharfe Falte stand senkrecht zwischen den Brauen. Und plötzlich wurde ihr Gesicht entschlossen und hart.
Sie ging zum Schreibtisch und schrieb etwas und steckte den Bogen zu sich.
Dann kleidete sie sich an und ging in den Volksgarten.
Bei der Kaiserlinde stand der junge Lungnitzer.
»Wenn du mir helfen willst, so denke, bitte, nicht schlecht von mir. Und vor allem: schweige! Ja?!«
Er versprach es mit seinem Ehrenwort. 188
»Ich muß dich um etwas Schmutziges bitten: um Geld!«
Er staunte sie an: »Schmutzig? Ist mein Geld schmutzig?!«
Sie legte ihm begütigend die Hand auf den Arm. »Deines nicht. Aber alles Geld ist so schmutzig.«
Das begriff er nicht. »Wieviel brauchst du? Fünftausend, zehntausend?«
»Aber nein – ein paar hundert Kronen . . .«
»Das tu' ich nicht. Du hast ja keine Ahnung, was man auf – Reisen braucht . . .«
Er riß die Brieftasche heraus und drückte ihr ein Bündel Banknoten in die Hand. »Nimm nur, das ist doch lächerlich! Brauchst du mehr? In einer Stunde hast du es!«
Nein, es war genug. Fast sechstausend.
»Ich danke dir herzlichst, lieber Freund. Aber jetzt höre: da hast du eine Vollmacht. Über meine Mitgift habe ich das Verfügungsrecht. Du gehst damit in die Bank und läßt das Ganze in die Zentrale schicken, nach Graz. Dann weise ich dir an, was du mir jetzt gegeben hast. Ja, unbedingt! Willst du das tun? Ich danke dir! Und schweig! – Und jetzt leb' wohl!«
Sie reichte ihm die Hand. Er küßte sie ehrerbietig. »Du bist ein guter Junge«, sagte sie und küßte ihn auf die Stirn. Dann ging sie.
Doktor Körner war nicht zu Hause. Sie fand im Briefkasten ein paar Zeilen an ihn von der Mutter: sie habe 189 ihn nicht zu Hause getroffen, er möge sie morgen mittag aufsuchen, sie habe dringend mit ihm zu sprechen. – Gut!
Sie packte in eine kleine Handtasche die notwendigsten Toilettengegenstände. Sie mußte aus dem Haus gehen wie eine Magd. Ärmer noch. Nicht das kleinste Kofferchen, kein Bündel durfte sie bei sich tragen. Nur die Tasche, die sie unter dem Mantel verbergen konnte.
Die Bücher, ihre lieben Bücher mußten dableiben. Aber zwei packte sie noch in die Tasche. Die durfte sie ihrem Manne nicht preisgeben.
Sie konnte jetzt ganz klar denken. Jede kleinste Einzelheit überlegte sie, ordnete und traf Vorsorgen.
Spät abends, als sie schon zu Bett lag, hörte sie Körner heimkommen. Er betrat das Schlafzimmer nicht.
Am Morgen verließ er das Haus in aller Frühe.
Sie fand einen Zettel auf dem Tisch: »Erwarte mich um 7 Uhr abends bei deiner Mutter. L.«
Gut.
Gegen Mittag kleidete sie sich an. Sie ging noch einmal durch die Zimmer. Sie sah die Sixtinische Madonna über den Betten. Dr. Körner liebte zwar keine religiösen Bilder, aber er hatte die schablonenmäßige Kopie vom Möbelhändler mit in den Kauf bekommen. Sie gehörte zur Schlafzimmereinrichtung.
Sie sah den Kampf des Beduinen mit dem Löwen auf dem Teppich im Wartezimmer. Sie strich mit zärtlichen Fingern über ihre Bücher, die sie zurücklassen mußte. Sie nahm noch die »Versunkene Glocke« und steckte sie in den Mantel.
Dann schrieb sie auf den Zettel ihres Mannes, unter 190 die Aufforderung, zur Mutter zu kommen: »Es hätte keinen Sinn. E.«
Sie nahm die Reisetasche und verließ die Wohnung, von deren Mauern und dutzendhaften Fabriksmöbeln ihr feindselige Kälte entgegendrang – wie am ersten Tag.
Die Straßen waren leer. Sie ging durch den Stadtpark, dem Bahndamm entlang zum Bahnhof.
Sie war ganz ruhig. Beim Schalter nahm sie eine Karte erster Klasse nach Graz.
Der Zug kam. Sie stieg ein. Im Vorüberfahren konnte sie noch einmal vom hohen Bahndamm aus das Elternhaus sehen und den großen Holzplatz der Mutter. Sie betrachtete alles mit ein wenig erstauntem Blick, wie etwas Fremdes.
Der Zug rollte klirrend über die große Brücke. Sie sah noch einmal zum Schloß hinauf, das gehäbig und breit dalag wie ein großes, schlichtes Bürgerhaus.
Mit diesem Blick nahm sie Abschied von der Heimat und allen Menschen, die bislang ihr Leben begleitet hatten. Sie faltete unwillkürlich die Hände: Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern . . . Die Worte kamen ihr in den Sinn, wie damals in den Tagen der Krankheit. Sie wollte ohne Haß und Groll scheiden und hätte sich gern frei gewußt von Schuld und vom Zorn aller, die sie zurückließ.
Nun hatte sie ihr Schicksal in die eigene Hand genommen und wollte sich selbst Herrin sein. Nun fuhr sie zu ihm, der den goldenen Schlüssel besaß zum Reich 191 ihrer Sehnsucht und wollte mit ihm sein Leben teilen. Wie hatte er gesagt? – Der Flug zu den Sternen . . .
Sie erschrak fast, als sie den Grazer Schloßberg auftauchen sah. Ihr Herz begann wild zu schlagen, kaum vermochte sie zu atmen.
Sie nahm einen Wagen und ließ sich zum »Erzherzog Johann« fahren. Dort wußte sie, daß er wohne. Morgen gab er ein Konzert im Stephaniesaal.
Der Wagen hielt. Der Hoteldiener musterte sie geringschätzig und rührte sich nicht. Sie fragte beim Portier nach Herrn Manfred Wolff. Der Mann streifte sie mit einem impertinenten Blick, dann sagte er über die Achsel: »dritter Stock, Nummer 86.«
Sie stieg langsam die Treppen hinauf. Sie mußte oft einhalten und mühsam Atem holen. Im dritten Stock blieb sie lang an einem Fenster stehen und sah zum Schloßberg hinauf, der steil über den roten Dächern der alten Häuser aufstieg. Endlich hatte sie sich soweit gefaßt, daß sie an die Tür klopfen konnte. Keine Antwort. Sie pochte stärker. Ein verschlafenes, ärgerliches Herein. Sie betrat das Zimmer.
Herr Manfred Wolff lag in Hemdärmeln auf dem Sofa. Ein Lorbeerkranz hing an der Fensterschnalle. Allenthalben lagen Kleider und Wäschestücke umher, es roch nach kaltem Zigarettenqualm und Pomade.
Sie blieb hilflos an der Tür stehen mit schlaff herabhängenden Armen und furchtsamen großen Augen, wie ein kleines Schulmädchen, das nachsitzen mußte und nun sich nicht ins Zimmer traut. Aller Mut, aller starke Wille war verschwunden. 192
Wolff sprang entsetzt vom Diwan auf und stammelte: »Um Gottes willen – gnädige Frau – was wollen – was suchen Sie . . .«
Und er rannte nervös im Zimmer umher und suchte seinen Rock. Der Teufel sollte diese Weiber holen! Jetzt, wo noch sein Prozeß wegen der kleinen Gretl Hausmann schwebte, konnte er diese Geschichte gerade auch noch brauchen! Und ausgerechnet vor seinem großen Konzert, von dem so viel abhing! Eine verheiratete Frau! Die Frau dieses kniffligen Advokaten!
Sie stand noch immer an der Tür. Er hatte endlich den Rock gefunden, jetzt entdeckte er, daß er ohne Kragen und Kravatte war. Ach was!
Er bot ihr einen Stuhl an und entschuldigte sich wegen der Unordnung im Zimmer. Aber er sei ein armer, wandernder Musikant.
Sie hatte auf der äußersten Stuhlkante Platz genommen.
»Sie sind also sehr erstaunt, oder – erschrocken, daß ich hier bin?«
»Ich – ich konnte – ja, in der Tat! Ich mache mir Vorwürfe! Eine augenblickliche Wallung der Leidenschaft – mein Gott, ich bin doch Künstler! – ich habe doch Blut in den Adern! – und nun sehe ich Sie hier – Sie haben ihren Gatten verlassen – bei allen Göttern – das wollte ich nicht – das kann ich nicht verantworten – ich . . .«
Sie lächelte bitter: »Der Flug zu den Sternen . . .«
Er verstand nicht gleich. Dann fiel ihm das Gespräch im Park ein. Er hätte es nicht für möglich gehalten, 193 daß ein vernünftiger Mensch das ernst nahm. Das konnte nur einem Weib einfallen, einer Provinzgans.
Er lächelte schmerzlich. »Der Flug zu den Sternen! Liebste Seele – der bleibt ewig Sehnsucht! Wir sind eingekerkert in die Mauern spießbürgerlicher Moralgesetze. Ja – wenn wir in derselben Stadt lebten und Gelegenheit zu unauffälligem – Gedankenaustausch hätten . . . wie etwa Goethe und die Frau von Stein . . .«
Er erhob sich. Seine Augen glühten sie an. Es fröstelte sie plötzlich und dann wurde ihr siedend heiß und todesbang. Seine vollen, sinnlichen Lippen glänzten feucht. Er kam auf sie zu wie ein schönes, dunkles Raubtier.
»Geliebte –! Göttin –!«
Sie wich taumelnd zur Tür zurück und stürzte hinaus. Sie hielt immer noch den Griff ihrer Reisetasche umklammert, die sie die ganze Zeit über auf dem Schoß gehalten hatte.
Sie jagte eine Treppe hinunter. Dann sank sie auf einen Korbsessel. Sie zitterte am ganzen Leib. Sie zog den Schleier vors Gesicht.
Endlich faßte sie sich. Nur fort aus diesem entsetzlichen Haus.
Sie stieg die Treppe hinab.
Draußen war es schon fast Nacht. Ein leiser, feiner Sprühregen fiel, naßkalt, fast Eis.
Sie schritt langsam die Gasse hinunter, bog ganz mechanisch rechts ein zur Murbrücke.
Jetzt war alles aus. Jetzt stand sie auf der Straße. 194 Jetzt war sie wirklich eine Dirne. Nun konnte sie gleich hingehen und sich dem nächsten Mann anbieten.
Sollte sie in Graz bleiben? Sie dachte an ihre Hochzeitsreise und an Manfred Wolff und wußte, daß sie hier nicht einen Tag weilen konnte. Und dann kommt vielleicht ihr Mann und holt sie. Nein, weiter, weiter, fliehen, sich verstecken, verkriechen.
Sie kam zur Murbrücke. Unter ihr rauschte der Fluß mit wilden, hochgehenden Wellen. Man brauchte jetzt nur sich über das Geländer zu beugen – weit – und es war alles gut. Aus diesem Wasser zog man sie nicht lebend . . .
Aber ihre Füße gingen ganz mechanisch weiter, als gehorchten sie nicht mehr dem Hirn, sondern einer fremden, starken Macht, die sie vorwärtstrieb, die nichts vom Tode wissen wollte.
Die Brücke zitterte und schwankte leise unter der Last eines Fuhrwerks.
Und in diesem Augenblick war ihr, als ginge sie selbst unsichtbar neben ihrem eilig hinschreitenden Körper einher und sehe mit durchdringendem Blick alle Gedanken, die in diesem Körper sich regten, alle geheimen Schicksalsfäden, die ihn zogen und lenkten und tanzen ließen wie eine Puppe auf dem Theater.
Und sie sagte dieser andern Elsbeth: »Nein, das ist nichts für dich, meine Liebe. Leute deiner Art enden nicht so großartig und tragisch mit einem Sprung ins Wasser. Dein Schicksal ist auch in der Wahl deines Unglücks genau so trivial und lächerlich banal wie dein ganzes Leben. Ja, mein kleines Mädchen, der 195 ersten Versuchung bist du erlegen, weil sie im Mantel der ›Kunst‹ zu dir geschlichen kam und Gedichte deklamierte. Es hätte ebensogut auch ein Tierbändiger sein können, ein Taschenspieler, ein Schmierenkomödiant! Dem ersten Besten bist du verfallen, der – anders war als alle Automaten um dich herum! Leute deiner Art haben eben keine großen Erlebnisse, für sie nimmt sich das Schicksal gar keine Mühe . . .«
Blitzschnell geschah dieses Gespräch. Dann glitt sie schon wieder in den Leib der andern, die neben ihr herschritt, und war wieder Elsbeth. Die Brücke lag hinter ihr, und sie ging die lange Straße zur Bahn hinauf.
Sie wollte also offenbar reisen, fortfahren? Ja. Was denn sonst?
Aber wohin?
Da blieb sie stehen. Ja – das war das einzige!
Sie fuhr jetzt nach dem Süden. Irgendwohin. Das wird sich noch weisen. Erst einmal nach Triest. Von dort schrieb sie ihrem Mann. Er wird inzwischen gesehen haben, daß sie nicht länger mit sich spielen läßt. Er muß einlenken, sonst wird sie auf Scheidung dringen. Dann ist der Skandal noch größer. Inzwischen aber ist sie auf – ärztliches Anraten nach dem Süden gereist, zur Nachkur.
Natürlich wird das kein Mensch glauben. Aber das war ja auch ganz nebensächlich. Es kam ja immer nur darauf an, was man sagte, was man spielte.
Und dann, wenn er einwilligt, sie ganz ihre eigenen Wege gehen zu lassen, gar keine Ansprüche mehr an sie zu 196 erheben, gar keine, dann kann er sie nach ein paar Monaten abholen aus dem –Sanatorium – »nach Hause«.
Dann werden sie nebeneinander leben, vor der Welt als glückliche Gatten, er konnte Bürgermeister werden, wenn er wollte; in Wahrheit gingen sie einander säuberlich aus dem Wege und hatten nichts gemein als den Namen. –
So mußte es geschehen. Das war die einzige Lösung.
Fast freudig setzte sie ihren Weg fort.
Am Bahnhof fragte sie nach dem Triester Schnellzug. In drei Stunden.
Sie aß im Restaurant. Sie hatte plötzlich gierigen Hunger. Erst jetzt fiel ihr ein, daß sie seit gestern mittag nichts mehr zu sich genommen hatte.
Dann ließ sie sich Papier und Tinte bringen und schrieb:
»Lieber Leopold! Unternimm keine weiteren Schritte gegen mich und versuche auch nicht, mich zurückzubringen. Sage Deinen Bekannten, daß ich mit Deiner Einwilligung in ein Sanatorium gereist sei. In einigen Tagen hörst Du wieder von mir. – Elsbeth.«
Jetzt, um diese Stunde, wartete er bei der Mutter auf sie. Und morgen früh ist der Brief dort und wird ihn verhindern, etwas zu verderben.
In der kleinen Zeitungsbude auf dem Bahnsteig kaufte sie sich einen Baedeker und studierte bis zur Abfahrtszeit, was über Triest darin stand. Sie freute sich auf das Meer . . .
Der Zug wurde signalisiert. Nun wurde ihr doch sehr bang. Und als die riesige Schnellzugsmaschine mit 197 den rotglühenden Augen daherbrauste, daß der Boden unter ihr erzitterte, ergriff dieses Zittern auch ihr armes, müdes, gequältes Herz, und beklommen und furchtsam stieg sie in einen fast leeren Wagen erster Klasse. Sie wollte allein sein.
Sie betrat ein Abteil und schloß die Tür hinter sich, stellte die kleine Tasche neben sich, legte Mantel und Hut ab. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Noch war es nicht entschieden. Sie konnte noch alles ändern. In einer Stunde war sie in der Umsteigstation, dort konnte sie den Zug verlassen und um fünf Uhr früh war sie daheim, konnte durch die leeren Gassen heimgehen und wenn das erste Frühlicht die Stadt erhellte, konnte sie ihre Aussprache mit Körner beendet haben und niemand erfuhr, was geschehen war. Er würde auch dann zur Genüge wissen, daß ihre Geduld zu Ende war, daß er fortan ihren Willen zu respektieren hatte. Und trotzdem – das Äußerste war vermieden, sie hatte ihm keine Waffe in die Hand geliefert.
Der Zug begann zu schütteln. Der lange Waggon wiegte sich in den Achsen. Lichter sausten vorüber. Wechsel donnerten unter den Rädern. Sie saß und grübelte.
War es wirklich gut, was sie in die Wege geleitet hatte? Wenn er auch einwilligte, um den Skandal zu vermeiden – war es denn nicht so gut wie sicher, daß nach ein, zwei Monaten wieder alles so war wie nur je in der ärgsten Zeit? Da waren wieder die furchtbaren Menschen um sie, nirgends Licht, nirgends 198 Hoffnung, kein Ziel, kein Zweck, das ganze Dasein leer, tot. Kein Mensch, der sie liebte, keiner, den sie liebte. Hatte es einen Sinn, so zu leben?
Und wenn er nicht annahm?
Dann stand sie allein in der Welt, als geschiedene Frau, ja ärger noch: als davongelaufene Frau, von der jeder glauben konnte, was er mochte. Und sie war ja so hilflos und konnte sich nie wehren. Sie wehrte sich nicht gegen ihre Ehe, in der Ehe nicht gegen ihren Mann, nicht gegen ihre Freundinnen, sie wehrte sich nicht gegen Wolff – jeder konnte anfangen mit ihr, was ihm beliebte. Sie war das willenlose Spielzeug aller – die wehrlose, kleine Fliege – zwischen den Rädern der Automaten . . .
Der Zug mäßigte die Schnelligkeit und hielt. Ein Name wurde gerufen – sie fuhr erschrocken auf. Jetzt muß sie sich entscheiden. Herrgott im Himmel, schnell, schnell, gib mir ein Zeichen – was soll ich tun –
Sie hastet mit zitternden Händen nach dem Mantel, nach dem Hut – ein leises, kaum merkliches Rollen – der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt.
Es war entschieden.
Sie sank zurück auf die weichen, wiegenden Kissen.
*
Und in diesem Augenblick, während ihr Denken willenlos der völligen Erschöpfung erlag, erlebte sie plötzlich – in der Zeitspanne eines Herzschlages – dieses wie einen Traum:
Sie versank in einem unendlichen, uferlosen Meer, 199 dessen wildschäumende graue Wogen von allen Seiten auf sie heranrollten. Sie sank langsam, unfähig, um Rettung zu rufen, nur die Arme flehend zum düster grauschwarzen Wolkenhimmel emporgestreckt. Es war kein Licht, nur graues, gespenstisches Traumdunkel. Und plötzlich sah sie neben sich allenthalben, flüchtig enthüllt von zurücksinkenden Wogen, noch andere Menschen, die gleich ihr rettungslos untergingen in der grauen Meerflut.
Aber da wuchs vor ihr in der Ferne und doch nahe durch seine Riesenhaftigkeit die mächtige Gestalt eines Mannes empor ins Düster des Himmels. Er stand auf den Wassern. Sie streckte die Arme zu ihm empor. Da erkannte sie die Züge des alten Priesters, ihres Freundes. Aber sie waren wie durchleuchtet von einem inneren Licht und jetzt schimmerten hinter seinen irdisch armen, mühselig schuldhaften Zügen die andern, ewigen, göttlichen durch und ein großer Glanz ging von ihnen aus. Und der Ewige hob beide Hände in mächtigem Segnen über die schuldlose Sünderin, und seine Stimme klang weit über das graue Meer:
Ego te absolvo a peccatis tuis . . .!
In diesem Augenblick schlugen wild die Wogen über ihr zusammen: und losgesprochen von aller Schuld ließ sie sich zu Tod erschöpft, willenlos in den Abgrund gleiten.
Die bürgerlichen Kreise der Stadt waren entsetzt über Elsbeths Flucht. So etwas hatte sich noch nie 200 ereignet. Das Märchen vom Sanatorium glaubte niemand.
Dr. Körner wagte sich nicht mehr aus dem Haus. Er erschien nicht bei den Sitzungen des Gemeinderates, nicht im Kaffeehaus und nicht beim Judennatzl. Man hatte allgemeines Mitleid mit dem bedauernswerten Mann.
Als ein Tag nach dem andern verstrich, ohne daß Nachricht von Elsbeth kam, begriff er, daß das Ganze nur ein Vorwand gewesen, ihre Flucht zu erleichtern.
Die Bank meldete die Abdisponierung von Elsbeths Vermögen nach Graz. Er tobte wie ein Irrsinniger. Er fuhr nach Graz. Dort teilte man ihm mit, daß bisher niemand Geld behoben habe. Er selbst konnte ohne Elsbeths Unterschrift nichts anfangen.
Er hetzte Detektivs auf ihre Spur. Das einzige, was sich ermitteln ließ, war, daß die gesuchte Dame nicht, wie vermutet, bei dem Violinvirtuosen Manfred Wolff weile.
Nun wußte er, daß sie nicht mehr zurückkehren werde.
Er war vernichtet, sein Ruf dahin, er war lächerlich gemacht vor der ganzen Stadt.
Aber er erfuhr in dieser traurigen Zeit auch, was treue Freundschaft bedeutete.
Eines Tages erschien Florian bei ihm. Er hatte die Magd, die ihm den Eintritt wehren wollte, beiseitegeschoben und betrat Körners Arbeitszimmer.
Und er redete dem Freund zu: es sei sinnlos, sich einer untreuen Frau wegen einzusperren. Er sei ein 201 Mann, auf den die Stadt rechne. Keinem Menschen falle es ein, ihn zu verlachen! Man sei entrüstet über seine Frau, man hege Mitleid mit ihm, aber man sage auch: er solle Gott danken, daß er sie los sei. Also Kopf hoch, heraus aus den vier Mauern, ins Leben! Er wisse, was auf dem Spiel stand!
Und er ließ nicht früher ab, bis Dr. Körner mit ihm zum Judennatzl ging, wo die versammelten Freunde seiner harrten.
Man begrüßte ihn ernst, aber mit einer wohltuenden Herzlichkeit. Niemand erwähnte seine Frau. Man sprach von der Kanalisierung, vom bevorstehenden Neubau der Brücke.
Körner saß zuerst einsilbig und verstimmt; dann aber taute er allmählich auf, beteiligte sich am Gespräch. Und als in vorgerückter Stunde die allgemeine Stimmung nichts mehr zu wünschen übrigließ, konnte Florian es wagen. Er sagte:
»Lieber Körner, du bist ein Ehrenmann! Was kannst du dafür, daß deine Frau dich hintergeht und dir davonläuft? Und noch dazu mit so einem Kerl! Und Schufte wollen wir alle heißen, wenn wir es dich entgelten lassen! (So ist es!) Nein – du bist ein Ehrenmann – du bist der fähigste Stadtrat – die Gemeinde hat noch Großes von dir zu erwarten – die gesamte Bürgerschaft blickt mit Stolz und Vertrauen auf dich! Heraus mit dir in den Kampf! Kein Mensch denkt mehr an das ungetreue Weib! Wir alle stehen hinter dir! Liebe Freunde, erheben wir das Glas auf das Wohl unseres lieben Körner, unseres großen 202 Stadtrates und künftigen Bürgermeisters! Er lebe hoch! hoch! hoch!«
Man stimmte begeistert in den Ruf ein und stieß mit Körner an.
Nun war Redefreiheit über das heikle Thema erteilt und man beglückwünschte Körner allseitig, daß er diese Frau losgeworden. »Was hast du an ihr gehabt? Ewig krank, leidend, matt, übler Laune! Eine Miene, als ob man sie mit jedem Wort beleidigt hätte! Nein, es ist am besten so! Das häusliche Elend hätte ja doch nur deine besten Kräfte aufgerieben. Nun kannst du als ganzer Mann dich für deine hohe Aufgabe einsetzen.«
Dr. Körner kam an diesem Abend sehr spät, aber auch sehr heiter nach Hause. Florian und Dr. Bachelmayer geleiteten ihn sorglich.
Und in der Tat war es so, wie Florian gesagt hatte. Man kam Dr. Körner allenthalben mit größter Herzlichkeit entgegen. Und nachdem man erst einmal wußte, daß ihn eine Erwähnung seines Unglücks nicht allzusehr kränke und wegscheuche, so machte jeder eine kleine Bemerkung darüber und die Sache war für ihn abgetan.
Die erste Stadtratsitzung war das peinlichste, das es zu bestehen galt. Bürgermeister Lechner drückte ihm mit herzlichen Worten sein und seiner ganzen Familie Beileid aus. Und dabei klang aus jedem Wort der offene Hohn und Triumph. Die Stadträte der Körnerpartei – denn schon gab es eine solche – setzten eisige Mienen auf. Dr. Körner fixierte den 203 Bürgermeister durch seine großen, runden Augengläser mit gespanntester Aufmerksamkeit, um keine Silbe seiner Rede zu verlieren, und dankte ihm dann kurz und herzlich.
Aber plötzlich, mitten in der Sitzung, man wußte kaum, wie es kam, entwickelte der Advokat aus einem ganz geringfügigen Anlaß einen derartig scharfen Angriff gegen den Bürgermeister, daß die Stadträte ihren Ohren nicht trauten. Er ließ mit bedeutsamen Seitenblicken auf die beiden Schwiegersöhne Lechners ein Wort von »krassem Nepotismus« fallen und ging so rücksichtslos ins Zeug, daß schließlich ein heftiger Wortstreit zwischen ihm und dem Bürgermeister entstand. Man sprach tagelang in der Stadt von nichts anderem. –
Frau Stadler war mehrere Tage nach Elsbeths Verschwinden nicht aus dem Haus gegangen. Die Schmach und Schande betraf ja sie als Mutter am meisten! Dazu kam noch, daß dieses listige Weib, das sonst vor allem, was Geschäft hieß, den größten Abscheu heuchelte, mit bewunderungswürdiger Schlauheit ihre ganze riesige Mitgift in Sicherheit gebracht hatte! Offenbar war der Musikant nicht ihr einziger Liebhaber! Es mußte da in der Stadt noch so einen Kerl geben, der ihr bei der Ausführung des feinen Streiches geholfen hatte.
Aber mit der Zeit bemerkte auch sie, daß es niemand einfiel, ihr an Elsbeths Fehltritt eine Schuld beizumessen. Man schien gar nicht mehr zu wissen, daß sie ihre Mutter war und begegnete ihr allenthalben nach wie vor mit größter Wertschätzung und Hochachtung. – 204
Es wuchs Gras über die Sache. –
Und die beiden ersten großen Werke Dr. Körners gediehen: Die Kanalisierung war fast fertiggestellt und der Neubau der Brücke wurde in Angriff genommen.
An einem schönen Apriltag fuhr Frau Hermine Stadler auf ihrem alten Wagen an der Basiliuskirche vorbei, dem Stadtpark entlang, ins flache Land hinaus.
Sie trug wie immer ihren alten, etwas abgenützten Plüschmantel, den alten schwarzen Filzhut und die Fuchspelzboa, deren Haare schon stark abgestoßen und kurz waren.
Sie saß ruhig und unbewegt im Wagen, niemals in die Kissen zurückgelehnt, sondern immer etwas steif aufgerichtet und den Kopf dabei ein wenig nach links gesenkt.
Zahlreiche Leute grüßten sie. Sie dankte freundlich, aber genau abgestuft nach dem Rang und Ansehen der Person.