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Pater Friedrich war damals fast schon sechzig Jahre alt. Sein Gesicht war stark gerötet und verriet den Trinker. Das Haar war fast ganz weiß und er trug es gescheitelt und ein wenig in die Schläfen gekämmt. Es verlieh diesem derben, grobknochigen Gesicht etwas seltsam Rührendes.
Er war der zweitgeborene Sohn eines Bauern und wider seinen Willen in die Kutte gezwungen. Er wollte studieren, was, konnte er nicht genau sagen damals, aber Priester wollte er nicht werden, das wußte er.
Dann schickten sie ihn als Kooperator in ein Dorf zu einem alten, griesgrämigen Pfarrer. Dort begann er, Orgel zu spielen. Es war ein elendes Marterinstrument, diese Dorforgel, aber das verschlug ihm 93 nichts. Noch bevor er die Weihen empfing, hatte er es gefunden, was er werden wollte: Musiker. Der Vater hielt ihn für irrsinnig und hätte ihn beinahe geprügelt, die Mutter flehte ihn mit aufgehobenen Händen an; sie hätte ihn »Gott gelobt« – er mußte ihren Schwur einlösen und Priester werden. Spät erst erfuhr er, daß er die Frucht eines Ehebruches sei und daß sein verfehltes, verpfuschtes Leben die Sünde der Mutter tilgen sollte vor Gott.
So saß er als junger Mann im Dorf und spielte auf der Orgel. Aber dann kam die Sache mit der blonden Lehrerstochter. Weiß Gott! Der Alte unterwies ihn in der Harmonielehre, und die Herzen der Jungen klangen ineinander in einer Liebe, die über Leben und Tod ging. Sie kannten keine Rücksicht und kein Achthaben mehr, und die Leute waren ihnen gleichgültig. Das Mädel brannte ihr Leben ab an der Liebe wie eine Opferkerze.
Dann war das Unglück geschehen und er hatte eine ehrbare, geachtete Familie in Schande gestürzt. Wäre es eine Bauerndirne gewesen – man hätte nicht viel geredet. Das kommt alle Tage vor und fragt niemand nach dem Vater. Aber das!
Das Mädchen starb im Wochenbett.
Der alte Pfarrer, der in seinen jungen Jahren manch eigenes Kind getauft, verstand diesmal keinen Spaß. Er zeigte Pater Friedrich beim Bischof an. Da versetzten sie ihn in die ärmste Elendspfarre des ganzen Bistums, hinauf in ein Bergdorf, das zwischen steilen, kahlen Felswänden liegt, wo dreiviertel des 94 Jahres Winter und drei Monate ein rauher Frühling herrscht.
Dort begann er wüst zu trinken und den Bauern predigte er dermaßen, daß er wieder vors Konsistorium kam, und diesmal schickte man ihn in ein Strafkloster. Dort verstand man es, solche Leute kirre zu machen.
Und in der grauen Mönchszelle, in die nie ein Sonnenstrahl schien, und die er kaum je auf ein paar Stunden verließ, wurde sein Haar grau. Und doch, wo er es am wenigsten erwartet hätte, wo er in Leid und Trotz ganz und gar verloren lag, wurde ihm hier die Erlösung.
Der Dirigens chori ward auf sein musikalisches Talent aufmerksam. Und der alte Priester, der die Sünden des Jungen nicht verdammen konnte, nahm ihn unter seinen Schutz. In jenen Jahren wurde Pater Friedrich zum Orgelvirtuosen, studierte Kontrapunkt und lernte die Geige und das Cello spielen und dazwischen hin und wieder trank er.
Es war ein Leben, das einen minder starken Menschen zu Staub zermürbt hätte. Er lebte gleich einem Gefangenen, sah nie die grüne Welt, die er so liebte, war umgeben von finsteren Inquisitorengesichtern und von Sträflingen gleich ihm, verschloß in sich alles Leid, alle Sehnsucht, den furchtbaren heiligen Zorn, Verbitterung, Haß und Rachsucht, und kämpfte in seiner Seele Kämpfe aus in aller Einsame und Verlassenheit, die ihn zu Boden zwangen – und rang und suchte in der Musik Erlösung und Frieden, und wenn er es nicht 95 mehr aushielt in seinen Qualen, so trank er sich für ein paar Stunden Vergessenheit und Schlaf.
In diesem Kloster lebte er zwanzig Jahre. Dann entließen sie ihn als geheilt und schickten ihn an die Stadtpfarre in das kleine Nest. Er war ein alter Mann mit weißen Haaren, aber noch immer war es in seinem Innern nicht still und es kamen Zeiten, da wieder alle Verzweiflung, Haß und Hohn und wilde Rachsucht aufflammten.
Dann geschah es, daß er den beichtenden Pharisäern, den sittsamen Frauen, die Gedankensünden reuig bekannten und den Ehebruch verschwiegen, gotteslästerlichen Hohn ins Gesicht warf und morgens mit weinglühendem Gesicht zur Frühmesse kam.
Dann folgten Tage, die er einsam in seinem Zimmer verbrachte. Er verhöhnte Gott, an den er nie geglaubt, die Menschen, die Bestien waren, und sich selber, den elenden Schwächling, der sich in die Kutte hatte zwingen lassen und sein eigenes Leben verhaut, verpfuscht, verschleudert hatte.
Und wenn es dann nicht mehr auszuhalten war, dann »übte« er in der finsteren Kirche und reinigte seine schuldlos sündige Seele in der Musik und warf alle Makel und Greuel von sich.
Einer solchen wahrhaften Seelenbeichte hatte Elsbeth angewohnt.
Nachher lebte er dann immer wieder Wochen und Monate still und gelassen dahin. Nur seinem Sarkasmus legte er niemals Zügel an.
Der Pfarrer ließ ihn gewähren. Er hatte als 96 Musiker und Orgelvirtuose immerhin einen Ruf, so mochte er es treiben, wie ihm beliebte.
Elsbeth mußte lange warten, bis sie ihn wieder spielen hörte.
Es ward inzwischen Winter und das Gesellschaftsleben begann. Die Polyhymnia gab ihre gewohnten drei Liedertafeln; Dr. Körner und Frau waren beim Bezirkshauptmann geladen und sahen ihrerseits Gäste bei sich und wurden von den befreundeten Familien empfangen. Das Leben wickelte sich ab wie ein vorzüglich geregeltes Uhrwerk, genau nach Herkommen und Gewohnheit. Der Stammtisch im »Judennatzl« veranstaltete einen Damenabend, der in bester Stimmung verlief. Kleine Intrigen wurden unter der Oberfläche des gesellschaftlichen Verkehrs ausgefochten, Frau Professor Hofer gab einem Mädchen das Leben und erfuhr die nie erträumte Ehre, daß die Frau Gymnasialdirektor es aus der Taufe hob – die schönste Anerkennung der Tüchtigkeit des Professors Hofer.
Elsbeth lebte ihr Leben hin, bewundert nach wie vor von Frau Bachelmayer und Hofer und Fräulein Florian und etlichen anderen Damen. Ihr Eheglück wurde gepriesen, und niemand schien zu sehen, daß die junge Frau sich eigentlich nur mehr mit aller Mühe aufrecht hielt und heimlich litt, ohne doch krank zu sein. Was konnte ihr denn auch fehlen? Sie hatte den besten, tüchtigsten Mann, um den man sie beneiden konnte, war jung, schön, reich, glücklich – ein Götterliebling. Und so 97 vornehm, so fein, so zurückhaltend – woher sie das nur hatte? Nun ja, der Mann hatte sie wohl erzogen und ihr etwas Schliff beigebracht; aber es war doch noch etwas mehr.
Fräulein Florian verglich sie mit der Lotusblume auf den Fluten des Ganges. –
Fast täglich ging sie in der Abenddämmerung zur Stadtkirche, ob nicht Pater Friedrich spiele. Die Kirche lag finster und leer, kein Laut ließ sich vernehmen.
Als sich der Winter seinem Ende neigte, fühlte sie, daß ihre Kraft erschöpft war. Ihre Seele glich einem geschändeten Tempel, in dem Vandalen gehaust.
Des Morgens konnte sie sich kaum erheben. Bleischwer waren die Glieder. Die Augen brannten in ihren Höhlen, schwarze Schatten umränderten sie, die Schläfen schmerzten, als ob sie in einen Schraubstock gepreßt wären. Sie berührte das Essen kaum. Mit äußerster Anstrengung verheimlichte sie vor Körner ihren Zustand; sie hätte es nicht ertragen, daß er mit seinen plumpen Händen in ihr innerstes Leben eingriff, fragte, bohrte, nicht verstand und endlich den gräßlichen Dr. Bachelmayer berief. Es konnte ja keiner sie verstehen, niemand, niemand. Nur der alte Priester vielleicht. Aber helfen – auch der nicht. So spielte sie während der Mahlzeiten die aufmerksame Zuhörerin und merkte mit größter Mühe auf seine Reden, um ihren Sinn zu verstehen und keine verkehrten Antworten zu geben.
War er endlich wieder gegangen, so sank sie aufs Sofa und ein krampfartiges, stoßweises Lachen und 98 Keuchen erschütterte sie. Der ungeheuerliche Zwang, den sie sich seit mehr als zwei Jahren Tag für Tag auferlegen mußte, immer und immer und immer, dieses fortwährende krampfhafte Sichbeherrschenmüssen, dieses Stillhaltenmüssen, wenn man mit Fäusten auf sie loshämmerte, der die leiseste Berührung schon weh tat –! Dieses geduldige Anhören der tagtäglich gleichen, so elend lächerlichen, albernen Reden dieses Dr. Körner, dieser Frau Bachelmayer, dieser Florian und Hofer und wie sie alle hießen –! Die sich alle wie Kletten, wie Blutegel an sie hingen –
Dies zermürbte sie, brach sie, zertrat sie.
Sie hatte irgendwo gelesen: die alten Karthager hatten eine Todesstrafe, bei der dem Opfer ein Knochen nach dem andern gebrochen wurde, jeder Fingerknochen, Unterschenkel, Oberschenkel, Unterarm, Oberarm, linke Rippen, rechte Rippen, schließlich das Genick. Das dauerte tagelang, denn zwischen je zwei Knochenbrüchen ließ man eine Stunde verstreichen.
So ging es ihr auch. Langsam wurde sie von diesen Menschen zu Tode gemartert, die alle sie liebten, nach ihrer Art. Wann nur, wann endlich gab man ihr den Rest, den Gnadenstoß! Wann würde man ihr das Genick brechen! – – –
Eines Morgens wußte sie: heute ist es aus. Heute kann ich nicht mehr weiter. Ich bin fertig.
Sie lag bis in den halben Vormittag reglos im Bett. Dann erhob sie sich dennoch, kleidete sich langsam an und schleppte sich mühselig zum Schreibtisch. Sie nahm eine Visitenkarte und schrieb: 99
»Hochwürden! Ich bitte Sie inständigst, spielen Sie morgen Abend. Ich kann nicht mehr weiter. Elsbeth Körner.«
Sie ging die paar Schritte bis zum Briefkasten, dann lag sie den übrigen Tag teilnahmslos, wie im Halbschlaf hindämmernd, auf dem Diwan. Sie vermochte auch nicht mehr zu lesen. Nur zu Mittag raffte sie sich auf und spielte die alte Komödie vor ihrem Mann. Abends war Dr. Körner in einer Versammlung im Hotel zum goldenen Lamm.
In zwei Jahren lief die Amtszeit Lechners ab. Und es gab Leute in der Stadt, die dafür sorgen wollten, daß er nicht ein drittes Mal gewählt wurde.
Pater Friedrich hatte seit dem letzten »Ausbruch« im Herbst ruhige Tage. Er taufte und kopulierte, begrub und predigte, trank mäßig und mit Genuß seinen geliebten Wein aus der Kolos, und dazwischen vollendete er sachte das letzte einer Reihe von Kammermusikstücken, die in ihrer Gesamtheit eigentlich eine Art von Symphonie bildeten. Er arbeitete seit zwanzig Jahren daran. Sie standen in gedanklichem und thematischem Zusammenhang und waren im letzten Grunde ein Bild seines eigenen Lebens, die wilde, heiße Jugendliebe, die grauenhaften Jahre der Buße und des Ringens und endlich der Friede . . .
Der Friede, in den doch immer wieder züngelnd und flackernd die rote Lohe schlug, nur für kurze Augenblicke, aber dennoch höhnisch erinnernd, daß der Brand 100 noch immer nicht erstickt, der Friede immer noch erzwungen und nicht errungen war . . .
Dieses letzte Musikstück nun, ein Quintett in D-Moll für Violine, Viola, Cello, Fagott und Flöte, erstaunte den alten Mann immer wieder von neuem. Es war so merkwürdig still, so sanft und voll einer unendlich wehmütigen, herben und dennoch süßen Melancholie.
Er nickte mit ironischem Lächeln: du wirst alt, lieber Friedrich, und verlierst die Zähne . . .
Da kam Elsbeths Karte.
Er hatte die blasse, leidende Frau nicht vergessen. Er wußte genau, daß er ihr einst den Oberon-Hochzeitsmarsch gespielt; er kannte natürlich Dr. Körner und verachtete ihn. Wie die beiden zusammen lebten, wußte er nicht und es interessierte ihn auch nicht im mindesten.
Aber als er ihr damals in der dunkeln Kirche gegenüberstand beim Schein eines flimmernden Öllämpchens, las er mit einem Blick die ganze Leidensgeschichte dieser Seele von ihrem bleichen Antlitz ab.
Damals hatte er in seinem Zimmer greuliche Flüche gewettert über Gott und Menschen. Da war er nun Priester; wirklicher Priester, der Sünde und Verfehlung kannte und nicht richten, sondern menschlich verstehen und helfen wollte. Und konnte er helfen?! Konnte er diese zertretene Seele retten und sagen: steh auf und wandle?! Was sollte er ihr sagen und raten?! Ach – ich . . . auf die ganze Pfäfferei! Das hätte er sagen müssen: nimm dein Geld, fahr in die Welt – und findest du den Mann, den du lieben kannst, so hab' ihn 101 lieb und kümmere dich den Teufel um das Philisterpack und sei glücklich! – Das hätte er sagen müssen. Aber dafür gab es Gesetze, schöne, kluge, weise Gesetze! Die ließen den Vogel nicht aus dem Käfig!
Und doch barg das absonderliche Erlebnis einen süßen, bittersüßen Kern: seine Musik war dieser armen Seele zum Trost und Labsal geworden. Und er, der als Priester und Mensch nicht raten und helfen konnte und durfte, er konnte als Künstler lindern und trösten . . .
Er hielt die kleine Karte noch immer in der Hand: also so weit war es, daß sie alle Etikette beiseitewarf und auf die Gefahr, sich zu »kompromittieren«, ihn sozusagen zu einem Stelldichein in der leeren, dunkeln Kirche lud, von dem natürlich der Meßner, der alte Suff, wissen mußte! »Ich kann nicht mehr weiter.« Und wie lange würde er sie wohl so aufrechterhalten können mit seiner Musik –?
Natürlich wird er spielen. Stille, sanfte, friedbringende Sachen. Ein wenig Bach, Mozart; es sollte auch ein bischen lächeln und kichern dürfen; Bruckner, aber nur ganz Friedvolles. Liszt? Ja, ein paar consolations. Und zum Schluß? Nun, warum nicht sein eigenes letztes Quintett? – Aber nimm deine Bauernpratzen zusammen, altes Luder, daß du nicht plötzlich alles über den Haufen wirfst und allen Zorn und alle Wut herausschreist! – – –
Als es dämmerte, kam Elsbeth. Die Kirche war verschlossen. Sie ging zum Meßner. Er verweigerte ihr den Eintritt – Pater Friedrich wird üben! Sie gab ihm zehn Kronen Trinkgeld, sie liebe Orgelspiel und 102 wolle heimlich zuhören. Der Meßner machte einen tiefen Bückling und wies sie in den entlegensten Winkel der Kirche.
Pater Friedrich hatte sie vom Fenster aus kommen sehen. Er wartete eine Weile, dann ging er hinüber. »Haben's die Kirch'n abg'sperrt?« –»Jawohl, Hochwürden, alles in Ordnung!« –»Haben's nachg'schaut, ob niemand drin ist?!« –»Jawohl, Hochwürden, keine Menschenseel', alles in Ordnung!«
Er nickte kurz und betrat die Kirche. Es ist doch gut, wenn die Menschen so schön lügen können. Jetzt geh zum Judennatzl, altes Luder, und versauf dein Trinkgeld!
Der Meßner war derselben Meinung und verließ gleich nach Pater Friedrich die Sakristei.
Der Priester sah sich nicht erst nach Elsbeth um. Er stieg zum Chor, bereitete die Orgel und begann zu spielen.
Ganz leise. Zarte Flötentöne schwebten auf, sanft und weich wie weiße Frühlingsblüten. Die Vox humana sang darüber hin, irgendwo im blauen Himmel.
Dann wurde die Musik ein wenig strenger. Eine Bachsche Fuge entwickelte sich; aber der Ernst dauerte nicht lange: göttlich leichte, beschwingte Melodien flogen auf und erfüllten das Herz mit namenloser Wonne ob ihrer unbegreiflichen Süße und tiefen Schönheit. Und dann – wahrhaftig, er spielte ein Menuett! Seltsame Gottesdienste hielt Pater Friedrich! Aber wenn die Engel vor Gottes Thron tanzten – wer anders konnte dann aufspielen als Meister Mozart? 103
Dann kam gleich hinterher der Ansfelder Bauernsohn. Ein ganz himmlisches, friedvolles Adagio sang durch den Raum, als geigten es selige Engel selber am Abend, wenn der Himmel voll feiner, leiser, rotglühender Federwölkchen steht und Gottvater, vom Weltregieren schon ein wenig müde, behaglich lächelnd sich in den Thron zurücklehnt und zufrieden ist mit sich.
Und er spielte weiter. Leise, sanfte Übergänge, frühere Themen wiederholend, neue entwickelnd, und nach einem unendlich schmerzvollen, bitteren Klagelied – dem Kyrie eleison der großen Beethoven-Messe – kamen mild sänftigend die »Tröstungen«. Eine rechte Abendmusik, die mit weichen, guten Mutterhänden über die schmerzende Stirn streicht und die Qualen und Leiden des Tages, Unrast und Verzweiflung fortnimmt und dem Schlaf winkt, daß er das Werk vollende. Balsam.
Und zuletzt schloß der einsame Spieler in der Höhe die eigene Seele auf und gab von dem Frieden, den er in einem langen, mühseligen, zerhaderten und verlorenen Leben erkämpft, gab von dem armen, armseligen und doch so unendlich rührenden, gottgefälligen Frieden der eigenen Seele einer anderen armen Seele, die in tiefster Verzweiflung und Dunkelheit versinken wollte.
Mit ganz leisen, unendlich weichen Klängen, die wie das Streicheln sanfter Hände waren, endete das Spiel.
So jammervoll mühsam sich Elisabeth zur Kirche geschleppt, so froh und erquickt trat sie den Heimweg an. 104 Wenn sie monatelang allein im Wald hätte weilen dürfen, fern den Menschen, die sie quälten, es hätte sie nicht so gestärkt und aufgerichtet wie die Stunde in der dunkeln Kirche. Dieser alte Priester mit seinen derben, groben Bauernhänden hatte sie so wunderbar getröstet und aufgerichtet und ihr neue Lebenskraft geschenkt. Er verstand, begriff, ohne daß sie nur ein Wort sagen mußte. Und er begann zu spielen – und sagte alles, was nur ein guter, wahrer Mensch ihr hätte zum Trost sagen können, und es war wieder licht und warm in ihr. Sie schämte sich gar nicht, daß sie ihm so gedankt hatte; er wird auch das verstehen und wissen, daß ihre Nerven so zerrüttet sind, daß sie sich nicht mehr beherrschen kann. –
Pater Friedrich war am Abend jenes Tages seltsam erregt.
Er hatte in der Bergpfarre auf offener Kanzel den Herrgott verhöhnt; er hatte im Kloster ein Kyrie geschrieben, so grauenhaft wild und zerrissen und anklagend, daß der alte Chormeister das Blatt durchriß: so darf man nicht komponieren, das ist Gotteslästerung!
Er hatte Sterbenden einen Himmel mit einem guten, barmherzigen Vater vorgelogen und brechende Augen noch einmal froh aufleuchten sehen. Aber niemals hatte er sich sagen dürfen: du bist ein Priester.
Heute, da er einer unglücklichen Frau die Orgel gespielt, entschlief er mit dem Bewußtsein: zum erstenmal im Leben war ich heute ein Priester nach dem Herzen Gottes. 105
Und in Demut dachte er daran, wie Elsbeth vor ihm in die Knie sank und unter strömenden Tränen seine Hände geküßt und immer wieder geküßt hatte . . .
Diese seine ungeschlachten, derben Bauernpratzen.
Er blieb lange wach an diesem Abend und beendete das letzte Quintett. Er gab ihm den Schluß, den er heute an der Orgel ersonnen und gespielt hatte.
Frau Stadler verbrachte den Winter in schlechter Verfassung.
Lungnitzer und Sohn hatten es offenbar darauf abgesehen, sie aus dem Feld zu schlagen. Einige ihrer ältesten Kunden sogar schwenkten ab und gingen zum Feind über.
Es war nicht so sehr der Geldverlust, der sie bedrängte. Aber es war in diesem Winter bereits so weit gekommen, daß sie einige Tage der Woche – nichts zu tun hatte, nicht auszufahren brauchte, und man sprach bereits davon, daß sie anscheinend beginne, sich langsam vom Geschäft zurückzuziehen und zur Ruhe zu setzen.
Und das vertrug sie nicht. Da saß sie nun daheim in den öden, grauen Zimmern, in denen sie seit dreißig Jahren lebte. Das Hauswesen, einfach und streng geregelt, lief ohne ihr Zutun ab wie ein Uhrwerk. Es bedurfte keines Wortes, keines Winkes von ihr, um es in Gang zu erhalten.
Sie aber, die keine Minute müßig sein konnte und eine ununterbrochene, rastlose Tätigkeit gewohnt war, 106 saß nun da – vor dem Nichts! Sie hatte nichts, rein nichts zu tun –!
Anfangs versuchte sie es mit der Zeitung. Aber nachdem sie die wirtschaftlichen Nachrichten gelesen hatte, die sie auch früher stets beachtet, und nun weiter blätterte, warf sie den ganzen Wisch ärgerlich beiseite. Das war ja alles barer Unsinn: in Draudorf ist ein Haus abgebrannt, in Leitgeben hat einer sein Weib erschlagen, dort war eine Überschwemmung, dem Ministerium drohte eine Krise – ein Roman in Fortsetzungen, das Feuilleton. Damit sollte sich abgeben, wer nichts Vernünftiges im Hirn hatte. Für sie war es nichts.
Die Stunden schlichen unerträglich langsam. Sie war der Verzweiflung nahe.
Sie peinigte die Dienstboten mit ihren ungeduldigen Anordnungen, die schließlich nur Unordnung ins Haus brachten.
Nichts, nichts!
Sie dachte daran, Elsbeth zu besuchen. Aber das wäre ein Eingeständnis gewesen und Frau Stadler gab sich nicht besiegt.
Sie zerquälte sich stundenlang den Kopf, wie sie dem Übel steuern könnte. Sie fand nichts. Sie war dazu verurteilt, den Rest ihres Lebens – und das konnten sehr gut noch zwanzig Jahre sein – untätig zu verbringen, dem leeren Nichts gegenüber.
In der ersten Februarwoche, als ihre schlechte Laune zuhöchst gestiegen war, kam eines Tages Herr Lungnitzer daher.
Er war natürlich in den zehn oder zwölf Jahren, 107 die seit seinem letzten Besuch verstrichen, gealtert, aber er war immer noch ein sehr lebhafter, ungemein rüstiger Mann. Er trat bescheiden, gar nicht höhnisch oder siegesstolz ein, nahm Platz und begann vom Wetter und vom Geschäft zu reden. Er entwickelte umfangreiche Pläne, breitete vor der Witwe das ganze Netz seiner vielverschlungenen Unternehmungen und Anschläge aus, wie ein General, der dem geschlagenen Gegner die Aufstellung seiner Truppen zeigt: da schau her – du bist völlig umzingelt, also –!
Endlich wiederholte er denselben Antrag wie bei seinem ersten Besuch in diesem Haus. Nur weniges hatte sich geändert: sein Sohn war nun erwachsen und so gut wie selbständig. Er anerkannte rückhaltlos und mit unverhohlener Bewunderung Frau Stadlers Geschäftstüchtigkeit. Es sei selbstverständlich, daß in der letzten Zeit ihre Tätigkeit ein wenig eingeschränkt wurde, denn zwei richten mehr aus als eines, nicht wahr. Aber wenn sie ihre Firmen nun vereinigten? Sie wird weiterhin ihre Ziegelfabrik, die Holzsäge, die Waldkäufe und vielleicht noch die Bodenspekulationen nördlich der Stadt übernehmen. Ein reiches Arbeitsfeld, das brauchte er ihr nicht erst zu sagen. Er wird sich ausschließlich mit Getreide und Viehhandel beschäftigen. Und sein Sohn, ja, der hatte es nun einmal auf die Pferde abgesehen! Ist halt noch ein junger Mensch, das gefällt ihm halt. Na, soll seine Freude haben. Ein wenig mit dem Boden werden sie auch arbeiten, aber nur südlich der Stadt. So, und nun möge sich Frau Stadler einmal gefälligst berechnen, was das für ein 108 Unternehmen sei! Sie würden zu dritt einfach jede Konkurrenz unmöglich machen, das Land gehörte ihnen, und sie werden es unter sich teilen wie einen fetten Braten.
Er sprach rein sachlich. Er legte ein Geschäftsunternehmen dar, die Begründung einer Doppelfirma. Ob man nun »Lungnitzer und Stadlers Witwe« schrieb oder ob man heiratete, war eigentlich völlig eins.
Er hielt auch mit seiner Ansicht über den heikelsten Punkt nicht zurück:
»Sehen Sie, Frau Stadler, Sie werden denken: der alte Fuchs will mein Vermögen für seinen Sohn ergattern! Schön. Jetzt sagen Sie aber selber: was machen Sie einmal mit Ihrem Geschäft? Der Dr. Körner wirds nicht fortführen, nicht wahr! Was wird also mit der Säge und der schönen Ziegelfabrik? Soll das einmal in fremde Hände kommen, die es verpfuschen und verschleudern? Und alle Ihre Kunden und Verbindungen – soll das einmal auseinanderlaufen, was Sie in dreißig Jahren mühselig und ehrlich zusammengebracht haben? – Ich will niemand was wegnehmen. Ihre Frau Tochter soll erben, was da ist – aber ich bin ein alter Geschäftsmann: ich kann nicht mit anschauen, wie ein solides schönes Geschäft zugrunde geht, rein nur, weil's in fremde Hände kommt.«
Frau Stadler hörte ruhig zu. Sie saß steif und gerade, den Kopf ein wenig nach links gesenkt. Ihr pergamentgelbes Gesicht war genau so streng und ernst wie immer.
Was Lungnitzer da sagte, war ihr selbst hundertmal durch den Kopf gegangen. Er hatte recht. Wer wird 109 das Geschäft erben?! Und dann – hier war einzig und allein die Möglichkeit, dem drohenden Nichts zu entrinnen, dem sie sich in den letzten Monaten gegenübergesehen.
Und Lungnitzer war ein verständiger Mensch. Er redete nicht vielleicht von einem gemütlichen Heim, das sie sich für ihre alten Tage schaffen wollten, oder von ähnlichem Unsinn. Das Ganze war ein Geschäft und er behandelte es auch so. Man konnte reden mit diesem Mann.
Und als er nun fragte: »Also, Frau Stadler, machen wir das Geschäft?«, sagte sie klar und bestimmt: »Ja.«
Sie gaben sich, wie es unter Handelsleuten üblich ist, den Handschlag. Dann begannen sie mit der Besprechung der Einzelheiten und setzten einen Kontrakt fest.
Herr Lungnitzer eröffnete auch, daß er in Unterhandlungen mit dem Nachbar der Frau Stadler stünde: er wollte das Haus neben ihrem kaufen. Er wolle sie nach der Hochzeit gar nicht in ihrem Haus und ihren Gewohnheiten stören. Jedes solle dann wohnen bleiben, wo es sei. Sie seien beide keine jungen Leute mehr, nicht wahr, also wozu solche Umstände machen!
Frau Stadler erschrak wie der Reiter überm Bodensee! Dieser Hauskauf wäre der letzte Schlag gegen sie gewesen! Damit wäre der Feind in ihr eigenes Lager eingedrungen und hätte ihr die Kunden vor der Türe weggefangen. Und diese Gefahr war nun beseitigt!
Sie trennten sich im vollsten Einverständnis. In den nächsten Tagen sollte der Kontrakt vom Notar 110 ausgefertigt werden, und dann konnte die neue Geschäftseinteilung beginnen.
Ja so, und die Hochzeit? – Sie lächelten unwillkürlich beide, wie gesetzte Leute, die sich einmal einen kleinen Scherz erlauben.
Na, vielleicht im April oder Mai? – Gut, im Mai.
Elsbeth erfuhr von der Sache erst, als der Ehevertrag, der mehr einem Geschäftskontrakt glich, vom Notar beglaubigt war und Herr Lungnitzer, der inzwischen Frau Stadlers Nachbarhaus gekauft hatte, in sein neues Heim übersiedelte. Sie bekam es zu wissen, als sie einmal die Mutter zufällig auf der Straße traf. Da teilte sie es ihr mit, so wie sie ihr früher auf einer gemeinsamen Ausfahrt etwa gesagt hatte: den Acker dort habe ich gestern gekauft.
Elsbeth starrte die Mutter sprachlos an. Zu ändern gab es da nichts mehr, das wußte sie. Aber warum denn nur?!
Frau Stadler hielt es nicht für notwendig und gut, der Tochter allzu genaue Aufklärungen über die wirklichen Gründe ihre Vorgehens zu geben. Sie sagte bloß: »Es ist besser für das Geschäft.«
Es fiel Elsbeth keinen Augenblick ein, daß sie durch die zweite Heirat der Mutter in ihrem Erbe verkürzt werden könnte – es war ihr nur so furchtbar – ja, wie nur? So furchtbar peinlich, fast ekelig, daß die Mutter in diesem Alter einen Mann ehelichen wollte, mit dem sie nicht die leiseste Spur einer Neigung 111 verband, sondern nur das Geschäft! Immer dieses Geschäft, das sie doch längst schon hätte aufgeben können! Sie sagte ihr das. Aber da wurde Frau Stadler böse. Elsbeth könne das natürlich nicht begreifen! Sie habe ja immer den Hang zum Nichtstun und Spintisieren gehabt; aber sie werde die Tage, die ihr Gott noch geben wolle, nicht in Untätigkeit verbringen. –
Elsbeth war ganz fassungslos. Nun mußte sie das auch noch ihrem Mann mitteilen! Sie verstand einfach nicht, wie man so etwas tun konnte. Ihr erschien dieses Geschäft wie ein Götze, dem man Menschen opfert, andere auch, vor allem aber sich selbst. Man hat übergenug Geld, um behaglich und ohne jede Entbehrung zu leben, aber man kam nicht zur Ruhe, rieb sich auf, gönnte sich weder Rast und Freude noch Erholung – nicht aus Geldgier, nein – fürs Geschäft. Es war, als ob dieses Geschäft, der Beruf, wie ein Schatten zuerst folgsam seinem Herrn nachliefe; aber mit der Zeit gewann dieser Schatten, dieses Phantom, eine unheimliche, gespenstische Selbständigkeit und eigenes Leben – er empörte sich, ward selbst zum Herrn und unterjochte den einstigen Bändiger, den er fortan als willenloses Werkzeug in seinem Frondienst gebrauchte. Er drang in ihn ein, erfüllte und regierte ihn, wie der Tyrann die Stadt von der eroberten Burg aus knechtet.
Elsbeth sann weiter und fragte sich: kann dies denn aber allen Menschen geschehen, werden sie alle die hilflose Beute ihres Schattens? – Und sie fand – wenn es ihr auch nicht in klaren Gedanken deutlich wurde, 112 sondern nur in dunkel geschauten Bildern – daß dies nur bei jenen Menschen geschehen konnte, in denen Raum war für das lebend gewordene Phantom, in die es eindringen konnte, weil vorher – nichts darin war – nichts Eigenes, keine Seele . . .
Weil sie leer waren: – Automaten – – –
Beim Mittagstisch erzählte Elsbeth ihrem Mann die schlimme Neuigkeit. Er ließ den Löffel fallen und starrte sie durch seine großen runden Augengläser mit einem maßlos dummen Ausdruck an. Er glaubte, sie erlaube sich einen albernen Scherz.
Dann wurde er wütend. So eine Schande! Nun sollte er einen Viehhändler zum Schwiegervater und einen halbwüchsigen Bengel, einen Roßtäuscher, zum Schwager bekommen! Herrgott noch einmal – das konnte ihm ja alles verderben! Diese Verwandtschaft! Da konnte er schön gegen den Bäcker-Bürgermeister losziehen! Hätte er doch lieber die zweite Tochter Lechners genommen! Das wäre gescheiter gewesen. Vielleicht war es doch vorteilhafter, mit dem Strom zu schwimmen und fette Fische zu fangen dabei, als gegen die bestehende Macht anzukämpfen!
Elsbeth bekam als erste seine üble Laune zu spüren.
Gleich nach Tisch eilte er – ein Ereignis – statt ins Kaffeehaus zu seiner Schwiegermutter. Sie empfing ihn mit einem etwas höhnischen Lächeln. Wußte sie doch, warum er kam!
Er machte aus seiner Bestürzung und seinem Ärger gar kein Hehl. Sagte ihr, daß sie als vielleicht reichste 113 Frau der ganzen Stadt es doch wirklich nicht mehr nötig habe, überhaupt noch ihr Geschäft zu betreiben. Da erwiderte sie mit eisiger Ruhe und jenem unangenehmen Lächeln:
»Es bleibt noch genug Geld für Sie übrig, Herr Schwiegersohn!«
Körner biß sich auf die Lippen. Dann verteidigte er sich eifrig: das Geld sei ihm völlig gleichgültig. Er habe genug Einkommen, um die Mitgift seiner Frau nicht anzutasten. Die liege in der Bank, wie sie ihm ausbezahlt worden sei. Er habe Lisi aus Liebe geheiratet, nicht wegen ihres Geldes, und brauche auch ihr dereinstiges Erbe nicht. Aber er wolle nicht der Schwiegersohn einer Frau sein, über die sich die ganze Stadt lustig mache. Und nicht der Schwiegersohn eines Viehhändlers und der Schwager eines Roßtäuschers . . .
Da sagte sie sehr kühl: »Ich habe auch mit Vieh gehandelt, damals hat Sie das anscheinend nicht gehindert . . .«
Damit hatte Körner seinen letzten Schuß vertan. Er konnte den Rückzug antreten. Noch einmal bot er alle Beredsamkeit auf, es war vergeblich. Er beeilte sich schließlich fortzukommen, um dieses höhnische, zerknitterte Pergamentgesicht nicht mehr sehen zu müssen.
Um drei Uhr kam er ins Kaffeehaus. Die Freunde sahen ihn schon von weitem den Ärger an. Er konnte nicht damit zurückhalten und erzählte alles.
Zu seinem Erstaunen fand jedoch Florian, daß das eigentlich eine ganz gute Idee von Frau Stadler sei. 114 Es wäre ja einigermaßen unangenehm für Körner, dem natürlich ein paar schöne Hunderttausende dadurch entgingen – aber vom Standpunkt der Witwe gesehen, sei das Ganze sehr klug.
Dr. Bachelmayer fand es zwar ein wenig komisch, daß Frau Stadler noch heiraten wolle; aber es sei auch wieder sehr hübsch, daß diese doch nicht mehr junge Frau noch soviel Rücksicht auf ihren Ruf und auch auf ihre Tochter und Körner nehme; denn sie wolle sich offenbar nicht dem Gerede der Leute aussetzen, indem sie sich bloß mit Lungnitzer und dessen Sohn verband, sondern brach allen Sticheleien die Spitze ab durch eine Heirat, von der doch jedermann wisse, daß sie nichts anderes sei als ein Geschäftsvertrag.
Schließlich begann selbst Körner die Sache mit ein wenig anderen Augen anzusehen. Aber den Hauptgrund seiner Verstimmung konnte er den Freunden doch nicht mitteilen. –
Beim Abendessen berichtete er Elsbeth seine Unterredung mit der Schwiegermutter und die merkwürdigen Ansichten seiner Freunde.
Er hatte übrigens doch noch einiges erfahren, was Elsbeth nicht wußte. Das betraf die scharfe Konkurrenz, die Lungnitzer und Sohn der Frau Stadler in letzter Zeit machten, so daß ihre Tätigkeit fast lahmgelegt wurde.
Elsbeth wurde es immer ärger zumute. Sie hatte das Gefühl, als ob ekles Ungeziefer über ihren Leib krieche. Nun war diese häßliche Sache schon in aller Welt Mund! Diese Leute besprachen sie! Morgen 115 kommt Frau Bachelmayer gelaufen und alle anderen der Reihe nach! Hatten denn all diese Menschen kein Reinlichkeitsgefühl?
Und doch, was ihr Mann da von Lungnitzer erzählte, das gab ihr zu denken. Und sie verstand nun vielleicht am besten die Mutter, wenn sie auch ihre Handlungsweise nicht im mindesten billigen konnte und überhaupt nicht wirklich klar sah. Sie fühlte nur ungefähr, welche Gründe die Mutter zu ihrem Vorgehen bestimmt haben mochten.
Diese Frau Stadler war eigentlich nichts anderes als ein Sammelbegriff für eine Unzahl von Geschäften, Unternehmungen aller Art, die sie in Tätigkeit versetzten und bewegten. Nahm man nun plötzlich alle diese Geschäfte weg von ihr, so blieb gar nichts mehr übrig, keine Persönlichkeit, kein Mensch, nur eine leere, hohle Hülle, in der nichts war – nichts, absolutes Nichts. Sie war im Grund genommen nur ein vom Beruf in Bewegung versetzter Mechanismus, ein Automat.
Nun drohte ihr die Ruhe, die Beschäftigungslosigkeit. Damit stand sie vor der völligen inneren Leere, vor dem Nichts. Das ertrug sie nicht. Kein Mensch erträgt das. Und dem zu entgehen, war kein Opfer groß genug. Aber war es denn für einen solchen Menschen auch ein Opfer? Wohl nicht. Es war ein Geschäft, ein Inhalt für die hohle Form.
Elsbeth versuchte das ihrem Mann klarzumachen. Aber sie hatte das alles nur in dunklen Gefühlen geahnt, nicht klar zu denken vermocht. So fand sie auch 116 nicht das rechte Wort dafür. Er begriff sie natürlich nicht.
»Womit sollen wir denn ›innerlich angefüllt‹ sein, wenn nicht mit den Angelegenheiten unseres Berufes?! Jeder tüchtige Mensch geht in seinem Berufe auf. Ich habe das immer an deiner Mutter geachtet, daß sie für nichts anderes Interesse hatte. – Aber das da ist lächerlich und schmachvoll! Sich in ihrem Alter mit diesem Menschen zu verheiraten und einen solchen Bengel als Stiefsohn in die Ehe zu bekommen!«
Elsbeth sah ihren Mann fast furchtsam an. Es war ihr, als erblickte sie ihn plötzlich anders als bisher je, aber wesentlicher, in seiner wahren Gestalt.
In diesem Augenblick hatte sie eine gräßliche Vision: sie stand in einem Riesensaal und war allenthalben umgeben von absonderlich geformten Mechanismen, die aussahen wie Zerrbilder von Menschen. Lange Greifarme, die gierig die Luft durchsuchten, schnappende Zangen, malmende und zermahlende Gebisse und Zahnräder, die alle ineinander eingriffen und sich gegenseitig bewegten. Das surrte und tickte, schnurrte leise und gespenstisch, unheimlich sausend, geschwind und geschäftig. Es blitzte an diesen Zahnrädern auf, wie boshaft blinzelnde, lauernde Augen.
Plötzlich geriet ihr Kleidsaum in die Fänge eines dieser Automaten. Im nächsten Augenblick war das Kleid zwischen die Zahnräder gerafft. Sie wollte aufschreien, aber sie war wie gelähmt vor Entsetzen. Der Automat zerrte sie an sich heran. Da zuckte von der anderen Seite eine Zange nach ihr und faßte ihren 117 Arm und zerrte und preßte ihn zwischen zackige Räder, und plötzlich kam irgend etwas auf sie zu, ein groß aufgesperrtes, rachenartiges Dunkel – und schnappte nach ihr.
Ein Riß zuckte durch ihren Körper wie ein elektrischer Schlag, sie fuhr erwachend auf mit einem leisen Schrei.
Da sah sie vor sich ihren Mann und glaubte einen Augenblick noch den furchtbaren Automaten zu erblicken.
»Um Gottes willen, was hast du denn?«
». . . ich habe plötzlich einen Stich im Herzen gefühlt . . .«
»Bist du krank?«
»Nein.«
Körners Laune blieb andauernd düster. Er sah seine politischen Pläne ernstlich gefährdet, und da er an Frau Stadler nicht heran konnte, ließ er es Elsbeth büßen, daß sie einen Viehhändler zum Stiefvater bekommen sollte.
Sie litt willenlos unter seinen Vorwürfen und Launen, die sich manchmal zur Brutalität steigern konnten. Sie war nie tatkräftig und entschlossen gewesen, hatte sich nie wehren und verteidigen können, als sie noch gesund war; nun war es überhaupt unmöglich. Ihr Leiden begann wieder: schlaflose Nächte, bleierne Müdigkeit der Glieder, unausgesetzter Kopfschmerz, Schwindelanfälle. Manchmal begann sie ohne jeden Grund zu weinen, einfach aus Kraftlosigkeit. Die 118 täglichen Besuche der Freundinnen und ihre Gespräche peinigten sie unsagbar. Sie ballte die Fäuste und grub die Nägel ins Fleisch, um nicht laut aufzuschreien unter den Qualen, die ihr das ständige Anhören dieser Reden bereitete.
Ihre Augen waren blau umschattet, die Lippen blaß, das Gesicht bleich. Sie verlor viel Haare beim Kämmen. Sie konnte vor Müdigkeit kaum mehr die Arme heben.
Sie mußte Rot auflegen und die Schatten unter den Augen wegschminken. Niemand durfte es bemerken, wie krank sie war. Sonst kam Dr. Bachelmayer und untersuchte sie – und sie wußte, woran er zuerst denken werde! – und dann war wieder das ratlose Staunen und Nichtbegreifenkönnen, was dieser jungen, glücklichen, beneidenswerten Frau fehlen könnte, und das Fragen, dieses plumpe Zutappen und unverschämt neugierige Ausforschen und Verhören. Nein, man durfte es nicht wissen! Also Komödie spielen, sich zwingen, zwingen, jeden Tag, jede Stunde. Jeder Atemzug ein Zwang.
Nur einer konnte hier helfen.
Sie schleppte sich, so oft es anging, zur Kirche und blickte zu Pater Friedrichs Fenster im Pfarrhaus empor. Sie mochte nicht wieder schreiben.
Einmal hatte sie Glück. Er sah sie. Sie blieb stehen. Er nickte und hob sechs Finger. Sie verstand und senkte langsam den Kopf. Dann ging sie heim.
Er wäre am liebsten auf der Stelle zu Dr. Körner gegangen und hätte dem ein volles Maß schwerster 119 Grobheiten an den Kopf geworfen. Aber besserte er damit etwas? Im Gegenteil: dann hatte die Frau dem Pfaffen geklagt, er mischte sich ungebeten in Angelegenheiten, die ihn nichts angingen, und verdarb alles. Da half nur eins – und das durfte er nicht raten. Nicht aus Furcht vor der Kirche – haha, Pater Friedrich fürchtete keine Vogelscheuchen! Unter Ehebruch verstand sein Katechismus etwas anderes. Aber diese Frau war nicht fähig, dem Gesetz und dem Pharisäerboykott der Welt zu trotzen.
Er spielte ihr wieder wie das letztemal. Das Friedsanfteste, köstlich Stillste, das er nur finden und ersinnen konnte. Er redete ganz einfach mit ihr durch die Orgeltöne. Wiegte sie in den Schlaf wie ein todkrankes Kind. Er spielte ihr länger als sonst.
Als er vom Chor herabstieg, war sie wirklich eingeschlafen. Er weckte sie leise, daß sie der Meßner nicht so finde. Sie fuhr auf, dann dankte sie ihm mit aller Inbrunst. Er sagte ihr gute, sanfte, tröstende Worte. Und doch hatte sie ihm nie ein Wort klagen müssen, was ihr fehlte!
Es war ein himmlisches Wohlgefühl, ihm zuzuhören.
Aber zuletzt konnte er es doch nicht über sich gewinnen und er mußte es ihr sagen: »Wenn Sie Ihren Mann verlassen, so ist das keine Sünde und ich geb' Ihnen heut' schon die Absolution!«
Da senkte sie traurig den Kopf. »Es ist ja nicht mein Mann allein!« sagte sie tonlos . . .
Als sie heimkam, erwartete sie Dr. Körner bereits ungeduldig. Es war spät. 120
»Wo bleibst du so lange?! Und wie siehst du denn aus?! Herrgott, du bist ja ganz verstört? Hast du geweint? Wo warst du?«
Konnte sie es ihm sagen? Es dünkte sie wie – wie – Treubruch. So mußte sie lügen.
»Ich war bei Professor Hofer.«
Er fuhr auf: »Das ist nicht wahr! Ich habe beide vor einer halben Stunde auf der Straße begegnet. Du warst nicht dort!«
Jetzt ist es aus. Jetzt muß sie es sagen und es ist schlimmer, als hätte sie es gleich gestanden.
»Ich war in der Kirche.«
»In der Kirche?!« Er tippte sich auf die Stirn.
»Ja – du kannst den Meßner fragen, wenn du es nicht glauben willst . . . Ich habe Pater Friedrich beim Orgelspielen zugehört . . .«
Körner starrte sie sprachlos an.
Dann brach es aus ihm heraus, alles Unverständnis, aller Zorn über ihre Mutter, die Furcht vor dem Gerede der Leute, alles.
»Bist du verrückt?! Allein in der finsteren Kirche mit dem wüsten alten Säufer – oho, ist er das vielleicht nicht? Trete ich – dir vielleicht schon zu nahe? Und der Meßner weiß natürlich davon und denkt, daß du ein Stelldichein mit dem Pater hast. Und da haben wir jetzt die herrliche Wirkung dieser Musik! Wenn du dich nur sehen könntest! Du siehst ja aus wie eine Leiche! Der Teufel soll diese Musik holen! Wie du nur auf solche Ideen kommst! Was brauchst du denn das verrückte Orgelspiel des alten Säufers? Genügt 121 dir unser Gesangsverein nicht? Ich verbiete dir ein für allemal solche Narrheiten, verstehst du?! . . .«
Sie ließ ihn weitertoben.
Nun war das Letzte gebrochen. Der letzte Trost, die letzte Stütze verloren. Wie eine Leiche . . . Ja, nun war sie wirklich tot . . .
Sie legte Hut und Mantel ab. Und dann ballte sie alles, was noch an Willen in ihr lebte, mit einer ungeheuren Anstrengung zusammen in ein paar Worte:
»Es ist gut. Ich werde nicht mehr hingehen. Essen wir jetzt.«