Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Mai heiratete die Mutter. Die Trauung fand in aller Stille in der Basiliuskirche statt. Elsbeth und Lungnitzers Sohn waren die einzigen Gäste, sein Schwager und der Werkmeister der Ziegelfabrik die Zeugen. Dr. Körner hatte sich entschuldigen lassen: er müsse geschäftlich aufs Land fahren. In Wirklichkeit war er aber in der Stadt und zeigte sich mit Absicht in der Nähe der Kirche.
Frau Stadler trug ein schwarzes Seidenkleid, Herr Lungnitzer einen Salonrock, der ihm sehr schlecht zu Gesicht stand. Sein Sohn bemühte sich, die neue Schwester zu unterhalten, wagte nicht, ihr »du« zu sagen und erzählte ihr von den Pferden, die er gestern gekauft. Er lud sie ein, mit ihm eine Ausfahrt am Nachmittag zu unternehmen; er werde die schönsten Rosse einspannen, die er im Stall habe. – Ach, sie dürfe sich nicht fürchten, er verstehe sich aufs Kutschieren! 122
Elsbeth nahm zum Erstaunen der Mutter am Hochzeitsmahl teil. Sie wußte, daß es ihrem Mann höchst unlieb sein werde und darum tat sie es. Es kam in der letzten traurigen Zeit oft ein unbändiger kindischer Trotz über sie, ihm und den andern irgend etwas Unangenehmes zu tun, ihnen – ins Gesicht zu schlagen. Dieser Zorn hielt sie noch ein wenig aufrecht.
Manchmal hatte sie leichte Anfälle eines Herzleidens, die sie sorgfältig verschwieg. –
Das Hochzeitsmahl verlief in gelassener Heiterkeit. Es wurden keine Reden gehalten, man stieß bloß einmal mit den Gläsern an und sprach im übrigen von vernünftigen Dingen.
Elsbeth erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß ihr Stiefvater mit seinem Sohn im Hause nebenan wohnen bleiben werde. Beide Eheleute wollten ihre Geschäfte weitertreiben wie bisher, sie hatten die ganze Umgegend unter sich geteilt.
Elsbeth wurde mit der Zeit fast fröhlich. Eine Art von Galgenhumor überkam sie. Sie sprach dem Wein mehr zu, als es ihr gut war. Und dann – das alles war ja eigentlich so lustig, so wahnsinnig komisch! – – –
Und es wurde noch komischer in der Folgezeit.
Die Eheleute sahen sich nur bei den Mahlzeiten, die zugleich die geschäftlichen Beratungen bildeten. Frau Stadler ward wieder guter Laune.
Sie sagte nie »mein Mann«. Sie nannte ihn immer »den Lungnitzer«, auch »den alten Lungnitzer« im Gegensatz zum jungen. Und niemand fiel es ein, sie »Frau Lungnitzer« zu nennen. Sie blieb die Frau Stadler. 123
Die Leute begriffen alle, daß es sich eben um ein vernünftiges Geschäft handle, das dieser klugen Frau nur Ehre machte.
Nur Dr. Körner hatte sich getäuscht, wenn er glaubte, daß man die Heirat seiner Schwiegermutter lächerlich finden werde. Man lächelte wohl ein wenig – oh, diese alte Füchsin! – Recht hat sie! – aber man lachte nicht.
Schon im Mai wurde es drückend heiß. Am Himmel zeigte sich keine Wolke. Die Ernte stand ausgezeichnet.
Elsbeth hatte nun an Stelle der früheren freundlichen Gleichgültigkeit ihres Mannes seine unverändert schlechte Laune zu ertragen. Und hatte sie früher immer noch das tröstende Bewußtsein in sich gefühlt, daß ihr als letzte, unfehlbare Hilfe Pater Friedrichs Orgelspiel gewiß sei, das sie wieder für lange Tage aufrichten und stärken werde, so hatte er ihr nun dieses Letzte brutal zerschlagen. Nun war es ganz dunkel und lichtlos in ihr, keine Hoffnung, nichts, kein Trost, kein Ziel, kein Zweck, nur das eine: hilflos gefesselt auf der Marterstätte liegen, und alle Stunden kommt der Henker und bricht dir einen Knochen – nur einen, kleinen. Es darf beileibe nicht töten – nur weh tun darf es. –
Einmal besuchte sie ihr Stiefbruder. Der junge Bursch war heimlich ein wenig verliebt in die schöne, kühle, vornehme Stiefschwester und war sehr stolz auf sie. Er fand, daß sie recht schlecht aussehe und lud sie 124 neuerlich zu einer Spazierfahrt ein. Gerade jetzt habe er so schöne Pferde, er werde sie an den Grafen Wurmberg verkaufen, tadellose Jucker!
Elsbeth fand den Jungen fast ein wenig rührend.
»Wohin fahren wir? – Irgendwohin in den Wald, nicht?«
»Wohin Sie wollen!« – »Morgen früh fahren wir.«
Der Bursch strahlte vor Vergnügen.
Elsbeth wußte, daß sie ihrem Mann nichts Ärgeres tun konnte als diese Ausfahrt. Gerade deshalb machte sie ihr Freude!
Sie teilte es ihm erst abends mit. Er brauste auf.
»Ich begreife nicht, wie du mit dem Bengel dich öffentlich zeigen magst! Schicke sofort die Magd mit einer Absage zu ihm!«
»Ich möchte aber sehr gerne einmal ins Freie, hinaus aus der heißen Stadt. Du könntest mir diese kleine Freude schon gönnen!«
». . . meinetwegen, wenn du dich durchaus mit Roßtäuschern gemein machen willst! – Wer begleitet dich?«
»Niemand!«
»–? Das geht nicht! Ersuche Fräulein Florian, sie wird gerne mitfahren!«
»Ich danke, ich will einmal ohne das poetische Fräulein Florian sein.«
Er sah sie erstaunt an: da war ihm plötzlich, wie ein Peitschenschlag, ein Ton so schneidender Ironie ins Gesicht gezischt, wie er ihn von ihr noch nie gehört hatte.
»Launen –? – Also gut, tu was du willst. Du bist alt genug, um zu wissen, was sich schickt . . .« 125
Damit begab er sich verärgert in sein Arbeitszimmer und kam erst wieder zum Vorschein, als seine Frau bereits schlief.
Oder zu schlafen schien. –
Am anderen Morgen wunderte er sich erst recht. Sie, die sonst immer noch zu schlafen pflegte, wenn er sich schon längst an die Arbeit begab, und die sonst immer Mattigkeit spielte, erhob sich diesmal vor sieben Uhr und kleidete sich rasch an. Sie verabschiedete sich sogar mit einem freundlichen Lächeln und verließ mit raschen Schritten das Haus.
Ja, Launen! Nichts als Launen und Komödie. Es ging ihr einfach viel zu gut. Zu tun hatte sie den ganzen Tag nichts, als alberne Romane zu lesen. Wenn nur schon endlich ein Kind hätte kommen wollen! Dann hätte sie gleich etwas gegen die Langeweile und die Launen würden ihr dann vergehen.
Er mußte doch einmal mit Bachelmayer reden . . .
Punkt sieben Uhr erschien der junge Lungnitzer vor dem Haus.
Er wollte heute zeigen, daß er der rechte Mann sei, mit einer schönen, vornehmen Dame auszufahren.
Er kam mit einem Viererzug!
Ein eleganter, hellglänzender Jagdwagen, und davor, mit einem tadellosen Zaumzeug aufgeschirrt, vier prächtige Jucker. Edle, feurige Rassepferde, die kaum stehen wollten vor Ungeduld.
Lungnitzer selbst trug einen hellen Sportanzug und 126 englische Mütze. Seine derben Fäuste steckten in gelben Lederhandschuhen.
Zwei Pferdeknechte hielten ihm die Tiere. Er selbst promenierte, eine Zigarette rauchend, würdevoll vor dem Hause auf und nieder.
Alle Fenster waren von neugierigen und staunenden Zuschauern besetzt.
Es war unerhört großartig.
Als Elsbeth erschien, riß er die Sportkappe herab und begrüßte sie mit freudigem Grinsen. Dann half er ihr so zart als möglich auf den Wagen – der Arm schmerzte sie unter seinem Griff – und stieg auf. Sorgfältig faßte er die Zügel und die lange Peitsche, die Knechte sprangen zurück und die Pferde jagten davon. Dr. Körner sah ihnen vom Fenster mißvergnügt nach.
Solange der Wagen noch in der Stadt über das holprige Pflaster rollte, hielt Lungnitzer die Pferde kräftig im Gebiß. Als sie aber das Bahngeleise übersetzt hatten, gab er die Zügel frei und nun flogen und rasten die übermütigen Pferde wie toll dahin. Der leichte Wagen hüpfte und tanzte. Der Junge kutschierte wie ein Stallmeister des Kaisers. Er wandte kein Auge von seinen geliebten Rossen, beobachtete haarscharf, wie sie die Knie warfen, die Köpfe hielten, dem Zügel gehorchten, ob sie sich erhitzten, wie sie ausgriffen – alles. Denn all das bestimmte den Preis. In der nächsten Woche wird der Graf Wurmberg hier neben ihm im Wagen sitzen und er wird ihm die Pferde vorfahren. Dann hatte er viertausend Kronen verdient, tausend an jedem Pferd. 127
Der Morgen war frisch und kühl. Der Himmel lichtblau und noch ein wenig dunstig.
Elsbeth fühlte sich wohl und wie befreit von drückenden Fesseln. Sie bemerkte zwar allmählich, daß das rasche Fahren, Stoßen und Schütteln des Wagens ihrem Herzen nicht gut tat – aber was machte das! Sie wollte es nicht spüren heute! Heute wollte sie frei und froh sein.
Es war doch seltsam. Sie wußte ganz genau, daß sie den ganzen Tag nichts anderes zu hören bekommen werde als Pferdepreise. Der Stiefbruder würde ihr einen ausführlichen Vortrag über Hippologie halten; über die Rassen der Pferde und ihre Eigenschaften, wie man ihr Alter erkennt, wie man sie füttern und pflegen muß, wie man sie einfährt und zureitet; an wen er gegenwärtig liefere. Aber trotzdem freute sie sich seit gestern wie ein Kind auf diesen Ausflug, und jetzt war sie so fröhlich wie – ja – wie nicht mehr seit den Kindertagen, wenn sie mit dem Vater ausfuhr. Kam das bloß daher, daß sie sich freute, ihrem Mann etwas zu Trotz getan zu haben, oder war es, weil die gute, kindliche Freude des Jungen neben ihr auf sie übergriff? Sein Gesicht leuchtete immer noch, und wenn sie durch ein Dorf sausten, konnte man ihm den Stolz ansehen über diese schöne Dame neben ihm und – über die schönen, rassigen Pferde, die er so ausgezeichnet lenkte.
Zuerst redete er natürlich, kein Auge von den Tieren wendend, nur von seinem Geschäft. Aber es war doch bei ihm weniger das Geschäft, das ihn so freute, 128 sondern die Liebe zu den edlen, klugen Pferden. Und das gefiel Elsbeth an ihm.
Und wie er sich um sie bemühte! Ob sie sich nicht fürchte? Und ob es ihr nicht kühl sei? Und ob sie auch bequem sitze? Er war so rührend besorgt und fiel ihr dabei doch nicht lästig wie etwa Fräulein Florian oder Frau Bachelmayer. Sie lachte heimlich, daß sie diesen Geschöpfen entronnen war.
Mit der Zeit aber fühlte sie doch, daß das Herz die rasche, etwas rüttlige Fahrt nicht mehr vertrug. Sie bat ihn, langsamer zu fahren. Er glaubte, sie fürchte einen Wagenunfall und beruhigte sie.
»Nein, ich bin etwas herzleidend. Ich darf nicht so rasch fahren.«
Er schaute sie, zum erstenmal seit der Abfahrt, voll an und staunte.
Sie hatte heute kein Rot auflegen können, die schwarzen Schatten lagerten unter den Augen, um die blassen Lippen zogen feine, heimliche Kummerfältchen.
Er ließ die Pferde in Schritt fallen und sah sie wieder an. Seine schöne, elegante, glückliche Stiefschwester war herzleidend? Er begriff das nicht.
Aber dann sah er im scharfen, klaren Morgenlicht dieses müde Gesicht, das ihm so seltsam zulächelte, und er ahnte mit einem, daß diese junge Frau nicht glücklich und beneidenswert sei und daß ihre roten Wangen und ihre Heiterkeit damals auf der Hochzeit nur Spiel und Maske waren . . .
»Sie sind herzleidend?« staunte er.
»Ich glaube es.« 129
»Warum fragen Sie keinen Arzt?«
Sie zuckte die Achseln. »Was soll er mir helfen?« sagte sie müde.
Es stand also fest: seine Stiefschwester war unglücklich. Dieser Mann, dieser hochmütige Advokat, der seinen Vater verachtete, hatte sie krank und elend gemacht, dieser Schuft.
Er hielt die ungeduldigen Pferde mit starker Faust zurück. Er fragte ängstlich, ob ihr besser sei. Ja, er dürfe schon wieder Trab fahren, nur nicht gar zu schnell. Vorsichtig ließ er die Pferde antraben.
Eine ganze Weile war er still. Sie sah hinaus über die wogenden Getreidefelder, hin zu den geliebten blauen Bergen, die so duftig lagen im Schein der Morgensonne. Vor ihr aber zogen, soweit sie blicken konnte, wie ein breiter, grüner Strich, die endlosen Auwälder des Flusses hin, den sie bei der Stadt im Rücken gelassen hatten, und der, in weitem Bogen sie umgehend, nun vor ihnen strömte und dem sie jetzt entgegenfuhren. Elsbeth sah zurück: die Stadt war verschwunden, nicht einmal das Schloß war mehr zu sehen. Sie atmete tief auf.
Sie fragte ihn nach seiner Mutter. Er konnte sich nicht mehr genau an sie erinnern.
Und ihr Vater?
Das erstemal seit seinem Tod fragte sie jemand nach ihm, und voll Glück erzählte sie und konnte nicht enden. Und immer wieder erzählte sie von den wunderschönen Fahrten mit ihm.
Das begriff er sehr gut. Sein Vater sei ja auch 130 jahrelang mit ihm in der ganzen Gegend da umhergekutscht und habe ihm alles gewiesen, was ein tüchtiger Geschäftsmann lernen müsse.
Sie lächelte. »Mein Vater hat mit mir nie vom Geschäft geredet.«
»Nicht? – Ja – wovon denn?!« Er staunte sie so naiv an, daß sie lachen mußte. Bei Gott, sie lachte! Lachte, weil einer nicht verstand, daß man über etwas anderes reden konnte als übers Geschäft!
»Aber freilich,« entschuldigte er sich, »ich habe vergessen, daß Sie damals ja noch ein Kind waren.«
Sie ließ ihn dabei. Er hätte es ja doch nicht begriffen. Und doch konnte sie ihm nicht böse sein, daß er trotz seiner Jugend keinen anderen Gedanken wußte als dies Geschäft, den Schatten, das Phantom.
»Aber so sag' doch nicht immer ›Sie‹«, lachte sie.
Er wurde glührot und lächelte. »Also du«, sagte er verlegen.
Nun kamen sie schon zu den Auwäldern. Feuchte Wiesen gingen ihnen vorher, dann verschwand mit einemmal die Sommerhitze, die sich draußen bereits bemerkbar gemacht hatte, und sie umfing der kühle Schatten des Uferwaldes riesiger Pappeln und Erlen. Vom grünen Fluß, der still und kraftvoll dahinglitt, strömte wunderbare, angenehme Frische her.
Sie fuhren immer entlang des Ufers. Leicht und weich rollte der Wagen. Und vor ihnen an einer Beuge des Stroms tauchte auf einem steilen Fels das herrliche alte Schloß Kreuzberg auf mit seinem epheuumsponnenen Mauern. 131
Der Fluß teilte sich in Arme und umschloß kleine buschige Inseln. In toten Altwässern lagen morsche, halbversunkene Kähne an Uferweiden gebunden, die ihre Zweige tief niederhängen ließen bis zur reglosen Flut. Der Eisvogel in herrlich stahlblau und grün funkelndem Gefieder saß auf dem Ast eines angeschwemmten Baumes und lauerte auf kleine Silberfische. Die Bachstelzen trippelten geschäftig über den nassen Sand. Und es war so wundervoll feucht und kühl. Und ganz still.
Gegen zehn Uhr kamen sie zu einem kleinen Gasthaus, das zwischen der Straße und dem Fluß in der Au lag, die sich dort etwas aus der Niederung erhob.
Hier bog Lungnitzer vom Weg ab und lenkte sein Viergespann in prachtvoller Wendung durch das Tor. Und nun zeigte er sich als wahrhafter, alles im voraus bedenkender Kavalier: zwei seiner Pferdeknechte erwarteten ihn bereits am Eingang. Er hatte sie in aller Herrgottsfrühe mit einem Wagen vorausgesendet, um seine Jucker hier in Empfang zu nehmen und zu warten und für die Herrschaft ein Mittagmahl zu bestellen.
Elsbeth war hocherstaunt über diese Maßnahmen. Der Junge war so rührend in seinem Bestreben, ihr zu gefallen und ihr einen schönen, frohen Tag zu bereiten.
Er half ihr vom Wagen und freute sich, als sie zu seinen Pferden trat und die schönen, klugen Tiere streichelte. Sie wollte ihnen Zucker geben; er zog eine Tüte aus der Tasche und reichte sie ihr, und sie fütterte 132 die vier herrlichen, stolzen Traber und ließ sich die schmalen, blassen Hände von den Pferdemäulern lecken.
Die Knechte hatten inzwischen die kostbaren Pferde schon in Decken gehüllt, abgeschirrt und begannen sie zu bewegen, zur langsamen Abkühlung.
Lungnitzer schlug vor, bis zum Mittagmahl einen kleinen Spaziergang zu machen. Aber Elsbeth sah es ihm an, daß er keine ruhige Minute haben würde, ehe die Gäule nicht im Stall standen und ihr Futter bekamen. Sie wollte gerne solange warten und einstweilen auf einer Bank im Freien ausruhen. Er dankte ihr freudig und rannte zu den Pferden.
Nun saß sie allein im Gasthausgarten, unter den alten Bäumen. Das Herz beruhigte sich allmählich und es wurde still und friedsam in ihr. Es war ihr, als löste sich der Krampf und Zwang, in dem sie leben mußte, jeden Tag und jede Stunde. Die Nerven und Muskeln entspannten und lösten sich. Sie saß mit leicht zurückgelehntem Kopf und sah mit verlorenem, ungläubigem Lächeln durch die Baumkronen zum lichten Sommerhimmel empor. Ihre Hände ruhten lässig im Schoß.
Sie wußte nicht, wie lange sie so träumte.
Lungnitzer kam vom Stall. Er blieb unwillkürlich stehen und betrachtete sie eine ganze Weile. Diese Frau war ihm etwas Neues und Fremdes. Er kannte frische und nicht allzu zarte Bürgermädchen und derbe Bauerndirnen, die unter dem eisernen Griff seiner Fäuste vergnügt aufkreischten – aber diese Frau dort, die ein Windhauch wegwehen konnte, wie ein weißes 133 Rosenblatt – was war es um diese Feine, Stille, die nicht klagte, nur stumm litt und müde abwinkte, wenn man fragen wollte? Er fühlte da ein Geheimnis.
Langsam kam er näher. Sie bemerkte ihn jetzt und erhob sich.
»Bist du nicht mehr müde?« fragte er besorgt.
»Nein, ich möchte jetzt gern ein wenig spazierengehen, aber nicht zu schnell«.
Sie schritten langsam am Ufer hin. Er rauchte zur Mückenvertreibung Zigaretten.
Das Gehen auf den unebenen Wegen fiel ihr doch ein wenig schwer. Sie nahm seinen Arm und stützte sich fest auf ihn. Er errötete, sie wußte nicht, ob aus Stolz oder Verlegenheit.
Endlich fragte er leise und ängstlich: »Was fehlt dir eigentlich?«
Sie schwieg und ging langsam neben ihm her. Nach einer Weile sagte sie, und ihre Stimme klang ganz ruhig und sachlich:
»Es gibt Krankheiten, die keine sind, die kein Arzt kennt und heilen kann. Es gibt Krankheiten, die nur darin bestehen, daß man nicht gesund ist, aber es fehlt einem dabei gar nichts, als eben die Gesnndheit . . .« Und in Gedanken fügte sie hinzu: ». . . und das Glück . . .«
»Aber du sagst doch, daß du herzleidend bist?«
»Das ist nur eine Folge – des anderen . . .«
Er fragte nicht weiter. Er fühlte, daß sie ihm nicht klar antworten wollte. Sie war einfach unglücklich verheiratet – das war alles, und schämte sich, das einzugestehen. 134
Sie kamen nahe ans Ufer. Der Fluß strömte vorüber zu ihren Füßen mit jenem stillen, lautlosen Ziehen, das dem Frohen ist wie unheimliches gespenstisches Drohen des Grabes und dem Kranken eine süße Lockung, wie ein betäubendes Gift.
Leise schnalzte ein Fisch über die Flut auf. Und die Wellen glitten pfeilschnell hin, immer neue und neue. Eine der anderen gleichend. Sinnlos, zwecklos.
Sie stand lange und starrte ins Wasser. Ihm wurde das unheimlich, er zog sie sachte weg vom Ufer. Sie lächelte leise. Da faßte er seinen ganzen Mut zusammen und sagte stockend:
»Wenn du einmal Hilfe brauchst – – so komm – so wende dich an mich . . .«
Sie erwiderte nichts. Er wollte sie schon um Verzeihung bitten, wenn er etwas Ungehöriges gesagt habe. Da sagte sie: »Ich danke. Vielleicht einmal . . . vielleicht.« Aber man hörte es dem Ton ihrer Stimme an, daß sie es selbst nicht für möglich hielt.
Dann gingen sie zum Gasthaus zurück. Nun war er wieder ganz der geschäftige Kavalier. An welchem Tisch sie sitzen wolle? Und das Essen – ja, er mußte schnell einmal sehen – und schon rannte er eilends in die Küche. Er war wie ein reicher junger Mann, der mit einer geliebten Frau zum erstenmal eine Reise unternommen hat.
Die Wirtin trug die Speisen auf. Zuerst brachte sie Forellen mit butterglänzenden, jungen Kartoffeln. Er fragte besorgt, ob er ihren Geschmack getroffen habe. Sie lachte und langte zu. Sie hatte – 135 Hunger. Fast kannte sie dieses Gefühl nicht mehr. Beinahe vergaß er zu essen in seinem Eifer, sie zu bedienen.
Der Wirt brachte goldgelben Wein. Da wurde er besorgt. Der würde ihr schaden. Ganz bestimmt. Plötzlich kam ihm eine Erleuchtung. Ob sie nicht Milch trinken wolle? O ja, sehr gut, sie wolle gern Milch trinken. Der Wirt machte ein verdutztes Gesicht und stellte ein großes Glas kalter Milch vor sie. Sie stießen an – Milch und Wein – und lachten.
Den Forellen folgte eine mächtige Schüssel schlanker Spargel.
Dann kamen zarte, entzückende Backhühner. Sie erklärte lachend, daß sie keinen Bissen mehr essen könnte; aber sie vertrug noch eine ansehnliche Menge und schließlich noch eine delikate Mehlspeise. Und dazu trank sie zwei Humpen Milch.
Sie lachte glücklich wie ein Kind. Sie war wie umgewandelt heute. Sie kannte sich selber nicht mehr.
Nach Tisch mußte sie schlafen. In der Au, wo das schönste, trockenste Gras wuchs und ein leichter Wind die Stechmücken fernhielt, breitete er Decken aus. Vom Gasthaus ließ er Polster bringen und sie lagerte sich gehorsam auf dies Ruhebett, während er sich in der Nähe niederließ und ihren Schlaf bewachte.
Und sie schlief; tief und fest und traumlos, wie seit Jahren nicht mehr. Als sie nach ein paar Stunden erwachte, fühlte sie sich gestärkt und verjüngt und froh. 136
Sie bat ihn um Verzeihung, daß sie ihm eine so langweilige Gesellschaft sei. Er wollte davon nichts hören. Alles freue ihn, was ihr wohltue.
Dann tranken sie Kaffee und endlich, als es kühler zu werden begann, ließ er die Pferde einspannen und sie fuhren zurück. Der schöne Tag war zu Ende.
Beim Abschied dankte sie ihm herzlich. Er grinste vergnügt und bat, sie bald wieder abholen zu dürfen.
Elsbeth wußte genau, was sie erwartete. Dr. Körner saß bereits im Speisezimmer und las in der Zeitung. Er erwiderte kühl ihren Gruß und sah sie erstaunt an. Wie umgewandelt war sie! Frisch, elastisch. All dieses müde Herumschleichen und Zimperlichtun war Maske gewesen, Launen!
Beim Abendessen erklärte er plötzlich: »Ich kann es nicht mehr gestatten, daß du mit diesem Bengel ausfährst! Die ganze Stadt sprach heute von nichts anderem als von diesem verrückten Aufzug! Er benahm sich wie ein protziger Geldbaron, der seine Geliebte zur Schäferstunde abholt . . .«
Die Zornröte stieg ihr ins Gesicht. Aber sie bezwang sich noch.
»Es hat mir aber so wohl getan!«
»So? – es ist mir leid, wenn ich es dir trotzdem verbieten muß. Ich kann nicht dulden, daß meine Frau zum Stadtgespräch wird! . . . Wenn du schon durchaus mit ihm ausfahren willst, so soll er dich mit einem vernünftigen Wagen abholen und nicht mit einem 137 Viererzug, und außerdem wirst du eine deiner Freundinnen bitten, mit dir zu fahren.«
»Dann danke ich für das Vergnügen!«
»Ah –! Also dann nicht!«
Sie maßen sich wie zwei sprungbereite Katzen.
»Pater Friedrich – der Zweite!«
Scharf, schneidend zischte ihn das Wort an. Wieder dieser Hohn, dem er nicht gewachsen war.
Er erhob sich und begab sich in sein Arbeitszimmer.
Die Tür knallte hinter ihm ins Schloß. –
Elsbeth blieb fieberhaft erregt zurück. Ihre Hände zitterten. Das Herz begann zu jagen.
Der Henker war gekommen und hatte wieder ein Glied gebrochen . . . Er verstand sich auf sein – Geschäft!
Körner ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab.
Die Sache war ganz klar. Sie hatte sich einfach in den derben Bengel vergafft, der ihre Sinne reizte. Da konnte sie natürlich keine Freundin dabei brauchen!
Er hatte einmal gehört: in jeder Ehe kam es früher oder später zu einer kritischen Wende; Gatten, die sich bisher schlecht vertrugen, beginnen sich plötzlich zu verstehen und leben fortan in glücklichster Ehe oder – entzweien sich völlig. Gatten, die sich bisher liebten, geraten plötzlich auseinander oder – schließen sich noch enger zusammen.
An diesem Punkt war seine Ehe offenbar angelangt. Er hatte seiner Frau bisher wohl zuviel Freiheit gelassen, war ihren Launen zu nachgiebig gewesen. Reizte 138 sie der grobknochige Pferdehändler mit seinen Bauernfäusten – gut! Das konnte er ihr auch bieten! Er würde ihr zeigen, daß er – ein Mann sei! Das fehlte ihr offenbar. Mit dem Roßtäuscher getraute er es sich noch aufzunehmen!
Er suchte das Schlafzimmer auf. Elsbeth lag bereits im Bett. Er entkleidete sich und schlüpfte unter die Decke.
Er schmeichelte sich an sie heran. »Lisi!« bettelte er. Keine Antwort.
Er begann sich wegen seiner Heftigkeit zu entschuldigen. Aber sie müsse doch einsehen. Er sei doch verpflichtet, über ihren Ruf zu wachen. Und dann – es könne ihm doch nicht gleichgültig sein, wenn seine süße kleine Frau mit einem andern Mann den ganzen Tag spazierenfahre . . .
Er tastete nach ihrem Arm. Sie zuckte zusammen. Die Hand glitt auf ihre Brust. »Lisi . . . Weiberl!« schmeichelte er. Sie zitterte am ganzen Leib vor Ekel und Zorn.
»Laß mich!« zischte sie.
»Hoho, hoho, nicht bös sein, Schatzerl! So komm doch!«
Und er ließ nicht nach.
In dieser Nacht zertrat er, was an Widerstandskraft und Selbstgefühl noch in ihr lebte. Brutal – wie ein Roßtäuscher!
Ein paar Tage später traf Elsbeth den Stiefbruder auf der Straße. Er war in fröhlichster Laune. Er hatte die Pferde an den Grafen Wurmberg 139 verkauft. Der war so entzückt gewesen, daß er, ohne nach dem Preis zu fragen, mehr gezahlt hatte, als er zu fordern gedachte. Ein nobler Mann! Ein Kavalier!
Dann fragte er: »Wann fahren wir wieder?«
Sie gab ihm Bescheid. Die Zornröte flammte über sein Gesicht. Er wollte zu Körner laufen und ihn prügeln. Sie bat ihn, er möge um Gottes willen keine Dummheiten machen. Körner sei ihr Mann.
Aber sie möchte ihn um etwas ersuchen. Sie schlafe sehr schlecht. Ob er ihr nicht ein Schlafmittel verschaffen könne, etwas Veronal vielleicht?
Er wollte das natürlich mit Freuden tun. Nachmittag werde er es ihr bringen. –
Er kam, während Dr. Körner einer Sitzung des Gemeinderats beiwohnte, und überreichte ihr ein zierliches Schächtelchen mit kleinen, weißen Kapseln.
Sie ergriff es gierig und verlangte das Rezept auch noch. Er gab es ihr und sah erst jetzt ein, daß er eigentlich eine Dummheit begangen habe. Nun wird sie sich langsam damit vergiften oder – sie nimmt alle Pillen auf einmal . . . Er bekam Angst. Sie beruhigte ihn. Nein, dazu war sie wohl viel zu feig. Aber sie hatte jetzt einen Tröster, einen guten, milden, der Schlaf bringt und bewußtloses Vergessen.
Aber es wurde doch nicht ganz so. Er kam wohl, ein bleierner, schwerer Schlaf. Aber die Nacht war erfüllt von wirren, quälenden Traumgesichten, die sie hetzten und peinigten, und des Morgens vermochte sie kaum die Lider zu öffnen und sah mit schmerzenden Augen in das neue Licht. Und doch nahm sie das 140 Mittel fast jeden Abend, nur um nicht wach neben Körner liegen zu müssen und das Zucken aller Nerven zu fühlen, die von ihm weg wollten und strebten.
Und wenn man aufgestanden war, ließ man sich müde vor dem Spiegel nieder, rötete die bleigrauen Wangen und ließ die Schatten unter den Augen verschwinden. Dann sah man blühend aus und wurde von den Freundinnen und allen Gästen bewundert. Ein wenig unnatürlich sah es zwar aus, aber das merkten sie nicht. Und die mageren, schmalen Hände, an denen die blauen Adern so stark hervortraten, wurden sogar »aristokratisch« befunden. Auch Dr. Bachelmayer merkte nichts. Der verstand sich sehr gut auf Beinbrüche und Lungenentzündungen, auch Zähne konnte er ausgezeichnet reißen. Aber so eigentümliche Krankheiten, die ja auch bloß wohl nur eingebildet waren, existierten für ihn nicht.
Die Sitzung im Gemeinderat war sehr stürmisch bewegt. Seit Jahren war es nicht vorgekommen, daß jemand dem allmächtigen Bürgermeister Lechner offen zu widersprechen wagte. Diesmal geschah es.
Es handelte sich um die alte Holzbrücke, die einzige, die über den Fluß führte.
Im Frühjahr und Herbst tobten die wilden Gewässer mit aller Macht gegen die Holzpfeiler, im Winter stießen sich auch noch die Eisschollen daran entzwei. Jedes Jahr mußten einige Pfeiler ausgewechselt werden. Es war ein ewiges Bessern und Flicken 141 und die Brücke war doch immer halb baufällig. Auch jetzt sollte der ausnehmend tiefe Wasserstand des Flusses benützt werden, um wieder einige neue Piloten einzurammen.
Dr. Körner beantragte im Gegensatz dazu, endlich einmal eiserne Pfeiler anzubringen, oder wenigstens solche aus Beton, und davor Wellenbrecher zu stellen. Er verhehlte gar nicht, daß das große Kosten verursachte; auch sei es jetzt schon etwas spät im Jahr; man hätte eben früher daran denken müssen! Aber das sei nicht seine Schuld. Man müsse aber berücksichtigen, daß diese Brücke sozusagen eine Lebensader der Stadt sei. Der geringste Unfall – und die Stadt ist von der ganzen Ebene im Süden abgeschnitten, aus der die meisten Lebensmittel hereinkämen. Er warne in letzter Stunde; wenn »man« statt des Neubaues der Brücke lieber den Stadtpark erweitern wolle – bitte! Aber er habe gesprochen!
Er sprach scharf und gereizt, wie man es von ihm noch nie gehört hatte. Die Stadträte sahen ihn erstaunt an. Diese Brücke war sozusagen der Liebling des Bürgermeisters. Er war stolz darauf, sie durch kleine, billige Reparaturen bis heute in gutem Zustand erhalten zu haben, obwohl die Sachverständigen schon vor zehn Jahren denselben Antrag stellten wie eben jetzt Dr. Körner. Lechners Hausverstand hatte über die Techniker triumphiert und der Stadt viel Geld erspart.
Der Bürgermeister saß ruhig und behäbig, als ginge ihn das Ganze nichts an. Er rauchte wie 142 gewohnt eine dicke Zigarre aus einer tschibukartigen Pfeife.
Nun entgegnete er seinem geehrten Vorredner und brachte all das vor, was er immer den Sachverständigen erwiderte. Es sei zehn Jahre gegangen, es müsse auch ein elftes Jahr gehen. Ein paar neue Pfeiler, und alles ist abgetan. Die Stadtkasse dürfe nicht mit einer so großen Ausgabe jetzt belastet werden, da die großen Kosten des neuen Rathauses noch immer nicht abgetragen seien.
Wieder erhob sich Dr. Körner. Wenn man die Kosten summiere, die diese fortwährenden »kleinen« Reparaturen verursachten, so komme für zehn Jahre ein Betrag heraus, der wenig hinter den Kosten zurückbleibe, die sein Antrag erheische. Aber schließlich – er habe gesprochen und gewarnt. Sache des Gemeinderates sei es, zu beschließen. Übrigens, die Brücke sei nicht der einzige wunde Punkt der Stadt. Seit Jahren rede und berate man über die Kanalisierung. Sei auch nur das Geringste geschehen? Nein! Daß in der Stadt nicht Cholera und Typhus herrschten, sei ein wahres Gotteswunder. Wann gedenke der Herr Bürgermeister diesem schreienden Übelstande, der schon ein Ärgernis der Bürger geworden sei, endlich einmal abzuhelfen?!
Das Wortgefecht ging noch eine Weile hin und her. Die Stadträte waren höchst erregt. Sie wußten, um was es sich drehte. In einem Jahr lief die Amtszeit Lechners ab. Und es gab einen, der gerne sein Nachfolger geworden wäre! Nur der Bürgermeister blieb ruhig und steckte eine neue Zigarre in seinen Tschibuk. 143
Endlich wurde beschlossen: die Brücke wird heuer noch mit den gewohnten neuen Holzpfeilern ausgebessert. Die Beratung über die Kanalisierung wurde vertagt. Aber Lechner hatte diesmal nicht die geschlossene Stimmeneinheit hinter sich, sondern nur eine gar nicht imponierende Mehrheit. – – –
Am Abend herrschte beim »Judennatzl« ebenfalls eine sehr erregte Stimmung. Der Gymnasialdirektor saß an der Längsseite des Stammtisches an der getäfelten Wand. Über ihm hing an rosa Seidenbändern eine große goldfunkelnde Lyra mit einem Lorbeerkranz von der Decke hernieder, und auf einem nachlässig durch die Saiten geschlungenen Pergamentschriftband prangte der Spruch:
Glück auf, Glück auf mit frohem Klang!
Heil deutschem Wort und Sang!
Es war der Stammtisch der Intelligenz, aus deren Kreisen die meisten Mitglieder der Polyhymnia kamen.
Der Gymnasialdirektor strich erregt durch den grauen Knebelbart und scheuchte eine Fliege von der Glatze. Dann sprach er mit knarrender, lehrhaft gedehnter Stimme:
»Es war in der Tat höchste Zeit, daß unser verehrter Freund Dr. Körner einmal diesem Bäcker-Bürgermeister die Wahrheit sagte und auf die brennende Frage der Kanalisierung und der Brücke hinwies. Natürlich ist auf den ersten Ansturm noch nicht der Sieg zu erwarten, wir müssen weiterkämpfen. Leider können wir Professoren als Staatsbeamte uns nicht aktiv in politische Kämpfe einmengen, aber unsere 144 moralische Unterstützung ist Ihnen unbedingt gewiß, lieber Herr Doktor.«
Dr. Körner, der die Rede des Direktors mit ungeteiltester Aufmerksamkeit angehört und ihn dabei durch seine großen, runden Augengläser scharf fixiert hatte, erwiderte im Ton größter Dankbarkeit, daß es vor allem auf die moralische Unterstützung ankomme. Er bitte die verehrten Mitglieder der Tafelrunde in seinem Kampfe für die gute Sache um ihre moralische Unterstützung.
Dann ereiferte sich Herr Florian darüber, daß Lechners Schwiegersohn unlängst Stadtrat geworden sei und daß ein zweiter Stadtrat so gut als verlobt mit Lechners jüngster Tochter gelten könne.
Der Gymnasialdirektor bezeichnete dies entrüstet als einen Nepotismus, der der Zeiten eines Cesare Borgia würdig sei.
Körner horchte auf. Nepotismus? – Ein ausgezeichnetes Schlagwort! Das verstand in der ganzen Stadt niemand, das konnte vortreffliche Dienste leisten.
Doktor Körner hatte nun anscheinend das richtige Mittel gefunden, um seine Frau zu heilen. Er ließ ihr einfach keine Zeit mehr, um über ihre eingebildeten Krankheitszustände nachzudenken oder um alberne Romane zu lesen. Sie brauchte Unterhaltung und Gesellschaft. Und wenn er selbst daheim war, so spielte er den zärtlichen Gatten. Und im übrigen befolgte er Bachelmayers Rat: bald für einen kräftigen Stammhalter zu sorgen. – 145
Elsbeth mußte also an einem Gartenfest teilnehmen. Zum Nachmittagskonzert der Militärkapelle im Stadtpark holte sie entweder Frau Bachelmayer mit ihren Kindern ab oder Frau Professor Hofer, die in einem Korbwägelchen ihr kleines Mädchen spazierenfuhr und sich wie närrisch benahm mit dem dickgefütterten Kind. Fräulein Florian fand sich auch jedesmal ein. Bisweilen erschien auch der Gymnasialdirektor mit seiner würdevollen Gattin und promenierte langsam auf den gepflegten Wegen auf und ab. Er wirkte wie der Gendarm in einer Verbrecherkneipe. Die Professoren und Gymnasiasten, die vielleicht auch anwesend waren, zerstoben bei seinem Anblick nach allen Windrichtungen, denn noch war nicht Schulschluß und man mußte sonst wochenlang weinerliche Reden über geringes Pflichtgefühl anhören.
Elsbeth promenierte mit den Freundinnen und gab sich die erdenklichste Mühe, heiter und gesprächig zu erscheinen. Möglichst bald ließ sie sich dann auf einer der Bänke nieder; sie fürchtete, vor Müdigkeit umzusinken.
Da Elsbeth anscheinend gerne ausfuhr, veranstaltete Dr. Körner bisweilen Ausflüge »in den Wald«. Er mietete einen Gesellschaftswagen, lud einmal diese, einmal jene befreundete Familie, einige junge Mädchen und ein paar ledige Herren ein, und man fuhr hinaus: entweder zu Frau Stadlers Sägemühle oder gegen Schloß Wurmberg. Er selbst konnte meistens nicht teilnehmen, denn er war mit Geschäften überhäuft. Er hatte es endlich durchgesetzt, daß man den 146 Kanalisierungsplan ernstlich in Angriff nahm, und er war zum Referenten bestimmt worden. Nun hatte er tagtäglich Besprechungen mit Ingenieuren und Lieferanten. –
Im Wald nahm man das Mittagmahl ein. Dann schlief man ein Stündchen, während sich die Jugend neckte und ein wenig hinter den Büschen verlor . . .
Dann veranstaltete man kleine lustige Gesellschaftsspiele, bei denen es auf Behendigkeit und schnelles Laufen ankam. Da verlor die entzückende junge Frau Dr. Körner meistens und wurde gefangen.
Spät abends fuhr man dann fröhlich heim und hatte brennende Lampions auf den Spazierstöcken aufgesteckt. –
Zu den Strombädern zwang man Elsbeth in diesem Sommer nicht. Bachelmayer hatte ihrem Mann abgeraten.
Den Glanzpunkt der sommerlichen Vergnügungen aber bildete ein Waldfest, das Dr. Körner ersonnen hatte. Es wurde großartig.
Um zwei Uhr nachmittags bewegte sich eine Wagenkarawane aus der Stadt. Die Fuhrwerke waren in dichte Staubwolken gehüllt, aber daran nahm niemand Anstoß.
An der Spitze fuhren in einigen Gesellschaftswagen die Mitglieder der Polyhymnia mit ihren Damen. Das Vereinsbanner wehte vom ersten Wagen. Der Schneider Magerle blies fröhliche Weisen auf dem Flügelhorn. Leider rüttelte der Wagen so stark, daß ihm hie und da kleine Entgleisungen widerfuhren. Das war dann jedesmal ein Anlaß zu hellem Gelächter.
Im Wald gab es allgemeine Überraschung. Das 147 Offizierkorps der Pioniere, das offiziell geladen worden war, hatte hübsche Zelte aufstellen lassen, unter denen Bier, Wein, Limonaden und Eiswasser ausgeschenkt wurden. Die Baumstämme waren mit farbigen Papierguirlanden umwunden und an Drähten hingen rote und grüne Lampions.
Alles rief nach Dr. Körner, dem genialen Festordner, und überschüttete ihn mit Lob und Bewunderung.
Hinter dichtem Gebüsch verborgen saß die Militärmusik. Nun trompetete und schmetterte, den ankommenden Gästen zum Gruß, ein kräftiger Tusch aus dem Gesträuch hervor und neuerdings geriet man in helles Entzücken. Fräulein Florian hatte Tränen in den Augen und flüsterte: »Gott, wie poetisch!«
Man verteilte und lagerte sich zwischen den Bäumen. Die Musik spielte fröhliche Weisen. Dort und da tanzte man. Auch Elsbeth mußte sich ein wenig drehen lassen. Aber es ging nicht lang. Der Boden war zu uneben.
Die Mitglieder der Polyhymnia sammelten sich auf einer kleinen Lichtung. Der Gesangslehrer des Gymnasiums hob den Taktstock und nun erlebte man das Wundervolle und wahrhaft Erhebende: begleitet von der ganzen Militärkapelle sang der Verein seine schönen Lieder: »Wer hat dich, du schöner Wald . . .«, »In einem kühlen Grunde . . .«, »Ännchen von Tharau . . .« Leise flog das Echo zwischen den alten Bäumen, und die Menschenstimmen rangen mit den Blechinstrumenten um die Vorherrschaft. Es war ein wirkliches Konzert; denn, wie Professor Hofer in einem Kreis von Damen 148 erklärte, Konzert komme vom lateinischen concertare, das heißt kämpfen, wetteifern, um die Vorherrschaft ringen.
Als letztes Lied sang man: »Der liebe Gott geht durch den Wald . . .« Es war ein pikanter Zufall, der heimlich allgemein belacht wurde, daß in diesem Augenblick Bürgermeister Lechner mit seiner Familie ankam und durch den Wald auf die Feststätte zuschritt.
Am schönsten wurde es erst gegen Abend. Die Stimmung war schon ziemlich vorgeschritten, zahlreiche Paare hatten sich gefunden und freuten sich der zunehmenden Dunkelheit.
Nun aber zündete man die Lampions an und der Mond kam zwischen den Baumstämmen zum Vorschein. Und fast gleichzeitig setzte die Musik ein und Polyhymnia sang die letzten Lieder. Viele Zuhörer waren zu Tränen gerührt. Das Fest war unstreitig der Höhepunkt des ganzen Jahres.
Als Dr. Körner und Frau in später Stunde sich vor dem Haustor von den Freunden verabschiedeten, fiel Fräulein Florian der jungen Frau noch einmal errötend um den Hals und flüsterte: »Ich bin so glücklich – ich habe mich verlobt!«
Die nächste Nummer der Kreiszeitung brachte einen ausführlichen Bericht über das Waldfest, der mit den Worten schloß: »Rechtsanwalt Dr. L. Körner hat damit bewiesen, daß er nicht nur ein fürsorglicher, rühriger Stadtrat ist, der um das Wohlergehen der Heimat besorgt ist, sondern daß er auch ein ganz 149 ausgezeichneter Maître de plaisir sein kann. Wir hoffen, ihn bald vor größere Aufgaben gestellt zu sehen.«
Ende August kam in der Herrengasse ein Typhusfall vor.
Dr. Körner faßte jeden Bekannten, dessen er habhaft werden konnte, beim Rockknopf und rief: »Was habe ich gesagt?! – Habe ich es nicht prophezeit! Da haben wir es!«
Betrat man das Kaffeehaus, so hörte man schon unter der Türe die ungewöhnlich laute Stimme des Advokaten: »Was habe ich gesagt?! – Habe ich es nicht prophezeit?! Das kommt davon!«
Und in der Tat schadete dieser Typhusfall, der übrigens einen als Gast in der Stadt weilenden Ungarn betraf, dem Bürgermeister Lechner sehr. Und nützte dem Advokaten.
Der Gymnasialdirektor reiste sofort ab. In einer verseuchten Stadt könne man nicht leben.
Schon zwei Wochen später begann man in der Herrengasse das Katzenkopfpflaster auszureißen, die Arbeit wurde in Angriff genommen und dehnte sich allmählich auf die benachbarten Straßen aus.
Dr. Körner war nun den ganzen Tag unterwegs. Er kletterte über Erdhaufen, stürzte in Gräben, sprang über Balken und Rohre. Stets trug er Pläne in der Hand, verglich und prüfte und besprach sich mit dem Ingenieur. Man konnte an dem tiefen Ernst seines Gesichtes und der Geschäftigkeit seines ganzen Wesens 150 deutlich genug erkennen, wie außerordentlich wichtig der Inhalt seiner Unterredungen war.
Bei den Erdaushebungen stieß man auf römische Befestigungen. Dies verzögerte die Arbeit ein wenig, denn es mußten erst Fachleute aus Wien berufen werden, um die Funde genau aufzunehmen. Dr. Körner stellte das wissenschaftliche Interesse sogar noch über das sanitäre.
Am Stammtisch hielt er lange Vorträge über die Ausgrabungen und setzte den Geschichtsprofessor durch seine Fachkenntnisse in helles Erstaunen. –
Der Oktober war ungewöhnlich kühl und regnerisch. Der Fluß begann zu steigen.
Eines Morgens konnte man Dr. Körner mit tiefernsten, ja geradezu erschütternd ernsten Mienen umhereilen sehen, wie er jeden Bekannten anrief: »Was habe ich gesagt?! Habe ich richtig prophezeit?! Aber das kommt davon, wenn man nicht hören will! Oh, dieses Unglück, dieses furchtbare Unglück!«
Die Stadt war fieberhaft erregt:
Der Fluß hatte einen Pfeiler der Brücke, der noch hinreichend fest erschien, unterwaschen und umgerissen, und die Brücke hatte sich dort so stark gesenkt, daß sie jeden Augenblick einstürzen konnte. Sie mußte gesperrt werden, und die Stadt war vom ganzen Südteil der Ebene abgeschnitten, aus dem die meisten Lebensmittel gebracht wurden. Der Frühmarkt konnte bereits nicht stattfinden.
Bürgermeister Lechner wußte, was auf dem Spiel stand. Er fuhr sofort zum Kommandanten der Pioniere 151 und bat um Hilfe. Nach langer Besprechung, in der der Offizier auseinandersetzte, daß bei dem gegenwärtigen Wasserstand gar nichts unternommen werden konnte, einigten sie sich endlich dahin, daß die Pioniere eine Art Notkonstruktion bauen sollten, die auf den beiden flankierenden Pfeilern aufliegen und die Bresche überbrücken würde. Man ging sofort an die Arbeit und werkte Tag und Nacht. Nach kurzer Zeit war alles beendet, der Verkehr konnte wieder aufgenommen werden.
Dr. Körner aber griff den Bürgermeister in einer sehr erregten Sitzung maßlos an und gab ihm die Schuld, daß die Stadt nun ein hohes Darlehen aufnehmen müsse. Hätte Lechner nicht von jeher die Ratschläge der Fachleute eigensinnig übergangen, so hätte man heute eine sichere Eisenbrücke, deren Kosten längst abgetragen wären.
Und diesmal hatte er die Mehrheit der Stadträte auf seiner Seite. Die Entgegnung des Bürgermeisters war schwach und voll lahmer Entschuldigungen.
Es war ein vollständiger Sieg.