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Einmal war großes Räumen im Haus und ein paar alte Geräte kamen auf den Dachboden zum Ausgeding. Elsbeth ging mit der Magd hinauf. In einer Ecke sah sie eine kleine Kiste stehen und hob den Deckel ein wenig. Da stieß sie einen leisen Schrei aus: denn sie erkannte mit einem Blick die Bücher des Vaters, die sie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen.
Am nächsten Vormittag, als die Mutter wieder unterwegs war, trug sie die neugewonnenen Schätze heimlich in ihr Zimmer und versteckte sie dort sorglich wie eine Schuld.
Da waren etliche Bände Goethe und Schiller, da war Eichendorff und Mörike und das Buch der Lieder, da war die Versunkene Glocke von einem gewissen Hauptmann, Uhland und Don Quixote, Shakespeare und Rosegger und ein paar heute vergessene Romane, 33 die zu Vaters Zeiten modern gewesen. Und da waren ein paar Bände Brehm mit den bunten Bildern, die als Kind ihr Entzücken gewesen, ein Pflanzenatlas und ein Schmetterlingsbuch.
Heute kannte sie die meisten jener Namen aus dem Schulunterricht. Sie wußte, daß Goethe und Schiller »die größten deutschen Dichter« gewesen seien und hatte einmal »Des Feuers Macht« und »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche« auswendig lernen müssen. Goethe hatte den »Faust« geschrieben, der nach dem Ausspruch des alten Fräuleins Haselmaier, die in der Töchterschule deutsche Literaturgeschichte lehrte, eine dunkle und kaum verständliche Dichtung war. Sie hatte erfahren, daß Shakespeare »der größte englische Dichter« und Eichendorff »ein Romantiker« gewesen sei. Nun war es ihr, als stünden die Unsterblichen selbst vor ihr im grauen Zimmer mit ernsten, gütigen Mienen, von denen der Abglanz ferner Sterne schimmerte.
Ihr Herz schlug laut . . .
An einem stillen Nachmittag begann sie zu lesen. Sie saß in ihrem Zimmer am Fenster und kauerte sich wohlig in Vaters alten Lehnsessel.
Zuerst und mit einer schauernden Ehrfurcht, die sonder gleichen war, nahm sie den Faust zur Hand. Das Buch war stark abgegriffen, als wäre es jenes, das man immer wieder und wieder zur Hand genommen.
Sie las und es war, als rolle ein Riesenvorhang auseinander und enthülle ihr Schicksal und Welt.
Das Vorspiel auf dem Theater gefiel ihr. Das Vorspiel im Himmel war etwas Ungeheures. Sie 34 begriff nicht, wie man so etwas ersinnen konnte. Sie sah Gottvater auf seinem ewigen Thron, die Falten seines Gewandes flossen über die Stufen des Thrones und verloren sich als Wolken in der Erdentiefe. Und vor ihm die Riesengestalten der Erzengel mit den flammenden Schwertern, und ihre Worte rollten mächtig mit Donnerklang durch die ewigen Räume.
Und plötzlich mischt sich in die erhabenen Himmelsklänge der freche, witzige Teufelsspott und sagt Gottvater Unverschämtheiten ins Gesicht. Und – er hat recht. Er hat eigentlich immer recht! Wie seltsam das ist! Gott hat recht, und die Engel und Faust – und Mephisto auch! Und doch reden sie alle über dasselbe. Es war vielleicht mit der ganzen Welt so wie mit ihren Blumen, die die Mutter nicht leiden konnte: dem einen waren sie Blumen – dem anderen Grünzeug . . .
Ihre Wangen glühten, das Herz klopfte ungestüm. Unaufhaltsam las sie weiter und weiter, las Faustens Lebensüberdruß und Wagners Asterweisheit, erschauerte vor der Stimme des Erdgeistes und weinte helle Tränen zum Klang der Osterglocken und Engelschöre.
Mephisto tauchte als Pudel und Junker auf, und Faust verschrieb sich dem Teufel. Sie zitterte bei den Worten des Paktes und eine Ahnung überwehte sie, daß keine Höllenmacht den Menschen verderben könne, dem niemals der Tag genüge, sondern einzig das unerreichbare Ziel.
Sie schrak auf, als sie den Wagen der Mutter in den Hof fahren hörte; versteckte das heilige Buch und 35 strich sich ängstlich vor dem Spiegel die wirren Haare glatt. Wenn ihre Wangen nur nicht so geglüht und die Augen nicht so geglänzt hätten. Aber zum Glück war bereits tiefe Dämmerung und Frau Stadler merkte nichts.
Das Abendessen verlief schweigsam wie immer. Um neun Uhr ging die Mutter zu Bett und Elsbeth huschte in ihr Zimmer, schloß die Fensterläden und entzündete die Lampe. Dann legte sie sich nieder, nahm das geliebte Buch zur Hand und las weiter.
Und durchschüttert und alle Schmerzen erleidend, von Himmelswonnen in Höllenpein gestürzt, erlebte sie Gretchens Schicksal und barg tränenüberströmt das Gesicht in den Kissen, von allen Schaudern geschüttelt, als sie das stammelnde Flehen zur schmerzhaften Mutter vernahm. Da konnte sie nicht mehr weiter. Aber es jagte sie vorwärts, zwang ihr das Buch zur Hand, wirre, grotesk schauerliche Spukgestalten der Satansfeier zogen vorüber, Gretchens Schicksal erfüllte sich nach unerbittlichem Gesetz, den verzweifelten Faust reißt Mephisto an sich. Aber über der todgeweihten, zertretenen Wahnsinnigen öffnet sich der Himmel und die göttliche, alles verstehende, alles verzeihende, alles vergebende Stimme verkündete gegen Menschenurteil und Aberwitz die ewige Rettung und Erlösung der schuldlosen Sünderin.
Da war es mit ihrer Kraft zu Ende. Die Lampe erlosch und sie sank weinend und beglückt, in allen Tiefen aufgewühlt und erschüttert, ruhlos und dennoch befriedet zurück und hörte das Blut durch ihre Adern rasen und in den schmerzenden Schläfen pochen, und preßte das Gesicht in die Kissen und lachte und weinte in 36 einem Atem und drückte die Hände gegen die Brust, die das wildpochende Herz zu sprengen drohte.
Und dann kam der Schlaf.
Das war das erste große Erlebnis ihres Lebens.
Damals war sie achtzehn Jahre alt.
Es war, als ob seither sich das Leben und die gesamte Umwelt verändert hätten. Selbst das graue Haus dünkte Elsbeth nicht mehr so düster und grau. Denn sie wußte nun um einen heimlichen Goldschatz, den ihr niemand rauben konnte. Und die kleine Stadt gewann für ihre Augen neue, ehedem verborgene Reize.
In einer solchen Kleinstadt hat Gretchen gelebt. Und wenn Elsbeth nun durch die Straßen ging, über das holprige Katzenkopfpflaster, zwischen dessen Steinen da und dort das Gras sproßte, so wurde ihr das kleine Nest lieb und vertraut. Die alten schmucklosen, aber so fest gebauten Häuser mit ihren ellendicken Wänden, mit den spaßhaft hochgiebeligen Dächern, die alle rotgesprenkelt waren von alten und neuen Ziegeln; die engen Gassen, die vom Fluß her ganz steil zur Altstadt hinaufkrochen! Diese kleinen Gäßchen waren entzückend! Dort standen die Häuser manchmal schon so bedenklich schief, daß man sie mit gemauerten Bogen auseinander spreizen mußte. Und aus alten Höfen neigten sich riesige wilde Kastanienbäume über den Weg, die im Mai Tausende von weißen und roten Blütensträußen trugen. In diesen Gassen fuhr nie ein Wagen. Sie lagen still und nachdenklich, die kleinen alten Häuser sonnten sich 37 behaglich wie Katzen, und in den Höfen spann wilder Wein um die Säulen der Galerien und das Wasser plätscherte leise tönend in die Steinbecken der Brunnen, die längst von grünem Moos überwachsen waren. Da und dort noch ein uraltes Wappenschild, halb verwittert. Und in alle Gassen grüßte und nickte von oben, gar nicht hochmütig, das alte, behagliche Schloß vom Berg herab.
In der stillsten jener kleinen, engen, steilen, grasbewachsenen Gassen war an einem Haus eingemauert ein Steinbild der schmerzhaften Mutter, in deren Schoß der tote Sohn liegt mit der Dornkrone. Herbe, gotische Linien; und der Schmerz sprach aus den tiefen Furchen und Falten des Antlitzes und die Qualen des Martertodes aus den verrenkten, zerbrochenen, zerschundenen Gliedern, die, in den schmalen Rahmen des Bildes gepreßt, ein wenig verzerrt und wie im Todeskampf verkrampft waren. Und darunter die Inschrift:
Durch Deine großen Schmerzen
Und Piddern Dott
erbarm Dich iber uns große
Sünder, Barmherccher Gott.
Elsbeth stand lange vor diesem Standbild, dessen Meister niemand kannte. Es war ihr, als hätte sie es heute zum erstenmal gesehen. –
Die Steige, die von der Herrengasse hinauf zum Schloßberg führten, waren so eng, daß man mit den ausgestreckten Händen beiderseits die Wände der Häuser berühren konnte. Dann kam man über eine gedeckte Stiege hinauf unter die Bastion, an der entlang ein 38 schmaler Weg hinzog. Da stand man schon über der Stadt, sah von oben herab in die Höfe und Gärten hinein und wie ein kleiner Gott in das kleine Leben der Menschen, die in diesen Häusern wohnten.
Nur der mächtige Turm der Stadtkirche ragte bedrohlich auch in diese Höhe herauf und man stand in nächster Nähe der großen Turmuhr gegenüber, deren Zeiger sich träg über das Blatt bewegten. Aber dahinter glänzte das schillernde Glitzerband des Flusses mit seinen zwei Brücken, dehnte sich die weite Ebene mit den schwarzen Kieferwäldern und endlich ganz zuletzt zog das mächtig aufzackende Gebirge immer wieder mit rätselhafter Gewalt den Blick an sich, wie das ewige Symbol aller Sehnsucht nach all jenem, dem wir keinen Namen wissen.
Dann kam man durch das uralte Tor mit den stolzen Wappen und den bronzenen Feldschlangen, vorbei an Ecktürmen und Brustwehren in den Schloßhof, den in drei Stockwerken prächtige Galerien umzogen. Dort hatte man eine Unzahl der vielen Funde aus der Römerzeit aufgestellt, verwitterte Steintafeln mit Inschriften und roh gemeißelten Bildern von Fabeltieren und Reitern und Göttern.
Aber im Schloßhof spannen die roten Kletterrosen dicht hin über das uralte Blätter- und Schnörkelwerk des eisernen Brunnens und im Frühling glühten rote Pfirsich-Bäumchen und im Sommer schwerduftende Rosen dort.
Aber in stillen Mondnächten war das uralte schlichte Gemäuer überrieselt von grünlichem Licht und wenn 39 Elsbeth dann zum Schloß hinaufsah, so war ihr, als versinke ringsum die Stadt mit ihren Häusern und Menschen in einem Talnebel und es sei nur mehr, einsam auf seinem Berg über die Zeit hinausragend, das alte Schloß, und durch ihre Gedanken zogen klingende verträumte Lieder, in denen es vom Rauschen endloser Wälder, tiefer Ströme und verwunschener Waldbrunnen tönte, an deren blinkenden Wellen die Fee ihr goldenes Haar im Mondschein strählte, und wieder einmal ward in einem jungen sehnsüchtigen Herzen die ganze Romantik wach mit all ihren immer erhofften, nie erfüllten, berauschenden, beglückenden, betörend süßen Träumen.
So flossen die Tage und Wochen und Jahre.
Elsbeth tat im Hause ein wenig mit, ward ab und zu von der Mutter auf einem Meierhof oder einer Gutsverwaltung zur Schau gestellt, las heimlich in den Büchern des Vaters –und sehnte sich nach irgend etwas. Und ein Tag glich dem anderen, die Menschen ringsum waren sich alle so gleich, ohne inneres Leben, haspelten ihr Tagwerk ab wie Automaten.
Ein wenig Abwechslung brachten nur die Wochenmärkte in das tägliche Einerlei. Man hielt sie auf der kleinen platzartigen Erweiterung ab, welche die Herrengasse vor der Stadtkirche und dem Theater bildet. Dort kam die Herrengasse ziemlich steil vom Rathausplatz herauf und zur Rechten stand das alte Theater mit dem griechischen Säulenvorbau, in dessen Giebelfeld ein 40 goldener Stern glänzte. Es war ein nettes, gemütliches Theaterchen, in dem aber jetzt bloß Kino gespielt wurde. Hinter dem Theater ragte der alleinstehende, verwitterte Turm der Stadtkirche mächtig auf, an den man ringsum römische Funde gelehnt hatte, Löwenbilder und einen kleinen Liebesgott – und dahinter die alte, schöne Kirche mit ihren Grabsteinen in der Mauer.
Am Platz aber stand das Wahrzeichen der Stadt, eine mächtige Steinplatte, die, noch deutlich erkennbar, Orpheus den Sänger zeigte, der mit seinem Spiel die wilden Tiere anlockte und sänftigte, ein sinniges Symbol für das Schauspielhaus, vor dessen Pforten es sich erhob.
Am Markttag war dort ein buntes Gewimmel von Bauernweibern und Fuhrwerken. Man bot Geflügel und Gemüse, Butter und Käse, Eier und Blumen feil, handelte und feilschte. Vor den Türen der Spezereiläden und der Tuchhandlung drängten sich die Bäuerinnen, und auf all den Trubel und das Gemurmel und Geschrei sah ernsthaft vornehm das Schloß hernieder und der Kirchturm, und am Fuße des Orpheussteines boten Landleute gemästete Enten und Gänse feil.
Elsbeth freute sich immer auf die Markttage. All diese Bauern waren im Morgengrauen aus ihren fernen Dörfern aufgebrochen, durch schweigende Wälder und über betaute Wiesen zur Stadt gekommen – irgendwoher, aus der Ferne, wo die Berge blauten . . .
Wenn aber Jahrmarkt war, so zogen sich die ganze Herrengasse entlang die Verkaufsstände mit bunten Zeltdächern, unter denen Küchengeschirr und Kleider, 41 Leinwand und Hausgeräte, Kinderspielzeug und Feldgeräte, Lebkuchen und Kerzen, Gebetbücher und Rosenkränze, Stiefel und Schnitzwerk verkauft wurden. Da schwirrte die Luft vom Geschrei der Händler und Käufer, Kindertrompeten quiekten und Schnarren ertönten und eine festlich geputzte Menge bewegte sich mit fröhlichen Gesichtern zwischen den Buden.
Da verging der Vormittag so angenehm. Und wenn man auch nur ein paar Küchengeräte oder etwas Honig einkaufte, man guckte da und dort, besah die Waren, plauderte ein wenig mit Bekannten und freute sich des warmen Sonnenscheins, der fröhlich auf das bunte Treiben niederlachte und war für einige Stunden der grauen Öde des Tages enthoben.
Und Elsbeth war zwanzig Jahre alt geworden und einundzwanzig. Da gab es manchmal etwas ungemütliche Unterredungen zwischen Elsbeth und Frau Stadler, die es der Tochter beinahe zum Vorwurf machte, daß sich bisher noch immer kein Freier gezeigt hatte, ohne zu bedenken, daß sie selbst alles unterlassen, was dieses ersehnte Ereignis hätte herbeiführen können.
Ersehnt wurde es aber eigentlich nur von Frau Stadler. Elsbeth war es völlig gleichgültig. Freilich war immer eine Sehnsucht in ihr wach, aber sie kannte selbst nicht deren Ziel und Urgrund. Sie sehnte sich vielleicht irgendwie ins Weite – vielleicht nach Kunst und schönen Landschaften, nach Menschen, mit denen man über all jene Dinge reden konnte, die ihrer Mutter 42 fremd waren, und den anderen Menschen hier in der Stadt – aber nach Liebe sehnte sie sich wohl nicht. Sie war überhaupt vielleicht keine sehr liebesbedürftige oder gar sinnliche Natur, wie etwa die wunderschöne Herta Reinke, die Tochter des Buchhändlers, die sich schon mit sechzehn Jahren von einem Pionierleutnant die Lippen blutig küssen ließ . . . Es war, als hätte die Gefühlskälte, die über ihrer Kindheit und Jugend gebreitet lag, alle heißen Regungen des Blutes erstickt. Sie dachte oft, daß sie niemals »wirklich« heiß lieben würde, etwa wie Gretchen oder die Herta. Eher konnte sie es sich vorstellen, daß sie einen Mann nehmen werde, der ihre Achtung verdiente und ihr jene Fernen aufschloß, nach denen sie sich unbewußt sehnte.
Elsbeths ehemalige Schulkameradinnen waren alle längst verheiratet und galten nach der üblichen Ausdrucksweise als glückliche Gattinnen und Mütter. Eine von ihnen war sogar schon gestorben . . .
Nur Elsbeth wartete noch, wie man sagte, und man war allgemein der Ansicht, daß sie am Heiratsmarkt übergangen worden sei.
Da kam eines Tages Dr. Körner ins Haus.
Rechtsanwalt Dr. Leopold Körner war damals vierunddreißig Jahre alt. Er hatte sich nach Beendigung der Studien in seiner Vaterstadt niedergelassen und entfaltete sogleich eine ungemein emsige Tätigkeit.
Er ging in seinem Beruf auf.
Dabei trachtete er, sobald es nur einigermaßen 43 schicklich war, Einfluß auf die öffentlichen Ämter zu erlangen. Er ließ sich zum Armenvater wählen und vor zwei Jahren war er Stadtrat geworden.
Er war ein mittelgroßer, ernster Mann mit hagerem Gesicht und dunkelbraunem Haar und englisch gestutztem Schnurrbart. Das Auffallendste an ihm war jedoch sein Augenglas. Er trug stets einen Zwicker mit sehr großen, runden, etwas gewölbten Gläsern. Diese außergewöhnliche Form erregte in der Stadt Aufsehen und ließ ihren Träger außerordentlich interessant erscheinen. Er hatte die Gewohnheit, bei Unterredungen mit seinen Klienten oder gar bei politischen Gesprächen im Kaffeehaus den rechten Ellbogen auf den Oberschenkel und das Kinn in die rechte Hand zu stützen und seinen Partner mit äußerster, intensivster Aufmerksamkeit zu fixieren, als hinge von der Unterredung das Schicksal eines Weltreiches ab. Seine Antworten waren lebhaft und trugen den Ton äußerster Wichtigkeit. Alles um ihn her schien zu versinken, es existierte in diesem Augenblick nur sein Gegenüber. Meist aber neigte er sich dann jenem etwas zu und sprach mit gedämpfter Stimme, als ob er ein Geheimnis mitzuteilen hätte. Er sagte damit gleichsam: wir zwei haben etwas miteinander abzumachen, das keinen Menschen außer uns angeht – meine gesamten Geisteskräfte sind ausschließlich dir gewidmet!
Jedermann, mit dem er sich dergestalt unterhielt, fühlte sich stets geschmeichelt, daß ein so ungemein gebildeter, kluger und erfahrener Mann, ein Rechtsgelehrter, sich ihm mit solcher Anteilnahme und so 44 sichtlichem Interesse widmete. Und das bedeutete viel; denn Dr. Körner war mit Arbeit überhäuft und man sah ihn stets in großer Geschäftigkeit über die Straßen, ins Rathaus oder Gerichtsgebäude oder zu einer Versammlung eilen, wobei man seinen Mienen deutlich die außerordentliche Wichtigkeit der Angelegenheit ablesen konnte.
Er kam eines Tages knapp nach dem Mittagsmahl zu Frau Stadler, zu der Zeit also, da man die rege Geschäftsfrau am sichersten zu Hause antreffen konnte, begrüßte sie herzlich, jedoch mit einem gewissen besonderen Ton außerordentlicher Wertschätzung – Frau Stadler zählte zu seinen Klienten – und stellte sich dann Elsbeth vor: Dr. Körner, Stadtrat und Armenvater.
Ehe noch Elsbeth das Zimmer verlassen konnte, hatte er bereits seine lebhafte Freude ausgesprochen, daß er das Fräulein heute endlich kennen lernen durfte. Er lebe, nachdem er von Wien zurückgekehrt, nun bereits sieben Jahre in der Stadt, habe aber die Damen nie auf einer Unterhaltung oder bei einer Liedertafel der »Polyhymnia«, der anzugehören er die Ehre habe, angetroffen. Vermutlich sei das Fräulein –– Elise, nicht wahr? – sei das Fräulein Elise sehr häuslich – eine Eigenschaft, die bei den heutigen jungen Damen leider nur selten anzutreffen sei.
Frau Stadler hätte jedem anderen Besucher unbarmherzig die Rede längst schon unterbrochen und nach dem Zweck seines Kommens gefragt. Diesmal aber war es etwas anderes. So saß sie also in ihrer 45 gewohnten, etwas steifen Haltung, lächelte ein wenig zu den munteren Reden des Gastes, ließ ab und zu ein spärliches Lobeswort über Elsbeth einfließen und gab durch nichts zu erkennen, daß ihre Zeit eigentlich viel zu kostbar sei, um solchen Firlefanz anzuhören.
Elsbeth begriff. Und zugleich ekelte sie der ganze Handel. Denn nichts anderes war es. Sie wußte genau, warum Dr. Körner gekommen sei; daß die Mutter längst ungeduldig erwartete, die nächsten Kunden zu empfangen. Aber man mußte sich zurückhalten, um den Advokaten nicht zu kränken! Sonst zerschlug sich am Ende das Geschäft!
Endlich kam Dr. Körner auf den Zweck seines Besuches zu sprechen. Er beabsichtige in seinem Weinberg – die Damen kennen ihn doch? – ein kleines Winzerhäuschen zu bauen; da er aber in solchen Angelegenheiten leider gar keine Erfahrung besitze, wende er sich an seine verehrte Klientin, um nicht übervorteilt zu werden. Natürlich bitte er gleichzeitig, Frau Stadler wolle ihm alle nötigen Baumaterialien liefern; wisse er doch, daß er nirgends so gut bedient werde als hier.
Frau Stadler lächelte wieder ein wenig, warf einen Blick auf die kleine Skizze, die Dr. Körner entfaltet hatte, und nannte dann knapp und genau ihre Zahlen.
Dr. Körner erhob sich. Es habe ihm außerordentlich wohl getan, in einem so traulichen Heim verweilen zu dürfen; seit dem Tode seiner seligen Mutter entbehrte er so sehr eine geordnete, gemütliche Häuslichkeit, die ja doch das erstrebenswerteste Ziel eines jeden Menschen sei.
Er verbeugte sich mit allen Anzeichen höchster 46 Wertschätzung vor Frau Stadler, mit einem verbindlichen und zugleich ungemein respektvollen Lächeln vor Elsbeth und empfahl sich.
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sah Frau Stadler ihre Tochter bedeutsam an und sagte bloß: »Na –?!«
Frau Stadler war auf Dr. Körner durch den Weinhändler Florian aufmerksam geworden, mit dem sie in geschäftlicher Verbindung stand. Bei der Transaktion eines Grundstückes war Streit mit dem bisherigen Besitzer, dem Bürgermeister Lechner, entstanden und da sich die Parteien nicht einigen konnten, so entschlossen sich Frau Stadler und Herr Florian im Bewußtsein ihres guten Rechtes zum Prozeß. Florian riet, seinen Freund Körner als Rechtsbeistand zu wählen, und sie suchten ihn auf. Damals lebte Körners Mutter noch.
Das Wartezimmer des Advokaten war ungemein geschmackvoll eingerichtet. Ein großer, rot und grün gemusterter Divan fiel zuerst auf. Die Lehne war mit blanken Messingstangen abgeschlossen. Darüber hing ein Bild, das der Möbelhändler in Graz beim Ankauf der ganzen Einrichtung gratis mitgegeben hatte. Es stellte eine Herbstlandschaft vor und war mit ziemlich grellen Farben gemalt. Die Bäume standen ein wenig steif und ungelenk mit sonderbar emporgestreckten Ästen und der Vordergrund schien infolge eines kleinen perspektivischen Fehlers vom Horizont an lotrecht herabzuhängen, wie ein Teppich über ein Balkongeländer. 47 Der Name des Künstler – J. Müller – stand in kühn geschwungenen roten Buchstaben in der rechten Ecke.
Zu beiden Seiten des Gemäldes hingen zwei kleinere; links ein Mädchen, offenbar Italienerin, das in holder Verwirrung mit einem Strohhalm ein zu ihren alabasterweißen Füßchen spielendes Kätzchen neckte, rechts ein zigeunermäßig aussehender hübscher Jüngling mit einer Zigarette im Mund, der verwegen und siegesgewiß zu dem Mädchen herüberblickte.
Vor dem Divan ein kleiner Tisch, auf dem etliche Hefte der »Woche« und »Über Land und Meer« auflagen, und ein paar Lehnstühle.
An der Wand gegenüber stand ein kleines, etwas wackeliges Bücherregal. Herr Florian wies mit einem bedeutungsvollen Blick darauf hin: man sah sogleich den vielseitigen, in allen Künsten und Wissenschaften erfahrenen Mann der Bildung: da starrten zwei Reihen dicker Bände mit goldgepreßten Rücken: Meyers Konversationslexikon, erste Auflage. »Die Frau als Hausärztin« vertrat die Medizin, einige Bände Marlitt und Ganghofer die schöne Literatur.
Dr. Körner hatte diese Bücher einst von einem Studienkollegen als Pfand für einen Geldvorschuß erhalten. Das Geld sah er niemals wieder, die Bücher gedachte er als passenden Schmuck seines künftigen Wartezimmers zu benützen. Er hatte seither zwar noch nicht Zeit gefunden, sie durchzublättern, aber bei einem Mann, der wie er in seinem Beruf aufging, war dies weiter nicht verwunderlich.
Am Fußboden lag ein grellfarbiger Teppich, auf dem 48 der Kampf eines Löwen mit einem Beduinen dargestellt war.
Dr. Körner lud die Wartenden in sein Arbeitszimmer. Fast in der Mitte des Raumes stand ein mächtiger geschnitzter Schreibtisch mit einem Aufsatz von verschiedenen Fächern und Regalen. Eine Flut von Akten lag darauf ausgebreitet. Der Tisch stand aber so, daß der Schreibende das Fenster im Rücken hatte. Dies schien den Advokaten nicht zu bekümmern.
Ein kleines Drehgestell in amerikanischem Bureaustil hielt neben dem Schreibtisch die Gesetzbücher bereit.
Ein Ledersofa und etliche Stühle, einige Bilder, ähnlich denen des Wartezimmers, und ein paar hellpolierte Kästen vervollständigten die Einrichtung.
Florian trug die Angelegenheit vor. Dr. Körner, aus dessen Gesicht nun jedes Lächeln, das dem Freund gelten konnte, verschwunden war, hatte den rechten Ellbogen auf den Oberschenkel gestützt und das Kinn in die Hand gelehnt. Seine Augen blickten fest auf den Sprechenden, seine Mienen waren tiefernst und drückten sattsam die unendliche Wichtigkeit aus, die er der Sache Florian Stadler kontra Lechner beimaß.
Aber je länger er zuhörte, desto unangenehmer wurde ihm die ganze Angelegenheit. Er trug sich mit hochfliegenden Plänen, die er einstweilen noch sorgsam geheimhielt, in deren Verfolg es jedoch einmal vorkommen konnte, daß er gegen den Bürgermeister Lechner öffentlich auftreten mußte. Niemand sollte dann seinem Verhalten irgendwelche persönlichen Beweggründe 49 unterschieben können. Er wollte keinen Prozeß gegen den Bürgermeister führen. Nur rein ideale Gründe würden ihn dereinst vielleicht bewegen, gegen Lechner Stellung zu nehmen, in dem dann er nur den politischen, nicht aber den ehemaligen Prozeßgegner erblicken durfte.
Er begann also, die Augen fest auf Florian oder Frau Stadler gerichtet, lebhaft und von kurzen, energischen Handbewegungen begleitet, darzulegen, daß die Sache seiner verehrten Klienten leider nicht so ganz ausgezeichnet stünde, wie diese es sich gedacht. Das natürliche Rechtsempfinden sei eben – leider!– noch nicht das Gesetz und das Gesetz – hm.
Er sprach immer beredter, bis Florian, dem im Grund seine Gemütlichkeit und Ruhe lieber waren als der schönste Prozeß, von der Sache genug hatte. Nur Frau Stadler blieb zäh und verlangte, Paragraphen zu hören. Und Dr. Körner ergriff einen Band, zitierte und erklärte, deutete und interpretierte und schlug endlich einen Vergleich vor, den er denn auch glücklich zustande brachte. Und bei der letzten Unterredung mit seinen Klienten nahm er wieder seine gewohnte Haltung ein, fixierte Frau Stadler und erklärte mit geheimnisvoll gedämpfter Stimme, daß er sehr zufrieden sei mit dem Ausgang der Angelegenheit. Denn wie bekannt seien außer ihm nur noch zwei Advokaten in der Stadt ansässig, die beide zur Lechnerpartei gehörten. Und obendrein sei der eine noch Lechners Schwiegersohn! Es habe ihn nur gewundert, daß der Bürgermeister auf den Vergleich eingegangen sei!! . . . 50
Einige Tage nach seinem ersten Besuch erschien Dr. Körner wieder bei Frau Stadler, diesmal am Nachmittag, so daß er nur Elsbeth zu Hause antraf.
Und Elsbeth war vorbereitet.
Die Mutter hatte ihr klar auseinandergesetzt, welche Möglichkeiten für sie bestanden: »Du bist jetzt bald zweiundzwanzig Jahre. Willst du ledig bleiben? Gut. Aber zum Geschäft wirst du nie taugen; so wirst du also schön langsam eine alte Jungfer, die den lieben langen Tag nichts zu tun hat. Mußt dir halt dann einen Mops anschaffen . . . Oder willst du heiraten? Ich sag' dir aufrichtig, ich hätt' nie gehofft, daß einmal so ein Mann um dich anhalten wird wie der Körner! Denn ein Geschäftsmann nimmt dich nicht, dem bist du zu unpraktisch und zimperlich – na, und die ›Gebildeten‹, die Advokaten und die Doktoren und die Gerichtsbeamten oder die Professoren vom Gymnasium – die tragen die Nase ja viel zu hoch, für die ist unsereins ja nicht ›ebenbürtig‹! Eine Witwe, die sich redlich ihr Brot verdient und dabei mit Bauern und Zimmerleuten umgehen muß – die ist ja zu ›ordinär‹ für solche feine Herren! Also, wer bleibt dir denn übrig?! Und jetzt kommt der Dr. Körner! Paß auf, der wird noch mehr als ein simpler Advokat! So ein Glück hätt' ich mir wirklich nicht träumen lassen!«
Aber als Elsbeth mit Tränen in den Augen fragte, ob sie die Mutter denn um jeden Preis aus dem Haus haben wolle, daß sie ihr diesen ganz gleichgültigen, ja 51 sogar unangenehmen und widerlichen Menschen aufdränge – da geschah es, daß Frau Stadler zum erstenmal in ihrem Leben ein wenig gerührt wurde und der Tochter liebevoll zuredete.
»Glaub' nur das nicht, Kind! Es ist für jede Mutter traurig, wenn sie ihr einziges Kind hergeben muß. Aber es ist dein Bestes, das ich dir anrate. Du wirst die Frau eines tüchtigen, anständigen, geachteten Mannes, wirst eine Rolle in der Stadt spielen, kannst dich als Frau freier bewegen, wirst Reisen machen, wirst Kinder haben – –«
»Aber wenn ich ihn nicht mag!«
»Ist besser als so eine dumme Liebesheirat! In vier Wochen ist die Lieb' weg, und die Eh'leut' leben wie Hund und Katz'! Besser, man kann sich gegenseitig achten, die Liebe kommt dann schon mit der Zeit. Und dann wirst ja Kinder haben. Also sei gescheit, überleg' dir's und sag' ja!«
Und Elsbeth begriff, daß ihr nichts anderes übrigblieb. Aber in ihrem Innern sah es aus wie in einer leergebrannten Kirche und als Dr. Körner an jenem Nachmittag kam und die letzte Hoffnung schwand, daß sein Besuch doch nicht ihr gegolten habe, war ihre Kehle wie zugeschnürt und sie konnte kaum ein paar Worte sagen.
Der Gast schien nichts zu bemerken. Er nahm unbefangen Platz, begann von Graz und Wien zu erzählen, von Theatern und Unterhaltungen, ging dann zu einem kleinen Stadtklatsch über, kam auf seine verstorbene Mutter zu reden und beklagte sein einsames Junggesellenleben. 52
Elsbeth hörte zu, in ihr Schicksal ergeben. Allmählich wurde sie ruhiger und konnte ihm antworten und schließlich kam so etwas wie ein Gespräch zustande. Ja, es schien ihr sogar, als sei Dr. Körner zwar ein eitler und ziemlich hohler Mensch, im Grunde aber vielleicht doch ein ganz guter Mann. So mochte es denn also sein . . .
Als Frau Stadler heimkehrte, wendete sich das Gespräch zunächst den geschäftlichen Angelegenheiten zu; dann aber geschah das Unglaubliche, das sich, soweit Elsbeth sich zurückerinnern konnte, niemals ereignet hatte – der Gast ward zum Abendessen eingeladen.
Und am nächsten Vormittag – blieb Frau Stadler daheim. Sie war gesund, das Wetter schön, es gab Geschäfte genug – aber sie blieb zu Hause. Und sie hatte richtig gerechnet: um halb zwölf Uhr fuhr ein geschlossener Wagen in den Hof, Herr Dr. Körner erschien im eleganten Gehrock und Zylinder vor Frau Stadler und bat um die Erlaubnis, Fräulein Elsbeth um ihre Hand bitten zu dürfen.
Er erhielt die Erlaubnis und von der blassen Elsbeth ein leises Ja.
Aber Frau Stadler lächelte und der Advokat wußte nicht, ob über seine geschraubte Erklärung oder aus Freude, daß die Tochter endlich den ersehnten Mann gefunden habe.
Am nächsten Abend feierte man in Körners Freundeskreis die Verlobung. 53
Hinter der Stadtkirche, in einer engen Gasse, liegt das weitberühmte Gasthaus »Zum Judennatzl«. Man trank dort das beste Bier, den besten Wein der Stadt, und das Gulasch war eine Spezialität des Hauses.
Im Hinterzimmer mit den getäfelten Wänden und dem frischen Tannenschmuck hatten sie ihren Stammtisch: der Weinhändler Florian, der selber am meisten trank und davon eine gerötete Nase bekommen hatte; der Arzt Dr. Bachelmayer, der Gymnasialdirektor und seine Professoren.
Das frohe Ereignis wurde gebührend gefeiert. Man hielt Reden auf Dr. Körner und seine Braut und ließ beide so oft leben, daß der Advokat, der wenig vertrug und dem Stammtisch nur aus Geschäftsklugheit angehörte, schon ein wenig schwindlig wurde.
Als die Stimmung etwas weiter gediehen war, begann man den Bräutigam zu hänseln: ausgerechnet das reichste Mädel der ganzen Stadt habe er sich ausgesucht! Er sei ein ganz Schlauer!
Es war richtig: Frau Stadlers Reichtum war die erste und wichtigste Ursache seiner Wahl; er war sogar, als die Witwe ruhig und fast gleichgültig die Höhe der Mitgift nannte, sehr überrascht gewesen: soviel hatte er doch nicht erwartet. Aber er hatte doch noch einen zweiten, rein idealen Grund und verteidigte sich also, daß ihm Elsbeth über alles gefalle und daß er sie vom ersten Sehen an geliebt habe. Und dann – sie sei so ungemein »poetisch«.
Was er unter dieser Eigenschaft eigentlich verstand, hätte er selbst nicht genau angeben können. Man 54 verlangte auch keine weitere Erklärung, sondern stimmte ihm zu und brachte ein neues Hoch auf die Braut aus.
Im Herbst war Hochzeit.
Elsbeth hatte ihren Bräutigam gebeten, die geplante Hochzeitsreise nach dem Süden zu richten. Sie sehne sich unendlich nach dem Meer und den sonnigen Landschaften Italiens.
Aber Körner erklärte, der Süden sei zwar sicher ungemein poetisch, aber es wimmle dort von Hochzeitsreisenden und er habe nicht Lust, diese komischen Figuren um die seine zu vermehren. Auch könnten sie später immer noch hinunterfahren. Da aber Elsbeth weder Wien noch Graz kenne, so schlage er vor, diese beiden Städte zu besuchen, dort »etwas mitzumachen« und sich gehörig zu amüsieren. Er wette, daß Elsbeth ihm dafür danken und sich ausgezeichnet unterhalten werde.
Und Elsbeth sah plötzlich ein, daß ihr an Dr. Körners Seite auch der sonnigste Himmel und die göttlichste Landschaft grau und tot bleiben werde, und willigte in seinen Vorschlag.
Die Hochzeit ward ein Ereignis. Schon daß die Elsbeth Stadler, die als eine Art von Aschenbrödel galt, endlich doch noch einen Mann gefunden, war ein unversiegliches Gesprächsthema. Und noch dazu diesen Mann, der jeden Tag die jüngere Tochter des Bürgermeisters hätte haben können, die zwar gar nicht schön, 55 aber sehr reich und eben die Tochter des allmächtigen Bürgermeisters war.
Am Hochzeitstag setzte die Braut alle Gäste und Zuschauer durch ihr in Graz angefertigtes prachtvolles Kleid und durch ihre ausnehmende Blässe in Verwunderung. Man begriff nicht, wie ein Mädchen, dem ein solch unverhofftes Glück geworden, am Hochzeitstag so bleich sein konnte wie die weißen Rosen des Brautstraußes und die Myrthen im blonden Haar.
Und Pater Friedrich, der große Musiker, spielte selber die berühmte Orgel und ließ die Klänge des Hochzeitsmarsches aus dem Sommernachtstraum durch die Kirche brausen, daß die bleiche Braut bis ins tiefste Herz erzitterte. Damals hörte sie Pater Friedrich zum erstenmal spielen.
Die Zahnradbahn kroch langsam den Schloßberg hinan.
Die Sonne senkte sich zu den Bergen, die ringsum das Grazer Becken umwachen, und hüllte sie in einen purpurn glühenden, duftigen Schleier. Sie blinkte ein letztes Mal auf den grünen Dächern der Kirchen, ließ das wildschäumende Wasser der Mur blutrot und golden aufblitzen und schuf aus den Abendwolken ein ungeheures, gigantisches Farbenwogen und -prunken, das seinen Abglanz auf die sanft erglühenden Mauern der schon im Dunkel des Tales versunkenen Stadt herniederwarf.
Auf der Plattform des Wagens stand Dr. Körner mit seiner jungen Frau. Elsbeth starrte wie gebannt 56 auf das grandiose Schauspiel dieses Sonnenunterganges und sah mit leichtem Schauder unter sich den schwindelnd steilen Schienenstrang in die jähe Tiefe stürzen, sah Felsen und Bäume und endlich die ganze Stadt unter sich versinken und hinabgleiten, während sie sacht und leise, wie von unsichtbaren Schwingen erhoben, höher und höher glitt und immer weitere, herrlichere Fernen dem Blick sich erschlossen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet wie in durstigem Einsaugen dieser nie gesehenen Schönheit.
Körner drängte sich an sie und schlang den Arm um sie. Sie merkte es nicht. Er starrte nur sie an und flüsterte heiße Liebesworte. Er bog ihren Kopf zu sich und wollte sie küssen. Sie wehrte ab, und ein gequälter Zug erschien um den Mund. »Laß doch, Leopold . . . schau doch, wie herrlich die Berge . . . dort schau doch . . .«
Er wendete sich kaum.
»Ja, ja . . . sehr schön, wirklich . . . sehr schön . . . Schatzerl!«
Er begriff seine Frau nicht. Es war ihm völlig klar, daß sie ihn ohne alle Liebe geheiratet hatte, weil er eben die einzige und letzte Gelegenheit war. Aber er traute es sich auch zu, in diesem vereinsamten, mit Liebe wahrlich nicht verwöhnten Mädchen die Liebe wachzuwecken, so wie er es verstand. Zum Teufel, sie mußte doch Sinne haben wie jedes andere Weib auch! Und er erwartete, wenn einmal das Eis gebrochen, daß ihm ihre jahrelang zurückgedämmte Sinnlichkeit entgegenfluten werde wie ein brausender Strom. 57
Aber nichts von alledem geschah. Sie blieb auf der kurzen Fahrt nach Graz einsilbig und bleich in ihre Ecke gedrückt, starrte zum Fenster hinaus und fragte höchstens nach den Bergen und Dörfern, die er nicht zu nennen wußte, wehrte matt und lässig seine immer ungestümeren Liebkosungen ab und gab auf alle Fragen nur stets die gleiche Antwort: »Laß mich nur – ich muß mich erst gewöhnen . . .«
Am Abend saßen sie im »Steirerhof«. Er ließ ein ausgesuchtes Menü auftragen und dazu die besten Weine. Sie berührte kaum die Speisen, aber vom Wein trank sie gierig wie im Fieberdurst. Schließlich war sie einfach betrunken. Er merkte es erst, als sie im Lift hinauffuhren in ihr Zimmer.
Und als die Stunde gekommen war, der sie wochenlang entgegenbangte, mußte es Dr. Körner beschämend klar werden, daß sich seine Frau betäubt, betrunken hatte, um sich vor dem Schauder und der Scham dieser Nacht die Sinne zu verhüllen . . .
Er führte sie ins Theater zu einer schlüpfrigen Operette; ins Varieté zu einem ziemlich eindeutigen Programm – überallhin, wo er hoffte, daß der zündende Funke in die schlummernde Sinnlichkeit dieses jungen Weibes schlagen könnte. Es änderte sich nichts; seine Frau blieb kalt und blaß und gleichgültig.
Es war schmachvoll für ihn. Er wußte, daß Liebe, Zuneigung, Gefühle usw. eigentlich Dinge waren, an die niemand glaubte, die aber auch niemand leugnete, weil das nun einmal so herkömmlich war. So wie man das »Herz« als den Sitz all dieser Gefühle nannte und 58 jemand sein »Herz« schenkte, obwohl man genau wußte, daß es nur ein Muskel war, eine Blutpumpe. Man redete von diesen Dingen, weil es der gute Ton erforderte, davon in der Verlobungszeit zu sprechen. In Wirklichkeit existieren sie aber gar nicht, und kein vernünftiger Mensch glaubte an sie. Er hatte etwas erlebt und glaubte, »die Weiber« zu kennen. Und nun versagte seine ganze Kunst und Erfahrungsfülle vor diesem Mädchen, das dem lieben Gott hätte danken können, daß es überhaupt noch einen Mann bekam.
Er fragte sie, ob sie ihn denn nicht liebe.
»Ach weißt du – ich habe dich ja kaum gesehen, vor der Hochzeit – wir haben doch nie ernsthaft miteinander reden können – ich muß dich doch erst kennenlernen – hab' ein wenig Geduld mit mir . . .«
Er versprach es ihr unter heißen Küssen, begriff aber nicht, worüber denn Brautleute eigentlich »ernsthaft« miteinander hätten reden sollen . . .
Am Schloßberg spielte Militärmusik. Flotte, prickelnde Walzer, sentimentale, schmachtende Soli des Flügelhorns, stramme Märsche, bei deren Klängen er pralle Soubrettenbeine die kurzen Röckchen im Takt in die Luft werfen sah, der beste Wein aus der Kolos, Lachen, Scherzen und frohes Stimmengewirr und flackernde Windlichter – das alles war doch so poetisch, so romantisch – und Elsbeth blieb gleichgültig.
Sie saßen nahe der Brüstung, hinter der steil und jäh der Abhang zur Stadt abfällt. Und Elsbeth sah hinaus in die dunkle Weite, sah über den schwarzen Schattenrissen der Berge die Sterne aufflimmern, sah 59 in der Tiefe die Lichter der Stadt schimmern – und das Wasser des Flusses im Mondlicht silbern glänzen und horchte den leisen Stimmen und den raunenden, verworrenen Klängen, die aus der Tiefe herauftönten, als rede die schlafende Stadt mit sich selber im Traum.
Körner begriff, daß sie ihn völlig vergessen hatte, und schämte sich vor den Leuten an den Nachbartischen.
Sie fuhren nach Wien. Elsbeth hätte gerne noch die entzückenden alten Häuser in Graz näher besehen, die stillen Höfe mit ihren Galerien und alten Brunnen; sie wollte hinauswandern auf die Ries und auf den Plawutsch. Aber dafür war ihr Mann nicht zu haben. »Ich bitt' dich, Mausi, was machen wir denn dort? Wir wollen uns doch unterhalten und eine fesche Hochzeitsreise machen und nicht allein im Wald herumlaufen! Die Bäume schauen doch überall gleich aus, und die Berge sind bei uns daheim genauso langweilig wie da!«
Also fuhren sie nach Wien. Sie waren bei der fünfhundertsten Aufführung der »Lustigen Witwe«, sie champagnisierten mit einem ehemaligen Studienkollegen Körners und dessen lustiger Frau im »Max und Moritz« und hörten zierliche Soubrettchen ihre schlüpfrigen Verslein zirpen. Als sie sich in den ersten Morgenstunden trennten, erklärte die Frau des Studienkollegen: »So ein fades Ding hab' ich mein Lebtag noch nicht gesehen.« Und er bedauerte den armen Körner.
Elsbeth wollte im Burgtheater den »Faust« sehen 60 mit Kainz als Mephisto, von dem sie soviel reden gehört. Ihr Mann hatte wenig Lust: »Aber Lisi, wir sind doch keine Schulkinder mehr, denen man klassische Bildung eintrichtert! Und dann so ein Rührstück! Wir wollen uns doch amüsieren!«
Sie wollte in der Hofoper den »Tannhäuser« hören. Körner hatte die gleiche Antwort wie früher.
Nach vierzehn Tagen reisten sie heim.