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10.
Verschmähte Freiheit und Erlösung

Als die Nachricht von dem Tode August's II. nach Dresden gelangt war und sich von da aus rasch über das ganze Land verbreitete, erschien der Commandant, welchem zu dieser Zeit die Bewachung des festen Platzes Stolpen und der Gräfin Cosel anvertraut war, bei der Gefangenen und theilte ihr persönlich die Trauerkunde mit.

Anna von Cosel ward davon so erschüttert, daß sie im ersten Augenblicke keines Wortes mächtig war; dann aber rang sie verzweifelnd die Hände und warf sich schluchzend in ihren Sessel. Die lange Gefangenschaft, das gänzliche Vergessen, all die erlittene Unbill und Ungerechtigkeit waren nicht im Stande gewesen, jene innige Liebe ganz aus dem Herzen dieser Frau zu reißen, welche sie für ihren königlichen Verehrer gehegt. Von diesem Tage ab war alles, was sie erduldet, vergessen und August war für sie wieder der geliebte August von ehedem geworden.

Etwa sechs Tage später kam ein Cavalier Namens Hennicke von Dresden in Stolpen an, ein noch junger Mann, welcher später eine glänzende Carrière machte. Er ließ sich bei Gräfin Cosel als Abgesandter des Kurfürsten melden. Die Gräfin las eben wieder eifrig in ihrer Bibel, als er eintrat.

»Der König, mein Gebieter,« begann Hennicke, »sendet mich, um Euer Excellenz, die erfreuliche Meldung zu machen, daß Euere Gefangenschaft ein Ende hat. Ihr seid also vollkommen frei, Madame, und könnt von nun ab Eueren Aufenthalt nehmen, wo es Euch beliebt.«

Die Gräfin legte überrascht die Hand an die Stirne, wie um sich zu vergewissern, ob sie nicht träume.

»Ich frei?« rief sie nach einer Weile aus. »Was soll mir doch diese Freiheit? ... Ich und die Menschen, wir sind einander entfremdet, wir kennen uns nicht mehr. Ich habe kein Plätzchen, wohin ich mich zurückziehen könnte, denn man hat mir ja alles genommen. Womit und wo sollte ich leben?«

Der Abgesandte schwieg betroffen.

»O nein, o nein,« fuhr die Gräfin fort, »ich will nichts wissen von Euerer Freiheit ... ich wüßte nicht, wohin ich gehen sollte ... lasset mich hier! Ich habe mich an diese Mauern gewöhnt, ich habe hier all meine Thränen geweint – ich könnte ja nirgend anders mehr leben. Lasset mir diese kleine bescheidene Ecke, fern von der Welt, ich bitte Euch flehentlich darum. Ich werde ohnedies nicht mehr allzu lange zu leben haben!«

Hennicke erwiderte gerührt, daß er seinem Gebieter ihre Bitte unterbreiten werde.

Selbstverständlich gewährte ihr der König August III. diesen Wunsch sofort.

Anna von Cosel zählte nun – man schrieb 1733 – dreiundfünfzig Jahre, und nach so vielen schmerzlichen Erlebnissen, nach so langer Kerkerhaft glaubte sie, daß ihr nicht mehr viele Tage beschieden sein würden, worin sie sich jedoch, da eben niemand sein Ende vorherzubestimmen vermag, täuschte.

Die Gräfin richtete sich nun im Johannisthurm zu Stolpen nach ihrer Bequemlichkeit häuslich ein. Ihre hauptsächlichste Beschäftigung blieb nach wie vor das Studium der Bibel und der orientalischen Sprachen und Literatur. Sie war fast beständig von Juden umgeben und ließ sich von diesen alles herbeischaffen, was sie benöthigte. Die Pension, welche man ihr ausgesetzt hatte und welche sich mit dreitausend Thalern bezifferte, genügte zu ihrem Unterhalt und zum Ankauf der Bücher, welche sie wünschte. Einen Theil derselben verwendete sie auch dazu, um jene sonderbaren Medaillen zurückzukaufen, welche ihren und August's II. Namenszug trugen und von denen nur eine kleine Anzahl geprägt worden war. Nach dem Tode der Cosel fand man vierzig derselben in einem alten Lehnsessel versteckt, in welchem sie gewöhnlich zu sitzen pflegte.

Gefangen oder frei, behielt die Gräfin stets ihr stolzes Auftreten und ihre herrischen Manieren bei; sie duzte die Beamten, die Priester, sowie überhaupt fast Alle, mit denen sie in Berührung kam, unterließ es aber auch nicht, Jenen, welche sie in Stolpen besuchten, den Dank für ihre Aufmerksamkeit auszudrücken.

Nach siebzehnjähriger Gefangenschaft unter der Regierung August's II. überlebte Gräfin Cosel noch die Regierung seines Nachfolgers, August's III. und dessen Günstlings Brühl, ferner die beiden schlesischen Feldzüge und den siebenjährigen Krieg.

Ein sonderbarer Zufall fügte es, daß der erste Kanonenschuß in dem Feldzuge, welcher über die Zukunft Sachsens entscheiden sollte, unter den Mauern von Stolpen erdröhnte; der preußische General Warnery cernirte das Schloß, das nur von einer Handvoll Invaliden besetzt war, welche dasselbe ohne Schwertstreich übergaben.

Friedrich der Große ließ während des Krieges der Gräfin regelmäßig ihre Pension auszahlen, jedoch erhielt sie dieselbe in jenen geringwerthigen Geldstücken, welche man »Epheunimiten« nannte, und sie war darüber so aufgebracht, daß sie eine Menge derselben an die Wände ihres Zimmers nageln ließ.

Während der Occupation Dresdens durch die Oesterreicher im siebenjährigen Kriege, im Jahre 1762, kam der damalige Dragoneroberst Fürst von Ligne eigens nach Stolpen, um Gräfin Cosel zu sehen. Im Laufe des Gespräches theilte sie ihm unter Anderem mit, daß sie sich's zur Aufgabe gemacht habe, alle Religionen gründlich kennen zu lernen, und daß sie nach genauem Studium derselben sich für das mosaische Bekenntniß entschieden habe – sie war früher gleich der Gräfin. Königsmark Protestantin gewesen. Sie erzählte ihm ferner, daß sie noch bei Lebzeiten August's II. ihre Freiheit hätte wieder erlangen können, daß es aber hierzu zu spät war und daß sie es vorgezogen habe, in Stolpen zu bleiben, weil sie einsah, daß sie als eine völlig Fremde wieder in die Welt treten sollte, und da sie niemals gehofft hätte, daß sie noch so lange am Leben bleiben würde.

Als ihr liebenswürdiger Besucher sie verließ, machte sie ihm ihre Bibel zum Geschenk, ein Buch, das, wie ihre übrigen, sämmtlich auf jeder Seite mit rothgeschriebenen Randbemerkungen gefüllt war. »Sie holte diesen Schatz,« schreibt der Fürst, »mit solcher Feierlichkeit und solcher Sorgfalt herbei, daß ich nicht anders glaubte, als sie wolle mir einen ihrer kostbarsten Diamanten als Andenken mitgeben.«

Sie zählte zu der Zeit, da der Fürst sie sah, zweiundachtzig Jahre. Kurze Zeit nach seinem Besuche erhielt er einen fast unleserlichen Brief von ihr, dessen Inhalt ihm aber, wie er selbst sagte, ganz unverständlich war, da er beinahe nichts anderes als mystische Sätze und Zauberformeln enthielt.

Aus anderer Quelle weiß man, daß die Cosel sich durch den damals berühmten Orientalisten Bodenschatz ein hebräisches Buch unter dem Titel: » Pirke aboth« hatte übersetzen lassen, zu welchem Zwecke sie ihm zwanzig Thaler mit einem Briefe schickte, den sie mit »Borromäus Lobgesang« unterzeichnete. Nachdem er diese Arbeit rasch beendet hatte, erhielt Bodenschatz noch sechs Ducaten von ihr mit den verbindlichsten Ausdrücken des Dankes. Später wendete sie sich abermals an ihn mit dem Ersuchen, ihr noch mehrere andere namhaft gemachte hebräische Abhandlungen zu übersetzen, wofür sie ihm ein Honorar von einem Louisd'or per Bogen zusicherte. Der neugierig gewordene Orientalist wollte wissen, für wen er die Arbeit zu machen habe; er konnte aber nichts weiter erfahren, als daß die Briefe, die er nach Dresden dirigirte, dort von einem Boten aus Schmiedefeld in Empfang genommen wurden, der auch die Antworten überbringe. Endlich lud der unbekannte Correspondent Bodenschatz ein, nach Dresden zu kommen, mit dem Bemerken, daß man ihm die Reise vergüten werde. In Dresden angelangt, stellte sich ihm die Cosel im vollständigen Costüm eines Oberrabbiners vor, er merkte indessen sofort, daß er eine Frau vor sich habe. In der Folge sahen sich die Beiden öfter. Die Gräfin behandelte den Gelehrten stets mit der größten Auszeichnung; sie ließ sich von ihm gewisse Stellen des Talmuds und anderer hebräischer Schriften erläutern. Durch die Vermittlung des Vaters ihrer Schwiegertochter, des Grafen Holtzendorf, damals Präsident des Consistoriums, that die Cosel Schritte, um Bodenschatz zum Pfarrer von Stolpen ernennen zu lassen, und nur der Umstand, daß auch von Seite des Fürsten von Baireuth Anstrengungen gemacht wurden, Bodenschatz als Prediger zu erhalten, verhinderte die Erfüllung ihres Wunsches. Bodenschatz erschrak nicht wenig, als er eines Tages die Gräfin in sehr geringschätzigem Tone von der christlichen Religion sprechen hörte, und endlich verweigerte auch die Frau des Pastors, welche trotz der zweiundsechzig Jahre der Cosel auf diese noch immer sehr schöne Frau eifersüchtig geworden war, ganz entschieden ihre Zustimmung dazu, daß ihr Mann sich in Stolpen niederlasse.

Am 2. Februar 1765 hauchte die Gräfin Anna von Cosel ihren letzten Seufzer aus. Sie war fünfundachtzig Jahre alt geworden und alle, die sie zu sehen Gelegenheit hatten, stimmten darin überein, daß auch nach ihrem Tode noch ihr Antlitz die Spuren jener außerordentlichen Schönheit zeigte, welche sie einst und auf lange Zeit so gefeiert machte. Ihr Tod war ein sehr sanfter und ihr Begräbniß fand in aller Stille statt; ihre Hülle wurde am 5. Februar in die Gruft der Kirche zu Stolpen beigesetzt, ohne daß man durch irgend eine Gedenktafel oder eine Inschrift ihre Ruhestätte bezeichnete.

Sie hinterließ drei vom König August dem Starken anerkannte Kinder, nämlich: den Grafen Friedrich August Cosel, geboren 1712, General der Cavallerie, Commandant der Garde und Herr auf Zator an der Oder in Schlesien, verheiratet mit einer Gräfin Holtzendorf und im Jahre 1770 gestorben mit Hinterlassung eines Sohnes, welcher ohne Nachkommen blieb; dessen ältere Schwester Constanze Auguste, welche an den Grafen Friesen verheiratet war und ihm die Besitzung Königsbrück zubrachte, gestorben 1724; endlich die im Jahre 1709 geborene jüngere Schwester Friederike, welche den Schatzmeister Christian Friedrich Moszinski heiratete, der im Jahre 1737 starb und den seine Frau fast um fünfzig Jahre überlebte; sie regierte zu der Zeit, da Brühl allmächtig war, Sachsen mit ihm; ihre unter dem Namen »Palais Moszinski« in Dresden wohlbekannte Residenz wurde erst vor einigen Jahren demolirt.

*

Das waren die Geschicke einer Frau, welcher man, wie strenge man auch über ihren Lebenswandel urtheilen möge, doch im Vergleiche mit der Gesellschaft ihrer Zeit einen edlen, erhabenen Charakter nicht wird absprechen können. Inmitten der allgemeinen Sittenverderbniß und allen möglichen Versuchungen ausgesetzt, zog sie doch Gefangenschaft und Verfolgungen jeder Nachgiebigkeit vor, welche ihr mit ihrer Ehre unvereinbar erschien. Selbst die zu jener Zeit am Dresdener Hofe so üppig wuchernde Verleumdung durfte sich niemals an sie heranwagen. Ihre Liebe für den flatterhaften August II., welcher selbst keiner uneigennützigen Liebe fähig war, blieb, wenn auch manchmal durch überwallende Regungen des Zornes zurückgedrängt, in den bangen Jahren der Verbannung immer gleich innig und schien bei seinem Tode mit erneuter Macht aufzulodern. Die mystischen Verirrungen, denen sie sich in den letzten Jahren ihres Lebens hingegeben und die sich mitunter bis zu einer Störung der klaren Vernunft steigerten, sind nur ein Beweis der Regsamkeit ihres Geistes, welcher stets nach neuer Nahrung suchte. Am Ende dieses geschichtlichen Zeit- und Lebensbildes angelangt, bedarf es unseren Lesern gegenüber wohl kaum erst der Versicherung, daß alle die hier erzählten Vorkommnisse, sowie die Skizzirung der handelnd eingeführten Personen auf vollster Wahrheit beruhen; die zahlreichen aus jener Zeit stammenden Memoiren von Haxthausen, Pöllnitz, Loen und Andere boten eine so reiche und verläßliche Fundgrube, daß dem Autor nur wenige Lücken auszufüllen blieben.

Die Regierungsepoche August's II., welche hier namentlich nach ihrer Einwirkung auf Sachsen vorgeführt ward, machte sich in Polen nicht weniger fühlbar. König August spielte darin nicht eben eine schöne Rolle, aber sein Bild ist nur so wiedergegeben, wie die Geschichte, diese strenge Richterin, es uns zeigt.

Die Regierung der sächsischen Dynastie war auf Polen von dem unglücklichsten Einflusse. Der sächsische Haushalt verdarb die polnischen Sitten bis auf den Grund. Wir sehen früher hochangesehene Familien in dem Bestreben, sich in der königlichen Gunst festzusetzen, sich in Erniedrigung und Schande förmlich überbieten, wie zum Beispiel die Dönhoffs, die Lubomirski und viele Andere. Die Vergnügungssucht und der übertriebene Luxus sind durch August II. und seinen Hof nach Polen importirt worden. Leider aber starben diese bösen Keime mit dem Erlöschen der sächsischen Dynastie nicht ab. Die großen Charaktere und bedeutenden Männer von früher machten berüchtigten Abenteurern Platz, die Liebe zum Vaterlande verwandelte sich in eigennützigen Ehrgeiz. Wucher und Schacher schlichen sich in alle Kreise des Volkes ein und die Verschwendungssucht mußte das Land ruiniren. Der Glanz und Luxus des Hofes übte auf schwache Geister, welche stets bereit sind, alles nachzuahmen, einen äußerst gefährlichen Einfluß aus. Unerhörte Scandale, wie sie früher in polnischen Familien gänzlich unbekannt geblieben, waren sozusagen an der Tagesordnung und die bis in ihre Grundfesten erschütterte Gesellschaft, das Schauspiel dieses unaufhaltsamen Niederganges, machen einen wahrhaft traurigen Eindruck.

Sachsen seinerseits hatte den Glanz dieser Regierung nicht minder theuer zu bezahlen. Der Nachahmer Louis' XIV. schlug seinem Lande tiefe, fast unheilbare Wunden. Die Sachsen schrieben ihren finanziellen Ruin und ihren Niedergang meist den Bemühungen und Transactionen August's II., um die polnische Krone zu erlangen, zu. Man kann sich indessen aus den noch vorhandenen Rechnungen und Ausschreibungen leicht überzeugen, daß die Krone, daß alle die Kriege, die Reichstage und überhaupt die politischen Actionen August's des Starken beiweitem nicht solche Summen verschlangen, wie seine Feuerwerke, seine Ballets, Opern, seine Pretiosen und die unsinnigen Ausgaben für seine Maitressen. Die auf solche Art verschwendeten Summen erreichten eine ganz unglaubliche Höbe. Bevor noch der allmächtige Brühl das Sachsenland auszupressen begann, hatten schon die Hoym, die Beichling und die Fürstenberg alle seine Hilfsquellen ausgenutzt und es seines ehemaligen Wohlstandes beraubt.

Die Sachsen und die Polen hatten sich also gegenseitig nichts vorzuwerfen; beide Völker und ihre Länder waren die Opfer und die Beute der Vergnügungssucht und der verschwenderischen Phantasien August's des Starken. Sachsen war vermöge seiner Lage inmitten hoch entwickelter deutscher Stämme im Stande, sich rascher zu erholen, als dies – aus vielen und verschiedenerlei Ursachen – Polen möglich war. – – – –

Das Schloß Stolpen steht heute – eine noch ziemlich gut erhaltene Ruine – öde und verlassen. Noch immer ragen seine Thürme in die Lüfte. Die Zimmer, welche Gräfin Cosel einst im Johannesthurm bewohnte, sowie ihr Gärtchen werden von dem Schloßwächter, der dort haust und den Besuchern auch einen kleinen Führer durch die Ruinen und deren Umgebung verkauft, in gutem Stande erhalten und den Fremden gezeigt.

Die riesigen schwarzen Basaltpfeiler, welche sich aus der Ebene aufbauen und auf denen das Schloß sich erhebt, geben diesen Ruinen, über welche Grabesstille gelagert ist, eine ganz eigenthümliche Physiognomie.

Es wäre vergebliche Mühe, wenn man auf dem Kirchhofe von Stolpen oder in der Kirche am Fuße des Schlosses nach dem Grabe der Gräfin Cosel forschen wollte. Niemand weiß, wo ihre irdischen Reste gebettet sind, kein Stein trägt ihren Namen zum Angedenken für die Nachwelt.

 

Ende

 


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