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10. Nancy

Die im Tempel befindlichen Engländer, die frei und doch noch gefangen waren, hatten der Bajadere geglaubt, als sie sich zur Führerin angeboten, denn auf ihr ruhte ja die einzige Hoffnung, das Tageslicht je wiederzusehen.

Nur in Reihenfels stiegen Zweifel auf, hatte doch Makalli einige Stunden vorher selbst gesagt, es gäbe keinen anderen Ausgang von hier, als den an der Treppe und den durch den Wasserfall. Sie aber schlug einen anderen Weg ein als jenen, der noch durch die Schnur bezeichnet war.

Es wurde schon gesagt, daß keine Fackeln mehr vorhanden waren. Man folgte also der Führerin, indem man sich gegenseitig an den Händen gefaßt hielt, durch die vollkommenste Finsternis.

Reihenfels wechselte mit Dick und Charly schnell einige Worte und tastete sich nach vorn, bis er die Bajadere erreicht hatte. Als er sie am Arm faßte, blieb sie stehen.

»Wohin führst du uns?« fragte er.

»In die Freiheit!« entgegnete sie, aber ihre Stimme klang merkwürdig dumpf. »Nach der Treppe? Du weißt, wir haben sie nicht offen gefunden, der Ausgang ist durch irgendeine geheime Einrichtung verschlossen worden. Verstehst du sie zu öffnen?«

»Nein!«

»Nein?« rief Reihenfels erschrocken.

»Nur die Oberpriester sind in diese Geheimnisse eingeweiht.«

»Aber warum bringst du uns denn nach der Treppe?«

»Ich will euch nicht dorthin bringen.«

»So kennst du doch noch einen anderen Ausgang?«

»Nein.«

»Aber ich verstehe dich nicht, sprich doch deutlicher. Du sagtest, du wolltest uns in die Freiheit führen.«

»Ja, in den Tod, denn hier ist nur der Tod die Freiheit!«

Die nächsten, die diese Worte gehört hatten, stießen Rufe des Entsetzens aus. Sie waren also von der Bajadere getäuscht worden.

»Weib, du hast uns belogen!« rief Reihenfels heftig und schüttelte ihren Arm.

»Ich habe euch nicht belogen! Ich will euch die Freiheit geben, doch die ist jetzt nicht mehr anders zu erlangen, als durch den Tod. Früher hätte ich dich und den, den ich liebte, retten können, ich wollte es auch; jetzt ist es zu spät! Folgt mir, ich will euch den Ort zeigen, wo schon so mancher der Thags freiwillig geendet hat.«

Reihenfels ließ ihren Arm los, er sah sich und alle verloren. Jetzt brach bei der Indierin das religiöse Phlegma, die Ergebenheit ins unvermeidliche Schicksal durch, und damit war alles zu Ende.

Die Kunde davon pflanzte sieh von Mund zu Mund, bis sie zum Schlusse auch Dick erreichte, der nur einen Fluch ausstoßen konnte.

»So führe uns wenigstens nach dem Wasserfall zurück!« brach Reihenfels dann das drückende Schweigen.

»Warum?«

»Von dort können wir nach der Treppe gelangen und von neuem versuchen, den Ausgang zu finden.«

»Es wird euch nicht gelingen!«

»Aber wir müssen es versuchen, solange wir können!«

»Tut es allein, ich gehe weiter!«

»So zeige uns wenigstens den Ort, wo sich Holz befindet, damit wir nicht im Dunkeln zu irren brauchen.«

»Besser, ihr gewöhnt euch schon jetzt an die Nacht des Todes!« erklang es zurück, und zwar schon aus der Ferne.

Alle erschraken furchtbar. So hatte sich Makalli inzwischen unbemerkt entfernt, sie ging ihren eigenen Weg. Einige wollten ihr nacheilen, doch Reihenfels vertrat den Unbesonnenen den Weg.

»Es entferne sich niemand, denn er würde sich verirren!« warnte er. »Müssen wir sterben, dann wenigstens vereint. Makalli,« rief er laut, »habe Erbarmen mit uns! Bleibe wenigstens bei uns, verlaß uns nicht!«

»Hat man mit mir Erbarmen gehabt?« erklang es in noch weiterer Ferne. »Und wenn ich auch wollte, ich könnte euch doch nicht helfen.«

Finsternis umgab die Verlassenen, tiefe Stille herrschte unter ihnen. Jeder fühlte schon jetzt den Flügelschlag des Todes.

»Es ist wie damals, Mister Reihenfels,« flüsterte neben diesem eine Stimme. »Ob es diesmal wohl wieder ein solch gutes Ende nimmt?«

Reihenfels hatte an der Stimme den alten Jeremy erkannt.

»Wir müssen uns in Gottes Willen fügen!« In dumpfem Schweigen verstrich Stunde um Stunde. Sie kauerten oder lagen am Boden und nahmen Abschied voneinander. Anderes konnten sie nicht tun. Alles Suchen und Tasten hatte man aufgegeben, um so mehr, als dies eine Trennung herbeiführen konnte.

Schon machten sich Hunger und Durst fühlbar, als ein zischender Laut erklang, der das Sprechen und die Trostworte der Unglücklichen verstummen ließ, wenigstens für einen Moment, dann wurde gefragt, was es gebe, worauf der mahnende Zischlaut noch energischer ertönte.

Niemand wußte, was das zu bedeuten habe.

»Wo ist Mister Reihenfels?« flüsterte dann jemand.

Nach längerem Suchen hatte der Warner Reihenfels gefunden. Es war Dick.

»Es nähern sich uns menschliche Tritte!« flüsterte er ihm ins Ohr.

»Ich höre nichts!«

»Wartet, dann werdet Ihr es auch hören!«

Die übrigen wurden unterrichtet, um was es sich handelte, und warteten in beklommenem Schweigen der kommenden Dinge.

Jetzt vernahmen fast alle, daß sich wirklich Schritte näherten, und zwar anscheinend viele.

Dann erblickte man den Feuerschein von mehreren Fackeln, und in diesem einen dicht zusammengedrängten Haufen von Indiern. Es konnten keine anderen sein als Thags.

Im leise geflüsterten Tone gab Reihenfels den Befehl, sich zurückzuziehen und, wenn möglich, sich in dem nächsten Seitengang zu verstecken, aber es war nicht nötig, denn die Fackeln bogen schon seitwärts ab.

Jetzt ihnen geräuschlos nach!« hallte es in der Brust eines jeden, und ohne Aufforderung folgten alle den flackernden Lichtern.

Sie hielten immer eine große Entfernung ein, um ja nicht bemerkt zu werden, denn dann erfolgte abermals ein Kampf, und siegten auch die Engländer, so war doch wiederum nichts gewonnen. Diese Leute strebten einem Ausgang zu, man mußte ihnen also folgen.

Nur Dick, Charly und Reihenfels wagten, sich näher heranzuschleichen. Sie sahen, daß die etwa hundert Indier gut bewaffnet und außerdem mit Spitzhacken und anderen bergmännischen Werkzeugen versehen waren. Es war also zu vermuten, daß sie sich erst einen Ausgang verschaffen wollten.

Als sich der Zug bei einer Ecke etwas auseinanderzog, blieben die drei Verfolger plötzlich betroffen stehen. Täuschten sie denn ihre Augen? Unter den Indiern war eine fremde Gestalt, dunkle Gewänder umhüllten sie, aber unter dem Kopftuch quollen goldene Haare hervor.

»Nancy!« flüsterte Dick.

»Um Gottes willen, daß Woodfield nichts davon erfährt!« entgegnete Reihenfels. »Er wäre imstande und versuchte, seine Tochter schon jetzt zu befreien.«

Also führten die Thags diese Gefangene mit fort. Aber warum nur? Warum zeigten sie für diese eine so große Sorgfalt? Der letzte Teil des Zuges hielt, mit ihm Nancy, nur der erstere ging weiter; folglich mußten die Engländer ebenfalls halten. Sie konnten dies ohne Sorge tun, denn zurückgelassen sollte die eine Hälfte der Thags wohl nicht werden.

Da erblickte Woodfield in dem von Fackeln beleuchteten Trupp die Gestalt mit dem goldblonden Haar, er sah ein marmorblasses Gesicht, große, blaue, traurige Augen – und er hatte seine Tochter erkannt.

Es war ein Glück, daß Dick und Reihenfels ihn beobachtet hatten. Auf den zum Jubelruf geöffneten Mund legte sich fest eine Hand; Woodfield konnte nicht mit ausgestreckten Armen vorstürzen, denn er wurde kräftig zurückgehalten und sogar niedergezogen. »Mister Woodfield, nehmen Sie Vernunft an!« raunte ihm Reihenfels zu. »Eine Unvorsichtigkeit von Ihnen, und wir sind verloren! Wollen Sie schweigen oder nur flüsternd sprechen, wenn ich meine Hand von Ihrem Mund nehme?«

Woodfield nickte, und die Hand entfernte sich.

»Sie ist es!« keuchte er. »Warum stürzen wir nicht vor und schlagen die paar elenden Indier zu Boden? Endlich, endlich habe ich sie gefunden, sie ist in meiner Nähe und weiß es nicht. Dick, laß mich los, wir haben sie im Nu überwältigt.«

Es gelang, ihm begreiflich zu machen, daß man die Indier erst den Ausgang finden oder herstellen lassen müßte. Was nützte es dem alten Mann, wenn er seine Tochter umschlingen konnte und dann mit ihr in dieser schrecklichen Nacht verhungerte? Ein Klopfen und Hämmern wie in einem Bergwerk erscholl – kein Zweifel, die Thags meißelten einen Ausgang in die Felswand. War ihnen nicht eine dünne Stelle bekannt, so konnte die Bergwerksarbeit allerdings lange Zeit in Anspruch nehmen, es sei denn, sie verstanden Pulver zum Sprengen zu benutzen.

Letzteres mußte der Fall sein, denn bald kehrte der erste mit Spitzhacken ausgerüstete Teil der Indier zurück, alle legten sich dicht an den Boden, und so taten auch die Engländer.

Nach fünf Minuten erfolgte eine furchtbare Detonation, die in dem engen Gange noch schrecklicher wirkte. Die Wände bebten, der Luftdruck war ungeheuer, die Trommelfelle wollten zerspringen, und wer nicht gelegen hätte, der wäre an die Wand geschleudert worden.

»Jetzt!« schrie Woodfield, der sich nicht mehr halten konnte, und stürmte allen anderen voran auf die Indier zu.

Diese sahen, wer ihnen gefolgt war; mit Entsetzen erkannten sie die gefangenen Engländer, und mit der Schnelligkeit der Verzweiflung stürzten sie vorwärts, das goldhaarige Mädchen mit sich reißend.

Vor ihnen glänzte durch eine große Öffnung das Tageslicht, sie erreichten sie eher als die nachsetzenden Engländer, und nun begann eine Jagd auf Tod und Leben.

Die Indier hatten das Freie erreicht, sie befanden sich auf der Heerstraße und sahen den Weg nicht versperrt. Jetzt hieß es, den nachsetzenden Engländern zu entkommen.

Der letzte war der Radscha Gholab. Der herkulische Mann hatte das Mädchen auf den Arm gehoben, und es wäre ihm auch ein leichtes gewesen, mit den übrigen gleichen Schritt zu halten, wenn sich das Mädchen nicht gewehrt hätte.

Sie hatte den alten Mann erkannt, der ihr in einer Entfernung von zwanzig Metern nacheilte. Es war ihr Vater; die vielen verflossenen Jahre hatten nicht vermocht, sein Bild bei ihr zu verwischen.

»Mein Vater, mein Vater!« rief sie, nicht jammernd, sondern in unermeßlichem Jubel, und versuchte sich aus den Armen des sie Haltenden zu winden. Sie stemmte sich vergebens gegen seine Brust; der riesige Indier spürte nichts von seiner Bürde.

»Nancy!« entgegnete Woodfield, ebenfalls in heller Freude, und der alte Mann hatte plötzlich jugendliche Kräfte zurückerlangt. Er überholte die schnellsten Läufer, alle anderen blieben weit hinter ihm zurück.

Der Indier konnte ihm nicht entgehen – oder mochte er ihm entgehen, nur seine Nancy wollte er wiederhaben.

Gholab wendete im Laufen den Kopf, er sah, daß ihn der alte Mann, der ein Messer in der Hand hielt, einholen mußte, und er dachte an seine eigene Sicherheit.

Schnell setzte er das Mädchen nieder, faßte es am Handgelenk und suchte es mit Gewalt fortzureißen. Nancy sträubte sich und vermochte ihn selbst zum Stehen zu bringen.

Nur noch einige Meter trennten Vater und Tochter.

»Mein Vater, endlich kommst du!« jauchzte sie auf.

»So plündert den Tempel der Kali, verfluchte Faringis,« brüllte Gholab, den Dolch aus dem Gürtel reißend, »doch lebendig sollt ihr das ihr geweihte Heiligtum nicht bekommen.« Ein wilder Schrei des Entsetzens erscholl; blitzend fuhr der Stahl herab und bohrte sich in die Brust des Mädchens.

Gholab entfloh und holte mit einigen langen Sprüngen die übrigen wieder ein, nur wenige der Engländer setzten die Verfolgung fort, die meisten umringten Vater und Tochter, die sich wiedergefunden hatten; doch eine furchtbare Ahnung schnürte allen das Herz zusammen.

Aus den Armen Gholabs war Nancy in die ihres Vaters gesunken. Ihr schönes Antlitz war marmorblaß wie immer; lange, lange Jahre mochte es nicht mehr von dem Strahle der Sonne getroffen worden sein, aber eine himmlische Freude war daraus ausgebreitet.

»Endlich, Vater, endlich!« hauchte sie lächelnd. »Ich habe so lange auf dich gewartet, ich weiß nicht, wie lange, aber ich wußte bestimmt, daß du kommen und mich aus dem Tempel befreien würdest.«

Woodfield beugte sich hinab und küßte das wiedergefundene Kind, seine Augen sprachen von Freude und furchtbarer Besorgnis zugleich. Hatte er sich denn getäuscht, hatte sich denn der Stahl nicht in ihre Brust gegraben? Er sah kein Blut, Nancy schien keinen Schmerz zu fühlen.

»Bist du verwundet worden, Nancy?« waren die ersten Worte, die er hervorbringen konnte.

Noch ehe sie den Mund öffnete, sah er ihr erstauntes Gesicht über diese Frage, und von seinem Herzen fiel ein Zentnergewicht.

»Verwundet?« flüsterte sie, immer lächelnd. »Ich weiß nicht, warum du so fragst. Wie lange bin ich denn von euch fortgewesen? Wie hast du mich gefunden? Du hast weißes Haar bekommen, aber ich habe dich doch erkannt. O, es war schrecklich, ich mußte ...«

Der alte Mann hatte sein Kind an sich gedrückt.

»Das ist Blut!« schrie plötzlich seine Schwester, welche unterdes herbeigeeilt war, um das Kind des Bruders zu sehen.

Nicht allein dieser Ruf, schon der Druck der Umarmung hatte das Mädchen in ihren Worten unterbrochen. Sie neigte plötzlich den Kopf; auf die Lippen trat leichter Blutschaum, und da, wo das Herz lag, drang unter dem baumwollenen Busentuch ein Strom hellen Blutes hervor. Die Umarmung hatte die verschlossen gewesene Wunde geöffnet.

Der alte Woodfield hatte keinen Ruf des Schreckes übrig; erstarrt blickte er auf sein Kind, er vermochte es nicht aus seinen Armen zu lassen. Er sollte es wiedergefunden haben, um es für immer zu verlieren? Schrecklicher Gedanke! Er konnte ihn nicht fassen.

Aber auch Nancy schien keine Ahnung zu haben, wie es mit ihr stand. Sie hatte den Kopf an die Brust des Vaters gelehnt, hielt die Augen geschlossen und lächelte selig. Es war das Lächeln eines verklärten Engels.

Reihenfels war der erste, der einsah, daß hier etwas geschehen mußte.

Er nahm das Mädchen aus den Armen des alten Mannes; ohne eigenen Willen, nur von seinen Händen gehalten, glitt sie zu Boden. Reihenfels entfernte mit leiser Hand das Tuch, und jetzt sah man, daß der Blutstrom aus der linken Seite quoll. Tief war der Dolch in das zarte Fleisch gedrungen.

»Sie stirbt!« schrie da der unglückliche Vater, und außer sich vor Schmerz, vor enttäuschter Hoffnung, warf er sich neben seine Tochter nieder Miß Woodfield rief um Verbandzeug, sie wollte das Blut vor allen Dingen stillen, doch da sah sie das verstörte Gesicht von Reihenfels, der sich eben aufrichtete, und sie wußte alles.

»Zu spät!« flüsterte er tonlos. Das Blutstillen hieße nur den Todeskampf verlängern.«

Nur wenige konnten Zeuge dieses Wiedersehens werden, die meisten gingen zurück, um sich den Dragonern bei der Verfolgung anzuschließen. Mit starren Augen, die Hände gefaltet, wohnte Miß Rachel dieser Szene bei, die ein Wiedersehen und Abschiednehmen zugleich bedeutete; aus Reihenfels' Augen tropften große Tränen, und er wußte nicht, daß neben ihm Bega stand. Es war seltsam! Nancy glaubte noch immer nur an ein Wiedersehen.

»Warum meinst du denn, Vater, daß ich sterbe?« flüsterte sie, und in dem Lächeln malte sich Staunen.

»Mir ist so wohl, ach, so wohl! Und nun wird es immer so bleiben, Vater, nicht wahr, nun werden wir uns nie wieder trennen?«

»Nie wieder, Nancy, nie wieder!« entgegnete der Vater, die Tränen zurückdrängend und mit einem Tuch die blutbenetzten Lippen der sterbenden Tochter abwischend.

Ach, er war nur zu gut in so etwas erfahren, er wußte, daß es hier keine Rettung mehr gab.

Sein wiedergefundenes Kind starb in seinen Armen! Ein Weib, unter gewöhnlichen Verhältnissen schon verblüht oder überreif, hier ein Wesen, welches das Leben nie kennen gelernt hatte und daher am Geist wie am Körper fast ein Kind geblieben war. Und doch, was mochte sie alles erzählen können! Ach, warum konnte er sie nicht am Leben erhalten, sie die Freuden des Lebens kennen lehren? »Und was macht die Mutter? Sehnt sie sich nach mir?« lispelte das Mädchen weiter.

»Sie lebt und freut sich auf deine Heimkunft,« mußte der Vater antworten, der schon längst keine Frau mehr besaß.

»Und was macht der kleine Georg? Er war drei Jahre alt, als ich von ihm fort mußte; ich weiß alles noch sehr wohl. Was macht er?«

»Er ist groß geworden und erwartet seine Schwester.«

»Er fing stets an zu weinen, wenn ich mich auf seinen Stuhl setzte, den er zu Weihnachten bekommen hatte,« fuhr sie lächelnd fort, »und ich tat es doch so gern. Ach, Vater, es war schrecklich, aber nun soll es schön werden. Weißt du, ich sollte auch getötet werden, aber da fand man bei mir eine Eidechse, die sich verkrochen hatte, und man überschüttete mich mit Ehren. Es war schrecklich, Vater, ich habe so viel Menschen töten sehen, für mich, denn man glaubte, ich sei der Tempelschutz, wie sie sagten. Doch nun ist ja alles vorüber, ich gehe mit dir nach der Heimat zurück, zu Mutter und Bruder, nicht wahr?«

»Gewiß, Nancy!«

»Ja, Vater, ich gehe in die Heimat, in meine Heimat, und wenn ich die Mutter sehe, dann – dann –«

Ein leises Zittern lief durch ihre Glieder, die Seele löste sich ab von dem irdischen Leib und floh nach der himmlischen Heimat, wo sie die Mutter wiedersah, und deshalb lächelte auch noch das Antlitz so freudig.

– – – – – – – – –

Die Nacht war angebrochen, die Dragoner hatten Feuer angezündet und lagerten darum.

Man hatte den jetzt offenen Tempel durchsucht; mit Fackeln und Schnuren, so daß ein Verirren unmöglich gemacht wurde, war man eingedrungen, hatte Hunderte von gefangenen Indiern gefunden und befreit und sonstige Entdeckungen gemacht. Zu einer genaueren Durchsuchung des Tempels, der jedenfalls Schätze und Merkwürdigkeiten in Fülle barg, war jetzt keine Zeit. Die Dragoner wurden zu anderen Sachen gebraucht als zum Sammeln von Antiquitäten und zum Heben von Schätzen.

Die Dragoner und die früheren Tempelgefangenen, welche sich der Verfolgung angeschlossen hatten, waren zurückgekehrt. Noch mancher der Thags war auf der Flucht niedergemacht worden, aber Gholab, auf den man es besonders abgesehen hatte, war nicht mit unter den Toten, ebenso wenig Radscha Tipperah.

Auch Hira Singh und Kiong Jang hatte man nicht unter den indischen Gefangenen gefunden. Entweder waren sie gar nicht im Tempel oder an einem ganz versteckten Ort, deren der Tempel unzählige barg.

Es herrschte keine trübe Stimmung. Die Indier freuten sich laut über die wiedererhaltene Freiheit und konnten ihren Rettern nicht genug danken, auf englischer Seite fanden ebenfalls rührende und zugleich freudige Szenen des Wiedersehens statt. Der eine fand seinen Kameraden oder Freund, der andere Schwester oder Braut wieder.

Laut erscholl der Jubel durch die warme Nacht; man kampierte im Freien, denn niemand hatte Lust, noch eine Stunde in dem unheimlichen Gemäuer zuzubringen. Das die warmfeuchte Witterung zahlreiche Moskitos mitbrachte, konnte die Freude nicht beeinträchtigen.

Man hütete sich nur, daß das Jubeln nicht zu laut in der Nähe eines Feuers erklang, man hielt sich möglichst davon entfernt und warf nur scheue und bedauernde Blicke hinüber.

Dort lag ein Mädchen mit schneeweißem Antlitz, die Augen geschlossen, um die Lippen ein so seliges Lächeln, daß man bei ihrem Anblick nur an eine Schlafende denken konnte.

Das schien auch der alte Mann zu glauben, der an ihrer Seite kniete.

Er wedelte ab und zu mit einem Tuche über sie hin, um die Moskitos zu verscheuchen, die sich auf die Schlafende setzen wollten. Tot und kalt war sein Antlitz, steinern sein Blick, die blutleeren Lippen murmelten unverständliche Worte.

Neben ihm saß die Schwester und las ihm aus einer kleinen Bibel vor, die sie von einem Offizier bekommen hatte. Ihre Trostsprüche hatten wenig Wirkung, Woodfield schien sie gar nicht zu hören. Fort und fort verscheuchte er die großen Mücken, als könnten diese die Schlafende, seine Nancy, wecken.

»Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!«

sagte die alte Dame, das Buch schließend. »James, hadere nicht wieder mit Gott, füge dich in seinen Willen!«

Auch jetzt hatte der Alte keine Antwort.

Ein Räuspern ließ Rachel den Kopf wenden; sie sah Charly in bescheidener Entfernung stehen. Auch Woodfield sah ihn, und bei dem Anblick des Mannes heiterten sich seine eingefallenen Züge etwas auf.

»Was willst du, Charly?« fragte Rachel.

»Nur fragen, ob Dick noch nicht wieder hier gewesen ist.«

»Nein. Du kehrst erst jetzt von der Verfolgung zurück?«

»Ich bin schon lange zurück und habe bis jetzt Dick gesucht. Ich möchte doch gern wissen, ob er den schurkischen Gholab gefunden hat.«

»Was hätte das denn jetzt für einen Zweck?«

Charly machte ein verblüfftes Gesicht.

»Was das für einen Zweck hätte? Na, wir wollten den Kerl doch bei einem Feuer langsam schmoren, wie er's nie wieder erleben sollte, und wenn der Schuft schon tot wäre.«

»Pfui, Charly, die Rache ist mein ...« Rachel wurde bei dem Bibelspruch unterbrochen.

»Nein, mein ist die Rache,« rief der hinzukommende Dick, der die Worte Rachels anders auslegte, »und ich werde sie mir nicht nehmen lassen! Was wollt Ihr denn dabei erreichen?«

»Dick!« rief Rachel entsetzt, als sie die Gestalt des kleinen Trappers im Scheine des Feuers deutlich erblickte.

Er sah aus wie ein Schlächter, der von der Ausübung seines Handwerks kommt, sein Gürtel war ringsum mit blutigen und haarigen Lappen bedeckt, die zum Teil noch rauchten.

»Was ist denn das da?«

»Skalpe, gnädige Miß! Leider ist der von Gholab noch nicht darunter, aber ich werde nicht eher ruhen, als bis er mit am Gürtel hängt.«

»Das ist eine Sünde, die Toten so zu verstümmeln!«

»Sünde hin, Sünde her! Als die Schlangen in meine Augen beißen sollten, das war auch keine Wohltat. Von jetzt an sind die Thags meine Feinde, ich mache auf sie Jagd, und sie sollen den roten Dick kennen lernen. Madame, ich möchte Mister Woodfield sprechen. Er scheint nicht zu hören.«

»Was wollt Ihr von ihm?«

»Abschied nehmen. Unsere Wege trennen sich von jetzt ab.« »Wie? Ihr wollt ihn in seiner schwersten Stunde verlassen?«

»Kann ich ihm helfen?« entgegnete Dick rauh. »Kann ich sie ihm lebendig machen? Nein, aber den, der ihm dies zugefügt, und den, von dem alles dies Unglück stammt, diese Meuterer züchtigen, das kann ich. Wollt Ihr mich begleiten?«

»Unser Werk hier ist getan. Wir gehen zurück in die nordische Heimat meines Bruders, ich begleite ihn. Und Charly?«

Auch der andere Trapper schüttelte finster den Kopf.

Die beiden konnten nicht einmal Abschied nehmen von ihrem Herrn; denn in vollkommener Teilnahmslosigkeit saß dieser da, nur mit der Toten beschäftigt, sorgend, daß keine der Mücken sie belästigte. Dick drehte sich hastig um und verlor sich in den Büschen, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die ihm in den roten Bart rannen.


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