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Sedrack fand das Mädchen, das er für seine Tochter ausgeben mußte, als es eben den Schuppen verlassen wollte.
»Wo bist du gewesen?« fragte sie ihn kurz. »Du hast mir nicht befohlen, daß ich dir soll geben Rechenschaft über die Schritte, die ich werde tun in diesem Lager,« war die demütige Antwort. »Ich habe also abgeschlossen ein Geschäft, und zwar über dich, Mirja.«
»Über mich?«
»Über dich, Tochterleben!« kicherte der Alte. »Bin ich doch ein treuer, ehrlicher Jude und halte zu dem, dem ich versprochen habe Treue und Gehorsam. Kann ich dir verschaffen also eine Gelegenheit, auszuspionieren den Generalgouverneur von ganz Indien selbst, der sich befindet hier in diesem Lager.«
»Wie, Lord Canning wäre hier?« stieß das Madchen hervor.
»Ist er doch hier unser Nachbar, und habe ich doch eben selbst mit ihm gemacht ein Geschäft.«
»Dieser da?«
»Ja, der wohnt in diesem Bungalow.«
Das Mädchen unterdrückte eine Entgegnung.
»Hast du den Generalgouverneur schon früher einmal gesehen?« fragte sie dann.
Seltsam! Dieselbe Frage hatte schon einmal die richtige Mirja an ihn gestellt.
»Gewiß habe ich ihn schon gesehen.«
»Wie nennt er sich hier?«
»Lord Westerly.«
»Richtig, ich weiß jetzt. Was für ein Geschäft hast du mit ihm abgeschlossen?« »Er gab mir einen Wechsel, daß ich soll befreien seine Braut, die gefangen war in Delhi und ist ermordet worden wie alle übrigen Gefangenen.«
»Also hast du ihn betrogen?«
»Nix betrogen! Ich habe nur geschadet den Faringis, welche Feinde sind Indiens, und die also auch sind meine Feinde.«
»Du sagtest, das Geschäft hätte auch mich betroffen.«
»Hat es auch. Du willst gehen auf Spionage unter den rotrockigen Soldaten und willst heften den Tod an deine Fersen, sehe ich doch den Dolchgriff aus deinem Gewand blicken.
Sieh dich vor Töchterchen! Juden dürfen nicht tragen Waffen!«
Das Mädchen verdeckte dieselben.
»Was ist es nun mit mir? Fasse dich kurz!«
»Ich will dir zeigen einen Weg, auf dem du brauchst keine Waffen mitzunehmen, und wo du erfahren wirst alles, was du willst wissen, wenn du bist zärtlich und willig. Höre; der Generalgouverneur will haben Bürgschaft, daß ich ihm bringe seine Braut aus Delhi, und solange er die nicht hat, soll bleiben meine Tochter bei ihm, daß sie ihm ersetzt seine Braut. Hihihi, die Faringis sind nicht wählerisch!«
Es war, als ob des Mädchens Zähne knirschten.
»Und du sagtest mich ihm zu?«
»Was sollte ich anders tun?«
»Hund von einem Juden, das wagtest du?«
»Zu deinem Vorteil! Weiß ich doch, wozu du hier bist.«
»Und du denkst, ich werde zu deinem Vorteil zu ihm gehen?«
»Zu meinem Vorteil weniger, als wie zu dem deinen. Er hat sich vernarrt in die Mirja, ich weiß es wohl, wenn es mir Mirja auch nicht hat gesagt.«
»Ah, so ist Mirja schon einmal bei ihm gewesen?«
»Er hat nicht geduldet, daß sie sollte schlafen in der Karawanserei unter rohen Männern und hat sie zu sich genommen in sein Zimmer. Der große Gouverneur ist ein edler Mann.«
Das Mädchen hörte den Hohn aus den letzten Worten heraus.
»So ist deine Tochter also nichts weiter als eine ...«
»Eine Jüdin,« fiel ihr Sedrack ins Wort. »Bedenke, Herrin, was ein Jude ist, ehe du einen Stein auf sie wirfst, und was nun gar ist eine Jüdin. Breitet nicht ihr Gott seine Hände über sie schützend aus, sie selbst kann sich nicht schützen und darf sich nicht weigern.«
»Du hast recht,« flüsterte das Mädchen, »und ich bin entschlossen, Mirjas Rolle weiterzuspielen. Was hast du mit ihm ausgemacht?«
»Er sagt, in einer halben Stunde soll ich entweder kommen und ihm sagen, daß meine Tochter nicht will zu ihm, was aber nicht möglich ist in Indien, so lange die Kompanie wird sammeln die Steuern, oder aber meine Tochter wird kommen, bei ihm zu sein, um ihn zu trösten über die Abwesenheit der Braut, und ich denke, du wirst das übernehmen.«
»Ja, ich werde es tun,« entgegnete das Mädchen dumpf hinter dem Kopftuch hervor ohne über die frechen Worte des Juden empört zu sein. »So muß ich ihn also Lord Canning anreden?«
»Ja nicht! Lord Westerly will er genannt sein. Doch sieh dich vor, verrate dich und mich nicht. Schon deine Waffen verraten dich. Eine Jüdin mit Waffen ist wie ein Kamel mit Hörnern.«
»Ohne Sorge, er soll mich nicht erkennen.«
Sie zog einen Dolch aus dem Gürtel und steckte ihn in den Busen. Den Revolver, der beim Auseinanderschlagen des Mantels sichtbar geworden war, entfernte sie aber nicht.
»Welche Maßregeln habe ich sonst noch zu beachten?«
»Nichts weiter! Nur benimm dich wie eine Jüdin, scheu und zaghaft, doch nicht ängstlich.
Nimm deinen Vorteil wahr!« »Ich verstehe. Und wie gelange ich zu ihm?«
»Die Magd des Hauses wird dich nicht lassen hinein, doch du brauchst nur zu rufen, und der Lord wird sie jagen davon. Die Faringis verachten nur die häßlichen und alten Juden, die jungen Weiber sind ihnen koscher. Hihihi.«
»Genug. Ich gehe.«
»Wann kommst du wieder?«
»Ich weiß nicht.«
»Stürze mich nicht ins Unglück!« »Du weißt, wer ich bin, du stehst unter meinem Schutz.«
Sie schritt dem Bungalow zu.
»Lieber wäre es mir, Mirja ginge hin,« murmelte er ihr nach, »als dieses fremde Weib.
Was nützt mir ihr Schutz, wenn ich werde hängen am Galgen? Doch eins ist gut, er sieht, ich halte mein Wort. Mag er sich abfinden mit diesem Weibe, das besessen ist vom Teufel und allen seinen Dienern.«
Mirja – wie wir sie nennen wollen – ging nicht direkt auf das Haus zu, sondern im großen Bogen, hielt sich sorgfältig im Schatten der Mangobäume verborgen und beobachtete unausgesetzt das leichte Holzgebäude. Als sie die Seite erreichte, nach welcher hinaus die Fenster erleuchtet waren, schwang sie sich mit der Leichtigkeit einer Katze auf einen hohen Ast und spähte von hier aus in das erleuchtete Gemach.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Es war, dem Bett nach zu urteilen, das Schlafzimmer Westerlys, und er selbst schritt rastlos in demselben auf und nieder.
Mirja kannte ihn wohl, sie wußte sogar, was er hier für eine Rolle spielte, und je länger sie diesen Mann, der mit der größten Ungeduld auf die Jüdin wartete, beobachtete, ein desto größerer Grimm stieg in ihr auf.
Sie sprang vom Ast herab und näherte sich jetzt direkt der Haustreppe, unter deren ersten Stufe sie den geladenen Revolver verbarg.
Dann begab sie sich ins Haus, in welchem ihr sofort die indische Magd entgegentrat.
Mirja fand nicht, wie vorhin der alte Jude, Widerstand, die Magd schlug sich nur mit allen Zeichen des Abscheus die linke Schulter und drückte sich gegen die Wand, um mit der verachteten Jüdin nicht in Berührung zu kommen.
Als Mirja ruhig in dem Vorraum stehen blieb, deutete sie nach Westerlys Tür.
»Besudele dieses Zimmer; aber entferne dich wenigstens von hier, Aussätzige!«
Es klang fast wie ein heiseres Lachen, als Mirja die Weisung befolgte, nach der Tür ging und leise daran klopfte.
Sie ward sofort geöffnet; Westerly stand vor dem Mädchen. Er ergriff ihren Arm, zog sie herein und schloß hinter sich erst die Tür, dann die noch offenen Fensterläden.
»Also dein Vater hat Wort gehalten, das freut mich,« begann er und drückte die Bewegungslose halb mit Gewalt auf den Diwan, sich ihr gegenübersetzend. »Entzieh mir nicht gleich deine Hand, Mirja! Ich weiß, du hast Grund, mir zu zürnen, ich war damals sehr heftig, aber du selbst warst daran schuld. Du reiztest mich durch deinen Widerstand. Dein freiwilliges Kommen sagt mir, daß du heute anders gesonnen bist. Ist es nicht so, Mirja?«
»Ja, Herr, ich muß.«
»Kein Muß, Mirja! Dieses Wort kennt die Liebe nicht. Nun schlage deinen Schleier zurück, daß ich dich bewundern kann.«
Er tat es selbst.
»Du hast dich seit jener Zeit verändert, Mirja, aber zu deinem Vorteil. Senke nicht so scheu die Lider, sieh mich an. Ich möchte dir in die Augen sehen.«
Langsam hob die Jüdin die langbewimperten Lider auf und blickte den vor ihr Sitzenden fest an.
»Mylord, warum hast du mich zu dir gerufen?« fragte sie leise. »Hat es dir dein Vater nicht gesagt?«
»Er hat mir befohlen, zu dir zu gehen, und ich gehorchte.«
»Warum warst du früher nicht so gehorsam?«
»Ich tat stets den Willen meines Vaters.«
»Aber damals nicht.«
»Damals hat er mir nichts befohlen.«
»Was für ein gehorsames Kind du bist!« rief Westerly, sprang auf und setzte sich neben sie. »Also heute brauche ich nicht zu fürchten, daß du mich wieder beißt?«
Er wollte sie umschlingen, sie hielt ihm die Hände fest.
»Erst laß mich einige Fragen stellen, dann will ich gern die Deinige sein. Willst du?«
»Mädchen, was für eine Kraft hast du in den Händen,« staunte Westerly, dem die Finger schmerzten.
Er starrte sie an; es war ihm, als tauchten ihm plötzlich Züge auf, die er von früher her, vielleicht noch von England aus sehr gut kannte. Doch nein, dies war ja Mirja, die Jüdin.
»Nun, willst du mir einige Fragen beantworten?«
»Laß mich erst los, Kind, du bist ja die reine Brunhilde. Nun, was willst du wissen?«
»Bist du wirklich der große Gouverneur von Indien?«
»Warum zweifelst du daran?«
»Du selbst sollst es mir sagen.«
»Ja, ich bin es.«
»Du heißt Lord Canning?«
»Ja.«
»Weißt du, wer ich bin?«
»Mirja, die ich liebe.«
Er umschlang sie wieder, diesmal sie ihn auch; aber er merkte sofort, daß sie es nicht in Liebe tat, denn plötzlich wurde er von ihren Armen wie in einem Schraubstock zusammengepreßt.
»Lord Westerly,« flüsterte sie ihm jetzt ins Ohr, sich der englischen Sprache bedienend, »warum geben Sie sich für den Generalgouverneur aus, der Sie gar nicht sind? Geben Sie mir Antwort, ich will es wissen, oder fürchten Sie mich!«
Westerly war starr.
»Du – du – Mirja, wer bist du denn?« stammelte er.
»Auch ich komme aus Delhi, ebenso wie Sie, und ich verfolge denselben Zweck wie Sie.
Jetzt will ich Antwort haben: Warum geben Sie sich für Lord Canning aus?«
»Mädchen, du erdrückst mich,« ächzte Westerly, »ich schreie um Hilfe.«
»Das werden Sie wohl bleiben lassen. Sind Sie als Spion der Indier aus Delhi hier?«
Was sollte er antworten? Wer war dieses Mädchen? War das wirklich Mirja, die Tochter des alten Juden? Es war kein Zweifel, auch sie befand sich im Dienste der Indier als Spionin, als Jüdin paßte sie vortrefflich dazu, und sie verstand ihre Rolle vorzüglich zu spielen.
»Ja denn, du hast's erraten. Wie du, so stehe auch ich auf der Seite der Indier.«
Hatte er sich geirrt, so schadete das weiter nichts. Die Aussage der Jüdin gegen ihn zählte nichts.
Mirja ließ ihn los.
»Ich dachte es mir. Nun können wir offen miteinander sprechen. Warum also geben Sie sich für Lord Canning aus?«
»Nur deinem Vater gegenüber tue ich's.«
»So, das genügt. Haben Sie wirklich eine Braut in Delhi?«
»Ja, sie ist gefangen. Doch sage, Mädchen, klärst du deinen Vater nun über seinen Irrtum auf?«
»Meinen Vater? Bah, er dient mir nur als Mittel, daß ich sicher reisen kann.« Wie hatte sich Westerly früher in diesem Judenmädchen getäuscht. Aber damals war der Aufstand auch noch nicht ausgebrochen gewesen, damals mußte sie sich vor jedem verstellen.
»So bist du gar keine Jüdin!«
»Doch.«
»Und ein Weib?«
Er umschlang sie; Mirja duldete es.
»Sie wollen mit Hilfe des alten Sedrack Ihre Braut befreien?«
»Ja.«
»Wie heißt Ihre Braut?«
»Franziska Reihenfels. Ah, kennst du sie auch?«
Das Mädchen war bei Nennung dieses Namens zusammengezuckt.
»Nein, ich kenne sie nicht, nur ihren Bruder.«
»Oskar Reihenfels?«
»Ja. Was verlangt Sedrack für die Rettung des Mädchens?«
Westerly zögerte, offen zu sein.
»Ich verrate nichts wieder an Sedrack. Er ist zwar mein Vater, doch ich halte nicht mehr zu ihm, als ich muß. Wieviel sollen Sie zahlen, oder haben Sie schon gezahlt?«
»Zehntaufend Pfund.«
»Das ist viel.«
»Nicht zu viel für meine Braut.«
»So lieben Sie sie?«
Das war in diesem Augenblick eine verfängliche Frage.
»Hm, ja, ich habe sie einmal geliebt.«
»Nicht mehr?«
»Nein.«
»Warum nicht mehr?«
»Weil ich dich gesehen habe, Mirja.«
»Gehen Sie. Wenn Sie Ihre Braut nicht liebten, würden Sie nicht eine solch ungeheure Summe für Sie zahlen.«
»Das arme Mädchen dauert mich, und übrigens habe ich ihm einst geschworen, es soll mein Weib werden. Ich bin ein Mann von Wort, ich halte meinen Schwur.«
»Sie sind doch edler, als ich gedacht habe.«
»Sprechen wir nicht mehr von meiner Braut, in deiner Gegenwart ist mir dies unangenehm. Ach, Mirja, hast du denn gar kein Mitleid mit mir?«
»Vielleicht doch, wenn Sie sich anständig betragen.«
Er drückte sie an sich, und sie duldete es.
»Aber ehe Sie etwas hoffen dürfen, müssen Sie mir noch die Frage beantworten, warum Sie sich Lord Canning nennen.«
»Sehr einfach. Ich habe mich nie so genannt, sondern Sedrack glaubt bestimmt, ich sei Lord Canning und Generalgouverneur von Indien. Du weißt selbst, das Versehen stammt von damals her, als ich durch jenes Dorf reiste. Dort wurde ich irrtümlich für den Gouverneur gehalten. Doch lassen wir das, es sind mir unangenehme Erinnerungen. Nun, Mirja?«
»Löschen Sie die Lampe aus!«
So schnell hatte Westerly noch nie eine Aufforderung befolgt. Er sprang an den Tisch, verlöschte das Licht und tastete sich nach dem Sofa zurück.
Hier mußte Mirja gesessen haben, der Diwan war nicht groß, aber ihr Platz war leer.
Seine Bestürzung sollte sich bald in den furchtbarsten Schrecken verwandeln.
In der Stube war es stockfinster, nichts war zu sehen. Aber ein Lauscher hätte hören können, daß hier ein heftiger Ringkampf stattfand, ein Stuhl wurde umgeworfen, das Polster des Diwans krachte, dazu ächzte es ab und zu aus einer heiseren Kehle, eine Stimme suchte zu schreien, aber eine Hand mußte sie ersticken.
Schwächer und schwächer ward das Ringen, endlich war wieder alles ganz still in dem Zimmer.
Dann erklang es wie ein Suchen an der Wand, eine Hand fuhr darüber hin, wahrscheinlich wurde ein Bild abgenommen, noch einige Geräusche, die von einer körperlichen Anstrengung herrühren mochten, und wieder war es still, nur Papier knisterte noch einmal.
Die Tür öffnete sich, es huschte jemand hinaus, blieb auf dem Vorraume lauschend stehen und verließ dann das Haus.
Unter der letzten Treppenstufe holte die Gestalt den Revolver hervor und steckte ihn zu sich.
Es war Mirja.
Sie wandte sich nicht nach dem Schuppen zurück, sondern entfernte sich immer weiter von der Vorpostenkette ab, dahin, wo die Zelte der Bombay-Truppe standen.
Es war Neumond, nur Sterne strahlten in hellem Glanze am Himmel und übergossen die Erde mit schwachem Licht. Das Mädchen vermochte sich hier, wo noch Bäume und Büsche standen, unbemerkt fortzuschleichen. Es kam an einigen Wachen vorüber, ohne gesehen zu werden.
An das letzte Wachfeuer, welches am Rande der Grasebene und des Mangowäldchens brannte, schlich es sich vorsichtig heran und blieb in einem Busche liegen.
Um das Feuer gruppierten sich einige Soldaten, darunter nur ein Engländer. Davor stand ein blutjunger, englischer Leutnant, stützte sich auf seinen Degen und plauderte kameradschaftlich mit dem Landsmann.
Die Sepoys hörten aufmerksam zu, mengten sich aber nicht in das Gespräch der Europäer.
»Acht Tage können wohl noch vergehen, ehe wir von hier abrücken, und ist bis dahin Nicholson noch nicht eingetroffen, so werden wir lange Zeit untätig vor Delhi liegen müssen.«
»Aber was soll denn das Zaudern? Wir können doch gleich Delhi angreifen und im Sturm nehmen.«
»Geht noch nicht, unsere Verluste wären dabei zu groß, und wir müssen die Menschen schonen. In Delhi liegen noch zu viel Sepoys, aber sie müssen bald aus diesem Zentralpunkt abrücken, denn überall drohen die siegreichen Unsrigen den Aufstand völlig zu dämpfen.
Lord Canning muß bald hier eintreffen, vielleicht ist er schon hier, und dann wird sich das übrige finden.«
»Aber ich verstehe nicht, warum wir die Rebellen aus Delhi abziehen lassen,« sagte der englische Korporal am Feuer, »wir sollten die Stadt eben einschließen und verhindern, daß diese Rebellen den anderen zu Hilfe kommen.«
»Begreift Ihr das nicht? Das ist doch sehr einfach. Die Rebellen wollen den Kampfplatz nach Süden und nach den Küsten wie auch nach den Gebirgsgegenden des Himalaja verlegen und uns so einschließen. Wir gehen scheinbar darauf ein, das heißt, wir wollen uns in Delhi konzentrieren! Schon ist Sir Hugh Rose von Ägypten aus mit englischen Truppen unterwegs, auch Sir Colin Campbell muß bald eintreffen, na, und sind erst 100 000 reguläre Soldaten hier, dann geht's los. Wir sitzen in der Mitte, die anderen rücken von den Küsten aus heran.
Wenn die Rebellen ihren lumpigen Götzentempel aufgeben wollten, so wäre Delhi schon ohne Schwertstreich in unseren Händen. Gute Nacht, Fred, ich mache die Ronde.«
Der junge Offizier ging in die Büsche.
Er hatte sich noch nicht weit von dem Lagerfeuer entfernt, als ihm von unsichtbarer Hand eine Art Sack über den Kopf geworfen wurde. In der nächsten Minute schon lag er gebunden und geknebelt am Boden, ohne auch nur den leisesten Schrei ausstoßen oder die geringste Gegenwehr leisten zu können. Mit einer zauberartigen Schnelligkeit und Kraft war er überwältigt worden.
Auf ihm kniete eine Gestalt, die er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Die kalte Mündung eines Revolvers berührte seine Stirn.
»Willst du mir die Losung nennen?« flüsterte eine Stimme.
Trotzig schüttelte der Engländer den Kopf.
»Wenn du sie mir nennen willst, so nicke mit dem Kopf, und ich traue dir, ich nehme den Knebel aus deinem Munde.«
Wieder schüttelte der Engländer den Kopf.
Sein Waffenrock wurde ihm aufgerissen, an der Herzgegend durchdrang die Spitze eines Dolches das Hemd und ritzte schon seine Haut.
»Ich zähle bis drei, besinne dich schnell. Eins – zwei –«
Der Offizier schüttelte noch energischer den Kopf.
»Drei.«
Der Dolch stieß nicht zu.
»Ich breche mein Wort, denn ich habe Achtung vor dir, daß du ein dir anvertrautes Geheimnis nicht verrätst. Merke dir aber, Faringi, ihr werdet Delhi nicht erstürmen, es sei denn, der letzte Indier fällt auf den Mauern, oder die Stadt wird verraten. Und wenn du gefragt wirst, wer dir das gesagt hat, so antworte: Die Begum von Dschansi.«
Der Gefangene konnte sein Staunen nicht ausdrücken, er zuckte nur zusammen.
Die Wachtposten am Feuer waren nicht lange von dem Offizier alleingelassen worden, als dieser schon wieder aus dem Gebüsch heraustrat und in einiger Entfernung am Feuer in der entgegengesetzten Richtung als vorhin vorüberging.
Darüber wunderte sich der Korporal. Dort hatte der Offizier nichts zu suchen, sein Dienst band ihn an die Vorpostenkette.
»Leutnant Russell!« rief der Korporal.
Der Offizier, die Mütze tief über den Augen, antwortete nicht, er machte nur mit der Hand ein Zeichen des Schweigens und schritt weiter, bis er sich in der Nacht verlor.
»Nanu,« dachte der Korporal, »wo will denn der hin? Da muß etwas Besonderes vorgefallen sein, daß er die Postenkette plötzlich verläßt. Na, meinetwegen, ich bin müde.«
Er drehte sich auf die andere Seite und schlief ein, bis ihn seine Stunde zum Dienst rief.
Unterdessen hatte der junge Offizier das Zeltlager erreicht und schritt am Rande desselben hin. Auch hier waren Wachen ausgestellt, doch sie hielten den Mann in Offiziersuniform nicht an, solange er nicht das Lager selbst betrat.
Dann hätte auch er das Losungswort geben müssen.
Am Ufer des Sees erhob sich an einer Stelle auch ein Wäldchen von verkümmerten Orangenbäumen. Dieses betrat der Offizier, kam aber schon nach einigen Minuten wieder heraus und ging zurück.
»Halt, wer da!« rief eine Stimme, als er in das Lager gehen wollte, und aus dem Schatten eines Zeltes löste sich die Gestalt eines Sepoys mit gefälltem Gewehr ab.
»Leutnant Russell!« entgegnete der Offizier mit sonorer Stimme.
»Losung?«
»Havelock in Allahabad.«
Der Posten trat zurück, der Leutnant konnte passieren, blieb aber vor dem Manne stehen.
»st der Generalgouverneur schon eingetroffen?« fragte er.
»Ich weiß nicht, Leutnant.«
»Ist heute nachmittag oder gegen Abend kein Fremder mit Begleitung angekommen?«
»Hier nicht, aber im Lager der Sikhs, habe ich gehört.« Der Offizier ging weiter, durch das Lager hindurch, kam oft über große Plätze, passierte Posten, denen er das Losungswort geben mußte und blieb auch manchmal an den großen Zelten, in denen höhere Offiziere quartierten, stehen und beschäftigte sich mit der Leinewand, als ob er etwas daran befestigte.
Nach solch einer Wanderung von einer halben Stunde erreichte er ein anderes Lager, das der Sikhs.
Wieder erschollen die Anrufe.
»Losung?«
»Havelock in Allahabad.«
»Das kenne ich nicht,« entgegnete der Soldat.
»Es ist die Losung der Bombay-Truppe.«
»Aber nicht die der Sikhs.«
»Ich komme aus jenem Lager und will hier den Engländer sprechen, der heute angekommen ist.«
»Wenn du als Bote kommst, Leutnant,« erwiderte der Sepoy, »so muß dir das Losungswort gesagt worden sein.«
»Ich kenne es nicht.«
»Dann darfst du nicht passieren.«
»So sage du es mir!«
Eine Bewegung, ein blitzschneller Griff, und der Indier fühlte sich von einer stählernen Faust an der Brust gepackt und eine Revolvermündung an seiner Stirn.
»Einen Laut, und es ist dein Tod!« zischte ihm der vermeintliche englische Offizier zu.
»Wie ist die Losung der Sikhs?«
Dieser Soldat war kein besonderer Held. Er stand auf einem völlig einsamen Posten, weil von hier aus ein Überfall überhaupt unmöglich war. Sein Hilferuf konnte höchstens Schläfer wecken.
Vor Schreck ließ er das Gewehr fallen.
»Die Losung, oder stirb!«
»Bombay und Madras!« stammelte er.
Der Offizier war etwas zur Seite getreten. Die Faust ließ die Brust los, und gleichzeitig wurde dem Soldat eine Kappe über den Kopf gestülpt. Lautlos, als wäre er von einem tödlichen Schlag getroffen, sank er nieder und bewegte sich auch nicht mehr.
Langsam zählte der Offizier bis zehn, nahm dem Betäubten die Kappe ab, steckte sie zu sich und setzte seinen Weg fort, ohne sich um den wie tot Daliegenden zu kümmern.
Das Lager war wie ausgestorben, nur an den Grenzen war Leben. Einmal aber begegnete dem Leutnant ein Mann, den er schon in der Ferne als englischen Offizier erkannte. Er versuchte sich zwischen den Zelten zu verlieren, war aber schon gesehen worden.
Der andere Offizier eilte auf ihn zu und hielt ihn fest.
»Hallo, wer sucht sich hier zu verstecken? Ah, Pardon, ein Kamerad. Ich glaubte, ein Sepoy hätte sich von der Wache entfernt.«
»Und ich glaubte erst, ich würde einem Sepoy begegnen,« lachte der Leutnant leise, »meine Augen haben in Indien etwas gelitten. Es wäre mir unangenehm gewesen, jetzt einem Sepoy zu begegnen. Er hätte mich erkennen können.«
»Unangenehm? Wieso?«
»Ich komme aus dem Bombaylager. Leutnant Russell.«
»Was, Leutnant Russell? Donner und Hagel, ich hätte Sie wahrhaftig nicht erkannt. Was aber wollen Sie hier?«
»Ja, da fragen Sie zu viel – geheime Order. Einen Gefallen können Sie mir tun. Trotz der genauen Instruktion scheine ich mich verlaufen zu haben. Wo ist das Zelt dessen, der heute hier angekommen ist?« »Ah, also das ist es! Von wem kommen Sie?«
»Bedaure.«
»Gleichgültig. Ich bringe Sie hin.«
»Nicht zu weit, ich muß allein und unauffällig gehen, so ist mir streng befohlen worden.
Im Vertrauen, es ist Lord Canning, nicht wahr?«
»Ja, er ist es.«
»Warum reist er in so strengem Inkognito?«
»Sehr einfach. Er hat einen weiten Weg zurückgelegt, fast ohne Begleitung, und erführen das die Rebellen, so würden sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um seiner habhaft zu werden. Nicht einmal jetzt, da er hier ist, und nicht einmal unsere Sepoys sollen womöglich davon erfahren. Er geht wieder fort von hier?«
»Ich weiß nicht. Jedenfalls,« entgegnete Russell.
Der andere blieb stehen und deutete auf das größte Zelt.
»Dies ist das Zelt von Whitlock, Canning wohnt bei ihm. Gute Nacht, Kamerad!«
»Halt, noch eins! Wissen Sie nicht, wo er schläft?«
»Nein, wahrhaftig nicht. Im Zelt ist Wache, fragen Sie nur.«
Er entfernte sich schnell, ohne sich umzusehen.
Russell schritt nicht dem Zelte zu, sondern beschrieb einen Bogen um dasselbe, hielt sich immer im Schatten und lauschte auf das geringste Geräusch. Seine Hand lag am Revolver, und er hätte wohl auch davon Gebrauch gemacht.
Das Zelt war bedeutend größer und höher als die übrigen, auch oben nicht spitz zulaufend, sondern ein richtiges Haus aus brauner Segelleinwand. Natürlich stand es gleichfalls auf ebener Erde, das Tuch war mit Stricken an Pflöcken im Boden festgebunden, die Türen wurden von Vorhängen gebildet, und zur Ventilation war oben rund um die Zeltstange herum eine Öffnung freigelassen worden.
Plötzlich, wie durch Zauberei, lag auf dem flachen Dach eine menschliche Gestalt, und glitt schlangengleich über das Tuch hin, ohne dabei merklich tief einzusinken.
Die Wache, welche im Vorraum bei der brennenden Lampe saß und einen Brief aus der Heimat las, merkte nichts von dem, was über ihr vorging.
Als die Gestalt die Öffnung erreicht hatte, blieb sie lange bewegungslos glatt liegen und spähte hinab. Dann rutschte sie zurück und glitt geräuschlos von der schiefen Wand hinab.
Nachdem sich der Leutnant – dieser war es – überzeugt hatte, daß er nicht beobachtet worden war, legte er sich an den Boden, der hier aus feinem Sand bestand, hatte im Nu mit den Händen eine Höhlung ausgeschaufelt und schlüpfte wie eine Schlange durch dieselbe unter der Leinwand hinweg.
Die vollkommenste Dunkelheit umgab ihn; tiefe, regelmäßige Atemzüge schlugen an sein Ohr.
Ohne irgendwo anzustoßen, bewegte sich der nächtliche Besucher durch den Zeltraum, tastete auf dem Tisch herum und ging dann dahin, woher die Atemzüge erklangen.
Leise berührte seine Hand einen mit einem Hemdärmel bekleideten Arm. Er neigte den Kopf, bis er die warmen Atemzüge verspürte.
»Lord Canning!« flüsterte er dann.
Der Schläfer erwachte nicht von dem schwachen Ton.
»Lord Canning, wenn Sie erwachen, erschrecken Sie nicht!« fuhr der Ruhestörer eindringlicher fort und drückte gleichzeitig etwas den Arm.
Der Schläfer fuhr jäh empor.
»Wer da?« fragte er, aber leise.
»Jemand, der es gut mit Ihnen meint,« flüsterte er hastig. »Keinen Laut, keine unvorsichtige Bewegung, oder ich muß fliehen.«
»Fliehen? Wer ist da, der fliehen muß?« »Ruhig doch! Lord Canning, ich komme aus dem feindlichen Lager, um eine Frage an Sie zu richten.«
Er kam nicht weiter, mit verzweifelter Kraft suchte der Gouverneur sich aus den muskulösen Händen zu befreien, die ihn plötzlich mit eisernem Griff packten.
»Halt, wer da? Offen will ich mit dem sprechen, der mir etwas zu sagen hat. Verrat! Wache!«
»Tor,« zischte es, »ich hatte es gut mit dir vor! Wir sehen uns wieder.«
Canning konnte die Gestalt nicht halten, wie ein Aal entwand sie sich seinem Griff, nur ein Bekleidungsstück hielt er noch in den Händen.
Die Wache stürzte mit brennender Lampe herein, gleich darnach General Whitlock. Sie fanden Lord Canning im Nachtgewand, einen englischen Offiziersrock in den Händen haltend.
»Was gibt's?« schrie Whitlock. »Ein meuchlerischer Angriff von einem englischen Offizier? Bei Gottes Tod, das wäre das letzte Unglück, was uns passieren dürfte!«
Canning betrachtete in stummem Erstaunen das Uniformstück.
»Es war kein Mann, es war ein Weib, ich kann es bei meiner Seligkeit schwören,« murmelte er, »ich habe es gefühlt. Los, schlagt Alarm, sie darf nicht entkommen.«
Draußen ward es schon lebendig.
»Haltet ihn! Steh oder ich schieße,« klang es durcheinander, Schüsse krachten, ein silberhelles Lachen erscholl, dann noch einige Schüsse, man hörte Flüche und Verwünschungen und hastige Schritte.
»Was ist geschehen?« rief Whitlock.
»Es hat sich ein Weib zu mir ins Zelt geschlichen, es wollte mit mir heimlich sprechen.
Ich hatte es gepackt und konnte deutlich fühlen, daß ich ein Mädchen in meinen Händen hatte. Es entschlüpfte mir wie eine Schlange.
»Aber der Uniformrock.«
»Das weiß der Teufel! Sie kam aus dem feindlichen Lager, sagte sie selbst.«
Im Zelt war die betreffende Person nicht mehr. Die Wache behauptete, ihn hätte sie nicht passiert. Die Erklärung ergab sich bald, als man das Sandloch am Rande des Zeltes fand.
Daneben lag ein Offiziersdegen. Whitlock entblößte ihn.
»Kurt Russell – empfangen 1854 aus der Hand der Königin Viktoria von Großbritannien und Irland,« las der alte Krieger die auf den Stahl geätzte Inschrift vor.
Von einem plötzlichen Zorn befallen, setzte er den Degen mit der Spitze auf den Boden und wollte ihn zerbrechen.
»Halten Sie ein!« rief aber Canning, ihn daran hindernd. »Ich versichere Ihnen nochmals, es war ein Weib! Beleidigen Sie nicht einen Unschuldigen.«
»Und dieser Degen?«
»Ich kann es nicht erklären.«
Soldaten kamen an, sie sagten, sie hätten eine Gestalt durch das Lager huschen sehen, auf sie geschossen, sie verfolgt, aber sie sei ihnen spurlos entkommen.
»Ich glaubte, mir müßte sie gerade in die Arme laufen,« sagte ein alter irländischer Sergeant, »als ich aber zugriff, da hatte ich eine abgetakelte Zeltstange in den Armen.«
Der abergläubische Irländer bekreuzigte sich.
»Wie sah denn der Verfolgte aus?«
»Es war ein Offizier, aber ohne Uniformrock, auch ohne Degen.«
»Nein, es war ein Mädchen,« sagte ein anderer.
»Hast du es gesehen?«
»Nein, aber lachen hören.«
Kopfschüttelnd gingen Whitlock und Canning in das Zelt zurück.
»Was wollte er oder sie eigentlich von Ihnen,« fragte ersterer. »Ich kann mich nur undeutlich entsinnen, daß ich durch einen Händedruck am Arm aus dem Schlafe gerissen und von einer sonoren Stimme in flüsterndem Tone davor gewarnt wurde, laut zu sein. Sie sagte, sie käme aus dem feindlichen Lager und habe mir Mitteilungen zu machen. ›Wir sehen uns wieder,‹ waren die letzten Worte. Ich bedauere fast, sie verscheucht zu haben.«
»Ich nicht. Um Gottes willen sich mit diesem Lumpenpack nicht in Heimlichkeiten einlassen, dabei wird man stets überlistet und betrogen. Zeigt ihnen im Frieden die Peitsche, im Kriege das Schwert, und man wird am besten mit ihnen auskommen. Ich habe schon eine Ordonnanz nach dem Bombay-Lager geschickt, Leutnant Russell soll sofort hierherkommen.
Vielleicht können wir von ihm eine Erklärung erhalten. Führen Sie denn indische Visitenkarten?«
»Wie meinen Sie?«
»Visitenkarten, auf denen Ihr Name mit indischen Buchstaben gedruckt ist.«
Whitlock hatte ein Kärtchen vom Tisch genommen, auf denen krause, indische Buchstaben standen. Canning verneinte die Frage des Generals und nahm ihm das Kärtchen aus der Hand.
»Wie kommt denn das hierher?« rief er, und das größte Erstaunen prägte sich in seinem Gesicht aus.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie haben es nicht hingelegt?«
»Nein. Was heißt es denn? Diese Schrift ist mir unbekannt.«
»Das heißt: Die Begum von Dschansi.«
»Was? Das ist ja die sagenhafte Königin von Indien!«
»Es scheint, als hätte sie mir einen Besuch abgestattet und dabei ihre Visitenkarte zurückgelassen.
Er überflog den Inhalt seiner Taschen, den er am Abend auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
»Ich vermisse auch etwas; ein Medaillon.«
Bald liefen von allen Seiten Meldungen ein, die in allen Lagern immer größere Bestürzung verbreiteten.