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Wir gelangen nun zur zweiten der großen Gruppen, in die wir die Perversionen eingeteilt haben. Es ist das jene, bei der sowohl die Erotik abnorm, wie das Ziel der Handlung pervers ist. Hatten wir es bisher stets mit Triebabweichungen zu tun, bei denen die Sexualität in ihrer Intensität oder – teilweise – in ihrer Zielsetzung gegen die Norm verändert war, so tritt jetzt diese Komponente der Libido ganz deutlich zurück. Sie bleibt nur insofern bestehen, als sie ein Teil des Geschlechtstriebes ist.
Das Gebiet, das wir nunmehr darzustellen haben, ist ebenso interessant wie praktisch bedeutungsvoll. Interessant, weil wir gerade hier den seltsamsten Zustandsbildern begegnen, der größten Mannigfaltigkeit und den verschiedensten Verwicklungen und Durchflechtungen der von der Norm abgeirrten Triebe. Und es ist klar, daß gerade dieser Faktor Erkenntnis wie Darstellung ganz wesentlich erschwert. Fließende Übergänge zum Normalen sind hier seltener als bei den bisher besprochenen Perversionen, dafür aber findet man ein eigenartiges Wechselspiel zwischen Tat und Traum, zwischen wirklichem Geschehen und reiner Phantasie.
Die praktische Bedeutung der Perversionen dieser Gruppe ist sehr groß. Manche von ihnen, wie der Masochismus, sind außerordentlich weit verbreitet, andere, wie der Sadismus, sind gleichzeitig forensisch von Belang.
Aus verschiedenen Gründen erscheint es nun geboten, zuerst einige theoretische Bemerkungen über die seelischen Strebungen und Strömungen zu machen, die diesen Perversionen eigentümlich sind.
Schon bei der Einteilung wurde diese Gruppe dadurch gekennzeichnet, daß hier mehr ein Abweichen der Erotik als der Sexualität vorliegt, und daß diese zwar – als Geschlechtstrieb – der bunten Vielfalt der Erscheinungen stets zugrunde liegt, dabei aber kaum hervortritt.
Um eine Umschau und Übersicht über das ganze Gebiet zu erhalten, ist es zweckmäßig, von einer Anschauungsweise Gebrauch zu machen, die sich dort als praktisch wohl verwendbar erwiesen hat, wo es sich darum handelte, die Einstellung, das Weltbild einer Epoche, eines Zeitabschnittes mit dem eines andern zu vergleichen. Es ist eine wichtige Errungenschaft unserer Zeit, daß sie die gesamte Erscheinungswelt nicht mechanisch, sondern dynamisch auffaßt, daß sie also das Leben und seine Formen nicht als ruhend ansieht, sondern als bewegt. Es ist klar, daß eine solche Betrachtungsweise sowohl kausal, also vom Ursprung her, wie final, also nach dem Ziele hin, eingestellt ist. Fassen wir z. B. die ältere Sexualpsychologie ins Auge, so sehen wir, daß sie gewissermaßen eine Psycho mechanik war und also fertige Zustandsbilder annahm, verarbeitete und wertete. Im deutlichen Gegensatz dazu ist die neuere Tiefenpsychologie ständig bestrebt, die Kraftlinien aufzuzeigen, auf denen sich das seelische Geschehen abspielt, und wir sind überzeugt, daß es nur auf diese Weise möglich ist, die dunklen Hintergründe zu erhellen und in die tiefen Abgründe zu dringen, deren Erforschung gerade für die Erkenntnis der Abweichungen des Geschlechtstriebes unumgänglich ist. Gewiß keine leichte Aufgabe! Um so verlockender wäre es also, sich einer Lehre, einer Anschauungsweise anzuschließen, die für sich selbst überzeugt ist, hier die richtigen Wege weisen zu können. Hat man indes die unendliche Vielfalt der Erscheinungen gerade auf dem Gebiet der Sexualpsychologie erkannt, so ist man durchaus genötigt, die Möglichkeit zu bezweifeln, all jenes Geschehen als einer Wurzel entstammend oder einem Ziele zustrebend anzusehen. Wenn wir also die gesamten Perversionen psychodynamisch betrachten und zu erklären versuchen, so benützen wir zwar die Ergebnisse der modernen Tiefenpsychologie, der Psychoanalyse Freuds und der Individualpsychologie Adlers, ohne jedoch deswegen den Boden eines Systems zu betreten oder einer bestimmten Lehrmeinung durchaus zu folgen.
Ebensowenig liegt es in unserer Absicht, selbst ein System der Triebabweichungen aufzustellen, wie auch unsere Einteilung in verschiedene Gruppen lediglich praktischen Zwecken dienen soll. Diese Feststellung wird hier wiederholt, weil nachstehend ein gewisses Schema gegeben werden soll, das gleichfalls nicht als System gedacht ist, sondern wiederum bloß um seiner praktischen Verwendbarkeit willen hier aufgenommen wurde. Dieses Schema beruht auf zwei Grundlagen. Erstens auf der dynamischen Auffassung der Perversionen und zweitens auf der Tatsache, daß eine große Reihe von Triebabweichungen dadurch zustande kommt, daß zwei grundsätzlich verschiedene Kräfte und Strebungen gleichzeitig obwalten. Wenn wir deren eine als Geschlechtstrieb bezeichnen, so können wir die andere Machttrieb nennen, wobei natürlich weniger an den Willen zur Macht Nietzsches zu denken ist als an das triebhafte Verlangen, das Sexualobjekt nicht nur zu erreichen (Geschlechtstrieb), sondern sich seiner zu bemächtigen. Diese Zweiteilung erlaubt uns, bei einer schematischen Darstellung der Triebabweichungen die Annahme zu machen, daß die den Geschlechtstrieb symbolisierende Kraftlinie in der einen Dimension verläuft, die des Machttriebes in der andern; und wenn wir, wie begreiflich, diese von oben nach unten verlaufen lassen, so wählen wir für jene die Richtung rechts – links. Es wird sich sogleich zeigen, daß diese Annahmen uns ermöglichen, graphisch alle Triebrichtungen in einfacher Weise darzustellen und, was noch wichtiger ist, durch dieses Schema dem Verständnis wesentlich näherzubringen.
Beginnen wir mit der einfachsten Art der sexuellen Betätigung, mit dem normalen Geschlechtsverkehr, so zeigt das Schema folgendes Bild S bezeichnet stets das Subjekt, der Pfeil die Richtung Zum Objekt. »Links« für normal (heterosexuell) und »rechts« für abnormal sind willkürlich zum Zweck der graphischen Darstellung gewählt.:
Die Kraftlinie verläuft horizontal nach links, vom Subjekt S zum normalen, also heterosexuellen Sexualobjekt.
Das Gegenstück dazu sieht so aus:
Der gleiche Trieb, nach der genau entgegengesetzten Richtung – die Homosexualität, hier noch frei von jeder andern Perversion.
Es ist nun sehr leicht, die bisher besprochenen Anomalien des Trieblebens in dieses Schema einzureihen. Die folgenden Zeichnungen versinnbildlichen die sexuelle Hypästhesie und die Hyperästhesie:
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Hypästhesie | Hyperästhesie |
Bei der zweiten Gruppe der Triebabweichungen müssen wir zur graphischen Darstellung bereits eine Dimension mehr heranziehen. Wenn wir mit dem Fetischismus beginnen und zuerst den Partialfetischismus wiedergeben, also jene noch ausführlich zu besprechende Einstellung, bei der zwar ein menschliches Wesen Objekt des Geschlechtstriebes ist, wo aber zuerst einmal dieses nicht als Ganzes begehrt wird, sondern wo ein bestimmter Teil (Haare, Busen, Nates usw.) das Ziel der Lust bildet, so verlaufen die Linien vom Subjekt S wieder nach links, und zwar einerseits vielfältig, anderseits nach abwärts. Letzteres ganz einfach deshalb, weil der Teil ja weniger ist als das Ganze.
Beim wirklichen Fetischismus, bei dem jeder Gegenstand und jede Handlung Sexualobjekt werden kann, gehen die Kraftlinien natürlich nach rechts und noch deutlicher nach abwärts als dies beim Partialfetischismus der Fall war.
Besonders brauchbar ist unser Schema beim Sadismus und beim Masochismus, und hier müssen wir ein Koordinatenkreuz benützen, um das sehr wichtige und interessante Verhältnis darzustellen, in dem der Sadist oder der Masochist zu seinem Sexualobjekt steht. Es ist nämlich diesen beiden Perversionen gemeinsam, daß in ihnen die Orientierung: oben – unten durchaus zum Ausdruck kommt. Dafür gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt kann beim Sadismus von vornherein so sein, daß das Objekt tiefer steht. Sei es durch entsprechende Objektwahl (Kinder, Prostituierte), sei es durch ein entsprechendes Arrangement; diesem Begriff werden wir beim Sadismus, beim Masochismus und vor allem beim Fetischismus noch oft begegnen. Graphisch sieht das dann so aus:
Oder aber der Sadist erhebt sich über sein Objekt, er läßt es also sozusagen auf der normalen Ebene und stellt sich selbst entsprechend höher, was in der Regel durch einen stark phantasiebetonten Willensakt geschieht. Die Zeichnung zeigt dann folgendes Bild:
Der Unterschied zwischen diesen beiden Einstellungen ist von größter Bedeutung und bedarf ausführlicher Besprechung. Es sei hier bloß vorweggenommen, daß jene Form des Sadismus gewissermaßen bürgerlicher Natur und eng mit Prügel- und Zwangsmaßnahmen in der Familie, Schule usw. verknüpft ist, während zu dieser Form die sadistischen Sexualverbrecher und jene Unholde gehören, deren Größenwahn sie gegen fremdes Leid gleichgültig macht.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß das Schema dort, wo der Sadist gleichzeitig homosexuell ist, die folgenden Bilder ergibt:
Der Masochismus, der bekanntlich das gerade Gegenteil zum Sadismus bildet, wird auch durch gegensätzliche Zeichnungen ausgedrückt. Auch hier wieder ist es von wesentlicher Bedeutung, ob der Masochist das Sexualobjekt auf der normalen Ebene beläßt und also herabsteigt, oder ob er sein Sexualziel höher oben sucht. Will man – um auch hier etwas vorwegzunehmen – die beiden Gruppen mit ein paar Worten kennzeichnen, so kann man sagen, daß der ersten ungefähr jene Masochisten angehören, die mehr eine grobsinnliche Befriedigung suchen, wie z. B. die Kunden der Massagesalons, während zur zweiten Gruppe jene Personen zu rechnen sind, die das Objekt ihrer Triebabweichung zu verherrlichen trachten, wie das etwa im Mittelalter in den Zeiten des Minnedienstes stark verbreitet war.
Das Schema ergibt folgende Bilder:
Was schließlich den Autosexualismus betrifft, so ist auch er mit den Möglichkeiten darstellbar, die unser Schema bietet. Sexualobjekt und -subjekt fallen bei ihm zusammen, der Trieb bleibt am eigenen Ich fixiert.
Als das wichtigste an diesem ganzen Schema möchten wir die in ihm festgehaltene dynamische Auffassung der Triebabweichungen hervorheben. Denn Kräfte, und zwar gewaltig wirksame Kräfte, sind hier am Werk und zerren den Perversen weit hinein ins Absonderliche, Verschrobene, selbst Grauenhafte. Auf diesem Gebiet ist eben alles möglich; und die Wirklichkeit spottet so manches Mal auch der kühnsten Phantasie.