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Des Regenwetters ungeachtet trat der anmuthige Charakter der Gegend am Zürichersee lebhaft hervor. Der kleine Ort Horgen war mit Touristen angefüllt, die sich wesentlich von den wilden und eiligen Horden unterschieden, welche die Gegenden der schweizer Hochgebirge überschwemmt hatten. Hier hausten die Geschlechter jener bequemen Reisenden, welche theils nicht im Stande waren, hohe Berge zu besteigen, theils aus Liebe zur Bequemlichkeit etwas »Schweiz« genießen wollten, ohne sonderlichen Kostenaufwand zu machen. Das Ansehen der Pensionäre oder Bewohner von Horgen war nicht mehr so nomadisch wie an vielen Stellen des Cantons Bern, wo Gäste und Wirthe in jeder Minute des Tages so aussehen, als ob noch heute das Finsteraarhorn oder die Jungfrau bestiegen werden müßten. In Horgen gab es gemüthliche lange Pfeifen, Schlafröcke, Nachtmützen und Pantoffeln, conservative Tabacksnasen, solid gewichste Schnurrbärte; sogar ein alter Herr mit einem Ordensbändchen im Knopfloch lag in einem Fenster und ließ sein Ehrenzäumchen frische Luft schöpfen. Ach, die glücklichen Einwohner großer fürstlicher Städte, welche täglich in dem Genusse des Anblicks zahlloser glänzender Ehrenzeichen auf der Brust ihrer Mitbürger schwelgen, wissen nicht, wie wehe die Entbehrung thut. Erst in wochenlanger Abgeschiedenheit von den ritterlichen Ehren und Gewohnheiten, unter einem Volke mit hohen steifen Vatermördern aus grober Leinwand, in englisirten schnupftabacksfarbigen Fracks und butzköpfigen Hüten, das höchstens eine Blume in seinem Knopfloch trägt, um sie an den nächsten Reisenden für fünf Rappen zu verkaufen, lernt man die Süßigkeit monarchischer 130 Auszeichnungen kennen. Das erwähnte Bändchen war vielleicht nur das Allgemeine Ratzeburgische Ehrenzeichen, oder der Orden für fertige Abschreiber und schnelle Fußboten, allein es führte die angeregte Phantasie immerhin aus dem Lande der kahlen, gleichgültigen Freiheit unter liebenswürdige und von einem sanften, erlaubten Ehrgeiz belebte Menschen. Der alte Herr mochte in meinem entzückten Auge einen Theil meiner loyalen Empfindungen lesen, wenigstens warf er mir eine Kußhand zu und schien Miene machen zu wollen, auf die Straße herabzukommen und ein kurzes Reiseverhältniß mit mir anzuknüpfen. Der sehr unausgebürstete Zustand des Ordensgreises und seine, trotz der Nähe des züricher Wasserbeckens vernachlässigte Leibwäsche trieben mich aber eher vondannen, als der Treffliche seinen freundlichen Plan ausgeführt hatte.
Wir eilten nach dem Ufer und begaben uns heute zum dritten male an Bord eines Dampfboots, das jedoch durch Umfang und Reinlichkeit von seinen Vorgängern lebhaft abstach. Bald war alles Gepäck auf das Verdeck geschleift, und an Oskar's und Malwinens Seite steuerte ich gleich darauf direct nach Zürich. Der Tag hatte sich jetzt immer mehr verdüstert; die Wolken des Himmels waren dichter, die Schicksale der Menschen trüber geworden. Die diplomatischen Verhältnisse des jungen Ehepaars schienen im höchsten Grade verwickelt und kaum noch auflösbar zu sein; ich sah mit Wahrscheinlichkeit voraus, daß in den nächsten Tagen Amor seine Pässe fodern würde. In Oskar's interessanten Gepäckangelegenheiten war zunächst eine auffallende Veränderung eingetreten; das Körbchen, in welchem früher die Aprikosen gelegen hatten, und der Falke waren spurlos verschwunden. Die pikante Unterhaltung mit den beiden räthselhaften Damen mochte die Aufmerksamkeit des verliebten Sünders so gefesselt haben, daß er den Falken, der ihm ohnehin wenig an das 131 Herz gewachsen war, im Netze des Postwagens hatte liegen lassen.
»Betrachten Sie diesen Mann, lieber Freund«, sagte Malwine, die mich immer ihren Freund nannte, wenn Oskar ein Verbrechen begangen, »betrachten Sie ihn und sagen Sie mir, ob ein junger Ehemann rücksichtloser gegen seine Frau und Verwandten zuwerke gehen kann?«
Ich betrachtete Oskar sehr genau, bemerkte aber nicht, daß sich das Verbrechen der Rücksichtlosigkeit bemerkenswerth und deutlich ausdrückte.
»Daß er mein Körbchen wahrscheinlich auf die Straße geworfen hat«, fuhr die unermüdliche Schöne fort, »will ich ihm verzeihen; daß er aber den ausgestopften Falken, den ich in Bern mit meinem Taschengelde bezahlt habe, gleichfalls auf die Seite geschafft, das kann, das darf ich nicht verzeihen!«
»Nun, so wird der Junge etwas Anderes bekommen«, brummte der mürbegemachte Assessor in B-moll.
»Aber Oskar, wenn du August nur nicht immer den ›Jungen‹ nennen möchtest. Ehe wir verheirathet waren, hast du dir niemals eine so grobe Bezeichnung des Kindes erlaubt. Damals war er der reizende Kleine, der niedliche Bursche, der muntere Schelm – den Ausdruck ›der Junge‹ hast du dir erst auf der Reise angewöhnt.«
»Liebes Kind, seit wie lange August ›der Junge‹ oder ›der niedliche Kleine‹ heißt, wollen wir heute nicht mehr untersuchen, besonders da die Leute auf dem Sopha dort die Ohren spitzen; er soll nicht einen, sondern zwei Falken bekommen, die ich ihm in Augsburg kaufen werde, allein dafür wirst du mir erlauben, ihn, trotzdem er sich meinen Vetter nennt, für Das zu halten, was er der Wahrheit nach ist: für einen berliner Straßenjungen vom reinsten Wasser.« So maulte der bis 132 aufs äußerste ergrimmte Oskar und stampfte mit dem Fernrohr wild auf den Fußboden der Kajüte.
»Haben Sie je einen solchen wilden und abscheulichen Menschen gesehen?« fragte mich die Schöne und pumpte mit raschem Zwinkern der Augenlider etwas Rührungswasser heraus.
»Ja«, sagte ich meinerseits nun auch erbittert und entschlossen, nicht mehr den Fangeball zwischen dem Ehepaare zu spielen, sondern die Partei des Schwächern zu nehmen. »Ja, Madame, ich habe wildere und abscheulichere Menschen gesehen, und Oskar erträgt wirklich sein Schicksal mit einer mehr als christlichen Ergebenheit. Wundern Sie sich daher nicht, wenn auch ihm endlich der Faden der Geduld reißt. Ich an seiner Stelle wäre längst durch diesen unaufhörlichen kleinen Krieg zur Verzweiflung gebracht worden.«
»Fangen Sie jetzt auch mit mir an? Wirklich – wirklich – eine Krähe hackt der andern nicht die Augen aus – wenigstens weiß ich von Ihnen, daß Sie sich nicht Oskar's Sünden hätten zuschulden kommen lassen!«
»Und was hat er denn begangen, gnädige Frau? Er mag schwach gewesen sein, doch ach! kein Bösewicht!« tröstete ich mit Weisheit und Hofrath Kind.
»Kein Bösewicht? – Sie haben wol nicht bemerkt, wie er den beiden landläuferischen Frauenzimmern die Cour gemacht hat?«
»Darf ein Herr nicht einmal mehr ein paar einzelne Damen in Gegenwart seiner Gemahlin anreden? Das ist neu für mich, gnädige Frau.«
Vielleicht hätten meine dreisten Worte und eine zuversichtliche Miene, die ich vorläufig aufgesetzt, den Sieg über die eigensinnige Schöne davongetragen, wenn nicht der Schwächling von einem Ehemanne mir in die Parade gefallen wäre, seiner Frau Recht gegeben und mich ermahnt hätte, den 133 unterbrochenen Frieden herzustellen. Jetzt sah ich ein, daß jeder Versuch, durch eine geschicktgeleitete Intervention die unbezähmte Widerspänstige zur Ordnung zu bringen, fernerhin vergebens sein werde, und strich resignirt die Flagge. Die Natur aber drückte draußen auf dem See durch gewaltsame Zeichen ihren Unwillen über die menschlichen Ehefratzen und Uneinigkeitskindereien aus, wenigstens hätte ein Grieche oder ein Römer die heftigen Blitze und lauten Donnerschläge in diesem ernsten und abergläubischen Sinne aufgefaßt. Der Regen bannte uns unausgesetzt in die Kajüte und unter einem heftigen Gießkannenschauer wurden wir in Zürich ans Land gesetzt.
Gern hätte ich mich hier von dem gefährlichen Ehepaare getrennt und ein anderes Hôtel bezogen; allein der glückliche junge Gatte brauchte die weise Vorsicht, meine Sachen mit den Habseligkeiten seines Reisehaushalts auf Einen Karren laden und nach dem Hôtel de l'Epée fahren zu lassen. Er bedurfte meiner noch immer und schien die Absicht zu hegen, mich als Schild mit dem Haupte der Medusa bis in die theure Heimat Berlin mitzuschleppen. Oskar ging voraus, den langsam von einem schwerfälligen Träger geschobenen Karren beobachtend, dann folgte Malwine, von mir in einer starken Nachtrabstellung begleitet. Die gute Frau behielt ihren misrathenen Mann scharf im Auge und regelte seinen Gang durch zeitweilige richtige und treffende, aber zuweilen etwas beleidigende Bemerkungen.
»Lieber Freund«, sagte sie plötzlich, »bemerken Sie, wie Oskar das Fernrohr trägt. Es hat 50 Thaler gekostet, aber der Mann trägt es, als ob er den nächsten Menschen damit durchprügeln wollte.«
Diese Notiz war sehr gegründet; allein das Oskar am nächsten stehende Wesen war seine Frau, und sollten seine Gedanken sich wirklich in der Art das Fernrohr zu tragen ausdrücken, so konnte man die weitgediehenen Differenzen in der 134 Denkungsart dieses reisenden Ehepaars nur beklagen. Auf ihre Bitte nahm ich also Oskar das Fernrohr auf eine liebevolle Weise ab und beruhigte die edle Seele seines Weibes. So gelangten wir nach dem Hôtel Zum Schwerte, welches mir weniger zum Schutze der Fremden als zu ihrer systematischen Ausbeutung gezückt scheint. Doch kam mir die dreiste und verwegene Art des uns empfangenden Kellners vortrefflich zustatten, denn als er uns gleich bei der Ankunft fragte, wie lange wir uns aufzuhalten gedächten, um die Qualität der Zimmer und die Höhe des Stockwerks nach unserer Angabe zu bestimmen, erfuhr ich, daß Oskar und Malwine beschlossen hatten, noch den folgenden Tag in Zürich zuzubringen. Obgleich ich mir das Nämliche vorgenommen hatte, gab ich auf der Stelle meinen Plan auf und beschloß, am nächsten Morgen Zürich und die Schweiz zu verlassen. Wenn es wahrscheinlich war, daß ich den liebenswürdigen Ort bald wiedersehen würde, konnte ich es doch für unwahrscheinlich halten, jemals in meinem Leben wieder mit solchem verheiratheten Reisepack zusammenzutreffen; ich täuschte demnach den Kellner durch eine ihm schmeichelnde Vorspiegelung und erhielt deshalb ein hübsches Zimmer im ersten Stock.
Unterdessen war es Abend geworden, die Straßen wurden grabesstille, die Lichter spiegelten sich in der rauschenden Limmat und der Regen plätscherte unermüdlich auf das Pflaster herab. Ich beschloß nach dem Kaffeehause zu gehen, wo sich die deutschen Flüchtlinge zu versammeln pflegen; mich gelüstete nach einer republikanischen Predigt; ich wollte mich tüchtig haranguiren lassen, denn die Unterhandlungen mit dem Ehepaare hatten mich moralisch so heruntergebracht, daß ich einer energischen Herzstärkung bedurfte. Heute schlug indessen Alles fehl. Ich saß länger als eine Stunde an dem bewußten Orte, ohne eines jener Gesichter eintreten zu sehen, welche im Jahre 135 1848 Ministerien und Magistrate erzittern machten, und jetzt, ach! so genügsam und bescheiden gesinnt waren, daß ein wenig Regenwetter sie in ihren Stübchen zurückhielt. Unmuthig entfernte ich mich und sandte einen Boten nach Richard Wagner's Wohnung; aber auch dieser Bote kam mit einer Hiobspost zurück. Wagner wurde erst am dritten Tage von einer Ausflucht nach dem Genfersee zurückerwartet, und statt den Componisten des »Tanhäuser« und »Lohengrin« nach manchem traurigen Jahre seiner Verbannung wiederzusehen, mußte ich in das »Schwert« zurückkehren und durch die Wand einen abermaligen Liebeszwist meiner Getreuen anhören. Er war wenig sanfter als der Streit, welcher Frau Venus und den liederlichen Heinrich von Ofterdingen für immer trennte. Ich setzte mich daher an den Waschtisch, der in meinem Zimmer Schreibsecretärsstelle vertrat, und entwarf folgenden Brief:
»Meine verehrten Freunde!
»Wenn der Anblick vollkommenen, ungetrübten Glücks, einer auf Erden wahrhaft seltenen Einigkeit, und das lebendige Beispiel zu dem schönen Spruche: ›Zwei Seelen und ein Gedanke‹, einen beklagenswerthen einzelnen Reisenden mit Neid erfüllen können, so finde ich mich in dieser Lage. Ein tadelnswerthes Gefühl von Misgunst hat sich meiner Seele soweit bemächtigt, daß es die Wißbegierde und fernere Lust an den Reizen der Schweiz vollkommen unterdrückt hat.
»Lebt wohl! Der Augenblick, der euch beim Ankauf eines neuen Falken gewiß in himmlischer Einigkeit und Uebereinstimmung der Geister beisammenfinden wird, sieht einen eiligen und melancholischen Pilger auf der Fahrt nach Ulm. Folgt mir nicht, erneuert nicht den Schmerz, den euer Glück in ein trauriges Dasein gerufen; begebt euch auf einer andern Heerstraße in die theure Heimat, und bringt euer Gepäck gut und 136 ganz nach Hause. Fürchtet nichts, ich bin stärker als der alte Werther und habe keine Pistolen bei mir.
Ewig euer E. K.«
Als ich diese Zeilen zusammengefaltet und versiegelt hatte, überkam ein seltener Zustand von Ruhe meine Seele. Ich rief den Kellner, befahl ihm, den Brief morgen Mittag den Herrschaften unter die Serviette zu legen, ließ eine Flasche Lambry Geldermann Goldlack bringen und beschloß meine Schweizerfahrten mit einem Toaste auf das Wohl aller jungen reisenden Ehepaare.
Um 10 Uhr am andern Tage hatte ich schon eine Zeche von 22 Francs, darunter 1½ Francs für ein Licht, bezahlt und zwei Meilen nach dem Bodensee zurückgelegt.