Ernst Kossak
Schweizerfahrten
Ernst Kossak

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6.
Interlaken.

Der Vergnügungstourist in Interlaken steht Morgens um 5 Uhr auf und wundert sich über die fabelhafte Stille des Aufenthalts. Etwa 2000 Schritte von dem Kirchthurm des Orts hört man um diese Zeit deutlich die Bewegung des Uhrwerks und das auf die Berge steigende Vieh bringt mit seinem Glockengeläute eine wunderbare Wirkung hervor. Wie gesagt, erhebt sich der Tourist, brennt eine Pfeife an, lang genug, um damit den Thuner- oder Brienzersee zu durchstöbern, und begibt sich über die Aar nach Unterseen. Der liebenswürdige und lebhafte Fluß sieht, die Verminderung im Glanz des Colorits abgerechnet, wie gestern aus, er rinnt ebenso hastig thalabwärts, und nur sein Rauschen tritt bei dem tiefen Schweigen der Umgebung kräftiger und bemerklicher hervor. Die menschlichen Einwohner von Unterseen lassen sich noch nicht blicken, sie schließen sich im Sommer dem Beispiel der Gäste an und stehen erst um 7 Uhr auf. Aber es gibt in Unterseen ein kräftiges Geschlecht, das noch nichts von den Schwächen der Menschen weiß. Kaum hat sich der Tourist als seltsame Ausnahme von der Regel gezeigt, als gleich der erste Hund im Dorfe seine Stimme erhebt und sich beeilt, die Anwesenheit des Unberufenen zu verkündigen. Der zweite ergreift mit seltener Genugthuung dieselbe Gelegenheit, und bald erschallt von allen Seiten ein so mörderisches Durcheinander, als ob das Dorf Unterseen von einem kriegerischen Abenteurer überfallen würde. Da der Tourist ruhig weiterschreitet und der Hundewelt nicht die geringste Veranlassung gibt, ihre menschenfeindlichen Uebungen fortzusetzen, beschwichtigt sich endlich ihre kühne Harmonie und sie überläßt sich jetzt den 36 Parteidebatten, welche in der Schweiz so viele Abwechselungen in die Hundesphäre bringen. Auf einem Hofe, unweit des Weges nach Lauterbrunnen, steht ein Hundehaus, dessen Aussehen nicht Comfort verspricht. Ein Greis von sparsamen Sitten und scharfen Zähnen scheint es innezuhaben. Etwa hundert Schritte davon bewohnt eine Familie von Spitzen ein elegantes schweizer Sommerhaus, groß und reich genug, um selbst einer menschlichen Genossenschaft zu genügen. Zwischen diesen beiden Endpunkten bricht an diesem Morgen ein sonderbares und seltsames Verhängniß aus. Zwei reife, vielgewanderte Hunde sprechen bei dem Greise ein, und bellen ihm wol zehn Minuten lang eine heftige Litanei vor, welche er nur mit einzelnen heftigen Lauten unterbricht; dann gehen sie ab und begeben sich zu den Spitzen. Hier bringen sie ihre Motive über den Zaun mit hoher Gelassenheit vor, wobei sie sich fortwährend umsehen, ob das Gefilde hinter ihnen rein ist und kein frevler Biß auf sie lauert. Die Spitze hören erst ihr Gesuch an, dann raffen sie sich auf und protestiren einstimmig gegen den Antrag, wobei sie sich durch ihre Lebhaftigkeit beinahe Schaden thun. Die beiden Köter vom Juste-Milieu entfernen sich und verschwinden; da hört man plötzlich ein Wehgeschrei und beide kommen entsetzt angerannt, verfolgt von einem elefantenartigen Hunde, der zu der Fahne der Spitze geschworen hat. Jetzt nehmen auch einige unbetheiligte ruhige Vierfüßler Antheil, und ehe wir es uns versehen, florirt wieder ein Gebell, das unmöglich zu beschwichtigen scheint, wenn nicht ein gestörter Einwohner aus einem Dachfenster mit einem Wagenfragmente so gewaltsam unter eine Hundegruppe auf dem Wege schleuderte, daß die Gesellschaft wehklagend vondannen eilt und den Weg freiläßt.

Wir begeben uns jetzt wieder nach Interlaken zurück. Hier ist unterdessen eine große Veränderung vorgegangen. Die 37 einzelnen Söhne Englands, die in Stille und Geduld an einer Verbesserung ihrer Finanzen arbeiten, beginnen an den Fenstern zu erscheinen. Man muß auf die obern Stockwerke der Häuser Acht geben. Ein Gentleman arbeitet dort mit einer großen Nähnadel und einer schmächtigen Korbflasche an der Wiederherstellung eines Paars von Schuhen; hier bürstet ein Lord, ohne den aufmerksamen Zuschauer zu beobachten, mit kunstgeübter Hand seine Kleidungsstücke; und dort bemüht sich ein alter Schotte unter einem Haufen von schwarzbraunen Glimmstengeln das brennbarste Product zu entdecken. Einige schon praktikabel gewordene Engländer begegnen uns auf der Promenade und grunzen uns freudig an. Engländer, die vor 7 Uhr Morgens sich unter die Menschen wagen, gehören nicht unter die gefürchtete Elite ihrer Landsleute.

Wir nähern uns jetzt unserer Pension und steigen langsam die Treppe hinauf. Ein Pole mit schneeweißem Schnurrbart und pechschwarzen Augen kommt uns entgegen und sagt, indem er uns den Paß verlegt:

»Wie mein Herr, Sie rauchen? Wie kommen Sie dazu, hier zu rauchen?«

»Ist das Rauchen hier etwa verboten?«

»Ich sage Ihnen, mein Herr, Sie sollen nicht rauchen, wenn Sie uns nicht Alle verbrennen wollen; das ganze Haus liegt voller Strohmatten und – ich werde ausziehen, wenn mir noch einmal ein Herr mit einer brennenden Pfeife oder Cigarre begegnet.«

Bei diesem Worten wirft er mir einen überaus grimmigen Blick zu und entfernt sich mit fabelhafter Geschwindigkeit. Kaum biege ich eine Treppe hoch in den ersten Gang ein, als ich drei junge Leute bemerke, die sämmtlich mit Cigarren bewaffnet an einer Laterne stehen und ihren Feuervorrath einnehmen. Zufällig brennt schon die Strohmatte am 38 Fußboden und ich sehe mich genöthigt, den Herren anzuempfehlen, ein wenig vorsichtiger mit den Gaben Gottes umzugehen. Da die jungen Herren aber weder die ehrliche deutsche Mundart, noch irgendeine andere vollsthümliche Sprache verstehen, und jeder mit größter Bereitwilligkeit einen Fidibus anzündet und meine Pfeife in Brand zu stecken sucht, gebe ich alle Besserungsversuche auf und richte meinen Lauf in das Kaffeelocal.

Es schlägt 7 Uhr und man verabreicht mir eine Dosis, stark und groß genug, um den Magen des gigantischen Christoph in der Ballade zu füllen; nur der Honig besitzt keine einschmeichelnden Eigenschaften; er ist eine gastfreie Herberge für Fliegen, deren etwa 2–300 ein Unterkommen darin gefunden haben.

Nach dem Kaffee setze ich mich unter einen großen Nußbaum hart am Wege und lasse die Vorübergehenden die Revue passiren. Zuerst sind es nur Herren, welche herüberkommen und sich den Obliegenheiten des Kaffee widmen; dann nähern sich auch Damen. Sie erscheinen sämmtlich mit großen runden Feldhüten, grünen Fächern und Filethandschuhen, und enthalten sich bisjetzt aller Redeübungen, da die Toilette noch nicht vorschriftsmäßig entwickelt scheint. Währenddessen erscheinen auch die Eingeborenen des Landes und beginnen ihre Gewerbe anzuempfehlen. Da ist erstens ein Engrosvermiether von feinen und rührigen Eseln; dann ein Junge mit einem viereckigen Kästchen, in dem eine ungeheure große Raupe sitzt; dann ein altes Weib, die einen Kahn zu vermiethen hat; dann ein Mann, der etwas aus einer Zeitung aufsagt, was kein Mensch versteht, und ein anderer Mann, der selbige Thatsache erklärt, ohne darum verständlicher und volksthümlicher zu werden – alle diese rüstigen Gewerbeungethüme reden mich an und erkundigen sich, ob ich nicht die Raupe für 2 Francs 39 kaufen, oder auf die Wengernalp fahren, oder nach Brienz segeln wolle. Ich lasse sie eine Viertelstunde lang reden und dann noch eine, und sehe nur zu, wie endlich eine Gesellschaft Damen sich vereinigt und sechs Esel miethet, welche mit acht Herren 14 ausmachen, und auf der Stelle bestiegen werden. Der Cercle setzt sich auf und die Esel entfernen sich mit der spaßhaften Gemüthlichkeit, welche dieses Geschlecht so unwiderstehlich macht. Es sind ihrer sechs, aber sie gehen so unterschiedene Pfade, daß man glauben möchte, jeder von ihnen sei seines Lebens satt und suche einen schönen ruhmgekrönten Tod. Der eine wandelt mitten auf dem Fahrwege und stellt sich ankommenden Wagen in die Quer, schlägt gegen die gehandhabte Peitsche hinten aus und wirft seine Dame kopfüber in den Sand; der andere schleicht sachte den Fußpfad entlang und zerreißt die Garderobe seiner Reiterin in kleine Fetzen, während sie nach Kräften Jammer schreit; der dritte bleibt ganz zurück und läßt sich mit einem Stecken höchst unbarmherzig bearbeiten, ohne auch nur ein Zeichen von Aufmerksamkeit vonsichzugeben, und frißt während dieser Scene mit vollständiger Gelassenheit was an seinem Wege wächst – es ist ein erschreckliches Schauspiel, und schon nach einer Viertelstunde kommt die Gesellschaft zurück und beklagt sich bitter über die Schwierigkeiten des Transports.

Nach einer fernern Stunde erscheint meine berliner Reisefee mit Oskar, ihrem Vertrauten. Es muß unter allen hierselbst vorhandenen Frauenzimmern ein geheimes Bündniß geben, denn plötzlich springen aus allen benachbarten Thüren auftoupirte und aufgedonnerte Frauenzimmer hervor und bestatten den Tag mit seinem vielverheißenden Frieden. Dazwischen gehen stillschweigend die drei Herren in den Garten, welche seit sechs Wochen unter einer bedeckten angenehmen Galerie Whist mit dem Strohmanne spielen, und nehmen Platz, ohne 40 eine Miene zu verziehen. Ein anderer Herr folgt ihnen und läßt sich mit triumphirendem Lächeln ein kolossales Extrafrühstück auf seine Kosten bringen, das er bis auf den letzten Bissen verzehrt. Noch ein anderer Herr, welchen man mir als den »schwedischen Gelehrten« bezeichnet, streckt sich auf eine Gartenbank, die er mit Hülfe von Bettkissen und Sophapolstern erweicht hat, und studirt bis gegen Mittag. Malwine versammelt unterdessen den geheimen Frauenbund um sich und bespricht im Fortissimo, während das anwesende männliche Geschlecht allen Widerspruch aufgegeben hat, die offenen Fragen des Tages. Jetzt kommen allmälig die Schwindsüchtigen zum Vorschein und verwünschen die Aerzte, die nie zur Stelle sind, wenn sie von den Herren gefodert werden. Sie unterhalten sich ausschließlich vom Essen und beschließen in seltener Einstimmigkeit, heute Mittag allen ihren Aerzten Trotz zu bieten und wider das ausdrückliche Verbot Käse zu essen. Ein wohlwollender Herr, der ihnen Einhalt zu thun wünscht und eine Rede wider den Käsebeschluß hält, wird ohne weiteres mit Vornehmheit ignorirt und fortan als »Schafskopf« signalisirt. Unterdessen erscheinen zwei Damen von etwas verrücktem Aussehen, welche mit großer Beklommenheit Platz nehmen, sich aber consequent von der ganzen Gesellschaft trennen. Es geht das Gerede, daß sie sehr vermögend seien, aus Furcht vor Diebstahl aber ihr ganzes Capital in allerlei Taschen in den Unterröcken und im Schnürleibe bei sich trügen.

Mit einem male springt die ganze Versammlung auf und eilt an das Gitter. Das Dampfboot am Thunersee ist angekommen und hat eine reichhaltige Fuhre ausgeschifft; man beeilt sich jetzt, den Zuwachs an Bevölkerung in Augenschein zu nehmen und die Originale zu registriren. Vierspännige Wagen mit bärtigen Kurieren auf den Vordersitzen, italienische Vetturine mit drei Pferden, der Postomnibus bis an die 41 Wolken mit Gepäck überladen, Hauderer mit einem oder zwei Pferden, endlich bescheidene Fußgänger mit einem dienstbeflissenen Gepäckträger – alles das trabt und wandelt vorbei, wobei das Auditorium seinen geistreichen Witz spielen läßt; endlich hat sich der Zug erschöpft und die frühere Ruhe tritt wieder ein. Die Gruppen ziehen sich unter die schattigen Nußbäume zurück, gähnen und schlafen, die Damen wiederholen die Kragenangelegenheit zum zwanzigsten male, die Whistspieler wechseln eben die Plätze, der schwedische Gelehrte studirt weiter und die öde Melancholie der menschlichen Gemeinschaft wüchse uns zu Häupten, beschlössen wir nicht am andern Tage eine Ausflucht in das Berner Oberland.


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