Ernst Kossak
Schweizerfahrten
Ernst Kossak

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9.
Grindelwald.

Der »Adler« ist das höhergelegene der beiden Sommergasthäuser von Grindelwald, und gestattet aus den hintern Zimmern eine Aussicht auf die beiden Gletscher, welche den Ruhm des Thales bilden. Unter den Fittigen dieses königlichen Vogels ließ ich mich nieder, und wählte nach den vollendeten Nothwendigkeiten jeder Reise meinen Platz auf einem reizenden großen Balkon, den der aufmerksame Besitzer den Touristen gewidmet hat. Der Abend athmete nur Blumenduft und Sonnenwärme, außer dem fernen Schuß eines Jägers und dem melodischen Rauschen der unaufhörlich rinnenden Gletscherwasser gab es keine Laute des Lebens, und die auf dem Balkon versammelte Gesellschaft, Gäste aus Interlaken, war durchaus in die Wonne der glücklichen Spätstunde versunken. Vor einem Fenster saß Oskar, Malwine und noch ein livländischer Herr, ein schöner junger Mann. Die beiden Cavaliere hatten sogar zur Feier des seltenen Abends zärtlich die Arme um Malwine geschlungen; denn erhebt uns nicht 56 die Poesie über die peinlichen Rücksichten der Sitten und die veralteten Gebräuche? Oskar schien mir sogar glücklicher denn je; er war ohne Gepäck in Grindelwald.

Ich setzte mich mit brennender Cigarre gelassen in einen Winkel des breiten Balkons und musterte die etwa aus 30 Personen bestehende Gesellschaft. Sie war wieder die alte Leier, bezogen mit englischen, französischen, russischen und deutschen Saiten, und spielte die gemeinsame Nationalmelodie »Abendbrot«. Das Trio unterhielt sich noch am lebhaftesten, aber ich entzog mich absichtlich der Conversation und wollte nicht das ausländische Quartett vervollständigen. Im Ganzen sprachen alle Anwesenden aber leiser als gewöhnlich, und mir schien die ungemeine Nähe der Alpenriesen, welche von unserm Sitze aus wenige Tausend Schritte weiter emporragten, die Menschen befangener zu machen. Allmälig dunkelte es in der Tiefe, ein zarter Rosenhauch überzog die hellgrauen Felswände und den Schnee des Wetterhorn, dann verschwand der Rest des Lichts, auf dem Abhange Grindelwalds tauchten Nebel auf, und der große untere Gletscher glich im Dunkel einem mächtigen erstarrten Wassersturze. Jetzt wurde es im Hotel lebendiger und die starke Resonanz des weiten Holzgebäudes machte jedes leise Wort verständlich. Große Hunde bellten, an 30 in der Nähe untergebrachte Pferde stampften und klirrten mit ihren Ketten, Führer liefen hin und her, mehre Kammermädchen im reifen Mannesalter schrien den schweizerischen Nationalruf: »Ja Herr!« Was blieb dem Reisenden übrig, als nach dem Souper sich unter die dünnen Bettdecken und den Bleiklumpen von Federn, welche ein Bett im französischen Stile vorstellen sollten, zu vergraben, die Ohren mit den kleinen Kopfkissen zu verstopfen und einzuschlafen, wenn es ihm gelingt, da jenes Bette sehr sinnig so arrangirt ist, daß dem Schläfer jeder Lichtstrahl von außen in das Gesicht 57 fällt und eben ein lebhaftes Wetterleuchten durch die Berge flammt? Nach einer Cavaleriestudie von 10 Stunden fügt sich indessen wol Jeder in sein Schicksal, und ich weiß nur anzugeben, daß ich ruhig einschlief, während an meiner Thür ein Kellner tobte, der mir einen Bogen Postpapier zu bringen beflissen war und selbigen auch wirklich in meine Rechnung unterbrachte, obgleich ich selber jenem geheimnißvollen Stück Papier vollkommen fremdblieb.

Es schlug auf dem Thurme der Kirche von Grindelwald eben 6 Uhr, als mein Brauner mich mit jener philosophischen Resignation, welche Pferde und Menschen im Sommer in der Schweiz auszeichnet, aufsitzen ließ und bergantrug. Der holperige Saumpfad wurde höchst unerquicklich durch den gräulichen Bettel, welcher hier auf dem Boden der stolzen Republik sich organisirt hat. Von der Kirche zu Grindelwald an bis zu jenem Punkte hinauf, wo die eingehegten Alpenwiesen endigen, muß der Reisende eine lange Reihe Bettelstationen passiren. Bald tritt ihn ein alter Mann mit Bergkrystallen oder einem Murmelthier an, bald öffnen oder verschließen Jungen eine Hecke, bald springen zwei kleine Mädchen hervor, jodeln ein Weniges und verschwinden, sobald sie ihre 10 Centimes empfangen haben, höchst unmusikalisch auf der Secunde oder der Septime. Endlich kommen wir zum obern Gletscher und werden von dem Portier desselben, dem alten Bohren, in Empfang genommen. Nach dem Aussehen dieses Greises zu urtheilen, muß das Eisgrundstück sich gut rentiren; er ist einige siebzig Jahre alt, von kräftiger Constitution und hat 22 oder 23 Kinder. Alle diese Beiträge zu seiner Geschichte erfuhr ich, während wir die wenigen Schritte zum Gletscher hinabstiegen, auch ermunterte er mich gleich darauf zum Betreten der untern blauen Eisspalten, durch die bekannte Begebenheit mit seinem Vater oder Großvater, der aus 58 Wißbegierde in einen entfernten Eisspalt gefallen war, und mit einem zerbrochenen Arme und Beine unter der schrecklichen Masse dem Eiswasser folgend, wieder hervorkroch. Besagte Erzählung mußte natürlich meinen Muth ungemein erhöhen, und ich beschritt kühn die dünnen Bretchen, welche der biedere Greis in die Spalten gelegt hatte, und bewunderte pflichtschuldigst die allerdings tiefblauen schönen Farbentöne des Eises. Ich mag jedoch in meinen Ausdrücken etwas zu weit gegangen sein, denn Bohren fing an, mich für ein Stück wissenschaftlich gefärbten Gletscherwütherichs zu halten, packte mich beim Kragen und schleppte meine unglückliche Person über eine Menge Stufen auf die Oberfläche des Gletschers, wo ich dieselben blauen Spalten wiederfand und bedeutet wurde, daß weiterhin noch unendlich schönere blaue Spalten zu finden seien. Meine Lust, diese Wunder der Natur zu betrachten, war durch die eisige Temperatur gewaltig herabgestimmt worden; ich lehnte die Expedition ab und entzog mich weislich Bohren's Händen, der eben Miene machte, mir wider meinen Willen den hohen Alpengenuß zu verschaffen. Der Eindruck des Gletschers war bei dem Schmuz, der seine Oberfläche und Seitenwände bedeckte, bei dem unsaubern Getrümmer vor seiner Mündung, nichts weniger als behaglich; das ferne, sich von Zeit zu Zeit wiederholende klägliche Aechzen, der rauhe Eishauch, der aus allen seinen unheimlichen Winkeln und Spalten wehte, das rasch seitabrieselnde Wasser seines Fundaments, das unaufhörliche Tropfen von den thauenden offenen Wänden, ließ das kalte Ungeheuer wie etwas abscheulich Lebendiges erscheinen, und in jedem Augenblick mußte man gewärtig sein, von unheimlichen Bewohnern dieser sich in die Tiefe so jäh und ungestüm hinabdrängenden Masse überfallen zu werden.

Der fernere Weg zur Hasli-Scheideck erheiterte das Gemüth; er bot dem Auge wieder einen jener göttlichen weiten 59 Prospecte, umbaut von ewigen Gebilden, deren Formen auf Schönheit Anspruch machen. Eine stundenbreite, von Schiefertrümmern und knappem Graswuchs bedeckte Berghalde erstreckt sich allmälig zur Höhe, links ferne gewaltige Kuppen, beliebt bei den berner Gemsjägern, rechts das Wetterhorn, eine graue zackige Felswand, die sich von hier aus noch etwa 7000 Fuß hoch bis in jene reine stille Höhe erhebt, welche der Mensch nur für wenige Stunden besuchen darf. Drei Lavinenzüge deuten durch reichliche Schneespuren an der Wand und in der Tiefe darauf hin, daß an diesem Fels nichts haftet als der Zahn des Mooses, und schwache Wasserspuren zerstäuben niederrieselnd in einen schnell verwehten Dunst. Wol drei Stunden reitet man diese jähe Wand entlang und kommt endlich zu einer Sennhütte, bei der vorbei der Blick neben dem Wetterhorn sich in die Tiefe der Hochgebirgswelt versenken kann. Der Bewohner dieser Hütte lebt vom Ertrage eines Echos, dessen poetischer Schönheit ich heute noch nicht gedenken darf, ohne auf das tiefste ergriffen zu werden. Der Ton des Alphorns trägt irgendeinen verminderten Septimenaccord in die Weite, und er kommt gleich darauf noch kräftig, aber geläutert zurück; doch jetzt wiederholt sich die Klangfigur, noch einmal antwortet eine zarte Stimme, und endlich erschallt, als die dritte Wiederholung des Lautes der Sterblichen, ein verklärter leiser Sang, wie ihn die Einbildungskraft eines Musikers aus den Vorhallen des Paradieses aufschweben lassen würde, ein thränenloser wunderbarer Hauch aus einem Hause, wo die Ungewißheit und irdische Verworrenheit des qualvollen Lebens längst gelöst ist, und aus den rauhen Stimmen der Sterblichen ein Etwas wird, wie zur Zeit der scheidenden Sonne aus dem still und hoch schwebenden Gewölk, ein Traum von Ueberirdischem, ein Trost für das schwache, menschliche Auge und Ohr. Mehrmals ließ ich, 60 versunken in diesen einzigen Genuß, den Bettler in längern Intervallen in sein Horn stoßen und mich von mehren Touristen auslachen, die gerade desselben Weges zogen.

Es mag von der Stelle des Echos bis zur Hasli-Scheideck noch eine gute halbe Stunde Weges sein, die wir nicht einsam zurücklegten. Bald nahm uns das Hotel, eine in tiefster Abgeschiedenheit auf schmalem Felsrücken stehende Breterhütte auf, und wir hatten Gelegenheit, den alten Ruhm des Locals in Bewirthungsangelegenheiten vollauf zu prüfen. Als wir eintraten, ging eben ein deutscher Herr in die Falle und wurde von den ehrlichen und bescheidenen Schweizern gehörig bedient. Er hatte im Vertrauen auf die an den Alpabhängen hüpfenden muntern Kälber bei den jungen Damen des Hauses eine Portion Kalbsbraten bestellt und als solche, für anderthalb Francs, einen krummen langen Knochen mit einer halbverbrannten Sehne daran erhalten. Nachdem er sich eine zeitlang vergeblich bemühte, diesen Stoffen eine eßbare Seite abzugewinnen, stöhnte er kläglich: »Aber mein Gott, das ist ja nicht zu essen!« Sogleich erhob die älteste Tochter die Stimme und antwortete mit der bekannten stehenden Schweizerphrase: »O, Sie können auch noch eine Portion bekommen.« Der Mensch wird hier selbst in den Dingen der Scham grausam und hart wie die Elemente. Da wir an diesem Actus der Gastfreiheit vollständig genug hatten, beschwichtigten wir unsere Wünsche und setzten den Wanderstab weiter. Das Terrain zeigt von hier an eine Mannichfaltigkeit der Erscheinungen, welche die Strecke von der Hasli-Scheideck bis Meyringen einer Ausstellung von höchst pittoresken Gebirgslandschaften vergleichbar machen. Bald ist es ein wahrer Urwald, in dem Wasser und Feuer des Himmels und der Erde, Sturm und Verwesung vergebens gegen die Macht der unermüdlichen Vegetation ankämpfen; bald sind es prachtvolle 61 Gletscher, wie der von Rosenlaui, welche das Auge durch die Reinheit ihrer Farben und den Schwung der Bildung in Erstaunen versetzen; bald eine idyllische Hirtenscene an einem sanftrieselnden Bergwasser, bald wieder eine Kette von mächtigen Wasserfällen, wie die des Reichenbach, der in drei großen Absätzen und in einer unzähligen Menge kleinerer Cascaden in das Thal von Meyringen hinabstürzt. An dem zweiten dieser Fälle ereilte uns ein Gewitter, das schon seit geraumer Zeit an den Felswänden sich zusammengerollt hatte, und nun wie ein Wolkenbruch sich auf uns niederstürzte, den Saumpfad in einen Gießbach verwandelte und das enge Thal durch den rollenden Donner wahrhaft erschütterte. Wir flohen so rasch, als es der elende und ungemein abschüssige Saumpfad erlaubte, bergab und kamen ohne einen Unglücksfall, wie ihn ein Engländer, der mit seinem Pferde stürzte, erlitt, glücklich an dem Ufer der im Unwetter tobenden Aar an, trabten über die Brücke und fanden endlich ein Unterkommen in dem Wilden Manne, dem renommirtesten Hotel des Thales, wo wir zunächst am Feuer unsere Garderobenstücke trocknen und die feuchten Notizen ordnen wollen, ehe wir unsern reizenden neuen Aufenthalt in Augenschein nehmen.


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