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Im Posthofe zu Basel herrschte eine ungemeine Reiseaufregung. Die prächtige mit Glas gedeckte Halle war mit fieberhaft hin- und hereilenden Touristen angefüllt, die so eilig nach Bern wollten, als ob ihnen dort ein geliebter Verwandter im Sterben läge. Mit Aufwand äußerster spartanischer Tapferkeit schlugen wir uns bis zum Postbureau durch und baten den Beamten um drei Plätze nach Bern. Malwine ließ sich unterdessen erschöpft auf dem Koffer nieder. Der Postbeamte, 10 ein wahres Symbol classischer Ruhe, thronte in dem Tumult hinter seinem Glasfenster, wie das ewig Bleibende im Wechsel. Er schlug das Protokoll über die ihm zur Beförderung anvertrauten Reisesünder nach und sagte gelassen in französischer Sprache: »Ich werde Sie wol nicht befördern können.« Wieder flehte Oskar in ehrlicher deutscher Mundart um Beförderung, und abermals erhielten wir eine abschlägige französische Antwort, obwol der kahlköpfige Fischmensch über seine Schulter weg fortwährend mit andern Beamten Deutsch sprach. Endlich flüsterte ihm ein junger Mensch etwas in das Ohr und er meinte zögernd: es wäre doch wol möglich, daß wir mitfahren könnten.
»Gott sei Dank!« rief Oskar, »hörst du Malwine, wir kommen noch in dieser Nacht nach Bern.«
Malwine's Reisegelüste schienen aber schon im Abnehmen begriffen zu sein, denn statt eines Freudenlautes ließ sie nur die seufzenden Worte hören: »Ich sterbe vor Hunger – wenn ich nicht etwas zu essen bekomme, bringt ihr mich nicht lebendig nach Bern.«
»Bleiben Sie bei den Sachen«, sagte ich zu Oskar, »ich werde mit Madame dort in die gegenüberliegende Restauration gehen und für sie sorgen.«
»Wie lange haben wir noch Zeit?« fragte Oskar den Beamten.
»Dix minutes, Monsieur«, antwortete der Helvetier, kaltblütig die Passagierkarte ausfüllend.
»Nur eine Suppe«, flehte Malwine.
»Kommen Sie«, rief ich diensteifrig, »Sie sollen eine Suppe haben – für das Uebrige lassen Sie mich sorgen.«
Wir eilten in die Restauration und erhielten sofort einen Fayencekübel mit einer Quantität Flüssigkeit, hinreichend zu einem Sitzbade. Kaum hatte meine mir anvertraute Schöne 11 aber den Löffel zum Munde geführt, als sie ihn schon geräuschvoll fallen ließ und jammerte: »Mein Gott – das kann ich nicht essen – so etwas ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen.« Mit einigem Mistrauen gegen das Urtheil der verwöhnten Tochter Berlins nahm ich den Löffel und kostete das heiße Fluidum mit kritischer Bedächtigkeit; aber Malwine hatte Recht: es war nicht zu essen. Die Suppe bestand in einem dünnen Kleister, angefettet durch ein Talglicht, das der College Soyer's mehrmals in die Terrine getaucht zu haben schien. Ich legte gleichfalls den Löffel nieder und schüttelte den Kopf. Aber dieser Auftritt hatte schon die Aufmerksamkeit einiger ältern Einwohner von Basel erregt, welche in der von uns verschmähten Suppe schwelgten. Sie steckten murrend die Köpfe zusammen und flüsterten, uns mit düstern Blicken betrachtend. Die einfachen Republikaner mochten fürchten, daß durch den aristokratischen Geschmack verworfener Fürstenknechte die schlichte Gesittung der Küche des Cantons Basel verdorben werden könne. Mir schwebte eine Kritik der Suppe gegen den Wirth auf der Zunge, allein ich unterließ sie mit Rücksicht auf die Misvergnügten am andern Tische und bezahlte schweigend. Ich erinnerte mich, vor einem Jahre den gleichen Betrag für eine Suppe Colbert à la royale beim Restaurant neben der Passage Jouffroy in Paris ausgegeben zu haben. Da stürzte Oskar hinein. »Beeilt euch, wenn ihr mitkommen wollt!«
»Da nehmen Sie Ihre Frau«, sagte ich entschlossen, »ich sorge unter jeder Bedingung für etwas Eßbares zu Nacht – Wurst und Brot wird doch noch zu haben sein, zwei Häuser weiter sah ich vorher einen hiesigen Niquet.«
Oskar führte sein schmachtendes Weib vondannen, ich aber eilte spornstreichs in das Wurstgeschäft und foderte etwas Wohlschmeckendes, möglichst das Beste in diesem Fache. Mit 12 herablassendem Lächeln nahm der Gebieter des Locals, ein Mann, beleibt wie Brutus, ein paar gebräunte Preßwürste vom Gesims herab und reichte sie mir mit dem Bedeuten, daß ich in meiner Heimat wol noch niemals einen ähnlichen Leckerbissen kennengelernt habe. Auf meine Bitte schnitt er für 25 Centimen einen Klumpen von einem groben feuchten Brote ab und entließ mich mit liebenswürdigem Kopfnicken. Ich eilte nach der Post zurück und fand die Unglückliche auf einer steinernen Stufe sitzend.
»Hier, meine Gnädige«, sagte ich selbstzufriedener wie der Taucher in der Ballade, »hier ist Wurst – hier ist Brot!«
»Kein Messer?« fragte Malwine schwermüthig lächelnd. Daran hatte ich nicht gedacht: der Ankauf eines Messers war von mir vergessen worden. Plötzlich fiel mir zur rechten Zeit ein, daß ich als wichtiges Instrument auf Fußreisen in Berggegenden ein kleines englisches Hühneraugenmesser in der Tasche trug. Um der schönen Frau nicht den Appetit zu verleiden, machte ich eine halbe Volte und schnitt kunstgerecht mehre Scheiben ab. Zugleich füge ich jedoch für empfindliche Leser weislich hinzu, daß jenes kleine Messer noch nicht durch Operationen entweiht worden war. Leider war aber auch diese Erwerbung für die Küche nicht glücklich gewesen. Malwine ließ die mit Wurst gefüllte zierliche Rechte sinken und sagte in höchster sittlicher Entrüstung: »Nein – diese Ferkel!« Mich überlief es kalt. Schweigend biß ich in die Wurst und nahm sofort wahr, wie wohlbegründet der Weheruf der Unglücklichen gewesen war. Niguet würde sein berühmtes unterirdisches Geschäft auf immer für entehrt halten, wenn ein solches phantastisches Wurstgebilde durch den bösen Willen eines Neiders in seinem Local auftauchte. Ich nahm Malwinen so ruhig, als meiner Aufregung möglich war, die misrathene Speise aus der Hand und bemerkte tröstend: »Zürnen Sie mir nicht, 13 die Schuld trifft mich ganz allein, ich hätte mich erinnern sollen, daß wir uns nicht in der Heimat des Hoflieferanten des Herzogs von Braunschweig befinden. Eine kunstgerechte Anfertigung von schmackhaften Würsten ist nur in sorgfältig überwachten monarchischen Staaten möglich. In keinem Lande der Erde gibt es eine solche Mannichfaltigkeit von Würsten als in Deutschland, aber die Republikaner haben in diesem Fache nie Glück gehabt. Das Beispiel Nordamerikas wird uns die nöthigen Beweismittel liefern. Vor einigen Jahren erschien in einer Zeitung zu Neuorleans ein äußerst polemischer Artikel gegen die an den Ufern des Mississippi zum Verkauf angebotenen Würste. Der Verfasser jenes Artikels sprach namentlich von zwei Sorten und hob hervor, daß die eine derselben, welche mit kleingeschnittenen rohen Kartoffeln gefüllt sei, zwar nicht allen an eine regelrechte Wurst zu stellenden Bedingungen entspräche, allein doch an den Begriff der Eßbarkeit erinnere; die andere aber, deren Füllung nur in Löschpapier und kleingehackten rothen Tuchlappen oder Abfällen von englischen Uniformen bestehe, unmöglich dem Geschlecht der Würste beigerechnet werden könne, und die kaufmännische Rechtlichkeit ihrer Verfertiger etwas verdächtige –«
Malwine hörte nicht auf dieses motivirte Gutachten, sie ließ den Schleier herab und hüllte sich in den Plaid. In meiner Verlegenheit eilte ich zu Oskar. Er stand neben dem Beiwagen und blickte sprachlos auf das Verdeck desselben, wo mehre Packknechte sich vergebens bemühten, den Koffer des Ehepaars unterzubringen. So gewaltsam sie ihn auch auf den engsten Raum zusammenzuquetschen suchten, er leistete einen heroischen Widerstand. Man mußte ihn wieder aus einer Höhe von 12 Fuß auf das Pflaster werfen. Der Fischmensch von einem Postbeamten trat jetzt an uns heran und sagte: »Ueberzeugen Sie sich, meine Herren, daß ich Ihr Gepäck 14 nicht befördern kann. Fahren Sie getrost – es wird Ihnen morgen früh nachgeschickt und Sie erhalten es Nachmittags in Bern.« Der Posthelvetier übertrieb nicht, die Verdecke der beiden Wagen glichen wirklich mehr einer Anhäufung von kofferartigen Gebirgsmassen, die in jedem Augenblick einzustürzen drohen, als Flächen, unter denen Menschen ohne Todesangst vor Durchbruch verweilen können. Jetzt galt es, der holden Malwine die Hiobspost beizubringen.
»Liebes Kind«, flötete Oskar in seinem verlockendsten Assessorregister, »man will uns mitnehmen, aber das Gepäck soll . . . .«
»Was soll das Gepäck?« rief Malwine, aller Weiblichkeit uneingedenk und auffahrend wie eine Löwin, der man ihre Jungen entreißen will.
»Bis morgen früh hierbleiben«, murmelte der arme Gatte.
»Nun und nimmermehr – ich trenne mich nicht von dem Gepäck!«
»Wenn du aber mitfahren willst?«
»Nein – nein – nein!«
»Lieber Freund, vielleicht erweisen Sie uns den Liebesdienst«, sagte der kleinlaute Oskar, »heute Nacht hier in Basel zu bleiben und morgen früh mit dem Gepäck nachzukommen, Sie sehen ja, meine Frau . . . .«
»Ach ja, ja!« bat Malwine, plötzlich ganz in ein liebenswürdiges Pianissimo umschlagend, »ja, Sie thun mir den Gefallen. Wenn Sie bei dem Gepäck bleiben, bin ich ganz ruhig, Sie sind weit kaltblütiger und überlegter als der böse Mensch, der Oskar, hörst du wol – du sollst dir ein Beispiel an dem Herrn nehmen.«
Was sollte ich thun? Eine Weigerung wäre sehr unartig gewesen, fast so unartig als die eben mir zugemuthete Packknechtsmission. Schon wurden die Passagiere zum Einsteigen 15 verlesen, der Hauptwagen fuhr bereits ab; ich gab meine Einwilligung und half Malwinen in den Beiwagen.
»Geben Sie nur auf die Schachtel mit dem Hütchen wohl Acht – sie ist etwas lose zugebunden, und lassen Sie die Tasche mit dem Papagai ja nicht fortkommen, sie ist ein Andenken von Mama für Oskar!«
Das Ehepaar drückte mir zärtlich die Hände und der Postillon fuhr im scharfen Trabe vondannen, daß der Erdboden von der fortrollenden viele Centner schweren Masse erbebte. Der Posthof war bis auf mich und die zu mir gehörigen Vorberge von Gepäckstücken leer; ich gab diese in Pension, ließ mein Passagierbillet auf den folgenden Tag umschreiben und pilgerte ein wenig durch die gute Stadt Basel.
Von anständig gekleideten Menschen genossen nur wenige die Kühle der milden sternhellen Nacht, dafür wimmelten die Straßen von einer Legion junger Leute in Jacken und Mützen, die zum Theil mit Frauenzimmern lustwandelten und einer Gattung republikanischer Lazzaroni anzugehören schienen. Da sich in der Schweiz die meisten Beziehungen an Reisende und Gepäckstücke knüpfen, sah meine erhitzte Phantasie in jenen Burschen lauter eifrige »Träger«, und ich beeilte mich, aus dem beängstigenden Gewühl ins Freie auf die Rheinbrücke zu kommen. Die hohe Südseite von Basel baute sich im Dunkel stolz mit Hunderten von hellen Fenstern am Rhein auf, im Hôtel Zu den drei Königen, dem unvermeidlichen Absteigequartier aller Engländer und Handlungsreisenden, herrschte ein wildes Gewühl von Gästen, Cotelettes und Schoppen mit Weinessig, auf der Brücke tummelte sich Alles, was nach Luft schnappte – unten flog der Rhein, schäumend vor Zorn, seine Alpenheimat verlassen zu müssen, in das Flachland hinaus. Die zahlreichen Lichtflammen schienen sein klares Wasser bis auf den Felsgrund zu erleuchten, und imaginäre Schätze 16 blickten aus der Tiefe des edelsten Stroms von Europa empor. Ich konnte mich an dieser drangvollen Flut kaum satt sehen; als mich aber einige von den Fremden lebende Republikaner umringten, wahrscheinlich wol in der Absicht mich zu retten, wenn ich mich etwa über das Geländer stürzen würde, zog ich es vor, mich gleichfalls unter den Schutz der drei Könige zu begeben und meine müden Gebeine durch ein sehr wenig königliches Souper für die Anstrengungen des folgenden Tages zu stärken.