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buchschmuck

At-Dawan

– Na ich danke, ist das ein Weg! – sagte mein Reisebegleiter Michail Iwanowitsch Kopylenkow. – Er ist so gemein, dass man sich einen gemeineren nicht vorstellen kann ... Sage ich die Wahrheit oder nicht?

Leider sprach Michail Iwanowitsch die reinste Wahrheit. Wir fuhren die Lena hinab. Soweit man sehen konnte, ragten zu beiden Seiten in verschiedenen Richtungen ungeheure Eisschollen empor, die der reissend schnelle Strom während des Herbstes im Kampfe mit dem schrecklichen sibirischen Froste aufeinander getürmt hatte. Schliesslich hatte er den Sieg davongetragen. Der Fluss war erstarrt und nur die riesenhaften Eisschollen, ein ganzes Chaos, das in Unordnung aufeinander getürmt, unten zerdrückt oder auf eine unbegreifliche Weise hinabgeschleudert, war als stiller Zeuge des titanischen Kampfes geblieben. Hie und da gähnten nie zufrierende Öffnungen, durch die der schnelle Strom brodelnd hervorkam. Darüber schwebten schwere kalte Dampfwolken, als ob dort thatsächlich Wasser siedete.

Zu beiden Seiten standen über diesem wundervollen Eisfelde die schweigsamen grossen Berge der Lena. Armselige Lärchen krallen sich, die Wurzeln weit ausbreitend, an den Bergabhängen fest, aber der Stein lässt sie nicht gedeihen und die Abhänge sind dicht mit Holzkadavern besäet. Näherkommend erkennt man sie deutlich, diese vom Schnee verschütteten Leichen der Bäume mit ihren herausgerissenen krampfhaft verbogenen Wurzeln. Weiterhin verschwinden diese Einzelheiten und am Berggipfel scheint der Abhang mit Reisig, wie mit einem dichten Netz bedeckt. Die hingestürzten Bäume sehen aus wie unzählige Nadeln, wie Fichtennadeln in einem Forste. Zwischen ihnen aber ragen noch lebendige, kerzengerade, dünne und klägliche Lärchen empor, die ihr Glück auf den Leichen der Vorfahren versuchen. Nur auf einem glatten, wie abgeschnittenen Gipfel wird der Wald mit einem Mal dichter und zieht sich in langem dunklen Trauersaum über den weissen Uferabhang dahin, und so geht es Dutzende, Hunderte von Werst! ... Schon eine ganze Woche schlüpft unsere Schlittenkutsche wie ein kläglicher Punkt zwischen den Eisschollen hindurch und schwankt wie ein kleines Boot auf stürmischer See ... Eine ganze Woche schon schaue ich auf den bleichen Himmelsstreifen zwischen den hohen Ufern, auf die weissen Bergabhänge mit dem Trauersaum, auf Schluchten, die geheimnisvoll irgend woher aus den tungusischen Wüsten zu der freien Fläche des grossen Flusses hervorkommen, auf die kalten Nebel, die endlos dahinziehen, sich zusammenrollen und ausbreiten, sich in die von Felsen eingepressten Biegungen drängen und lautlos in den Rachen der Schluchten verschwinden, gleich einer gespensterhaften Armee, die sich in Winterquartiere verzieht. Die Stille drückt die Seele. Nur ab und zu klingt es auf dem Fluss wie schweres Stöhnen, – das berstende Eis zischt auf wie eine fliegende Kanonenkugel, schallt im Echo, wie ein Kanonenschuss, eilt von dannen, weit zurück in die von uns verlassenen öden Krümmungen der Lena, hallt noch lange wieder und stirbt schliesslich, die Phantasie mit sonderbarem plötzlich in der Ferne auftauchendem Stöhnen erschreckend ...

Ich war traurig gestimmt. Mein Reisebegleiter quälte sich und war aufgeregt. Unsere Schlittenkutsche wurde oft von einer Seite auf die andere geschleudert und mehr als einmal wurde sie völlig umgeworfen. Dabei fielen wir immer zum grossen Ärger des Michail Iwanowitsch nach seiner Seite um. Das war nur natürlich, bereitete ihm aber grosses Missvergnügen. Wenn es anders gewesen wäre, würde mich eine ernste Gefahr bedroht haben, um so mehr, als er seinerseits bei diesen Anlässen nicht das Geringste that. Er krächzte bloss und wandte sich an den Kutscher:

– Hebe mich auf!

Der Kutscher, so schwer es ihm auch wird, thut es und wir fahren weiter.

Mir scheint es, als ob schon ein Monat verflossen sei, seit ich aus Jakutsk fort bin und doch sind wir erst sechs Tage unterwegs und fast noch eine ganze Lebensreise von dem nächsten Ziel unserer Fahrt Irkutsk entfernt; bis dorthin sind es mehr als zweitausend Werst. Wir fahren langsam; zuerst hielten uns furchtbare Schneegestöber, jetzt aber Michail Iwanowitsch auf. Die Tage sind kurz, die Nächte hell. Oft blickt der volle Mond durch den Frostdunst und die Pferde können den auf dem Eise eingefahrenen schmalen Weg nicht verfehlen. – Wenn wir zwei oder drei Stationen gefahren sind – da beginnt mein Reisebegleiter, ein beleibter und verweichlichter Kaufmann, sich völlig vor dem Kamin oder dem eisernen Ofen zu entkleiden. Ungeniert entledigt er sich aller überflüssigen und sogar aller sehr notwendigen Kleidung.

– Was fällt Ihnen ein, Michail Iwanitsch! – versuche ich in solchen Fällen zu protestieren. – Eine Station könnten wir noch weiter ...

– Warum sollen wir uns beeilen! – antwortet Michail Iwanowitsch. – Spülen wir den Magen mit Thee und legen uns dann besser nieder.

Essen, sich mit Thee »spülen« und schlafen – dies alles konnte Iwanowitsch in wahrhaft erstaunendem Umfange und er that er gewissenhaft mit voller Hingebung und fast mit Andacht.

Jedoch hatte er ausserdem noch andere Gedanken dabei.

– Hier sind die Menschen auf einen Kopeken unglaublich versessen, mein Lieber, sagte er geheimnisvoll. – Ein schreckliches Volk, das Gold hat sie verwöhnt.

– Na, das Gold liegt noch weit und man merkt nichts davon bei den hiesigen Bewohnern.

– Wenn man uns beraubt, dann wirst du es merken, aber zu spät ... Komischer Kerl! – fügte er ärgerlich hinzu, – weisst du denn nicht, in was für einer Gegend wir sind? Hier ist nicht Russland! Hier sind nur Berge, Schluchten, Eislöcher und Wüste ... Eine verfluchte Gegend! ...

Die Landschaft flösste Michail Iwanowitsch nichts ein als aufrichtigen Abscheu und Widerwillen. Die düstere Natur und die Menschen, ja selbst die stummen Tiere, das alles unterzog er einer scharfen Kritik. Er dachte nur daran: wenn es glückt, kann man hier schnell und viel Geld erwerben (»eines Tages wird man ein Mensch«). Aus diesem Grunde lebte er hier schon einige Jahre, lugte scharf nach einem glücklichen Zufall aus und strebte unausgesetzt seinem bestimmten Ziel zu, um dann in die Heimat irgendwo bei Tomsk zurückzukehren. In dieser Hinsicht erinnerte er an einen Menschen, von dem man für eine bestimmte Belohnung verlangt hatte, bei starkem Frost ein Stück Weges nackt zu laufen. Michail Iwanowitsch war darauf eingegangen und jetzt lief er, ächzend und sich krümmend, seinem Ziel zu. Wenn er nur hinkommt, wenn er nur was erwischt, dann kann diese verfluchte Gegend in den Boden versinken, – Michail Iwanowitsch wird es nicht bedauern. Augenblicklich hatte er sich, wie ihm schien, dem gesteckten Ziel bedeutend genähert und gerade aus diesem Grunde war er vielleicht so furchtbar aufgeregt: wenn dir jetzt jemand das Erwischte entreisst? ... dachte er, Michail Iwanowitsch, über den ich viele Geschichten gehört hatte, die seinen Unternehmungsgeist, der sich seit dem Anfang seiner hiesigen Karriere bis zur Frechheit gesteigert hatte, im besten Lichte zeigten. – Michail Iwanowitsch war jetzt feige wie ein Weib und ich war unwillkürlich gezwungen, mit ihm die langweiligsten Abende und lange Nächte auf menschenleeren Stationen der düsteren und öden Lena zu verbringen.

An einem dieser Frostabende wurde ich durch einen erschreckten Ausruf Michail Iwanowitschs geweckt. Wir waren beide in der Schlittenkutsche eingeschlafen und erwachend befanden wir uns auf dem Eise unterhalb des steinigen Ufers in einer vollständig menschenleeren Gegend. Das Glöckchen am Gespann hörte man nicht, der Schlitten stand still, die Pferde waren ausgespannt, der Kutscher verschwunden und Michail Iwanowitsch rieb erschrocken und verwundert seine Augen.

Unsere Unklarheit wurde jedoch bald gehoben. Das glatte steinige Ufer verlief wie eine Wand in das Weite und glitzerte unter den Strahlen des Mondes. Unweit von uns verschwand ein Fusspfad in den Felsklüften und gerade über unseren Köpfen hing das hohe Kreuz eines Jakutengrabes. Obwohl ein Grab am Ufer und sogar an einem ganz öden Ufer in diesem Lande keine Seltenheit ist, da der Jakute seine Toten unbedingt auf einer Anhöhe, am Wasser, wo es weite freie Flächen giebt, zur ewigen Ruhe zu betten sucht, – erkannte ich die Station At-Dawan, die mir schon von meiner ersten Reise her bekannt war. Der rote Schiefer, wunderlich geschichtet, an unbekannte Schrift erinnernd, der glatte, wie künstlich aufgebaute Felsen, klägliche Lärchen, das Jakutengrab mit dem Kreuz und Balkengebinde, schliesslich der lange weisse Rauchschleier, der still vom Ufer her über den Fluss schwebte, – dies alles tauchte plötzlich in der Erinnerung vor mir auf. Hier giebt es keine Auffahrt, das Ufer ist eine steilabfallende Wand und daher lässt man im Winter den Schlitten auf dem Fluss zurück und führt die Pferde dorthin. Michail Iwanowitsch beruhigte sich auch bald um so mehr, da auf dem schmalen Pfade Laternen schimmerten.

Nach einer Minute waren wir oben auf der Station. Das enge Stationszimmer war geheizt; von dem kleinen glühenden eisernen Ofen strömte eine trockne Hitze aus. Zwei Talglichter, die von der Wärme tropften, beleuchteten die anspruchsvolle Ausstattung des halbjakutschen Gebäudes, das in eine Station verwandelt war. Generäle und preisgekrönte Schönheiten wechselten an den Wänden mit Bekanntmachungen der Postverwaltung und Gewerbescheinen in schwarzen, von den Fliegen stark mitgenommenen Rahmen. Es war klar, auf der Station wurde jemand erwartet und wir hatten keinen Grund, uns alle diese Vorbereitungen zuzuschreiben.

– Das trifft sich ja ausgezeichnet, mein Lieber! – sagte fröhlich Michail Iwanowitsch und machte sich über die Säcke mit allerhand Esswaren für die Reise her. Das ist eine angenehme Wärme! Hier bleiben wir über Nacht. Heda ... ist jemand da ... Schreiber? Gieb uns einen Samowar und heisses Wasser für die Pirogen ...

– Nein, Michail Iwanowitsch, – machte ich den Versuch, – es ist zu früh. Wir fahren bis N. und bleiben dort die Nacht.

– Es sind keine Pferde da, mein Herr, – ertönte hinter mir eine zitternde, süssliche und wie es schien zaghafte Stimme. Ich blickte mich um. Ein kleiner runder Mann von unbestimmtem Alter, ziemlich originell angezogen, trat ins Zimmer. Der kurze Rock, die karrierten Beinkleider, die Piquéweste, das Hemd mit Manschetten und von alter Faltenform, die bunte Kravatte mit goldenen Fliegen auf grünem Grund – dies alles ein wenig verblichen, verknüllt, anscheinend gelegentlich angezogen, erinnerte einen an längst vergangene Zeiten. Die Füsse des Eintretenden waren mit schweren Filzstiefeln bedeckt, in denen sich die zu kurz geratene deutsche Kleidung sehr komisch ausnahm. Übrigens war sich der kleine Mann dieses Kontrastes offenbar nicht bewusst und ging geckenhaft mit kleinen trippelnden Schritten.

Das Gesicht des Unbekannten, wie sein ganzes Aussehen war eigentümlich vergilbt, als ob es ein wenig mitgenommen oder abgelagert und jetzt bei passender Gelegenheit geglättet und gereinigt wäre. Die grauen Augen, sein Lächeln, der Ton der Stimme verrieten eine gewisse Bildung. Der kleine Mann schien zeigen zu wollen, dass er bessere Tage gesehen habe, die Umgangsformen kenne und unter anderen Umständen mit uns auf gleichem Fusse stehen würde. Dabei krümmte er sich jedoch und war befangen, als ob man ihn oft angefahren habe und er nun unsererseits dasselbe befürchtete.

– Wieso haben Sie keine Pferde? – fragte ich, nachdem ich einen Blick in das anscheinend kurz vorher auf einen möglichst sichtbaren Platz gelegte Buch geworfen hatte. – Zwei Troikas müssen auf der Station sein.

– So ist es, – antwortete er demütig, – sie müssen hier sein. Aber eigentlich ... wie soll ich es Ihnen erklären, mein Herr ...

Er wurde verwirrt.

– Haben Sie Mitleid mit mir, meine Herren Reisenden, verlangen Sie keine Pferde, – sagte er plötzlich mit einer ungemein kläglichen und bedrückt bittenden Stimme.

– Aber warum denn nicht? – fragte ich erstaunt.

– Ach, Sie sind aber auch ... – mischte sich unzufrieden Michail Iwanowitsch hinein, der es schon fertig gebracht hatte, sogar die Beinkleider auszuziehen.

– Warum und warum? Na, wozu eilen Sie denn? Schreien etwa Ihre Kinder? ... Du hörst doch, Bruder; der Mensch bittet kläglich – also hat er doch einen Grund!

– So ist es auch, – sagte der Unbekannte erfreut und wandte sich zu Kopylenkow mit einem teilnahmsvollen Lächeln, indem er an den Schössen seines Rockes zupfte, – so ist es auch, wie Sie geruhten zu bemerken, würde ich denn ohne Grund die Herren aufhalten? Niemals!

Das letzte Wort sprach er sogar voll Stolz, reckte sich dabei und zupfte seinen Rock zurecht.

– Nun gut, – sagte ich, und ergab mich um so bereitwilliger, da ich die Unmöglichkeit einsah, meinen rasch entkleideten Begleiter aus diesem warmen Zimmer in die starke Abendkälte hinauszuziehen. – Sagen Sie mir wenigstens Ihren Grund, wenn es kein Geheimnis ist ...

Ein verbindliches Lächeln erhellte das ganze Gesicht des kleinen Mannes. Er sah, dass die Sache erledigt war und hatte die Absicht, mir mit scheinbarer Ergebenheit zu antworten, aber plötzlich spitzte er die Ohren. Von draussen her in das Knistern des eisernen Ofens hinein klang Läuten.

Die Thüre öffnete sich, der Starost, ein Halbjakute dem Äusseren nach, trat vorsichtig ins Zimmer, schloss sorgfältig die Thüre und sagte:

– Die Post ist angekommen, Wassili Spiridonytsch ...

– So, die Post! – beruhigte sich der Alte. – Na, geh und besorge flink alles ... Ich komme sofort, entschuldigen Sie mich, meine Herren ...

Er ging hinaus. Die Station geriet in Bewegung. Thüren schlugen, Stufen knarrten, die Kutscher schleppten die Ledersäcke und Taschen, das unruhige Geläute der Troikas, die abgeführt und neu angespannt wurden, drang jedesmal beim Öffnen der Thüre herein; die Kutscher schrieen einander jakutisch an und schimpften in echt russischem Dialekt, wodurch sie ihre Abstammung bewiesen.

Nach einigen Minuten kam ein Mann ins Zimmer hereingelaufen, von kleinem Wuchse, in einem stark abgetragenen Uniformmantel, in einer Pelzmütze mit Ohrklappen und mit einem Shawl umwickelt. Er kam so eilig hinein, als ob ihn jemand verfolge und wandte sich sofort zu dem eisernen Ofen.

Nachdem er den Mantel abgeworfen hatte, stand er in einem dünnen Pelzchen aus Kaninchenfell da, welches einem langen Frauenjacket stark glich; als er aber den Pelz abgenommen hatte, erschien er in einem alten, unter den Achseln zerrissenen Uniformrock der Postverwaltung. Thatsächlich war es der Postbeamte, der so eilig vor dem Froste floh, welcher ihn anscheinend auf dem langen Wege fast überwältigt hatte. Der arme junge Mann riss die erstarrten Kleider von sich ab, als ob in ihnen ein ganzer Bienenschwarm sässe und ohne die Pelzmütze und den Shawl abzunehmen, zog er schnell die Filzstiefel von den Füssen und stellte sie mit den Sohlen gegen den Ofen. Die Entledigung des Shawls und der Pelzmütze nahm mehr Zeit in Anspruch.

Die Jakuten und Burjaten tragen weder Schnurrbart noch Vollbärte. Das ist schon zu einer ästhetischen Gewohnheit geworden, die sich jedoch aus rein klimatischen Verhältnissen erklärt. Der arme Postbeamte aber schien grossen Wert auf diese Attribute zu legen und jetzt war das dünne Vollbärtchen und sein Schnurrbart, mit denen er vielleicht irgendwo in Kirensk die zugereiste heiratsfähige Tochter eines wohlhabenden Ansiedlers fesselte, – in einen kleinen Eiszapfen verwandelt, der seinen Kopf mit der Pelzmütze und dem Shawl eng verband. Es gehörte nicht wenig Zeit dazu, bis schliesslich der Vertreter der Postverwaltung, der den Kopf fast in das Feuer streckte und das Eis mit halberstarrten Fingern zerkleinerte, in seinem wahren Zustande vor uns erschien; ein junges, aber ziemlich verschwommenes Gesicht, unstäte und trübe Augen, eine furchtsame Beweglichkeit in der ganzen Gestalt, ein kurzer und enger Uniformrock, der an den Nähten geplatzt war und Strümpfe aus Hasenfell an den Füssen.

– He! – schüttelte er sich. – Es ist sehr kalt, ein starker Frost ... Gestatten Sie ein Gläschen, meine Herren!

– Trink nur zu, – antwortete Kopylenkow gutmütig.

– Du bist ein armer Kerl.

Die Augen des jungen Mannes blinzelten wieder erschreckt. Die warme Teilnahme des Kaufmanns erinnerte ihn nur deutlicher an die Kälte des Weges und das ausgetrunkene Gläschen flog wie ein kleines Eisstück hinab. Infolgedessen schenkte er sich noch ein Gläschen ein und liess es dem ersten nachfolgen. Dann erst verschwand der erschreckte Ausdruck vom Gesichte des armen Kerls.

– Das ist wahr, – sagte er. – Es ist ein Hundeleben ... Und ein Frost ist draussen, rein zum Umkommen ...

– Deine Kleidung ist auch sehr mangelhaft! Nicht geeignet für diese Gegend.

– Die Kleidung, das hat nichts zu bedeuten. Und übrigens ... mit acht Rubel kann man keine grossen Sprünge machen ...

Einmal in der Woche durchläuft die Post diesen riesenlangen Weg. Im Winter dauert die Reise 19 Tage, im Sommer selbstverständlich länger. Im Herbst und Frühling, wenn die Lena nicht zugefroren ist, oder wenn der Eisgang den Verkehr hindert, transportiert man die Post in Quersäcken zu Pferde. Eine ganze Karawane beladener Pferde zieht sich zwischen dem Flusse und dem Felsengebirge hin, bald biegt sie um irgend einen hervorstehenden Felsen, dass den Pferden das Wasser bis zum Bauche reicht, bald klettert sie die steinigen Pfade hinauf, bald taucht sie auf den Höhen fast unter den Wolken auf. Man kann sich schwer eine Beschäftigung vorstellen, die mehr Ausdauer, Geistesgegenwart, Geduld und Gesundheit verlangt ... Dreitausend Werst! ... Die Kutscher haben es auch schwer, aber sie sind längst nach Hause gewandert und ruhen sich aus in Erwartung eines seltenen Reisenden oder sogar bis zur nächsten Post. Der Postbeamte aber wird im Sattel gerüttelt oder von stürmischen Wellen des Riesenflusses hin- und hergeschleudert oder friert zwischen den Ledersäcken, im Schlitten eingepfercht. Und dies alles bei dem gewöhnlichen Gehalt eines Postbeamten ...

Es ist wahr, der Postbeamte findet noch Nebenverdienste. In Irkutsk versorgt er sich mit einem Fässchen billigen Branntweins, den er auf den Stationen den Schreibern und den Kutschern verkauft; er kauft neu herausgegebene Kalender und nimmt in Kommission einen Packen ordinärer Holzschnitte mit. Alle Kunsterzeugnisse, die die Wände der Stationen in Hülle und Fülle zieren, haben ihren Ursprung in diesen weitentlegenen Gegenden ihm zu verdanken. Er vervollkommnet die ästhetischen Ansichten der Halbjakuten, indem er an den Wänden die Porträts von irgend welchen prämiierten Schönheiten anbringt, er trägt auch zu der Popularität von Generälen bei, er entthront alte Helden und ersetzt sie durch die allerneuesten ... Jedoch diese nützliche Thätigkeit erleichtert das Schicksal des armen Postbeamten wenig, und wenn er in seiner schlechten Kleidung bei ungewöhnlichem Froste am Leben bleibt, so schreibt er dies hauptsächlich und sogar ausschliesslich dem Branntwein zu, den er auf jeder Station in immensen Quantitäten trinkt ohne jegliche sichtbaren Folgen, um so mehr, da der Branntwein ihm billig zu stehen kommt und ihm sogar eine gewisse, – unter diesen Umständen wahrlich eine unschuldige – Einnahme einträgt ...

Durch ihn hauptsächlich erfährt dieser dreitausend Werst lange Weg mit seinen Posthaltern, fast den einzigen Bewohnern, die Neuigkeiten, die sich in der weiten Welt abspielen. Solch ein Kämpe der Postverwaltung stand jetzt am eisernen Ofen mit vor Kälte eingebogenen Beinen, hatte die Hände zum Feuer ausgestreckt und warf gierige Blicke auf unsere Flaschen.

– Ah, Sie haben da Cognac ... Cognac möchte ich auch trinken, – sagte er plötzlich mit einer zaghaften Familiarität, kam zum Tisch, schenkte sich ein Glas ein, stürzte es hinunter und lief wieder zum Feuer, immer mit dem Aussehen eines Menschen, der durch den inneren Frost erschreckt ist.

– Höre mal, Schwager, trinken wir Thee – bot ihm Kopylenkow an.

Es ist mir unmöglich, geehrte Herren, – ich habe Eile. Höre mal, Freund, – wandte er sich freundschaftlich zu dem eintretenden Schreiber, – sieh dich vor. Er kommt ja ...

Der Alte seufzte.

– Alles steht in Gottes Hand! Wir erwarten ihn längst – wenn es nur schon vorbei wäre; – Jetzt kommt er bald. Wenn ich nur früher fortkomme und nicht unter seine Hände gerate! Ja, wie kann ich entkommen, – er holt mich ein! Gut wäre es, wenn irgendwo auf dem Wege ...

– Was kann dir geschehen?

– Es ist doch besser, nicht da zu sein. Höre mal, Alter, er hat doch von den Klagen erfahren ...

– Nun?

– Ja – ja ... Man erzählt sich, er ist wütend wie ein Satan geworden!

– Der Herr wird uns hoffentlich gnädig sein. Wir haben nicht geklagt ...

– Von wem sprecht ihr da? – fragte Kopylenkow.

– Von Arabin, dem Kurier ... Er kehrt jetzt aus Werchojansk zurück.

– So, so! Darum hattest du auch keine Pferde. Jetzt habe ich begriffen! Wir hätten plötzlich die letzten Pferde genommen ...

– Vollständig richtig ... Stellen Sie sich selbst vor: er kommt hier an und ich teile ihm plötzlich mit: es sind keine Pferde da! Was geschieht dann ... Er muss hier übernachten ...

Kopylenkow lachte laut auf.

– Na, er würde dich über Nacht samt deinem Jackett aufessen.

Der Postbeamte lachte auch kurz auf, wobei er den Kopf zurückwarf. Der alte Mann gab sich Mühe zu lächeln, aber mehr aus Höflichkeit. Seine Augen waren nachdenklich.

– Gott weiss, Gott weiss ... Voriges Mal hat mich die himmlische Königin bewahrt! »Gemeines Vieh« hat er mich aber doch genannt!

– Er hat dich also beehrt?

– Ja. Das ist aber nichts ... Gewiss, in früheren Zeiten, wo ich im Range eines Collegiensekretärs war, konnte ich mich gekränkt fühlen ... Na, jetzt aber, in meiner geringen Stellung, muss ich alles dulden ... Sie haben geruht einen Samowar zu bestellen? – besann er sich plötzlich. – Ach, mein Gott, was ist mir nur ... Gleich wird er fertig sein, – wir haben zwei Samoware. Wenn er kommen sollte, können wir ihm den andern aufstellen ... Sofort ...

Nach einigen Minuten brachte eine nicht alte und ziemlich hübsche Frau, bei deren Eintreten der Postbeamte wieder den Kopf zurückwarf und hastig auflachte, der Schreiber aber besonders ernst wurde, – einen kleinen Samowar herein und stellte das Theegeschirr auf. Wir luden den alten Mann und den Postbeamten ein. Der letztere lehnte ab und eben so schnell, wie er früher die Sachen abgeworfen hatte, zog er seine noch nicht trocknen Kleidungsstücke wieder an. Der Schreiber suchte auch aus Höflichkeit abzulehnen, aber einer zweiten Aufforderung folgte er offenbar geschmeichelt.

– Mit grösstem Vergnügen bin ich in Ihrer Gesellschaft, – sagte er, und nachdem er sein Jackett ganz zugeknöpft und die Hand auf die Stuhllehne gelegt hatte, verbeugte er sich und sagte, – in diesem Falle halte ich es für eine Ehre mich vorzustellen: Wassili Spiridonow Kruglikow, gewesener Collegiensekretär ... Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.

– Also, du hast gedient? fragte Kopylenkow.

– Ja, in der Kommissariatsverwaltung der Marine.

Der Postbeamte hatte sich angezogen, streckte jedem von uns die Hand zum Abschied hin, sagte noch einmal: Ah, Sie haben Spiritus? Ich trinke noch Spiritus! – Trank und lief eilig hinaus. Ich zog mich an und folgte ihm.

Man musste an den Abhang bei dem Grabhügel mit dem seitwärts gebeugten Kreuz herantreten, um die Post unten zu erblicken.

Der mit weissen Eisschollen bedeckte Fluss glitzerte ein wenig unter dem silbernen und traurigen Scheine des Mondes, der über den Bergen stand. Vom jenseitigen Ufer, das vier Werst entfernt lag, legte sich ein dichter unbestimmter Schatten neben das Eis. In der Ferne nahm man undeutlich die mit Wald bedeckten Berge wahr, die sich immer weiter und weiter verloren und die weichen Krümmungen der Lena begleiteten ... Es wurde einem unheimlich und traurig zu Mut, beim Anblick dieser ungeheuren Eiswüste. Die Post, – drei Troikas, – setzte sich in Bewegung, die Schellen begannen mit einem Mal, so verwirrt und laut, unter meinen Füssen zu sprechen, als ob sie einander ermutigten ... Drei schwarze Flecke, wie phantastisch vielgliedrige Tiere, regten sich im Schnee und flimmerten zwischen den Eisschollen, immer kleiner und kleiner werdend. – Man sah sie schon längst nicht mehr, das Geläute aber stand noch ebenso glasartig klar in der frostigen Luft ... Jedes Glöckchen sprach in seiner Art; die Entfernung verringerte nur die Kraft, nicht aber die Reinheit des Tones. Dann verschwand alles plötzlich, nur die Eisschollen glitzerten im phantastischen Chaos, auch die Berge schliefen leise im Schatten und unklare Träume bewegten sich an den fernen Ufern.

Fast alle Bewohner der Station gaben der Post das Geleit ... Auf dem armen At-Dawan, das sich unter den steinigen Bergen geflüchtet birgt, ist dieses Vorüberfliegen der seltenen Post ein ganzes Ereignis. Aber die Station erwartete qualvoll noch ein anderes Ereignis. Als die Post verschwunden und das Geläut verstummt war, ging eine Gruppe von Kutschern, die langsam vom Flusse heraufkam, an mir vorüber und unterhielt sich jakutisch. Mir war es schwer, dieses leise Gespräch zu verstehen, jedoch ich begriff, dass sie nicht darüber sprachen, wer abgereist sei, sondern von jemand, der von oben ankommen müsse. Dabei berührte der Name »Herr Arabin« zweimal mein Ohr.

Ich blieb noch am Ufer, gebannt von dem traurigen Zauber, der mich umgab. Die Luft war unbeweglich und voll von einer gespannten krystallischen Reinheit, die jetzt durch keinen einzigen Ton gestört wurde, sondern in banger Erwartung erstarrt zu sein schien ... Es braucht nur eine Eisscholle zu bersten und die Frostnacht zuckt auf, dröhnt und stöhnt. Ein Stein löst sich unter meinem Fusse los – und wieder erfüllt er das gespannte Schweigen mit trocknem und scharfen Wiederhall ...

Der Frost wurde stärker. Das Stationsgebäude, das zur einen Hälfte aus einer Jurte und zur andern aus einem russischen Balkengebinde bestand, war hell erleuchtet. Aus dem Schornsteine der Jurte floh eine ganze Garbe von Funken rasch in die Luft. Weisser dichter Rauch stieg zuerst empor, dann wandte er sich zum Flusse und zog sich weit fast bis zur Mitte desselben hin ... Die Eisstücke, die in die Fenster eingesetzt waren, schienen zu brennen und schillerten in buntem Wiederschein der Flamme ... Ich warf noch einen Blick auf das mich umgebende Bild, voll so packender Traurigkeit, und ging in das Haus.

In der Kutscherstube gähnte ein riesiger Kamin, stark aus Lehm aufgeführt, wie der offene feurige Rachen eines märchenhaften Ungetüms. Das Feuer strömte mit einer unglaublichen Kraft zum Schornstein, als ob eine ganze Flut von Flammen nach oben hin schwebte. Die schrägen Wände der Jurte zuckten bald eng zusammen, umfasst von dem purpurnen Wiederschein, bald versanken sie kaum bemerkbar in der Dunkelheit; dann erschien sie wie eine ungeheure Kohle mit dunkel gewölbter Decke. Eine Gruppe feuriger Gestalten, die wie aus einem noch nicht erkalteten Metall gegossen erschienen, hatte sich im Halbkreise um den Kamin gedrängt. In der Mitte sass ein junger Kutscher mit scharf ausgeprägten nicht russischen Zügen, ein Vertreter dieser seltsamen halb zum Jakuten gewordenen Bewohner des mittleren Laufes der Lena; seine Augen hatte er sinnend auf das Feuer gerichtet und das Kinn auf die Hände gestützt. Seiner Kehle entströmten, sich zu dem Zischen und Prasseln der Flammen gesellend, sonderbare – bald langsam gedehnte, bald hysterisch abgerissene – Töne. Es war ein Jakutenlied, eine Improvisation, – ein Sang, in dem nur ein geübtes Ohr Anzeichen einer eigenartigen Harmonie entdecken kann. »Mein Gott, – dachte ich unwillkürlich – wie sonderbar äussert sich nicht das menschliche Gefühl! ...« Aber da die Schönheit zuletzt in dem Gefühl selbst liegt, so ist auch in diesem wilden abgerissenen Heulen, das bald dem Schluchzen, bald dem Rauschen des Windes in einer wilden Schlucht gleicht, eine gewisse Schönheit ... Es genügte, diese bronzenen Gesichter der Bewohner von At-Dawan zu sehen, um sich von der Existenz einer packenden und alles verschlingenden Gemütsbewegung zu überzeugen, die in der schmutzigen, ungemütlichen Jurte herrschte.

Der junge Kutscher sang, die übrigen hörten zu und ab und zu feuerten sie den Sänger durch schrille unwillkürliche Ausrufe an. Wir haben unsere Lieder niedergeschrieben, in Noten gesetzt, in denen die kompliziertere Empfindung sich zu einer feststehenden, verständlichen Form krystallisiert hat. Der wilde Wald, die steinigen Pfade an der Lena, das düstere und vereinsamte At-Dawan – haben ihre Lieder. Sie sind nicht niedergeschrieben, nicht ausgearbeitet, nicht so harmonisch, sondern ziemlich grob, aber dafür erscheint jedes von ihnen auf den ersten Ruf, tönt wieder gleich der Äolsharfe, mit ihrer Nicht-Abgeschlossenheit und nicht abgerundeten Harmonie in jedem Hauch des Bergwindes, in jeder Bewegung der rauhen Natur, in jedem Zittern des an Eindrücken armen Lebens ... Der Sänger sang von dem stärker gewordenen Frost, davon, dass die Lena erdröhne, dass die Pferde sich unter die Felsen versteckt hätten, dass im Kamin ein helles Feuer brenne, dass sie, die Kutscher, die jetzt an der Reihe seien, in der Jurte sich, zehn an der Zahl, versammelt hätten, dass sechs Pferde in den Ständen seien, dass At-Dawan den Herrn Arabin erwarte, dass vom Norden her, von der grossen Stadt ein Gewitter nahe und At-Dawan erschauere und zittere ...

Die Jakutensprache im Liede unterscheidet sich von der Umgangssprache fast ebenso, wie unsere altslavische Sprache von der jetzigen. Die Liedersprache ist irgendwo, weit in unbekannten Tiefen von Mittelasien geboren, von wo die grosse Vermischung der Völker den kläglichen Splitter eines Stammes nach dem weiten Nord-Ost geschleudert hat. Sie hat im Norden die reichen Bilder und Farben des weiten Südens bewahrt ... Vom Norden aber, von der ängstlichen frostigen Luft, in der das Knistern des Eises zu einem Kanonenschuss auswächst und das Fallen eines kleinen Steines wie eine Lawine dröhnt, hat das Lied den furchtsamen Hang zu ungeheuerlichen Hyperbeln, zu gigantischen furchteinjagenden Übertreibungen. Aus diesem Grunde, muss man annehmen, trifft der Volksheld der Jakuten, die arme Waise Er-Sopotoch, oft märchenhafte Helden, von denen der Kleinste Waden von dem Umfange einer alten Lärche besitzt und dessen Augen fünf Pfund wiegen. Ich stellte mich unbemerkt in den Schatten und horchte, dem Liede des Kutschers von Arabin, dem Herrn ... Arabin, Arabin! ... Ich hatte irgendwo diesen Namen gehört. Nur schwer konnte ich mich dieser märchenhaften Gestalt erinnern – und hinter ihr tauchte in meinem Gedächtnis eine andere auf. In Irkutsk, in einer bekannten Familie hatte ich einige Male, – aber nur vorübergehend, – einen Kosakenoffizier dieses Namens getroffen. Er zeichnete sich durch nichts aus, war schweigsam, ein wenig befangen sogar, wie es Menschen mit krankhafter Eigenliebe sind. Ich hatte ihn damals kaum beachtet, dann aber hörte ich, dass er durch irgend etwas die Aufmerksamkeit des damaligen Generalgouverneurs auf sich gelenkt habe und dass man ihn für »besondere Aufträge« benutze. War das wirklich derselbe? Hörte ich etwa jetzt den ganzen Weg von ihm sprechen, – von ihm, dessen Namen man in Irkutsk kaum nannte? ... Er raste schon zum dritten Mal als Kurier die Lena hinauf und jedesmal wurde noch lange geredet von ihm am einsamen Flusse. Auf den Stationen benahm er sich wie ein Mensch, von dessen Kräften man einzig und allein die Niederwerfung einer aufrührerischen Gegend erhofft. Er stürmte wie ein Orkan daher, tobte, jagte allen einen panischen Schrecken ein, drohte mit Schusswaffen und ... vergass überall die Fahrgelder zu bezahlen. Wahrscheinlich dank dieser Kniffe erledigte er die Aufträge in einer Frist, die die geübtesten Menschen in Staunen setzte und seine Vorgesetzten zeichneten ihn noch mehr aus. »Der Kurier« wurde Arabins Name und fast sein ständiger Beruf. Bescheiden und befangen in Irkutsk, wurde er vollständig anders, sobald er die Stadt verlassen hatte. Aufrichtig überzeugt zu sein, dass jede Macht stärker als jegliches Gesetz sei und sich wochenlang als der einzige Vertreter der Macht auf ungeheuer ausgedehnten Flächen zu fühlen, ohne je den leisesten Widerstand anzutreffen, – davon konnte auch einem stärkeren Kopf, als dem des Kosakenoffiziers, schwindlig werden.

Und er war thatsächlich schwindlig geworden. Auf seiner letzten Fahrt jagte er schon durch die seltenen Städte (Kirensk, Wercholensk und Olekme) aufrecht im Schlitten stehend und schwenkte eine rote Fahne über seinem Kopf. Darin lag etwas phantastisches: zwei Dreigespanne flogen wie Pfeile, tötlichen Schrecken verbreitend, dahin, der Kutscher glich einem Toten, der auf dem Bock mit den Zügeln in den Händen erstarrt war; der Passagier schwenkte aufrechtstehend mit blitzenden Augen die Fahne. Die Behörden schüttelten den Kopf, die Bewohner stoben auseinander. Diese Reise hatte Arabin mit einer solchen Anzahl gefallener Pferde, mit Wehgeschrei und Klagen, die endlich zum Vorschein kamen, gekennzeichnet, dass die Postverwaltung eine Einmischung für nötig hielt. Vorgreifend will ich nur eins bemerken, dass Arabins wegen zwei Behörden in Streit gerieten, sodass seine unmittelbaren Vorgesetzten gezwungen waren, seine Dienste abzulehnen, dass er aber, mit besten Empfehlungen ausgerüstet, tiefer im Osten in den Dienst trat und dort, am Amur, schliesslich einen Stationsvorsteher erschossen hat. Da sprach man sogar in Russland von Arabin, dem Herrn, und erfuhr erst dann, dass man ihn eigentlich nicht verurteilen konnte, weil der berühmte Kurier bereits ... vollständig irrsinnig war. So lautete die weitere Geschichte des schrecklichen und unglücklichen Arabin, den man in dieser Nacht auf dem fernen At-Dawan erwartete. Von ihm knarrte und heulte das trostlose Jakutenlied in der Kutscherstube.

Im Stationszimmer sass Michail Iwanowitsch nur mit seiner Leibwäsche bekleidet am Tisch. Kruglikow sass ihm gegenüber in einer freieren Stellung als früher. An der naiven Lebhaftigkeit, die in den einfältig habgierigen Augen meines Begleiters leuchtete, merkte ich sofort, dass es ihm gelungen war, eines der Gespräche, von denen er ein grosser Liebhaber war, anzuknüpfen. Das waren nämlich Unterhaltungen rein biographischer und teilweise gewerbsüchtiger Richtung: wer, wo und wie Geld zu verdienen verstanden hat. Alle Einzelheiten der gewinnsüchtigen Dramen hatten für ihn einen besonders bezaubernden Reiz. Kruglikow teilte diese Details bereitwillig und mit der objektiven Ruhe eines Menschen mit, der alles von der Seite mit den Augen eines Beobachters betrachtet.

– Also, du sagst, er habe Bankrott gemacht? – fragte Michail Iwanowitsch und beugte sich über den Tisch.

– Total! – antwortete Kruglikow und blies auf den Thee in der Untertasse. – Ganz und gar, sodass er, mit Ihrer Erlaubnis sozusagen, nur noch ein Hemd hatte und nicht mal das gehörte ihm.

– Ach, Bruderseele, solch ein Mann ist zu Grunde gegangen!

– Zu Grunde gegangen? Na, das ist nicht ganz richtig. Wie soll solch ein Mann zu Grunde gehen? In dieser Gegend, meine ich, mit solch einem Verstand ...

– Thatsächlich ist er eine geriebene Bestie. Du sagst, er steht wieder auf den Beinen?

– Ja, und wie noch dazu! ...

– Na, sind das Geschichten! Wie hat er es denn angefangen?

Kruglikow stellte die Untertasse hin und bog einen Finger krumm.

– Erstens – er verheiratete sich zum zweiten Male mit einer vermögenden Witwe. Das Vermögen ist wohl gering ...

– Warte! Du sagst: er verheiratete sich. Ist denn die erste Frau tot?

– Sie lebt! Das macht doch aber nichts aus.

– Ei – ei – ei! ... Na, und? Was ziehst du es in die Länge, Bruder, erzähle weiter!

– Na, und er begann langsam mit Spiritus auf den Goldwäschereien zu handeln.

– Mit Spiritus! ... Nein, Bruder, jetzt kommt man mit Spiritus nicht weit. Jetzt verdient man sich mit Spiritus das Gefängnis, aber reich wird man nicht dabei. Die früheren Zeiten sind vorbei ...

– Ach, nein, erlauben Sie, das sagen Sie so! Der Spiritus hat nicht viel zu sagen, wenn man aber heimlich Gold aufkauft ...

– Na, das ist was anderes! Besonders wenn er ein gewandter Mann ist ...

– Dieser ist gewandt. So ging es weiter und er hat sich jetzt etwas erspart ... Michail Iwanowitsch schlug sich mit der Hand auf die Kniee.

– Ach du, mein Bruder! Das ist ein Kopf ... – Trinke noch! ... bot er gastfrei an, als Kruglikow das leere Glas auf die Untertasse gestellt hatte, zum Zeichen, dass er zufrieden sei, aber noch trinken würde, wenn man ihn darum bäte, (das Glas umstülpen und das abgeknabberte Stück Zucker darauf legen – würde eine endgiltige Absage bedeutet haben). – Trink! Was aber die Stelle anbetrifft, so hege ich keinen Zweifel. Ich besorge sie dir, du wirst zufrieden sein. Ich habe gesprächige Menschen gern. Sage mir aber die reine Wahrheit: Trinkst du Branntwein?

Herr Kruglikow schaute ihm mit einem klaren Blick gerade in die Augen und antwortete: – Ich trinke ... Für einen Trinker oder sozusagen für einen Säufer halte ich mich nicht, ich trinke wohl ... Aber fragen Sie: warum trinke ich? – Weil ich mich nach meinem früheren glücklichen Leben zurücksehne. Auch Iwan Alexandrowitsch – Sie werden ihn gewiss kennen, er hatte grosse Goldwäschereien, – fragte mich oft: »Warum trinkst du, Kruglikow? Du mit deinem Verstand müsstest den Schnaps gar nicht anrühren. – Du hast eine schöne Handschrift, bist anständig gekleidet, benimmst dich gut ... Du könntest eine ausgezeichnete Stelle bekleiden, rühre nur den Branntwein nicht an!« – »Aber nein, es geht nicht, das Herz erlaubt es nicht ... Iwan Alexandrowitsch« – sagte ich zu ihm ... Herr Kruglikow wurde erregt. Er hatte anscheinend vergessen, wem gegenüber und aus welchem Anlass er sich zu diesem Seelenergusse hatte hinreissen lassen, er schlug sich an die Brust und fuhr fort: – Iwan Alexandrowitsch, Wohlthäter, richte nicht! Herrgott! Ich würde ja Pech, – verstehst du? – siedendes Pech trinken, wenn ich manchmal Erleichterung finden, – all den Jammer vergessen könnte! – Pech! ... Mein Gott, Schöpfer der Welt! Warum hast du mich in diese verfluchte Gegend verschlagen? ... Ein Pud Korn – vierundeinhalb Rubel, Fleisch – acht Rubel! Keine Ruhe, keine Nahrung ...

– Das ist wahr, – pflichtete ihm Michail Iwanowitsch bei, – Nahrungsmittel sind hier teuer, das muss man sagen!

– Ach nein, das ist es nicht! – sagte plötzlich voll Wehmut der kleine Schreiber, und diese Wehmut brach in einem tief qualvollen Tone in seiner Stimme durch, huschte über sein Gesicht und veränderte seine ganze, ein wenig komische Gestalt. Das ist es nicht ... Das Herz brodelt in mir auf. Die Gedanken überwältigen mich ...

– Du verfällst in Grübeleien? – unterbrach ihn Michail Iwanowitsch mit ängstlicher Teilnahme.

– Es kommt vor, – gestand Kruglikow düster.

– Ach, Bruder! Du musst versuchen, es irgend wie zu lassen ... Das ist eine schlimme Sache. Ich hatte auch in der Jugend damit zu kämpfen; mit Mühe und Not hat mein verstorbener Vater mich davon abgebracht. Nach der Verheiratung kam es zuweilen noch, packte mich ... Die Welt wurde mir verhasst durch diese Gedanken. Eine schlimme Sache.

– Schlimmeres kann es nicht geben! Glauben Sie mir, manchmal erwache ich in der Nacht und besinne mich: »Wo bist du geboren, Wassili Spiridonow, in welcher Gegend hast du deine Jugend verbracht? ... und wo verrinnt jetzt dein Leben? ...« Ein starker Frost knistert hinter der Wand oder ein Schneesturm heult ... Ich gehe zum Fenster, im Fenster aber steckt das trübe Eisstück ... Da gehe ich weg vom Fenster und zum Schrank hin. Ich schenke ein und trinke ...

– Ist es dann leichter?

– Zum Kopf strömt es, – na, und benebelt ein wenig ... Benebelt einen, weil ich einen gutgezogenen Branntwein, einen starken Branntwein habe ... Eine wahre Erleichterung finde ich nicht ...

– So liegt also die Sache! Das ist wahr, lass besser ab davon. Ergreife einen Beruf. Das verjagt die quälenden Gedanken, nicht schlechter wie Branntwein ... Sage mir aber eins: weshalb hat man dich hierher verschickt?

Bei dieser Frage, die mit solch grober Plötzlichkeit gestellt war, zuckte die ganze Gestalt des Herrn Kruglikow zusammen, er veränderte sich noch einmal und verlor in meinen Augen den früheren komischen Anstrich. Es schien, ein Funke schlage aus einer längst erloschenen, aber noch nicht vollständig erkalteten Brandstätte hervor. Es durchzuckte ihn, er liess die Augen sinken und seine Stimme klang dumpfer, als er um Erlaubnis bat, sich ein Gläschen einschenken zu dürfen.

– Gestatten Sie?

– Bitte!

Er schenkte sich ein, besah das Glas im Licht, als ob er dort die Antwort auf die qualvolle Frage suchte, trank es mit einem Ruck aus und sagte:

– Wegen der Liebe.

Michail Iwanowitsch sperrte vor Erstaunen den Mund auf. Ich muss sagen, dass die Erklärung des Herrn Kruglikow, die mit solch einer kurzen Entschlossenheit ausgesprochen war, so unerwartet kam, dass auch ich gezwungen war, ihn mit Erstaunen anzublicken. Kruglikow schien selbst zu begreifen, dass er mit seinen Worten eine bedeutende Sensation erregt habe. – Sprich doch vernünftig, Bruder, – sagte endlich Michail Iwanowitsch ärgerlich.

– Was denn, ich sage die Wahrheit, – antwortete Kruglikow, – da ich eigentlich aus Liebe zu einem jungen Mädchen zweimal auf meinen Vorgesetzten, den Staatsrat Latkin, mit einer Pistole geschossen habe. Das war zu viel.

Michail Iwanowitsch war wie versteinert und schaute den Schreiber mit ausdruckslosen trüben Augen an. Er glich einem Reisenden, der sich mit einem liebenswürdigen, obwohl zufällig getroffenen Mitreisenden ein paar Stunden unterhalten und ganz entzückt von dessen schönen Eigenschaften, plötzlich erfährt, dass vor ihm kein anderer, als der celebrissime Rinaldo Rinaldini steht.

– Mit einer Pistole? – sagte er verwirrt. – Wie kam das denn? Sagst du auch die Wahrheit! Mit einer Pistole?

– So war es. Mit einer echten Pistole.

– Hast du geschossen?

– Zweimal.

– Ja, das ist doch solch eine Sache, solch eine ... direkt eine politische Sache ...

– Was soll ich sagen! Richten Sie mich nach Ihrem Gutdünken ... Es geschah aus Liebe.

– Erzählen Sie doch, Wassili Spiridonowitsch, wie alles kam, – wandte ich mich an Herrn Kruglikow.

– Ja, – unterstützte auch Kopylenkow meine Bitte, – erzähle mal, erzähle. – Hat nichts zu sagen! Was ist dabei ... Merkwürdig!

Herr Kruglikow trank den letzten Schluck Thee aus, kehrte das Glas um, legte auf den Boden das Stück Zucker und schob alles von sich. Nach diesen Vorbereitungen schenkte er sich ein Glas Cognac ein und hielt es wieder gegen das Licht. Ich bedauerte in diesem Augenblick, dass ich kein Maler bin und die komplizierten Empfindungen schildern kann, die sich auf dem Gesichte des At-Dawanschen Stationsschreibers wiederspiegelten. Ein rundes Gesicht, aschgraue, peinlich geglättete Haare mit einer Art Locke vorn, kurzgeschnittenes Backenbärtchen und ein rasiertes Kinn. In den grauen Augen, die aufmerksam das Glas gegen das Licht betrachteten, konnte man den Vorgeschmack des Vergnügens und den eitlen Stolz eines Erzählers feststellen, der seinen Zuhörern ein Interesse einzuflössen verstanden hat, und die aufrichtige Bitterkeit um das zerschellte Leben und die brennende Erinnerung. Er warf den Kopf zurück, trank das Glas Cognac aus, stellte es auf den Tisch, wischte sich die Lippen mit einem alten Foulardtuche und wandte sich seiner Erzählung zu:

– Die Geschichte meines Lebens ist sehr traurig, meine geehrten Herren ... Ein gefühlvoller Mensch kann alles genau begreifen, andere aber lachen dabei ... Übrigens, das ist ja einerlei ...

Er lächelte bitter, indem er immer noch ein wenig posierte und fragte darauf:

– Ist nicht jemand von Ihnen, meine Herren, in Kronstadt gewesen?

– Wo ist das? – fragte Kopylenkow.

– In der Nähe von Petersburg, zwei Stunden mit dem Dampfer zu fahren, eine Hafenstadt.

– Ich bin da gewesen, – sagte ich unwillkürlich.

– Sie sind dort gewesen? In Kronstadt selbst? – Kruglikow wandte sich schnell zu mir und seine Augen blitzten lebhaft.

– Ja, ich bin da gewesen und habe sogar einige Monate dort gelebt.

– Eine prachtvolle Stadt! Der Hafen, die Festung, die Citadelle, der Schutz, das Fenster nach Europa ... Eine wundervolle Stadt, ein Winkel von St. Petersburg!

– Ja, eine angenehme Stadt.

– Ach, wie können Sie, wie können Sie das nur sagen. Solch eine besondere Stadt ... ja wo finden Sie die? Erlauben Sie. Ist es wahr, dass jetzt, wie mir ein durchreisender Offizier erzählt hat, in der Jekaterine-Strasse ein gusseiserner Fahrdamm ist?

– Ja, es ist wahr.

– Schön muss es sein! ... Und die Häfen, der Handelshafen, Fort Pawel, Fort Konstantin ...

Er verfiel in Entzücken. Meine Gedanken flogen auch plötzlich von der düsteren Lena nach Kronstadt, wo ich einige fröhliche Monate noch als Student verbracht hatte ... Mich erfassten auch, wie Kruglikow, die Erinnerungen; ich sah die Meereswellen, die sich dort mit der Newa vereinigen, plätschern, ein Dampfschiff pfiff, der lange Damm dröhnte unter den Hufen der Droschkenpferde, die Menschen von einem soeben gelandeten Dampfer zur Stadt brachten, grosse Ruderboote, Barken eilten hin und her, Dampfschiffe qualmten ... Weisse Boote mit gleichmässig sich hebenden Rudern, schwere Panzerschiffe, die Turmspitze der deutschen Kirche, Strassen, die von den Kanälen der Docks durchkreuzt sind, wo zwischen den Gebäuden, gleich Walfischen, ungeheure Seeungetüme mit dicken Masten stehen, die auf geheimnisvolle Weise mitten in die Stadt gelangt sind, steinerne Häuser, Boulevards, Kasernen, Glanz und Pracht des Winkels der Residenz ... Und wieder ein Wald von Masten unter dem blauen Himmel, der Handelshafen, eine schrägabfallende Landzunge und das Rauschen des Meeres ... Blaue Ferne, glänzende Wellenkämme, und schwerfällige Forts, die weit in die Fluten hineingebaut sind. – Wolken, Möven mit weissen Flügeln, ein leichtes Boot mit stark nach der Seite gebogenem Segel, eine schwere finnische Barke, die kreischend und stöhnend die Wellen zerteilt und der Rauch eines Dampfers dort, weit, hinter dem Leuchtturm Tolbuchin, er eilt in ferne Weiten nach Westen ... nach Europa! ...

Die Illusion zerstob bei einem neuen Bersten des Eises auf dem gefrorenen Fluss. Wahrscheinlich stieg der Frost gegen die Nacht zu erheblich. Der Ton war so stark, dass man ihn deutlich, obwohl ein wenig gedämpft durch die Wände des Stationshauses, vernahm. Es schien, als ob ein ungeheuerlicher Vogel mit schrecklicher Geschwindigkeit über den Fluss fliege und stöhne ... Das Stöhnen nähert sich, wächst, eilt vorüber und mit erlahmenden Schwingungen der gigantischen Flügel stirbt es in der Ferne.

Kopylenkow zuckte nervös zusammen und stürzte sich, wie es oft nach einem Schreck geschieht, auf Kruglikow. – Na, also, – sagte er ungeduldig, – bist du etwa in dieser Stadt geboren? Hast du einmal angefangen, so rede vernünftig.

– Ja, ich bin dort geboren, – schnitt Kruglikow voll Stolz die Rede des anderen ab. – In der Saidaschnastrasse habe ich das Licht der Welt erblickt. Kennen Sie die Saidaschnaja? Mein Vater hatte in dieser Strasse ein eigenes Haus, vielleicht steht es noch heute da. Obwohl mein Vater früher ein Matrose war, hatte er doch eine einträgliche Stelle, muss man sagen, und selbstverständlich gab er dem Sohne auch eine gute Erziehung. Für Bildung war er nicht begeistert, er beschränkte sich auf die Anfänge und die Handschrift; aber da ich selbst ein akkurater junger Mann, im Dienste eifrig und bei den Vorgesetzten des Vaters wegen gut angeschrieben war, so befand ich mich, ich kann es sagen, im besten Zuge ... Ja, dem Beginne meines Lebens nach konnte man nicht erwarten, was mich jetzt getroffen hat. Ein klarer Morgen – und – ein trauriger Abend ...

– Murre nicht! – sagte Kopylenkow belehrend.

– Na, ich habe Ihnen schon gesagt, meine Herren, dass mein Vater ein eigenes Haus in der Saidaschnastrasse besass. In derselben Strasse, uns gegenüber, ein wenig schräg gegenüber, lebte der Freund meines Vaters, auch ein gedienter Matrose, der nach seinen Dienstjahren eine noch einträglichere Stelle bekleidete.

– Was für eine? – konnte Michail Iwanowitsch sich nicht enthalten zu fragen.

– Im Hafen, wo die Seeschiffe ausgebessert und neu gebaut werden ... Die Gehälter waren damals nicht besonders hoch, aber die Nebeneinnahmen fielen zu der Zeit reichlich aus, – das war sehr einfach! Dadurch, können Sie sich vorstellen, dass man selten einen Tag nicht eingewickelt nach Hause kam ...

– Das heisst, wie soll ich das verstehen? – fragte Kopylenkow zweifelnd, für den, als einen Kenner der mannigfaltigsten Nebeneinnahmen, diese Form unbegreiflich war.

– Sehen Sie, die Sache verhält sich so. Ein Seeschiff ist ganz anders, wie eure flachen Boote. Von dem Äusseren, von der Befestigung, den Wanten, dem Mastwerk und dergleichen ganz abgesehen, verlangt die innere Ausstattung ein teures und feines Material. Pracht, Glanz und man kann sogar sagen, Komfort ist nötig ... Na, und da lagen denn in den Materialräumen ganze Berge von allerhand teuren Zeugen, französischem Sammet, englischer Seide ... Jetzt stellen Sie sich vor: Wenn er nach Hause gehen muss, nimmt er den Rock ab, packt ein Stück Seidenzeug, wickelt es um den Körper, zieht sich an und geht fort. Er kommt nach Hause, die Frau wickelt ihn wie eine Spule ab, – da hat er sich etwas verdient! – Fein ausgedacht! ... Aber untersucht man sie denn nicht beim Hinausgehen?

– Was denken Sie! Die Arbeiter werden selbstverständlich am Thore untersucht, gegen die Herren aber benimmt man sich anders, man traut ihnen.

– Das ist gut, man kann da Geschäfte machen ... Nur muss man klug sein. Ein habgieriger Mensch, der kein Mass kennt, – kann bald dabei zu Grunde gehen. Es ist doch die Regierung!

– Bitte, erzählen Sie weiter, – unterbrach ich meinerseits das Zwiegespräch, da ich sah, dass Kopylenkow hingerissen war.

– Ja, gewiss, das ist nicht die Hauptsache. Dass es aber einfach so herging, das ist wahr. Einfach, sehr einfach! Aber Bildung war in unserem Kreise wenig zu finden, dafür viel Unwissenheit ... Aus diesem Grunde trage ich auch mein Kreuz. Sehen Sie, dieser Freund meines Vaters hatte eine Tochter, zwei Jahre jünger als ich, noch nicht volle achtzehn alt, eine Schönheit! Und klug war sie ... Der Vater vergötterte sie und zu ihr kam sogar ein Student – er gab ihr Unterricht. Sie selbst hatte darum gebeten, – na, und der Vater that alles für seinen Liebling. Zufällig fand sich ein Student, ein kluger, gebildeter Mensch, und er verlangte nicht viel!

– Das war unnütz ... – warf Kopylenkow ein.

– Nun, ich war diesem Mädchen, Raisa Pawlowna, versprochen. Unsere Väter waren Freunde, wir waren fast zusammen aufgewachsen und die Väter beschlossen, mich unbedingt mit ihr zu verheiraten. Und wir unsererseits hatten gegenseitige Zuneigung. Zuerst, wissen Sie, war es Freundschaft, wir spielten zusammen, später aber wurde es ernst ... Von Seiten der Eltern wurden uns keine Hindernisse bereitet und wir verkehrten miteinander.

– Kam es zur Sünde? – fragte Michail Iwanowitsch voreilig.

– Nein! – schnittt Kruglikow kalt ab. – Wir haben an so was nicht mal gedacht, – beide waren wir wie die Kinder so rein. Raja las furchtbar gern, damit verbrachten wir auch meistens die Zeit. Zuerst kamen allerhand Ritter, Franzyl Wenezian, – gefühlvolle Geschichten! ... Unsinn war es gewiss, aber es gefiel uns: die Markgräfin von Brandenburg, die Prinzessin von Bayern, und neben ihnen der grausame türkische Seraskier ... Lauter solche Geschichten ... Erhabene Personen und alles von der Liebe. Sie üben sich in der Treue, erdulden wegen der Liebe alles ... Gewiss, Kindsköpfe waren wir! Ich hatte meinen Dienst, sie aber besorgte das Hauswesen und in der freien Zeit – legte sie sich sofort im Zimmer mit den Füssen auf das Sofa, hüllte sich in ein Tuch und las. Am Abend, wenn ich aus dem Dienst kam, gingen wir spazieren; sie an meinem Arm. In Kronstadt, man weiss ja, was für ein Spaziergang es ist: wir gingen manchmal zu dem Festungswall und schauten auf das Meer ... Sie erzählte mir da, was sie den ganzen Tag gelesen hatte. Sie erzählte, erzählte und wurde nachdenklich.

»Siehst du, Wasenka,« sagte sie, »was für Liebhaber es in der Welt gegeben hat ... Wenn wir auch so sein könnten. Kannst du z. B. eine Probe deiner Treue bestehen? ... Plötzlich will mich ein grausamer Seraskier freien?«

– Na, ich lachte selbstverständlich dabei!

»Ich kann es wohl, aber wir brauchen das doch nicht; wenn die Eltern es anordnen, traut man uns morgen noch in der Kathedrale ...«

– Ich lachte selbstverständlich, weil ich jeden Tag in mein Bureau ging und einen Begriff von der Welt hatte, sie aber war ein Kind ...

»Siehst du,« sagte sie, »dort beim Leuchtturm gleitet ein Segelschiff dahin?«

»Ich sehe das Schiff, es kommt aus dem Auslande.«

»Wenn aber auf diesem Schiff ein Seeräuber kommt: er überfällt plötzlich die Stadt, brennt sie nieder, tötet dich mit der Lanze und nimmt mich gefangen ...« Sie zitterte am ganzen Körper, schmiegte sich erschrocken fester an mich. Nun, ich beruhigte sie wieder.

– »Was fällt dir ein, Gott helfe dir! Da kommt ein holländisches oder ein englisches Schiff mit Wolle. Jetzt gehen doch auch viele Engländer in den Strassen herum. Gewiss, sie lärmen manches Mal, man kann sie aber auf die Wache bringen lassen ...«

– »Ja,« sagte auch Raja, »unser Leben ist ganz anders ... Der Student, Dmitri Orestowitsch lacht auch immer darüber; mir aber ist es so langweilig ...« – und dabei seufzte sie.

– Na, die Zeit kam heran, wo wir schon an die Hochzeit dachten. Die Väter begannen über die Mitgift zu sprechen. Da sagte einmal mein Vater: »Wollen wir sie schon verheiraten, denn man zu, es lohnt sich nicht, die Sache aufzuschieben! Ich gebe meinem Sohne sechstausend, wieviel giebst du?

– »Ich gebe ebensoviel,« – antwortete Rajas Vater, – »macht zusammen zwölftausend, – mehr haben sie nicht nötig.«

– »Nein,« sagte mein Vater, »das ist nicht richtig! Denke mal selbst nach! Mein Wasja kann mit der Zeit einen hohen Posten einnehmen, deine Tochter aber bleibt so, wie sie ist; du müsstest eigentlich zehntausend mitgeben ...« Ein Wort gab das andere und zuletzt stritten sie sich. Der Freund war hitzig, meinen Vater aber schien eine Fliege gebissen zu haben: er blieb fest auf seinem Standpunkt und liess nicht mit sich reden. Er hielt zähe fest und liess keinen Kopeken ab. Na, da wurde der andere selbstverständlich ärgerlich ...

– »Wenn es so ist,« sagte er, »wenn du deinen Welfen um volle viertausend höher als meine Raitschka schätzest, so ist nicht mehr darüber zu reden. Ich verheirate meine Tochter an einen General; mit dem kann sich dein Gelbschnabel nicht messen!«

– Da ist er schon an den rechten Mann gekommen! – lachte Kopylenkow.

Kruglikow blickte ihn verwundert an, als ob er nicht gehört hätte und fuhr fort:

– Ach – ja! Also mit Kleinigkeiten fing es an. Ich muss Ihnen sagen, dass unser Vorgesetzter thatsächlich ein Auge auf Raja geworfen hatte. Obwohl er, sagen wir, kein General war, nannten wir ihn im Bureau Ew. Exzellenz. Er selbst hatte es angeordnet: »Für Fremde bin ich vielleicht weniger als ein Oberst, meinen Untergebenen aber bin ich Gott, bin ich Zar!« sagte er.

– Und was meinst du? – Es ist wahr! – bemerkte wieder Kopylenkow.

– Er war ein kinderloser Witwer in vorgerücktem Alter, und merken Sie sich, so oft er auch bei Gleichgestellten anhielt, – wollte ihm niemand seine Tochter zur Frau geben, wegen seines widerlichen Aussehens ... Nun, und er hatte ein Auge auf meine Raitschka geworfen. Selbstverständlich ahnte sie es nicht, um so mehr, da ich schon als ihr Bräutigam galt. Ich war – es ist lange her – hübsch, obwohl klein von Wuchs, aber mein Gesicht war angenehm. Ein Schnurrbärtchen hatte ich, die Haare waren stets mit Pomade frisiert, und ich liebte es, mich nobel zu kleiden ... Ja, und dem Vater dauerte die einzige Tochter auch zuerst. Als er sich aber so verrannt hatte, stellte er sich auf die Hinterbeine und verbot mir sein Haus; dem General machte er aber Hoffnungen! Und von da an erschien in unserer Saidaschnastrasse die Generalskutsche ... Kruglikows Augen wurden feucht, der Funke kam unter der Asche deutlicher hervor. Leider löschte er ihn sofort mit einem neuen Gläschen Branntwein aus. Die Hand mit demselben zitterte stark, der Branntwein lief über und tropfte auf die Piquéweste.

– Und dann kam er öfter! Auch zu Fuss erschien er bereits und brachte Geschenke. Ich aber durfte nicht über die Schwelle: wenn ich hinginge, und vielleicht sässe der General da ... Ich grämte mich! ... Einmal ging ich vom Dienst an dem Hause vorbei, wo dieser Student, ihr Lehrer, lebte, – er hauste in einem kleinen Seitengebäude, schrieb da ein Buch und stopfte allerhand Tiere aus. Ich sah, er sass auf der Treppe und rauchte sein Pfeifchen. Auch jetzt, hat man mir erzählt, nimmt er diese Pfeife nicht aus dem Munde, obwohl er schon einen hohen Rang in seinem Spezialfach einnimmt ... Sonderbare Menschen sind die gelehrten Leute, gewiss ...

Kruglikow lächelte still, stand auf, suchte in einem Kästchen seiner dunklen Zelle herum und brachte ein altes Buch.

– Da schauen Sie, – sagte er.

Ich besah das Buch und mich umwehte längst Vergangenes. Es stammte aus den sechziger Jahren, war populär naturwissenschaftlichen Inhalts und gehörte ganz und gar der gesellschaftlichen Strömung an, als bei uns die junge Naturforschung stolz die Welt erobern wollte. Die Welt blieb unerobert, aber unter der zurückgetretenen frischen Welle waren doch viele Sprösslinge emporgeschossen. Unter anderem hat diese Bewegung uns nicht wenig berühmte Namen gegeben. Einer dieser Namen, – vielleicht nicht der ersten einer, – stand auf dem Umschlage des Buches. – Er, Dmitri Orestowitsch, hat es geschrieben, – sagte Kruglikow und wickelte das Buch sorgsam in ein Postformular ein. Anscheinend verwahrte er dasselbe mit Stolz, als eins seiner schönsten Andenken an die nie zurückkehrende Vergangenheit.

– Ja, ich ging also vorbei und hörte, wie er mich rief: »He, Sie, Herr Wenezyan, kommen Sie mal her!«

– Ich ging zu ihm hin. Er scherzte gern.

– »Was wünschen Sie?«

– »Haben Sie Ihre Markgräfin von Brandenburg ganz verlassen? Sie grämt sich ja zu Tode.« – Er blickte mich dabei vom Kopf bis zu den Füssen an ... – »Und es ist begreiflich,« sagte er, »dass man sich um solch einen tapfren Ritter grämt ...«

– Ich merkte, dass er spottete, aber er war eine gute Seele. Raja hatte sich auch zuerst vor ihm gefürchtet, weil er meist Scherz und Spott trieb, später aber lobte sie ihn. Ich fühlte mich nicht gekränkt und sagte zu ihm:

– »Was soll ich thun, Dmitri Orestowitsch, sagen Sie es mir!«

– »Wissen Sie denn das selbst nicht«, sagte er.

– »Das ist es ja, ich weiss es nicht.«

– »Na, ich weiss es auch nicht ... Aber dennoch muss ich Ihnen mitteilen, dass Raisa Pawlowna Sie heute gegen Abend erwartet. Der Vater ist nicht da, der grausame Seraskier ist nach Tambow gereist. Leben Sie wohl.«

– »Geben Sie mir einen Rat, Dmitri Orestowitsch, was soll ich thun!«

– »Nein,« sagte er, »ich kann Ihnen da nicht raten. Ich habe schon Raisa Pawlowna den Rat gegeben, alle Seraskiere und auch den Wenezyan zugleich zum Fenster hinauszuwerfen ... Sie folgt nicht; und was soll ich Ihnen da raten ...«

– Mir wurde es traurig ums Herz, muss ich gestehen ... Warum machte er sich lustig über mich. Ich bin doch nicht schlechter als ein anderer Bräutigam, nur unglücklich bin ich; meine Braut gefällt meinem Vorgesetzten. Das ist aber doch nicht meine Schuld. Na, und dann erinnerte ich mich, dass ich heute Abend Raja sehen sollte, und ich wurde fröhlicher. – – Gegen Abend schlich ich mich zu ihr hin ... Raja Pawlowna warf sich mir an den Hals und weinte. Ich sah sie an und erkannte sie fast nicht mehr. Sie war dieselbe und doch wieder nicht. Blass war sie geworden, abgemagert; mit Augen, die viel grösser geworden waren, blickte sie mich anders als früher an. Und schön ... wunderbar schön! Mein Herz klopfte. Das war nicht meine Rajinka, es war ein anderes Mädchen. Und sie umarmte mich: »Wasja,« sagte sie, »mein Lie ... ber, Teu ... rer, du bist gekommen, hast mich noch nicht ver ... gessen, hast nicht ... ver ...«

Plötzlich traten Thränen in die Augen Kruglikows, seine Kehle zog sich krampfhaft zusammen. Er stand auf, ging zur Wand hin und blieb dort einige Zeit bei einer Postbekanntmachung stehen.

Ich blickte Michail Iwanowitsch an und bemerkte mit grossem Staunen, dass die verschwommenen Züge dieses nicht besonders sentimentalen Menschen ganz weich geworden waren und dass die Augen oft blinzelten.

– Was ist mit mir? – sagte er – Das ist wirklich eine rührende Geschichte! ... Na, trink mal noch eins, armer Kerl! Hat nichts zu sagen. Was soll man dagegen thun! Unser Leben ist ein Jammerthal ... Kruglikow kam beschämt zurück, schenkte sich ein, trank und wischte sich das Gesicht mit einem Tuche ab.

– Verzeihen Sie, meine geehrten Herren, – ich kann nicht anders ... Zum letzten Male habe ich damals Raitschka umarmt. Seit jener Zeit schon ist sie für mich Raisa Pawlowna geworden, zu der ich nicht wage aufzublicken ... In der Erinnerung ist sie eine Heilige für mich ... Ich bin ihrer unwürdig ...

– Na, na, – wehrte sich Kopylenkow gegen eine neue Gefühlsaufwallung – erzähle, so gut es geht, das Ende. Was wurde ...

– Nun, wir blieben an diesem Abend zusammen und Raisa Pawlowna wurde ein wenig vergnügter.

– »Hör einmal,« sagte sie, »wen tragen wir eigentlich zu Grabe. Es hat alles nichts zu sagen! Sei nur standhaft, Wasenka! Unsere Stunde hat geschlagen. Entsinnst du dich,« sagte sie dann, »unseres Gespräches auf dem Walle? Siehst du, es ist doch so gekommen, wie ich gedacht habe, der grausame Seraskier ist doch Latkin.«

– Und sie lachte und ich stimmte ein ... So war es oft mit uns. Sie lachte wie die liebe Sonne hinter einer Wolke, – na, und ich that es bei ihrem Anblick auch! ...

– »Sei standhaft, Wasenka,« sagte sie, »wir wollen beweisen, wie stark unsere Liebe sein kann; ergieb dich nur nicht, ich werde schon fest bleiben. Schau, was ich mir vor kurzem für ein Ding gekauft habe ...« Aus der Kommode nahm sie eine kleine Pistole. So ein ganz kleines Ding, – immerhin doch eine Schusswaffe, die mehr war als eine Spielerei. Ich fühlte den Schreck sogar in den Fusssohlen ... So nahm ich denn spät am Abend dieses Ding aus dem Tisch heraus und versteckte es in meinem Mantel in der Brusttasche ... Ich habe es versteckt und vergessen; sie vermisste es auch nicht ... Am anderen Tage ging ich zu meinem Vater. Er sass in seinem Zimmer und zeichnete etwas; sie bauten ein neues Schiff ... Er erblickte mich, wandte sich um, schaute mir nicht in die Augen ... Ach! er fühlte doch, dass er den eigenen Sohn aus Stolz zu Grunde richtete ... Es war mir offenbar so beschieden! ...

– »Was willst du?« fragte er. Ich falle ihm zu Füssen. Und was! – Nicht mal anhören wollte er mich. Ich stand auf und sagte: »Gut, wenn es sich so verhält, ich bin erwachsen. Ich heirate ohne Mitgift.«

Mein Vater aber blieb, wie ich sagen muss, kaltblütig. Der Verstorbene hatte einen kurzen Hals und die Ärzte hatten gesagt, dass ihn bei Aufregung ein plötzlicher Tod ereilen könnte. Daher liebte er es nicht, zu schreien oder zu schimpfen. Nur sein Gesicht wurde mit Blut übergossen, die Stimme zitterte nicht. – »Du bist ein Dummkopf, Wasja«, sagte er, »wirklich ein Dummkopf! Das redest du nur und wirst es nicht thun ... Wenn ich aber was sage, so geschieht es auch. Merke dir: trotzdem du erwachsen bist, lasse ich dir tüchtig das Fell gerben ...«

– »Das kann nicht sein,« sage ich, »ich bin Beamter.«

»Du glaubst es nicht? Gut.«

Er öffnete das Fenster und winkte mit dem Finger ... Bei uns im Seitengebäude lebten zwei Brüder – verabschiedete Bombardiere, kräftige Schufte, jeder hatte einen ellenlangen Schnurrbart im roten Gesicht ... Sie waren Schuhmacher: flickten, besohlten und machten ab und zu ein paar neue Stiefel, meist aber tranken sie. Sie kamen herein, stellten sich bei der Thüre auf und bewegten den Schnurrbart, wie Schaben: ob etwas zu verdienen sei. Der Vater gab jedem ein Gläschen Branntwein.

– »Da habt ihr Herren Bombardiere zuerst einen Schnaps,« sagte er. »Mein Welfe ist eigensinnig geworden. Wollt ihr ihm mit meiner Genehmigung Ruten geben?« ...

Da blickte der jüngere den älteren an und dieser antwortete:

– »Mit des Vaters Genehmigung kann man es stets, – das Gesetz erlaubt es.«

– »Na, merkt es euch also für die Zukunft. Wenn ich euch ein Zeichen gebe, – so nehmt ihr ihn ins Schlepptau, legt ihn vor Anker und walkt den Hinterraum! ... Jetzt macht alle drei, dass ihr fortkommt!« Ich ging darauf in meine Kanzlei, wo man mir sagte: der Vorgesetzte lässt dich rufen. Ich ging zu ihm. Er sass allein in seinem Kabinet im Sessel, blickte mich von der Seite an, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und schwieg. Dann wandte er sich zu mir um, winkte mich näher heran und blickte mich wieder an.

– »Wie kommen Sie dazu, zu träumen?« sagte er.

– »Gestatten Ew. Excellenz, ich erfülle meinen Dienst, wie mir scheint, mit ganzem Eifer und träume von nichts. Wie dürfte ich es wagen?« ...

– »So,« sagte er, »ich bin gar nicht Excellenz ... Thun Sie sich bitte keinen Zwang an, junger Mann. Jetzt ist das Mode ... Wir leben in einer Zeit, in der die Vorgesetzten gar nichts mehr zu bedeuten haben. Sie haben, scheint es mir, die Absicht, sich zu verheiraten?«

– »Das ist bei meinem Alter, Ew. Excellenz, und mit Genehmigung des Vorgesetzten vollständig gesetzlich.«

– »So, so ... Und auf wen haben Sie es abgesehen?«

Ich stockte. Er drohte mir mit dem Finger und sagte:

– »Siehst du, Kruglikow, dein Gewissen ist deinem Vorgesetzten gegenüber nicht rein, – du kannst nicht sprechen ... Na, lass nur. Vergiss dieses junge Mädchen, lass jeden Gedanken an sie fallen, es wird sich ein besserer Bräutigam als du für sie finden. Geh jetzt!«

Ich ging aus seinem Zimmer und die Thränen rannen mir nieder. In der Kanzlei wunderten sich alle. Wahrscheinlich hat er Schriftstücke verwechselt, sagten sie. Was kümmerten mich die Schriftstücke, die Welt war mir zum Ekel: hier sass der Vorgesetzte. Kam ich nach Hause: so liefen die Bombardiere heraus und schauten nach des Vaters Fenster, ob das Zeichen gegeben würde ... Ich konnte nirgends hin und wusste nicht, was ich thun sollte, denn ich sah keinen Ausweg. Ich verging fast vor Gram ... Der Vater merkte es auch, und verbot den Bombardieren, mich aufzuregen. Einmal kamen sie wegen des Zeichens herausgelaufen, da zitterte ich am ganzen Körper, fiel auf die Erde und Schaum trat mir aus dem Munde. Na, der Vater sah, dass er mich mit seiner Tyrannei ganz krank gemacht hatte, befahl aufzuhören, mich zu ängstigen, wurde nachdenklicher und vorsichtiger. Der Stolz war aber geblieben ... Sei Gott seiner Seele gnädig! So lange er lebte, liess er mich nicht im Stich. Dreimal im Jahre schrieb er mir und schickte mir Geld her. Vor dem Tode sandte er mir einen Brief: »Kannst du mir verzeihen, mein Sohn, dass ich dich unglücklich gemacht habe? ...« Gott wird ihm gewiss vergeben. Mir ... mir hat niemand verziehen ...

– Nun? – unterbrach wieder Kopylenkow das schwere, wenn auch kurze Schweigen und Kruglikow fuhr weiter fort:

– Mein Feind sah, dass ich schwach geworden war, und da wollte er mich vollends besiegen. Ungefähr nach einer Woche oder auch später, rief man mich zum Vorgesetzten, der mich ernst begrüsste:

– »Zieh dich an! Merke dir, Kruglikow«, sagte er, »dass ich nur Leute brauchen kann, die mir ganz ergeben sind ... Wer das aber nicht ist, den kann ich nicht weiter dulden.«

– Selbstverständlich! – lobte Kopylenkow diesen Gedanken. Kruglikow beachtete das nicht und fuhr in seiner Erzählung fort:

– Also, wir stiegen ein und fuhren ab. Wohin die Fahrt ging, davon hatte ich keine Ahnung, meine Herren ... Nach der Saidaschnastrasse, zu Raisa Pawlowna ...

– Wozu? – stiess ich unwillkürlich hervor.

Der alte Mann sah mich mit einem Blick an, in dem Trauer und Eitelkeit sich vereinigten.

– Als Brautwerber, – antwortete er nicht ohne Stolz.

– Weiss Gott, was Sie uns da erzählen, Wassili Spiridonowitsch!

– O, nein, nicht weiss Gott was, sondern die reine Wahrheit ... Denn sehen Sie ... Raisa Pawlowna hatte es gewünscht.

»Wenn Sie behaupten«, hatte sie gesagt, »dass er von mir lässt, dann schicken Sie ihn als Brautwerber ...«

– Donnerwetter, ist das ein Mädel ... Ein tolles Ding! – konnte sich Kopylenkow nicht enthalten, auszurufen.

– Und Sie gingen? – fragte ich mit unwillkürlichem Vorwurf.

– Ja, er nahm mich doch mit in seiner Equipage ... – antwortete befangen der Erzähler und wandte sich mit plötzlicher Schärfe an Kopylenkow:

– Sie können das nicht verstehen. Sie machen Bemerkungen und haben keinen Begriff von meinen Gefühlen.

– Habe es auch sehr nötig, dich zu verstehen, – parierte der bestürzte Kaufmann den unerwarteten Angriff.

– Na, dann schwei – gen Sie, – schnitt Kruglykow mit knarrender Stimme ab und wandte sich von neuem zu mir.

– Ja, mein verehrter Herr ... Wie Sie richtig zu sagen geruhten, ich fuhr hin ... Später fuhr man mich auch zum Vorlesen des Urteils ... man nennt es öffentliche Hinrichtung; auf einem Platze war es ... Und da war mir dennoch leichter. Glauben Sie mir, es war leichter ... Und dennoch fuhr ich mit ihm hin. Die Menschen haben es gesehen, wie wir beide in der Saidaschnastrasse aus der Equipage stiegen. Der General war finster, ich aber war kreidebleich ... Ja, und dennoch fuhr ich hin, mein verehrter Herr! Urteilen Sie darüber, wie es Ihnen Ihr Verstand erlaubt; ich fuhr hin ... Was sollte ich thun! ... Wir traten in das Vorzimmer, und begegneten gerade Dmitri Orestowitsch, dem Studenten. Er sah uns, blieb stehen, blickte mich an und sagte: »Na, ich dachte es mir. Der venezianische Prinz ist ja nett, das muss man sagen ... Und der schreckliche Seraskier ist auch da,« – damit meinte er den General.

Kruglikow seufzte und lächelte.

– Er hatte keine Furcht und eine scharfe Zunge. Der General wurde fast grün vor Zorn und sagte zu ihm: »Ich bin kein Seraskier für Sie, junger Mann! Ich bin kein Seraskier, sondern meines Kaisers Staatsrat! Bitte es nicht zu vergessen.« ... Dmitri Orestowitsch zuckte nur mit der Schulter und sagte: »Na, Sie können sein, was Ihnen beliebt, dass Sie sich aber umsonst bemühen, ist sicher.« Damit ging er hinaus; der General aber wandte sich zu mir: »Merke dir«, sagte er, »das werde ich dir nie vergessen, nie – mals ...« Sehen Sie, meine Herren, so sieht es aus mit der Gerechtigkeit in der Welt ... Der Student war grob gewesen, und ich wurde verantwortlich gemacht! ... Unterdessen waren wir durch den Saal gekommen und traten bei Raisa Pawlowna ein ... Meine Raja, die Braut des Generals, sitzt da, die verweinten grossen Augen hat sie direkt auf mich gerichtet ... Ich liess die Augen sinken ... Ist sie das wirklich, meine Rainka? denke ich. Nein, sie ist es nicht, oder sie steht auf einem Berge, auf einem sehr hohen Berge! ... Nun, ich stand auf der Schwelle, der General aber küsste ihr die Hand.

»Sie haben gezweifelt, meine Königin«, sagte er, »nun ist er aber doch gekommen! ...«

Sie stand auf, stützte sich mit den Händen auf ein Tischchen und blickte mich an, als ob sie mich nicht erkennen könne. Der General wandte sich auch zu mir um, beide sahen sie mich an, ich aber ... ich aber stand in Rajas Zimmer ... bei der Schwel ... le. »Wasenka« ... wollte sie offenbar sagen, sie warf sich aber auf die Chaiselongue und lachte ...

– »Können Sie ihn als Ihren Lakaien anstellen?« – sagte sie. Der General wurde vergnügt: »Ich kann es, wenn Sie, meine Schöne, es wünschen ...«

– »Dann nehmen Sie ihn, aber geben Sie ihm viel Gehalt, viel ... Gehalt ...«

Irgend etwas presste Herrn Kruglikows Kehle zusammen. Er liess den Kopf sinken, verbarg das Gesicht vor uns und Schweigen herrschte im Zimmer. Kopylenkow blickte den Schreiber mit weit geöffneten, wie es schien, erstaunten Augen an, ohne zu wagen, die Stille zu stören, die voll des schweren Bewusstseins der tiefen Demütigung eines Menschen war.

Endlich holte Kruglikow Atem und sah mich mit einem bleiernen trüben Blick an:

– In diesem Augenblick – sagte er – erfasste es mich, als ob ich aus einem Traume erwacht sei. Ich blickte um mich, das Zimmer war mir so bekannt, als ob ich mit Raitschka am Abend erst dort gesessen hätte ... Auf der Chaiselongue sass sie, das Gesicht mit den Händen bedeckt, vor ihr trippelte der General hin und her und neben ihnen stand das offene Tischchen ... Plötzlich erinnerte ich mich, wie ich die Pistole herausgenommen hatte ... Ja, sie steckt doch auch jetzt in deinem Mantel in der Tasche, denke ich ... Gut, wenn es niemand bemerkt hat ... Ich drehte mich leise um, ging in das Vorzimmer. Die Pistole steckte ruhig in der Brusttasche, als ob sie mich erwarte. Ich zog sie heraus und, – ich entsinne mich, – lachte sogar ... dann ging ich wieder zurück, und dachte, wenn sich der General nur nicht mit dem Gesicht zu mir wendet. Wenn er sich umgedreht hätte, wäre es wohl nicht geschehen. Aber Raisa Pawlowna weinte, das Gesicht hatte sie mit den Händen bedeckt, die der General fortzuziehen versuchte. Ich kam herein, Raisa Pawlowna nahm die Hände weg, blickte mich an und sass da wie erstarrt. Ich aber machte zwei Schritte. Wenn er sich nur nicht umwendet, dachte ich ... und dann bautz – bautz schoss ich auf ihn – von hinten.

– Du hast ihn getötet? – sagte Kopylenkow und erhob sich vor Schreck.

– Nein, ich habe ihn nicht getötet, – sagte Kruglikow mit einem Seufzer der Erleichterung, als ob die ganze Erzählung schwer auf ihm gelastet habe. – Die grosse Gnade Gottes hat es verhütet; die Schüsse waren zu schwach und trafen auch nur ins Fleisch ... Er fiel selbstverständlich hin, schrie, wälzte sich hin und her, und kreischte ... Raisa stürzte zu ihm. Als sie aber sah, dass er lebte und nur verwundet war, wandte sie sich ab. Sie wollte zu mir kommen ... »Wasenka, armer Wasenka«, sagte sie ... »Was hast du gethan? ...« – dann ging sie von mir ... warf sich in einen Sessel und weinte.

– »Herrgott«, schluchzte sie, »von hinten ... ist er herangeschlichen ... was für eine Gemeinheit ... Geht beide fort, verlasst mich ...« Und sie schluchzte stärker, viel stärker als zuvor und lachte ... Ein hysterischer Anfall! Dann kamen Menschen gelaufen. Nun, und das weitere ist ja bekannt: man verhaftete mich.

– Na, trinken wir eins! – sagte Kopylenkow. – Ist das alles? Das ist ja schrecklich! Und tollkühn sind Sie, wahrhaftig, tollkühn! ... Wie konnten Sie nur ...

– Ich kam vor das alte Gericht, wurde verurteilt ohne mildernde Umstände. Jetzt würde man vielleicht ... meine Kämpfe in Betracht ziehen, dass ich ein gequälter Mensch war ... Damals war man einfach schuldig. Man verschickte mich. Der Vater wurde in dem einen Jahr um zehn Jahre älter, magerte ab, verlor seine Gesundheit und seine Stelle; ich aber gehe hier zu Grunde.

– Und Raisa Pawlowna?

Herr Kruglikow stand auf, ging in sein Kämmerlein, nahm von der Wand ein Bild in einem verzierten Rahmen, der offenbar mit besonderer Mühe von einem kunstfertigen Verbannten gemacht war, und brachte es uns. Auf dem mit der Zeit ziemlich verblichenen Bilde erblickte ich eine Gruppe: eine junge hübsche Frau, ein Mann mit scharfen, charaktervollen Gesichtszügen, und einem klugen Ausdruck der grauen Augen, mit einer Brille, und zwei Kinder.

– Ist sie es wirklich? ...

– Sie ist es, – sagte Kruglikow ehrerbietig. – Raisa Pawlowna. Und das ist ihr Herr Gemahl, Dmitri Orestowitsch. Sie vergessen mich nicht. Zum neuen Jahr erwarte ich einen Brief. Und dieses Bild gaben sie mir auf meine inständigste Bitte, ja und ... Geld senden sie ... mir auch ...

Er sprach ehrerbietig, als ob es nicht dieselbe Raja war, mit der er einst von Königinnen und Prinzen gelesen hatte. Nur als er auf das ältere Mädchen, ein zierliches Kind mit hellen Haaren und grossen träumerischen Augen hinwies, zitterte seine Stimme wieder ein wenig.

– Sie gleicht Raisa Pawlowna, als Kind ... wie sich zwei Wassertropfen gleichen.

Er nahm das Bild, nach welchem der neugierig gewordene Kopylenkow die Hand ausstreckte, rasch an sich, trug es in sein Zimmer und stand lange dort vor der Wand, wie kurz zuvor vor der Postverordnung – – –

Ein Gespräch kam später nicht mehr zustande. Der Wächter brachte Holz für den Ofen herein. In der Kutscherstube war der Riesenkamin auch ganz mit Holz vollgestopft, da das Feuer die ganze Nacht unterhalten wurde. Es loderte auf und knisterte. Durch die halbgeöffnete Thüre sah man noch immer die Gestalten der Kutscher, die rings um das Feuer auf Bänken lagen.

At-Dawan bereitete sich auf die Nachtruhe vor. Herr Kruglikow gab uns das Nebenzimmer, wo Kopylenkow sofort einschlief. Das Stationszimmer blieb unbenutzt.

– Für Arabin? – fragte ich.

– Ja, – antwortete Kruglikow eigentümlich düster. Die Frau, die uns bedient hatte, schlief wahrscheinlich längst, deshalb besorgte er alles selbst: er warf kleine Stücke Eis in den Samowar, legte Kohlen hinein und stellte ihn für jeden Fall in die Nähe des Kamins. Dann räumte er den Tisch ab und versäumte nicht, beim Wegstellen der Flaschen noch ein Gläschen zu trinken. Er wurde immer finsterer, aber es schien, der Schlaf habe über ihn gar keine Macht.

Endlich verstummte alles auf At-Dawan. Nur ab und zu knisterte draussen der Frost und in den verdunkelten Zimmern, in denen jetzt nur banger rötlicher Wiederschein des Feuers hin und her huschte, hörte man dumpfe Schritte und das Scharren der Filzstiefel; von Zeit zu Zeit aber klirrte leise ein Glas und gluckste eine Flüssigkeit. Herr Kruglikow, den offenbar die aufgescheuchten Erinnerungen nicht einschlafen liessen, irrte wehmütig umher, seufzte, betete, oder brummte irgend etwas in den Bart.

Ich schlummerte ein. – – – – – – – –

Als ich erwachte, war es immer noch tiefe Nacht, aber At-Dawan war wieder voll Leben, glänzte und regte sich. Vom Hofe her ertönte Geläute, Thüren schlugen zu, Kutscher liefen hin und her, Pferde, die man schnell an den Wänden entlang vorbei führte, schnauften und schlugen mit den Hufen auf den knisternden Schnee, Kummete mit Schellen läuteten unruhig – und dies alles strömte in einer lärmenden Flut von der Station zu dem Flusse hinab.

Im Nebenzimmer zündete, ohne sich zu beeilen, Herr Kruglikow die Lichter an; das Schwefelstreichholz warf zuerst ein bläuliches Totenlicht um sich, dann leuchtete es plötzlich auf und erhellte das Zimmer.

Herr Kruglikow steckte das Licht an und wandte sich um. Unweit von ihm stand eine neue Gestalt: ein Mann in einem Renntierpelz mit einem Capuchon, ganz mit Schnee bedeckt. Unter dem letzteren blickten zwei schwarze Augen hervor, die ein wenig geschlitzt waren, wie bei einem Burjaten. Man sah ein bleiches Gesicht, eine feine Nase und langen schwarzen nach unten hängenden Schnurrbart. Daran erkannte ich den Herrn Arabin, den At-Dawan mit stillem Bangen und in Demut nun schon seit einigen Tagen erwartete. Und gleichzeitig war es mein bekannter Kosakenoffizier, unbedeutend und schüchtern in Irkutsk. Der erste Aufzug schien zu versprechen, dass alles glücklich verlaufen würde. Arabin war offenbar stark ermüdet; vielleicht vom langen Weg, vielleicht aber auch – von der Rolle des schrecklichen Arabin ... Es schien, er wolle sich einfach ausruhen, Thee trinken, und sich ein wenig ausstrecken ... Jetzt stand er, leicht nach vorne gebeugt, mit schlaftrunkenem Gesicht in Erwartung von Licht. Nur ab und zu leuchtete in den trüben Augen die Ungeduld auf ... Dagegen war mit Herrn Kruglikow eine starke Veränderung vorgegangen: er glich nicht mehr jenem kleinen unansehnlichen und lächerlichen alten Manne, der gestern so demütig bat, Mitleid mit ihm zu haben und keine Pferde zu verlangen. Jetzt war er düster, ernst und zurückhaltend. Seine Bewegungen waren gemessen und erfüllt von Entschlossenheit. Er schien sogar gewachsen zu sein. Anscheinend war die gestrige Erzählung, die grosse Menge Branntwein, dessen Dünste sein Gehirn nur gestreift hatten, das von alten aufgescheuchten Erinnerungen erhitzt war, und die Nacht ohne Schlaf – an Herrn Kruglikow nicht umsonst vorbeigegangen.

– Zum Teufel! – sagte Arabin ungeduldig. – Rühre dich schneller!

– Bitte seien Sie stiller, hier sind Reisende, – antwortete ruhig Kruglikow.

Arabin nahm seine Mütze ab und als er sie abgenommen hatte, blitzte in seinen schwarzen Augen etwas, wie Erstaunen. Jedoch er versuchte anscheinend noch immer, sich zu halten.

– Samowar! – brummte er, warf den Pelz ab und setzte sich an den Tisch.

– Bitte hier!

– Pferde?

– Bitte um das Fahrgeld.

Arabins kurzgeschorener Kopf, mit spitzen, in mongolischer Art leicht abstehenden Ohren, wandte sich unruhig und schnell um. In seinen Augen leuchtete irgend etwas stärkeres, als blosses Erstaunen auf. Er stand auf und sagte wieder:

– Schnell, lass die Pferde besorgen!

– Bitte um das Fahrgeld, – schnitt mit einer herausfordernden Ruhe Herr Kruglikow ab.

In meiner Nähe regte sich etwas. Der erwachte Kopylenkow versuchte halb sitzend auf dem Bette, ohne Geräusch irgend ein Kleidungsstück mit solch einem Aussehen anzuziehen, als ob auf der Station Feuer entstanden wäre. Sein Hals war nach vorne gestreckt, die gutmütig schlauen Augen leuchteten im Halbdunkel vor Schreck und Neugier.

– Na – na, was kommt jetzt, – flüsterte er, sich zu mir beugend, – ein Unglück! ... Und tollkühn ist dieser Kruglikow ... Merk dir, wir haben nichts gesehen, – man kommt sonst noch als Zeuge mit ... Jetzt erst nach diesen Worten begriff ich die Lage der Dinge ... Von Herrn Arabin, dem berüchtigten und schrecklichen Arabin Fahrgeld zu verlangen und noch dazu in solch einem entschlossenen Tone und als Bedingung der Verabfolgung von Pferden, – war seitens des bescheidenen, zwischen wilden Bergen verlorenen At-Dawan eine unerhörte Dreistigkeit. Arabin sprang auf, riss ärgerlich seine Tasche an sich, zog irgend ein Schriftstück hervor und schleuderte es Kruglikow zu. An allem sah man, dass er, ermattet und zerschlagen, sich in gewissen Grenzen halten wolle, dass ihm die Rolle des schrecklichen Arabin, jetzt zu dieser späten Stunde, auf dem warmen und erleuchteten At-Dawan schwer und unangenehm sei. Aber er wollte auch das Fahrgeld nicht zahlen, um so mehr, da diese stille bescheidene Lena eine Eigentümlichkeit hat: wenn Arabin in At-Dawan bezahlt hätte – so würde sein Ansehen mit einem Male gefallen sein und überall, auf der ganzen Strecke von dreitausend Werst, würden die Kutscher von einer Station zur anderen die Nachricht verbreiten, dass der schreckliche Herr Arabin sich ergeben und bezahlt habe ... Und überall würde man von ihm fortan das Fahrgeld verlangen. Er hoffte wahrscheinlich noch, dass Kruglikow vergessen habe, wer er, Arabin, eigentlich sei, und das Schriftstück würde ihn daran erinnern. Aber es fiel noch schlechter aus.

Kruglikow entfaltete, immer noch ohne sich zu beeilen, das Schriftstück, las es aufmerksam durch, verfolgte lange mit den Augen Zeile für Zeile und sagte dann: – Hier steht es: »Vier Pferde gegen Entrichtung des Fahrgeldes.« Sie aber nehmen sechs Pferde für zwei Schlitten und wollen das Fahrgeld nicht zahlen. Das ist nicht gesetzlich ...

Seine Stimme klang ruhig, aber sie schien sich über ganz At-Dawan zu verbreiten. Der Lärm, der die Station erfüllte, stockte, die Kutscher drängten sich mit banger Neugier an der Thüre, die aus der Kutscherstube in das Zimmer führte, Kopylenkow hielt den Atem an.

Arabin fuhr auf, warf einen lodernden Blick um sich, stand auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und über sein Gesicht huschte ein unheilverkündender Ausdruck.

– Schweig! – schrie er. – Was ist das ... ein Aufruhr?

– Es ist kein Aufruhr, sondern eine gesetzliche Forderung. Laut Ukas Seiner Kaiserlichen Majestät. Wie lange noch ...

Kruglikow hatte keine Zeit, den Satz zu Ende zu bringen. Ein starker Schlag warf ihn zu Boden ... Arabin wollte sich auf den Liegenden stürzen ...

Ich eilte ins Zimmer. Arabin stand mir gegenüber, erstaunt durch mein unerwartetes Erscheinen. Dasselbe rettete Kruglikow und Arabin selbst vor den weiteren Folgen seiner Raserei. Sein bleiches Gesicht zuckte, in den Augen flimmerte etwas Unruhiges und Krankes. Der Kosakenfähnrich, der an der Lena vergessen hatte, dass er nur ein Kosakenfähnrich sei, und der sich selbst als Herr Arabin, den mächtigen und schrecklichen Arabin empfand, der um Haupteslänge die Berge der Lena überragte, wurde durch mein plötzliches Erscheinen nach Irkutsk versetzt, in ein niedriges Zimmer, wo der Kopf des Fähnrichs bei weitem die Zimmerdecke nicht erreichte und sich nicht höher, als Dutzende von anderen ganz gewöhnlichen Köpfen erhob. Jedoch auf At-Dawan hatte niemand weder seine Verwirrung, noch seelische Bewegung bemerkt. At-Dawan hatte nur den Schlag gesehen, hatte gesehen, dass der Schreiber auf der Diele lag. Die Thüre zu der Kutscherstube fiel zu und auf dem Hofe entstand wieder das Hin- und Herlaufen. Von unserem Zimmer her hörte man das erheuchelte Schnarchen Michail Iwanowitschs – – – – – – – – – – –

Offenbar war der Aufruhr in At-Dawan unterdrückt und Herr Arabin war für At-Dawan derselbe mächtige und schreckliche Herr geblieben, von dem vor kurzem das Lied sang.

Nach einer Weile erhob sich Kruglikow von der Diele und unsere Augen begegneten sich. Ich wandte mich unwillkürlich ab. In Kruglikows Blick war etwas so Klägliches, dass mein Herz sich krampfte ... So blickt man nur bei uns in Russland! ... Er stand auf, ging zu der Wand, lehnte sich mit der Schulter daran und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Die Gestalt war wieder wie gestern, nur noch niedergeschlagener, unterwürfiger und kläglicher. Die Frau brachte eilig den Samowar herein, und warf rasch einen mitleidigen Seitenblick auf den Schreiber ... Arabin liess sich, schwer atmend, am Samowar nieder.

– Ich werde euch zeigen, was es heisst, sich aufzulehnen! – brummte er. Weiter konnte man nichts verstehen. Man hörte jedoch etwas von »Zeugen«, denen Herr Arabin den Rat gab, sich zum Teufel zu scheren, von der Ehre des Beamten und noch etwas dieser Art.

Indessen beendete im Halbdunkel unseres Zimmers Michail Iwanowitsch Kopylenkow schnell seine Toilette. Nach einigen Minuten erschien er in der Thüre, angekleidet, hüstelnd und versuchte, seinem Gesichte ein freundliches Lächeln zu verleihen.

Arabin blickte mit ärgerlichem Zweifel auf diese unerwartete Erscheinung. Anscheinend konnte er nicht gleich begreifen, was dieser lächelnde, tänzelnde und grüssende Unbekannte von ihm wolle, aber das freundliche Lächeln und die Verbeugungen machten ihn stutzig und bezwangen eine neue Aufwallung der sich noch nicht gelegten Wut. Er hielt in der leicht zitternden Hand die Untertasse mit heissem Thee und beobachtete von der Seite das Manöver Kopylenkows. – Was wollen Sie? – fragte er plötzlich scharf und stellte die Untertasse auf den Tisch.

Kopylenkow fuhr ein wenig zusammen, nahm aber sofort den früheren Ausdruck einer kriechenden Freundlichkeit an.

– Eigentlich nichts. Ich wollte Ihnen meine Hochachtung ... Sie erkennen mich wohl nicht ... Wir hatten einmal ein Gespräch, wenn Sie sich zu erinnern geruhen, bei Leo Stephanowitsch, dem Kreisrichter, und es kam sogar ein kleines Geschäft zustande ...

– Ah! ... Na, so, so, – sagte Arabin und begann wieder Thee zu trinken. – Jetzt entsinne ich mich.

– Ja, ja, – sagte Kopylenkow erfreut. – Darf ich Sie mit der Frage belästigen, aus welchem Anlass Sie jetzt geruhten ...

– Das geht Sie nichts an!

– Das ist wahr, – pflichtete Michail Iwanowitsch bescheiden bei.

Der arme Kerl konnte nicht begreifen, dass die blosse Erinnerung an Irkutsk, an den Kreisrichter, an all diese alltäglichen Dinge Herrn Arabin, der noch immer in einer episch märchenhaften Welt weilte, nicht angenehm sein konnte.

– Das ist wahr, – wiederholte Kopylenkow sinnend und um seine Position zu wahren, fügte er hinzu: – Sie haben sich hier ein wenig geärgert ... Ja, das ist wahr, hier wird auch ein Engel ärgerlich ... Das ist wahr.

Er warf einen Seitenblick auf Kruglikow und seufzte: – Ungebildete Leute!

Jedoch auch dieses half nichts. Arabin schenkte ihm keine Beachtung, trank sein Glas Thee aus, zog ein Notizbuch heraus, trug etwas ein, kleidete sich rasch an, stürzte zur Thüre, blieb aber stehen, blickte sich um, ob niemand von den Kutschern in der Thüre stehe, und sich wie auf etwas besinnend, warf er plötzlich mit einer hastigen Bewegung das Geld hin. Zwei Papierscheine flogen durch die Luft und das Silber rollte klirrend über die Diele hin. Arabin verschwand hinter der Thüre und nach einer Minute läuteten die Schellen wie wahnsinnig auf dem Flusse, unter dem Abhang.

Alles vollzog sich so unerwartet und schnell, dass wir alle drei wortlose Zeugen dieses Auftrittes waren, die sich nicht sofort besinnen konnten, was das bedeute. Wie stets in Geldangelegenheiten, erriet Kopylenkow es zuerst.

– Er hat bezahlt! – sagte er mit grossem Erstaunen. – Hörst du, Kruglikow? Da ist doch das Fahrgeld. Ach, du lieber Himmel! ... Ist das eine Geschichte.

Von den Kutschern hatte niemand dieses Nachgeben seitens des schrecklichen Arabin gesehen ...

###

Am andern Tage spät am Morgen nahm ich mit Kopylenkow wieder Platz in unserer Schlittenkutsche. Der Frost hatte nicht nachgelassen. Hinter den Bergen, die in dem Frostnebel auf der anderen Seite des Flusses in blauer Ferne auftauchten, brachen sich die Strahlen der aufgehenden Sonne in weissen Säulen Bahn. Die Pferde waren unruhig und die Kutscher hielten mit Mühe das Dreigespann.

Auf At-Dawan war es trostlos, grau und still. Kruglikow, erdrückt von dem ihn gestern getroffenen Unglück, niedergeschlagen und gedemütigt, begleitete uns bis zum Schlitten, vor Kälte, Katzenjammer und Trauer zitternd. Er half mit einer sklavischen Ergebenheit Kopylenkow in den Schlitten, bedeckte dessen Füsse mit Filz und zog ihm die Pelzdecke über.

– Michail Iwanytsch, – sagte er mit zaghaftem Flehen, – seien Sie mein Wohlthäter, vergessen Sie die Stelle nicht. Jetzt kann ich hier nicht weiter bleiben. Sie haben selbst gesehen, was passiert ist ...

– Gut, gut, Bruder! – antwortete Kopylenkow unwillig.

In diesem Augenblick sprangen die Kutscher, die die Pferde hielten, zur Seite, das Dreigespann zog an und wir jagten auf dem eisbedeckten Wege dahin. Das felsige Ufer blieb zurück, die nebeligen Berge, auf die ich gestern geschaut hatte, – geheimnisvoll und phantastisch im Mondschein, – bewegten sich auf uns zu, – düster und kalt.

– Nun, Michail Iwanowitsch, – fragte ich, als das Dreigespann einen gleichmässigen Trab anschlug, – werden Sie ihm die Stelle verschaffen?

– Nein, – antwortete Kopylenkow gleichgültig.

– Aber warum denn nicht?

– Ein gefährlicher Mensch ist es, sehr gefährlich, ja! ... Denken Sie mal über seine Handlungen nach. Wenn er damals in Kronstadt seinem Vorgesetzten den Gefallen gethan hätte, wäre alles gut. Er hätte sich von seiner Braut ganz und gar losgesagt und würde sein Lebenlang glücklich gewesen sein. Giebt es denn nicht genug andere Mädchen? Von einer sagt man sich los und nimmt einfach eine andere. So würde er ein gemachter Mann gewesen sein. – Und nun bedenken Sie, was er gethan hat! Schiesst mit einer Pistole. Urteilen Sie selbst! Kann man sich damit Sympathieen erwerben? – Was ist das für ein Benehmen? Heute erweise ich ihm einen Gefallen und morgen schiesst er auf mich.

– Aber das ist doch schon lange her. Jetzt ist er anders.

– Nein, sagen Sie das nicht! Haben Sie nicht gehört, wie er gestern mit Arabin gesprochen hat!

– Ich habe es gehört! Er verlangte das Fahrgeld – das war seine Pflicht. – Kopylenkow wandte sich ärgerlich zu mir:

– Sie sind doch ein vernünftiger Mensch und können solch eine einfache Sache nicht verstehen. Fahrgeld! ... Zahlt er es denn ihm allein nicht? Ich meine, er ist viele tausend Werst gefahren und hat nirgends bezahlt. Ihm soll er es aber zahlen, weil er so ein wichtiges Tier ist.

– Er war verpflichtet zu zahlen.

– Verpflichtet! Wer hat ihn verpflichtet? Sie doch nicht mit Ihrem Kruglikow.

– Es ist Gesetz, Michail Iwanowitsch.

– Gesetz ... der Andere redete gestern auch immer von Gesetz. Hat er denn eine Ahnung, was das Wort »Gesetz« bedeutet?

– Was?

– Sage es einmal, dieses Wort und zehnmal behalte es für dich, wenn man nicht fragt. Er aber thut sich gross. Gesetz, nach dem Gesetz! ... Dummkopf, eine Tracht Prügel hast du nötig, aber nicht das Gesetz. Hat sich unterstanden, einem Vorgesetzten das Gesetz unter die Nase zu halten ...

Da ich merkte, dass Michail Iwanowitsch über alle Massen ärgerlich war und befürchtete, die Sache endgültig zu verderben, versuchte ich, ihm in Kruglikows Interesse von einer anderen Seite beizukommen.

– Erinnern Sie sich doch, dass Sie es ihm versprochen haben, Michail Iwanowitsch ...

– Es giebt vieles, das ich versprochen habe ... Ich wurde vom Mitleid hingerissen, darum versprach ich es ...

– Hebe mich auf! – rief Michail Iwanowitsch, da der Schlitten in diesem Augenblick von einer schrägen Eisscholle hinabgeglitten und umgefallen war, sodass Michail Iwanowitsch sich wieder unter mir befand.

Wir mussten aussteigen. Wahrscheinlich war an dieser Stelle der Kampf des Flusses gegen den Frost besonders stark gewesen; ungeheure weisse kalte Eisschollen umringten uns von allen Seiten und verdeckten die Aussicht. Nur an den Seiten traten aus dem Nebel scharfe, wilde und in ihrer Grösse ungeheuerliche Berge hervor und in der Ferne über den chaotisch aufgetürmten Eisschollen zog ein kaum sichtbares Rauchwölkchen dahin ... Das war wahrscheinlich At-Dawan.

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