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In der Osternacht

Ostersonnabend im Jahre 187..

Der düstere Abend hatte sich schon längst über die verstummte Erde gesenkt. Erwärmt den Tag über und jetzt von dem kräftigen Atem des nächtlichen Frühlingsfrostes leicht umweht, schien sie aus tiefer Brust leise zu seufzen; durch ihr Atmen erhoben sich im Lichte des majestätisch leuchtenden Sternenhimmels spielende weissliche Nebel, wie die Wolken von Weihrauch, die dem nahenden Festtag entgegen schwebten.

Es herrschte völlige Stille. – Auch die kleine Gouvernementsstadt N. war ganz umweht von der düsteren Kühle und in stummer Erwartung des Augenblickes, wo von der Höhe des Turmes der Kathedrale der erste Glockenton erschallen würde. In Wirklichkeit aber schlief die Stadt nicht. Unter dem Schleier der feuchten Dämmerung im Schatten der schweigsamen menschenleeren Strassen spürte man die verhaltene Erwartung. Selten eilte ein Arbeiter daher, den der Feiertag fast bei der schweren, harten Arbeit überrascht hatte. Man hörte das Rasseln einer Droschke – und wiederum herrschte eine lautlose Stille ... Alles Leben war von den Strassen in die Häuser entwichen, in reiche Villen und bescheidene Hütten, deren Fenster einen Lichtschein auf die Gassen warfen, und hatte sich dort versteckt. Über der Stadt, über die Felder, über die ganze Erde hin hörte man das unsichtbare Wehen des nahenden Feiertages der Auferstehung und der Erlösung ...

Es war Neumond und die Stadt lag im breiten Schatten einer Anhöhe, auf der man ein grosses finsteres Bauwerk sah. Die seltsamen, geraden und strengen Linien desselben zeichneten sich schwarz gegen den sternenbesäeten tiefblauen Nachthimmel ab; der dunkle Eingang trat kaum hervor und gähnte im Düster der beschatteten Wand. Die vier Türme an den Ecken aber hoben sich scharf mit ihren Spitzen am Himmel ab.

Da plötzlich riss er sich von der Höhe des Domturmes los und schwebte in der gespannten Luft der sinnenden Nacht: der erste hallende Ton ... ein zweiter, ein dritter ... Nach einer Minute erschallten, klangen zusammen und sangen an verschiedenen Orten in wechselnden Tönen die Glocken, und ihre Laute verschmolzen sich zu einer mächtigen eigenartigen Harmonie, bewegten sich leise und schienen im Himmelsraume zu kreisen ... Von dem dunklen Bauwerk, das die Stadt beschattete, vernahm man ebenfalls hinfälliges klirrendes Geläute, das in der Luft zu zittern schien, vor kläglicher Kraftlosigkeit und in dem Wunsche sich mit dem mächtigen Akkord zur Himmelshöhe zu erheben. – – – – – – – Allmählich verstummte das Läuten ... Die Töne zerschmolzen in der Luft, und die Schweigsamkeit der Nacht trat ganz allmählich in ihre Rechte ein: noch lange schien man in der Dämmerung einen dumpfen Widerhall zu hören, wie das Schwirren einer unsichtbaren in der Luft gespannten Saite ... In den Häusern waren die Lichter erloschen; die Fenster der Kirchen leuchteten.

So gab die Welt im Jahre 187 ... wieder einmal das Zeichen zur Feier für den Sieg des Friedens, der Liebe und der Brüderlichkeit ...

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Am dunklen Thore des finstren Bauwerkes klirrte das Schloss. Ein kleiner Trupp Soldaten kam heraus, in der Dunkelheit mit den Gewehren rasselnd, um die Nachtwache abzulösen. Sie gingen zu den Ecken und machten eine Weile bei dem Posten Halt; aus der dunklen Menschengruppe trat mit gemessenen Schritten eine einzelne Gestalt hervor und die frühere Schildwache schien sich alsdann in dem unbestimmt dunklen Häuflein aufzulösen ... Dann bewegte sich der Trupp weiter und vollendete seinen Rundgang um die hohen Gefängnismauern.

Auf der westlichen Seite trat zur Ablösung des hier aufgestellten Wachtpostens ein junger Rekrut vor; in seinen Bewegungen stak noch die bäuerische Ungelenkigkeit; das junge Gesicht wies den Ausdruck der gespannten Aufmerksamkeit eines Neulings auf, der zum ersten Mal einen verantwortlichen Posten einnimmt. Er stellte sich mit dem Gesicht gegen die Mauer auf, rasselte mit dem Gewehr, that zwei Schritte, machte eine halbe Schwenkung und postierte sich Schulter an Schulter neben der früheren Schildwache. Die Letztere wandte ein wenig ihren Kopf zu ihm und sagte ihm in eintönigem Tone die übliche Formel:

– Von Ecke zur Ecke ... Acht geben ... nicht schlafen, nicht schlummern! – Der Rekrut aber hörte allem gespannt zu und in seinen grauen Augen schimmerte ein sonderbarer Ausdruck von Gram.

– Hast du verstanden? – fragte ihn der Gefreite.

– Zu Befehl!

– Na, nimm dich zusammen! – sagte jener streng und dann fügte er gutmütiger mit verändertem Tone hinzu:

– Hat nichts zu sagen, Fadejew, fürchte dich nicht! Bist doch kein Weib ... Wen brauchst du zu fürchten, etwa den Teufel?

– Warum den Teufel? – antwortete Fadejew naiv und fügte nachdenklich hinzu: – Es ist mir so ... schwer ums Herz, Bruder ...

Bei diesem gutmütigen fast kindlich klingenden Geständnis ertönte aus dem Häuflein der Soldaten ein Lachen.

– Da kommt der Bauer zum Vorschein! – sagte mit geringschätzigem Mitleid der Gefreite und befahl scharf:

– Gewehr über! ... Marsch!

Die Ablösung verschwand, im gleichmässigen Takte marschierend, hinter der Ecke und bald verhallten ihre Schritte. Der Posten warf sein Gewehr über die Schulter und ging langsam die Mauer entlang ...

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Im Innern des Gefängnisses entstand nach den letzten Glockenschlägen eine Bewegung. Die düstere und traurige Gefängnisnacht hatte lange kein ähnliches reges Treiben gesehen. Als ob mit dem Glockengeläute hier thatsächlich die Kunde von Freiheit eingedrungen wäre, öffneten sich die schwarzen Thüren der Zellen eine nach der anderen. Menschen in langen grauen Kitteln, mit verhängnisvollen bunten Flicken auf den Rücken zogen in langer Reihe paarweise die Korridore entlang und traten in die Gefängniskirche ein, die in Lichtschein glänzte. Sie kamen von rechts und von links, stiegen die Treppe hinauf und kamen von oben herab. Mit dem lauten Trampeln vermischte sich ab und zu das Rasseln der Gewehre und das tönende Klirren der Fussketten. Beim Hineingehen in die geräumige Kirche verteilte sich die Menge auf die gittergetrennten Plätze und verstummte dort. Auch an den Kirchenfenstern sah man starke Eisengitter ...

Die übrigen Gefängnisräume waren leer geworden. Nur in den vier Ecktürmen, in kleinen runden, festverschlossenen Gelassen irrten vier Sträflinge in ihren Einzelzellen finster, ruhelos hin und her, ab und zu lauschten sie an den Thüren und gierig fingen sie den abgerissenen Gesang auf, der aus der Kirche hinüberdrang ...

Ausserdem lag in einer allgemeinen Zelle auf der Pritsche noch ein Kranker. Der Direktor, dem man von dem plötzlichen Vorfall Mitteilung gemacht hatte, trat zu ihm, als die Sträflinge in die Kirche geführt wurden, beugte sich nieder und schaute in seine Augen, die in sonderbarem Glanze leuchteten und stumpf in die Ferne gerichtet waren.

– Iwanow! ... Höre, Iwanow! – rief der Direktor dem Kranken zu.

Der Sträfling wandte den Kopf nicht um; er murmelte irgend etwas unverständliches; die Stimme war heiser; die erhitzten Lippen bewegten sich schwerfällig. – Bringt ihn morgen ins Lazarett! – befahl der Direktor, ging hinaus und liess an der Thüre der Zelle einen Aufseher zurück.

Dieser blickte den im Fieber liegenden Gefangenen aufmerksam an und schüttelte den Kopf.

– Ach, Landstreicher, Landstreicher! Scheinst mit deinem unsteten Leben fertig zu sein, Bruder! – und da er zu der Überzeugung gekommen war, dass er hier nichts zu thun habe, ging der Aufseher den Korridor entlang zur Kirche hin, blieb vor der verschlossenen Thüre stehen und hörte dem Gottesdienst zu, wobei er oft niederkniete.

In der leeren Zelle erklang ab und zu das undeutliche Murmeln des Kranken.

Es war noch kein alter Mann, stark und kräftig. Er phantasierte, und durchlebte nochmals die letzten Ereignisse. Sein Gesicht verzerrte sich vor Qual.

Das Schicksal hatte dem Landstreicher schlimm mitgespielt. Er war tausend Werst gewandert durch die Taiga, den grossen sibirischen Wald, und über wilde Berge geirrt, hatte tausend Gefahren und Entbehrungen überstanden, gejagt von der heissen Sehnsucht nach der Heimat, nur von einer einzigen Hoffnung geleitet: »Sie nur sehen ... einen Monat ... eine Woche ... bei den Seinigen eine kleine Spanne Zeit leben ... und dann ... meinetwegen den Weg zurück!« Hundert Werst von seinem Heimatsdorfe entfernt, kam er in dieses Gefängnis ...

Jetzt verstummte das undeutliche Murmeln. Die Augen des Landstreichers weiteten sich, die Brust atmete gleichmässiger ... Den brennenden Kopf umwehen freudige Träume ...

… Die Taiga rauscht ... Er kennt dieses Rauschen – gleichmässig, singend, frei ... Er hat gelernt die Stimmen des Waldes zu unterscheiden, die Sprache jedes Baumes. Die majestätischen Fichten klingen hoch, hoch, mit dem dichten dunklen Grün ... Die Tannen flüstern gedehnt und laut; die lustige, helle Lärche schwingt den biegsamen Zweig; die Espe zittert und bebt mit dem wachsamen ängstlichen Blatte ... Es pfeift der freie Vogel, ein Bach eilt redselig und unbändig durch die steinigen Schluchten, und die Waldspione – eine Schar geschwätziger Elstern – schweben in der Luft über dem Wege, wo im Dickicht unsichtbar der Landstreicher durch die Taiga geht.

Ein Windstoss des freien Waldes schien den Kranken zu umwehen. Er erhob sich, seufzte tief; die Augen blickten aufmerksam in die Ferne und plötzlich leuchtet in ihnen etwas wie Bewusstsein auf.

Der Landstreicher, der gewohnheitsmässige Flüchtling, erblickte eine ungewöhnliche Erscheinung: eine offene Thür. Ein mächtiger Instinkt rüttelte den ganzen von der Krankheit erschütterten Organismus auf. Die Anzeichen des Phantasierens verschwanden rasch oder gruppierten sich um die einzige Vorstellung, die wie ein heller Strahl dieses Chaos durchschnitt: allein! ... die Thür ist offen! ...

Nach einer Minute stand er auf der Diele. Es schien, das ganze Fieber des erhitzten Gehirns habe sich zu den Augen gedrängt: sie schauen so ruhig, unverwandt und schrecklich.

Jemand öffnete beim Hinaustreten aus der Kirche auf einen Augenblick die Thüre ... Wogen eines einheitlichen, durch die Entfernung gedämpften Gesanges berührten das Ohr des Landstreichers und verstummten wieder. Über das bleiche Gesicht flog etwas wie Rührung, die Augen umflorten sich und in seinem Kopfe huschte ein im Traume längst gehegtes Bild vorüber: eine stille Nacht, flüsternde Fichten, die sich mit den dunklen Zweigen über die alte Kirche des Heimatdorfes gebeugt haben ... eine Menge Landleute, Lichter auf dem Flusse und derselbe Gesang ... Er eilte davon, um dies alles dort, bei den Seinigen zu hören ...

Eifrig betete indessen der Aufseher im Korridor bei der Kirchenthüre und beugte sich tief zur Erde ...

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Der junge Soldat geht mit dem Gewehr die Mauer entlang auf und ab. Vor ihm breitet sich ein ebenes Feld aus, das seit kurzem vom Schnee entblösst ist und das sich weit in der Ferne verliert. Ein leichter Wind eilt darüber hin und raschelt mit dem vertrockneten Steppengras, klirrt im vorjährigen Grase und umweht die Seele des Soldaten mit ruhigen, traurigen Gedanken.

Die junge Schildwache blieb an der Mauer stehn, stellte das Gewehr auf die Erde, legte die Hände auf die Mündung, den Kopf auf die Hände und verlor sich weiter in tiefen Gedanken. Er konnte sich nicht klar vorstellen, warum er hier stehe, in dieser feierlichen Nacht vor dem Festtage, mit einem Gewehr, unter der Mauer dem öden Felde gegenüber. Überhaupt war er noch ein rechter Bauer, er verstand vieles nicht, was dem Soldaten so begreiflich ist und man neckte ihn nicht umsonst: »Ungeschlachter Bauer«. Vor kurzem noch war er frei, war sein eigner Herr, hatte sein Feld, seine Arbeit ... und jetzt jagte eine unfassbare, unerklärliche, unbegreifliche Macht, die jeden seiner Schritte, jede seiner Bewegungen verfolgte, die junge und ungelenke ländliche Natur im Geleis des strengen Dienstes.

Aber in diesem Augenblick war er allein ... Die öde Ferne, welche sich vor seinen Augen ausbreitete, und das Pfeifen des Windes im Steppengrase wehten einen Schlummer auf ihn herab und vor den Augen des jungen Soldaten eilten heimatliche Bilder dahin. Auch er sah sein Dorf und derselbe Wind jagte darüber hin, die Fenster der Kirche leuchteten hell und die dunkeln Fichten wiegten über der Kirche die grünen Wipfel ...

Zuweilen schien er zur Besinnung zu kommen und dann schimmerte in seinen grauen Augen Zweifel: was ist das? – ein Feld, das Gewehr und die Wand ... Auf einen Augenblick entsinnt er sich der Wirklichkeit, aber bald weht das dumpfe Läuten des nächtlichen Windes wieder die heimatlichen Bilder herbei und der Soldat schlummert weiter, gestützt auf sein Gewehr ...

Unweit von der Stelle, wo die Schildwache steht, erscheint auf dem Rücken der Mauer ein dunkler Gegenstand: es ist der Kopf eines Menschen ... Der Landstreicher blickt auf das weite Feld, zu dem kaum sichtbaren Streifen des entfernten Waldes ... Seine Brust weitet sich und fängt gierig den frischen freien Hauch der mütterlichen Nacht auf. Er lässt sich mit den Händen hinab und gleitet leise die Wand hinunter ...

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Das freudige Getön der Glocken weckt die nächtliche Stille. Die Thüre der Gefängniskirche öffnet sich, in den Hof ergiesst sich die Kirchenprozession; der gemeinsame Gesang strömt wie eine Woge aus der Kirche. Der Soldat zuckte zusammen, stellte sich gerade hin, nahm die Mütze ab, um sich zu bekreuzen und ... steht regungslos mit den zum Gebet erhobenen Händen ... Der Landstreicher hatte den festen Boden erreicht und lief schnell zu dem Steppengras.

– Halt, Halt! ... Täubchen, mein Lieber! ... – ruft die Schildwache aus und erhebt erschreckt das Gewehr.

Alles, was er gefürchtet, wovor er gezittert hat, kommt über ihn, formlos, schrecklich – angesicht dieser fliehenden grauen Gestalt.

»Der Dienst, die Verantwortung!« – zuckt es in seinem Kopfe auf; er reisst das Gewehr an die Wange und zielt auf den fliehenden Menschen. Ehe er den Hahn abdrückt, schliesst er mit kläglichem Ausdruck die Augen ... Über die Stadt hin schwebt von neuem und kreist im Himmelsraum das volle singende Geläute und ... wieder zittert und klingt die gesprungene Glocke des Gefängnisses, wie das Stöhnen eines getroffenen Vogels ... Hinter den Mauern hervor eilen voll und rein weit in das Land die ersten Töne des Triumphliedes: »Christ ist erstanden!« Plötzlich dröhnte hinter der Mauer ein Schuss, alles übrige übertönend ... Ein schwaches, hilfloses Stöhnen folgte wie eine ziellose Klage und dann verstummte auf einen Augenblick alles ...

Nur das ferne Echo des öden Feldes gab mit traurigem Murmeln das letzte Rollen des Schusses zurück ...


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