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Eine Weihnachtsgeschichte
Diese Traumbilder hat der arme Makar gesehen, der seine Kälber in weitentlegene düstere Gegenden getrieben, – derselbe Makar, auf den sprichwörtlich alles Unglück hagelt.
Seine Heimat – das abgelegene Dörfchen Tschalgan – war wie verloren in der weiten jakutschen Taiga. Die Väter und Grossväter Makars hatten der Taiga ein Stück durchfrorenen Bodens abgewonnen und obgleich der düstere Wald immer noch ringsumher wie eine feindliche Mauer war, verloren sie den Mut nicht. Längs der ausgerotteten Stelle liefen Umzäunungen hin, erhoben sich Getreidehaufen und Heuschober, wuchsen kleine verräucherte Hütten; schliesslich ragte auf einem Hügel mitten in der Ansiedlung wie eine Siegesfahne ein Kirchturm zum Himmel. – Tschalgan wurde ein grosses Dorf.
Aber während die Väter und Grossväter Makars mit der Taiga kämpften, sie mit Feuer versengten, mit Eisen niederschlugen, verwilderten sie selbst unbemerkt. Sie verheirateten sich mit Jakutinnen und nahmen die Sprache und Sitten der Jakuten an. Die charakteristischen Kennzeichen des grossen russischen Stammes verwischten sich und verschwanden.
Mag das alles vielleicht auch anders sein; mein Makar erinnerte sich stets daran, dass er ein Urbauer aus Tschalgan sei. Er war hier geboren, hatte hier gelebt und wollte auch hier sterben. Er war sehr stolz auf seinen Stand und zuweilen schimpfte er andere »gemeine Jakuten«, obgleich er, offen gesagt, sich selbst weder in Gebräuchen, noch in der Lebensweise von den Jakuten unterschied. Russisch sprach er wenig und ziemlich schlecht, kleidete sich in Tierfelle, trug an den Füssen weiche hirschlederne Stiefel, nährte sich zu gewöhnlichen Zeiten von Fladen mit stark gezogenem Ziegelthee, zu Feiertagen aber und anderen besonderen Gelegenheiten ass er gerade so viel zerlassene Butter, wie vor ihm auf dem Tisch stand. Er ritt sehr kunstgerecht auf Ochsen und wenn er krank war, liess er den Schamane (Zauberpriester) holen, der sich wie wahnsinnig gebärdend, mit Zähneknirschen auf ihn stürzte und versuchte, die in Makar steckende Krankheit zu erschrecken und zu verjagen.
Er arbeitete schrecklich darauf los, blieb arm und litt durch Hunger und Kälte. Hatte er auch andere Gedanken, ausser der ständigen Sorge um Fladen und Thee? – Ja, er hatte auch andere Gedanken.
Wenn er betrunken war, weinte er, – »Was für ein Leben führen wir, – sagte er dann – Herrgott!« Ausserdem meinte er zuweilen, er möchte alles lassen und »auf den Berg« gehen. Dort würde er weder pflügen noch säen, weder Holz fällen, noch es heimfahren, er würde sogar mit der Hand auf dem Mühlstein das Korn nicht mahlen. Er würde nur seine Seele retten. Was das für ein Berg sei, wo er sich befinde, wusste er nicht bestimmt; er wusste nur, dass erstens dieser Berg vorhanden und zweitens, dass der Berg irgendwo weit entfernt war, – so weit gelegen, dass ihn dort sogar der Herr Kreisrichter nicht einmal erreichen konnte ... Steuern würde er selbstverständlich nicht zahlen ...
In nüchternem Zustande liess er diese Gedanken fallen, vielleicht, weil er sich der Unmöglichkeit bewusst war, solch einen wunderbaren Berg zu finden; aber wenn er betrunken war, wurde er kühner. Alsdann gab er die Möglichkeit zu, dass er den richtigen Berg nicht finden und zu einem verkehrten gelangen würde. »Dann gehe ich zu Grunde,« – sagte er, aber dennoch wollte er sich auf den Weg machen. Wenn er nun diese Absicht nicht ausführte, so lag es vielleicht daran, dass die hier angesiedelten Tataren ihm stets schlechten Branntwein verkauften, welcher der stärkeren Wirkung wegen vorher auf Bauerntabak gegossen war. Hierdurch verlor Makar bald die Kräfte und wurde krank.
Es war Weihnachtsabend und Makar wusste, dass morgen ein grosser Feiertag sei. Aus diesem Anlass quälte ihn das Verlangen zu trinken, aber er hatte nichts zu vertrinken: Sein Kornvorrat ging auch zur Neige und ausserdem schuldete er schon den Kaufleuten des Ortes und den Tataren. Indessen morgen war ein grosser Feiertag, arbeiten durfte man da nicht, – was sollte er also thun, wenn er sich nicht betrinken konnte. Dieser Gedanke machte ihn unglücklich. Was führte er überhaupt für ein Leben! Nicht einmal an dem grossen Feiertag des Winters konnte er eine Flasche Branntwein trinken!
Da kam ihm ein glücklicher Gedanke. Er stand auf und zog seinen zerrissenen Pelz an. Seine Frau, ein kräftiges, sehniges, merkwürdig starkes und ebenso merkwürdig hässliches Weib, das alle seine thörichten Gedanken genau kannte, erriet auch diesmal seine Absicht.
– Wohin willst du, Teufel? Du willst wieder allein Branntwein trinken?
– Sei still! – Ich kaufe eine Flasche. Morgen trinken wir sie zusammen aus.
Er schlug sie so stark auf die Schulter, dass sie schwankte, und ihm schlau zublinzelte. So ist das Weiberherz.
Sie wusste, dass Makar sie unbedingt anführen würde, aber sie ergab sich dem Zauber der Zärtlichkeit des Gatten.
Er trat hinaus, fing sich in der Koppel das alte haarlose Pferd ein, zog es an der Mähne zum Schlitten und spannte es ein. Gleich darauf trug das Pferd seinen Herrn vor das Thor. Dort blieb es stehen, wandte den Kopf um und blickte fragend den in Gedanken versunkenen Makar an. Der aber zog die linke Leine und lenkte das Pferd gegen das Ende des Dorfes. Dort stand eine kleine Hütte. Aus ihr stieg, wie auch aus den anderen Hütten, der Rauch des Herdes hoch, hoch empor und verdeckte mit weissem, wogenden Dunste die kalten Sterne und den hellen Mond. Lustig glitzerten die Lichtreflexe in den trüben Eisstücken. Draussen war es still.
Hier lebten fremde Menschen aus weiter Ferne. Wie sie hierher gekommen, welcher Sturm sie in die weiten Wälder geschleudert hatte, wusste Makar nicht und es interessierte ihn auch nicht, aber er hatte gern mit ihnen zu thun, weil sie ihn nicht drängten und nicht sehr auf den Preis sahen.
Als er in die Hütte eingetreten war, ging Makar sofort zum Feuer und streckte seine erstarrten Hände aus. – Huh! – sagte er, das Gefühl der Kälte äussernd. Die fremden Menschen waren zu Hause. Auf dem Tische brannte ein Licht, obgleich sie nichts thaten. Der eine lag auf dem Bette, blies Ringe vor sich hin und verfolgte sinnend die Rauchwölkchen. Anscheinend verband er mit ihnen die langen Fäden der eigenen Gedanken. Der andere sass dem Herde gegenüber und beobachtete ebenfalls sinnend, wie die Flammen das angebrannte Holz umzüngelten.
– Guten Abend! – sagte Makar, um das ihn drückende Schweigen zu brechen.
Er ahnte nicht, welcher Kummer die Herzen der Fremden drückte, welche Erinnerungen sich an diesem Abend in ihrem Hirn zusammendrängten, welche Bilder ihnen bei dem phantastischen Spiel des Feuers und der Rauchwolken vorschwebten. Ausserdem drückte ihn sein eignes Leid.
Der junge Mann, der am Herde sass, hob sein Gesicht und schaute Makar mit ausdruckslosem Blick an, als ob er ihn nicht erkenne. Dann schüttelte er den Kopf und erhob sich rasch von seinem Sitz.
– Ah, guten Abend, guten Abend, Makar! Das ist sehr nett. Willst du Thee mit uns trinken?
Dies Anerbieten gefiel Makar.
– Thee trinken? – sagte er. – Das ist gut! ... Das ist sehr gut, Bruder.
Schnell entledigte er sich seiner Kleidung und nachdem er den Pelz ausgezogen und die Mütze abgenommen hatte, fühlte er sich freier und als er gar erblickte, dass in dem Samowar brennende Kohlen leuchteten, wandte er sich mit seinem Seelenerguss an den jungen Mann:
– Ich habe Euch gern, das ist wahr! ... Ich habe Euch sehr gern, sehr gern! Die Nächte schlafe ich darüber nicht ...
Der fremde Mann wandte sich um und auf seinem Gesicht erschien ein bittres Lächeln.
– So, du hast uns gern? – sagte er. – Was brauchst du denn?
Makar war unschlüssig.
– Ich komme allerdings mit einem Anliegen, – antwortete er. – Ja, woher weisst du das denn?
– Na, schon gut. Wenn wir Thee getrunken haben, sage ich es.
Da die Wirte ihm von selbst Thee angeboten hatten, hielt Makar es für zweckmässig, weiter zu gehen.
– Habt ihr nicht auch etwas Gebratenes? Ich habe es gern, – sagte er.
– Nein, es ist nichts da.
– Na, hat nichts zu sagen, – sagte Makar in beruhigendem Tone, – ich esse es ein anderes Mal ... Nicht wahr? – fragte er – ein anderes Mal? ...
– Gut.
Jetzt waren die fremden Leute ihm seiner Ansicht nach ein Stück gebratenes Fleisch schuldig. Derartige Schulden aber vergass er niemals.
Nach einer Stunde setzte er sich wieder in seinen Schlitten. Er hatte einen ganzen Rubel erhalten, weil er fünf Fuhren Holz unter verhältnismässig günstigen Bedingungen im voraus verkauft hatte. Es ist wahr, er hatte hoch und teuer geschworen, dass er dieses Geld heute nicht vertrinken würde, hatte aber die feste Absicht, es sofort zu thun. Was war schliesslich dabei? Das bevorstehende Vergnügen unterdrückte alle Gewissensbisse. Er dachte nicht einmal daran, dass ihn tüchtige Prügel von der betrogenen treuen Gattin erwarteten, wenn er betrunken heimkam.
– Wohin fährst du denn, Makar, – rief ihm lachend der fremde Mann zu, als er sah, dass Makars Pferd anstatt geradeaus zu gehen, links in der Richtung zu den Tataren abbog.
– Halt! ... Halt! ... Siehst du, was für ein verfluchtes Pferd ... wohin es nun wieder läuft! – rechtfertigte sich Makar, indem er dennoch die linke Leine stark anzog und unbemerkt mit der rechten den Gaul antrieb.
Das kluge Tier wedelte vorwurfsvoll mit dem Schwanz, trottete langsam in der gewünschten Richtung und bald verstummte das Knirschen der Schlittenkufen am Thore der Tataren.
Am Thore der Tataren waren etliche Pferde mit hohen jakutischen Sätteln angekoppelt.
In der engen Hütte war es dumpfig. Der scharfe Rauch des Bauerntabaks stand in einer grossen Wolke und wurde langsam von dem Rauchfang des Herdes eingesogen. Hinter den Tischen und auf den Bänken sassen zugereiste Jakuten; auf den Tischen standen Tassen mit Branntwein; hie und da sah man Gruppen von Kartenspielern. Die Gesichter waren erhitzt und gerötet. Die Augen der Spieler folgten wild den Karten. Das Geld wurde herausgezogen und sofort wieder in den Taschen versteckt. In einer Ecke sass auf Stroh ein halbbetrunkener Jakute, wiegte sich hin und her und sang ein endloses Lied. Er brachte wilde knarrende Laute hervor, mit denen er in verschiedenen Tonarten versicherte, dass morgen ein grosser Feiertag und dass er heute betrunken sei.
Makar gab sein Geld hin und man überreichte ihm eine Flasche. Er steckte dieselbe in den Busen und ging unbemerkt von den anderen in eine dunkle Ecke. Dort schenkte er sich eine Tasse nach der anderen ein und sog sie aus. Der Branntwein war bitter und wegen des Feiertages mehr als zu dreiviertel mit Wasser verdünnt. Dafür hatte man anscheinend den Bauerntabak nicht gespart. Makars Atem stockte jedesmal auf einen Augenblick und vor seinen Augen tanzten rote Ringe.
Bald stellte sich der Rausch bei ihm ein. Auch er liess sich auf das Stroh nieder, umfasste seine Kniee mit den Armen und legte den schweren Kopf darauf. Seiner Kehle entströmten von selbst dieselben sinnlosen knarrenden Töne. Er sang, dass morgen ein Feiertag sei und dass er fünf Fuhren Holz vertrunken habe. Unterdessen wurde es in der Hütte immer beklommener und dumpfiger. Neue Gäste traten ein, Jakuten, die zum Gebet und um tatarischen Branntwein zu trinken, angekommen waren. Der Wirt sah, dass bald die Plätze nicht ausreichen würden. Er stand vom Tische auf und warf einen Blick auf die Versammelten. Dieser Blick drang in die dunkle Ecke und entdeckte dort den Jakuten und Makar.
Er trat zu dem Jakuten, packte ihn am Kragen und warf ihn zur Thür hinaus. Darauf kam er zu Makar, dem er als einem Ortsbewohner mehr Ehre erwies: er machte die Thüre weit auf und versetzte dem armen Kerl solch einen Fusstritt, dass er zur Hütte hinausflog und mit der Nase in einen Schneehaufen fuhr. Es ist schwer zu sagen, ob Makar durch eine solche Behandlung gekränkt war. Er fühlte, dass in seinen Rockärmeln und auch auf dem Gesichte Schnee sei. Nachdem er mit Müh und Not aus dem Schneehaufen hervorgekrochen war, trottete er zu seinem Pferde.
Der Mond stand schon hoch. Der grosse Bär liess seinen Schweif sinken. Der Frost wurde stärker. Ab und zu zeigten sich im Norden hinter einer dunklen halbrunden Wolke, schwach spielend, die feurigen Säulen des beginnenden Nordlichtes.
Das Pferd, das offenbar die Lage seines Herrn begriff, trabte vorsichtig und vernünftig nach Hause. Makar sass im Schlitten, schwankte hin und her und setzte seinen Gesang fort. Er sang, dass er fünf Fuhren Holz vertrunken habe und dass ihn seine Alte prügeln werde. Die Töne, die sich seiner Kehle entrangen, knarrten und stöhnten in der Nachtluft so trostlos und kläglich, dass dem fremden Manne, der um diese Zeit auf seine Hütte gestiegen war, den Rauchfang des Herdes zu schliessen, bei dem Liede Makars noch trauriger zu Mute wurde. Unterdessen hatte das Pferd den Schlitten eine kleine Anhöhe hinaufgezogen, von wo aus man die Umgebung übersah. Der Schnee glänzte hell von dem Mondlicht übergossen. Zeitweise schien der Glanz zu schmelzen, der Schnee wurde dunkler und glitzerte alsdann im Wiederschein des Nordlichtes. Da schien es, als ob die Schneehügel und die Taiga auf ihnen sich bald näherten, bald wieder entfernten. Makar sah deutlich dicht am Walde die Schneefläche des Jamalachschen Hügels, hinter dem er im Walde Fallen für allerhand Waldtiere und Vögel aufgestellt hatte.
Das gab seinen Gedanken eine andere Richtung. Er hub an zu singen, dass in seine Falle ein Fuchs geraten sei. Morgen verkauft er das Fell, und seine Alte wird ihn nicht prügeln.
In der frostigen Luft erklang der erste Glockenton, als Makar in seine Hütte eintrat. Vorerst teilte er der Alten mit, dass ein Fuchs in seine Falle geraten sei. Er hatte ganz und gar vergessen, dass die Alte keinen Branntwein mit ihm getrunken hatte, und war sehr verwundert, als sie ihm bei der frohen Nachricht einen heftigen Schlag verabreichte. Als er dann auf das Bett fiel, hatte sie gerade noch Zeit, ihm mit der Faust einen Stoss in den Rücken zu geben.
Über Tschalgan aber erklang und ergoss sich weit, weit das feierliche festliche Läuten ...
Makar lag auf dem Bette. Sein Kopf brannte. Sein Inneres brannte wie Feuer. Durch seine Adern verbreitete sich die starke Mischung von Branntwein mit Tabaksaufguss. Über sein Gesicht rieselten kleine kalte Ströme geschmolzenen Schnees; ebensolche flossen ihm auch den Rücken entlang.
Die Alte dachte, dass er eingeschlafen sei. Aber er schlief nicht. Der Fuchs wollte ihm nicht aus dem Sinn. Er war vollständig überzeugt, dass der Fuchs in die Falle geraten sei; er wusste sogar, in welche Falle. Er hatte ihn doch gesehen, – gesehen, wie er eingeklemmt von dem schweren Holzscheit, mit den Krallen den Schnee aufgewühlt hatte und versuchte, loszukommen. Die Mondstrahlen durchdrangen das Dickicht und spielten auf dem rotgoldenen Fell. Die Augen des Tieres funkelten ihm entgegen.
Er hielt es nicht länger aus, stand vom Bette auf und ging zu seinem treuen Pferde, um in den Wald zu fahren. Aber was ist los? Haben denn die starken Hände der Alten ihn am Kragen seines Pelzes gepackt und ihn wieder auf das Bett geworfen?
Nein, er ist schon ausserhalb des Dorfes. Die Kufen knirschen gleichmässig auf dem festen Schnee. Tschalgan ist zurückgeblieben. Hinter ihm klang das feierliche Summen der Kirchenglocke und über dem dunklen Streifen des Horizonts flimmern am hellen Himmel lange Reihen schwarzer Silhouetten berittener Jakuten mit hohen spitzen Mützen. – Die Jakuten eilen zur Kirche. Der Mond stand tiefer, oben aber ganz im Zenith schwebte eine weissliche kleine Wolke und leuchtete in schimmerndem Phosphorglanze. Dann zerriss sie, breitete sich aus, floss auseinander und rasch zogen von ihr nach verschiedenen Seiten Streifen bunten Feuers. Die halbrunde dunkle Wolke im Norden aber wurde noch dunkler. Sie wurde ganz schwarz, noch schwärzer als der Wald, dem Makar sich näherte.
Der Weg schlängelte sich zwischen niedrigem zerstreuten Gebüsch dahin. Rechts erhoben sich Hügel, links ebenfalls. Je weiter er vordrang, desto höher waren die Bäume. Der Wald wurde dichter. Schweigend und geheimnisvoll stand er da. Die kahlen Zweige der Lärchen waren mit silbernem Reif bedeckt. Das weiche Leuchten des Nordlichtes drang durch ihre Wipfel und wogte im Walde, hie und da streifte es bald eine schneebedeckte Lichtung, bald die liegenden Leichen der gestürzten Waldriesen, die vom Schnee verweht waren ... Ein Augenblick – und alles versank wieder im Dunkel des Schweigens und Geheimnissvollen.
Makar hielt inne. An dieser Stelle, hart am Wege, begann der Anfang einer ganzen Folge von Fallen. Bei dem Phosphorlichte sah er deutlich die niedrige Umzäunung aus Reisig; er sah sogar die erste Falle – drei schwere lange Scheite, die auf einen schrägen Pfahl gestützt, unter einigem Aufwand von Schlauheit mit Hebeln und aus Haaren geflochtenen Schnüren verbunden waren.
Es ist richtig, das waren fremde Fallen; der Fuchs aber konnte auch in fremde geraten sein. Makar stieg eilig aus dem Schlitten, liess das kluge Pferd auf dem Wege und lauschte aufmerksam.
Im Walde hörte man keinen Ton. Nur aus dem fernen, jetzt unsichtbaren Dorfe klang wie früher das feierliche Läuten herüber. Man brauchte keine Angst zu haben. Der Eigentümer der Fallen, Aleschka aus Tschalgan, ein Nachbar und Todfeind von Makar sass jetzt sicher in der Kirche. Man sah keine Spur auf der glatten Fläche des vor kurzem gefallenen Schnees. Er eilte in das Dickicht, – es war nicht das Geringste dort. Unter seinen Füssen knirschte der Schnee. Die Fallen standen nebeneinander, wie Reihen von Kanonen mit offenen Schlünden in schweigsamer Erwartung.
Er ging hin und her, – umsonst. Er kehrte wieder auf den Weg zurück.
Da – pst! ... Ein leichtes Rascheln ... Im Dickicht schimmerte ein rötliches Fell, diesmal auf einer beleuchteten Stelle, ganz in der Nähe. Makar sah deutlich die spitzen Ohren eines Fuchses; mit seinem buschigen Schwanz wedelte er hin und her, als ob er Makar in das Dickicht locken wolle. Dann verschwand er hinter den Stämmen in der Richtung zu Makars Fallen und bald darauf ertönte im Walde ein dumpfer, aber starker Fall. Zuerst klang er abgerissen, dumpf, dann aber hallte er unter dem Dache des Waldes wieder und erstarb leise in einer entfernten Schlucht. Makars Herz klopfte. Die Falle war zugeschlagen.
Er zwängte sich durch das Dickicht und stürzte hin. Kalte Zweige trafen seine Augen und schüttelten ihm den Schnee ins Gesicht. Er stolperte; sein Atem stockte.
Nun kam er auf den Holzweg hinaus, den er selbst einmal durchgehauen hatte. Bäume, weiss von Reif, standen zu beiden Seiten, unten aber schimmerte der schmale Pfad und an seinem Ende lauerte der Schlund einer grossen Falle ... Es ist nicht weit bis dort ... Auf dem Pfade aber, neben der Falle tauchte eine Gestalt auf, – tauchte auf und verschwand. Makar erkannte Aleschka aus Tschalgan: er sah deutlich die kleine, stämmige, nach vorne gebeugte Gestalt mit der Gangart eines Bären. Makar erschien es, dass das finstere Gesicht Aleschkas sich noch verfinstert habe und dass die grossen Zähne mehr entblösst seien, als gewöhnlich. Er empfand eine aufrichtige Entrüstung. »Das ist ein Schuft! ... Er geht zu meinen Fallen.« Wahr ist's, Makar ist selbst soeben auch bei den Fallen Aleschkas gewesen, aber das ist doch ein Unterschied ... Der Unterschied bestand darin, dass er stets die Angst des Erwischtwerdens empfand, wenn er zu fremden Fallen ging; wenn aber fremde Leute zu seinen Fallen gingen, fühlte er Entrüstung und das Verlangen den Schänder seiner Rechte zu erwischen. Er lief quer hinüber nach der zugeschlagenen Falle. Dort war der Fuchs. Aleschka ging mit seinen breitspurigen Bärenschritten ebenfalls dorthin. Er musste sehen, zuerst da zu sein.
Dort war die zugeklappte Falle. Unter ihr schimmerte rötlich das Fell des gefangenen Tieres. Der Fuchs wühlte im Schnee mit den Krallen, genau so, wie Makar es früher gesehen hatte und schaute ihm ebenso mit seinen scharfen brennenden Augen entgegen.
– Rühr ihn nicht an! ... Er gehört mir! – rief Makar Aleschka zu.
– Rühr ihn nicht an! ... klang, wie ein Echo, die Stimme Aleschkas. – Er gehört mir!
Sie liefen beide gleichzeitig hin und hoben eilig um die Wette die Falle auf, um den Fuchs zu befreien. Als die Falle gehoben war, sprang der Fuchs auf, that einen Sprung zur Seite, blieb stehen, blickte die beiden spöttisch an, leckte sich dann, die Schnauze beugend, die vom Holzscheit gequetschte Stelle und lief fröhlich und freundlich mit dem Schwanze wedelnd, davon.
Aleschka stürzte ihm nach, Makar aber erwischte ihn am Saum seines Pelzes.
– Rühr ihn nicht an! – rief er. – Er gehört mir! – und lief dem Fuchse nach.
– Rühr ihn nicht an! – ertönte wieder wie ein Echo Aleschkas Stimme und Makar fühlte, dass jener ihn jetzt am Pelz ergriffen hatte und zugleich voraus gelaufen war.
Makar wurde wütend. Er hatte den Fuchs vergessen und jagte dem fliehenden Aleschka nach.
Sie liefen immer schneller. Ein Lärchenzweig riss Aleschka die Mütze vom Kopfe, aber er hatte keine Zeit sie aufzuheben: Makar war ihm auf den Fersen mit wütendem Schreien. Aleschka aber war stets schlauer als der arme Makar. Er blieb plötzlich stehen, wandte sich um und liess den Kopf sinken. Makar rannte mit dem Bauch darauf und purzelte in den Schnee. Während er hinfiel, riss Aleschka die Mütze von Makars Kopf und verschwand im Walde. Makar erhob sich langsam. Er fühlte sich ganz zerschlagen und sehr unglücklich. Sein Seelenzustand war trostlos. Der Fuchs war in seinen Händen gewesen und jetzt ... Ihm schien, als ob der Fuchs im tiefsten Dickicht noch einmal mit dem Schwanze spöttisch gewedelt habe und dann endgültig verschwunden sei.
Es war dunkeler geworden. Die weissliche kleine Wolke war kaum noch sichtbar. Sie schien langsam völlig zu schmelzen und ihr entströmten matt und müde die sterbenden Strahlen des Nordlichtes. Über Makars erhitzten Körper liefen ganze Ströme des geschmolzenen Schnees. Der Schnee war ihm in die Ärmel, hinter den Kragen des Pelzes geraten, rieselte den Rücken hinab und floss in die Stiefel. Der verfluchte Aleschka hatte seine Mütze mitgenommen. Die Handschuhe hatte er irgendwo beim Laufen verloren. Es war eine schlimme Sache. Makar wusste, dass die strenge Kälte mit den Menschen, die ohne Handschuhe und ohne Mütze in den Wald gehen, nicht scherzt.
Er wanderte schon lange. Nach seiner Berechnung musste er längst aus Jamalach heraus sein und den Kirchturm sehen, aber er war noch immer im Walde. Das Dickicht hielt ihn, wie verzaubert, in einer Umarmung. Von weitem klang noch immer dasselbe feierliche Läuten. Es schien sich ihm zu nähern, aber dann entfernte es sich immer mehr und je leiser und leiser seine Töne herüberflogen, um so stärker nahm die dumpfe Verzweiflung im Herzen Makars zu.
Er war müde. Er war niedergedrückt. Die Füsse versagten ihren Dienst. Sein zerschlagener Körper schmerzte. Der Atem stockte. Dann erstarben ihm Hände und Füsse. Seinen entblössten Kopf umspannten glühende Reifen.
– »Ich werde zu Grunde gehen!« – tauchte es öfter und öfter in seinem Kopfe auf. Aber er schritt immer weiter. Der Wald schwieg und verschloss sich mit einer feindseligen Hartnäckigkeit hinter ihm und gewährte ihm nirgends weder einen Ausblick, noch eine Hoffnung. »Ich werde zu Grunde gehen!« – dachte Makar in einem fort.
Nun war er völlig schwach geworden. Jetzt schlugen ihn die jungen Bäume, ohne sich irgend welchen Zwang anzuthun, direkt ins Gesicht und verhöhnten ihn in seiner hilflosen Lage. An einer Stelle, es war auf einer kleinen Lichtung, kam ein weisser Hase angelaufen, setzte sich auf die Hinterpfoten und bewegte die langen Ohren, welche schwarze Flecken an den Spitzen hatten. Dann begann er sich zu waschen und dabei Makar die frechsten Fratzen zu schneiden. Er gab zu verstehen, dass er Makar genau kenne, – wisse, dass er derselbe Makar sei, der im Walde allerhand schlaue Fallen zu seinem, des Hasen, Verderben aufgebaut habe. Jetzt aber verhöhne er ihn. Makar wurde es schlimm zu Mute. Indessen belebte sich der Wald, aber in feindseliger Art. Sogar die weiterstehenden Bäume reckten die langen Zweige auf seinen Pfad, fassten ihn an die Haare, schlugen ihn ins Gesicht und in die Augen. Birkhühner kamen aus ihren geheimen Verstecken hervor und schauten ihn mit neugierigen runden Augen an, die Hähne aber liefen mit gespreiztem Schwanze und Flügeln umher und erzählten ihren Weibchen laut von Makar und seinen Schlichen. Schliesslich tauchten im tiefen Dickicht Tausende von Fuchsschnauzen auf. Sie schnupperten und blickten ihn an. Und die Hasen stellten sich vor ihnen auf die Hinterpfoten und erzählten laut lachend das Unglück Makars.
»Ich gehe zu Grunde!« – dachte Makar und beschloss dies unverzüglich in die That umzusetzen.
Er legte sich in den Schnee.
Der Frost wurde noch stärker. Das letzte Schillern des Nordlichtes leuchtete ganz schwach, huschte über den Himmel und blickte Makar durch die Wipfel des Waldes an. Der sterbende Wiederhall der Glocke drang von dem weiten Tschalgan herüber.
Das Nordlicht flammte noch einmal auf und erlosch. Der letzte Nachklang des Geläuts verzitterte und Makar war gestorben.
Wie das geschehen war, hatte er nicht gemerkt. Er wusste, dass ihn irgend etwas verlassen müsse und wartete darauf, dass es aus ihm fortzöge ... Aber nichts derartiges geschah. Er war sich bewusst, dass er schon tot sei und deshalb lag er still ohne Bewegung da. Er lag lange so, – so lange, dass es ihm langweilig wurde.
Es war vollständig dunkel als Makar fühlte, dass ihn jemand mit dem Fuss anstiess. Er wandte den Kopf und öffnete die geschlossenen Augen.
Die Lärchen über ihm standen jetzt demütig und still, als ob sie sich ihrer früheren Streiche schämten. Die zottigen Tannen streckten ihre breiten schneebedeckten Tatzen aus und wiegten sich leise, leise. In der Luft rieselten ebenso leise strahlende Schneeflocken.
Helle gute Sterne blickten vom blauen Himmel durch die dichten Zweige und schienen zu sagen: »Seht, nun ist der arme Mensch gestorben.«
Vor dem Körper Makars stand der alte Pope Iwan und stiess ihn mit dem Fuss. Sein langer Priesterrock war mit Schnee bedeckt; Schnee sah man auch auf der Pelzmütze, auf den Schultern und dem langen Barte. Am merkwürdigsten aber war der Umstand, dass es derselbe Pope Iwan war, der vor vier Jahren gestorben war.
Das war ein guter Pope. Er hatte Makar nie wegen seines Deputats gedrängt, sogar niemals Geld für Amtshandlungen verlangt. Makar bestimmte selbst die Accidenzien für Taufe und Dankmessen und jetzt erinnerte er sich voller Scham, dass er zuweilen zu wenig bezahlt und manchmal gar nicht gezahlt hatte. Der Pope Iwan hatte sich nicht gekränkt gefühlt; er verlangte nur eins: Man musste ihm jedesmal eine Flasche Branntwein vorsetzen. Wenn Makar kein Geld hatte, schickte der Pope Iwan selbst eine Flasche und sie tranken dieselbe zusammen. Der Pope betrank sich unbedingt bis zur Bewusstlosigkeit, aber dabei fing er sehr selten eine Prügelei an und nie besonders stark. Makar brachte ihn dann hilf- und schutzlos nach Hause in die Obhut seiner Frau.
Ja, das war ein guter Pope, aber er war eines schlechten Todes gestorben. Einmal, als alle ausgegangen waren und der betrunkene Pope allein im Bette liegen blieb, fiel es ihm ein zu rauchen. Er stand auf und ging schwankend zu dem riesigen stark geheizten Kamin, um am Feuer seine Pfeife anzustecken. Weil er aber so stark betrunken war, verlor er das Gleichgewicht und fiel in das Feuer. Als seine Angehörigen nach Hause kamen, waren von ihm nur die Beine übrig geblieben.
Alle bedauerten den guten Popen Iwan; aber da von ihm allein die Beine übrig geblieben waren, konnte kein Arzt der Welt ihn mehr kurieren. Die Beine bestattete man und an die Stelle des Popen Iwan kam ein anderer.
Jetzt stand dieser Pope heil und ganz vor Makar und berührte ihn mit dem Fusse.
– Steh auf, Makaruschka, – sagte er. – Komm mit.
– Wohin soll ich gehen? – fragte Makar unzufrieden.
Er meinte, da er doch einmal schon »zu Grunde gegangen sei«, so sei es seine Pflicht, ruhig zu liegen und nicht wieder im Walde herumzulaufen und ohne Weg umher zu irren. Wozu war er denn gestorben, wenn es nicht so war?
– Wir gehen zu dem Herren!
– Warum soll ich zu ihm gehen? – fragte Makar.
– Er wird dich richten, – sagte der Pope mit trauriger und ein wenig gerührter Stimme.
Makar erinnerte sich, dass man nach dem Tode thatsächlich irgendwo vor Gericht zu erscheinen habe. Er hatte darüber irgend wann einmal in der Kirche etwas gehört. Folglich hatte der Pope Recht. Er musste also schon aufstehn.
Und Makar stand auf und brummte vor sich hin, dass man den Menschen nicht einmal nach dem Tode in Ruhe lasse.
Der Pope ging voran, Makar folgte ihm. Sie gingen immer geradeaus. Die Lärchen bogen sich demütig zur Seite und gaben ihnen den Weg frei. Sie gingen gegen Osten.
Makar bemerkte verwundert, dass der Pope Iwan im Schnee keine Spuren hinterliess. Er blickte unter seine eigenen Füsse und sah auch keine Spuren: der Schnee war rein und glatt, wie eine Tischdecke.
Er dachte, dass es jetzt für ihn sehr bequem sei, fremde Fallen aufzusuchen, da niemand es erfahren könne; aber der Pope, der offenbar seine geheimen Gedanken erraten hatte, wandte sich um und sagte:
– Lass ab davon! Du weisst nicht, was dir für jeden solchen Gedanken bevorsteht.
– Schon gut! – antwortete Makar unzufrieden. – Nicht mal denken darf man! Warum bist du jetzt so streng geworden? Schweig lieber! ...
Der Pope schüttelte den Kopf und ging weiter.
– Ist es noch weit zu gehen? fragte Makar.
– Es ist weit, – antwortete der Pope betrübt.
– Was werden wir denn essen? – fragte Makar wieder voll Besorgnis.
– Du hast wohl vergessen, – antwortete der Pope sich zu ihm wendend, – dass du gestorben bist und dass du jetzt nicht zu essen und zu trinken brauchst. Dieses gefiel Makar nicht besonders. Gewiss, wenn man nichts zu essen hat, ist es gut, aber dann muss man auch so daliegen, wie er gleich nach seinem Tode gelegen hatte. Wandern, und noch dazu weit wandern und nichts essen, das erschien ihm ganz sinnlos. Er brummte wieder vor sich hin.
– Murre nicht! – sagte der Pope.
– Schon gut! – antwortete er gekränkt, fuhr aber fort für sich zu klagen und brummen über die schlechte Einrichtung: »Man zwingt einen Menschen zum Wandern und zu essen braucht er nicht! Das ist unerhört!«
Er war die ganze Zeit unzufrieden, während er dem Popen folgte. Lange gingen sie so. Makar sah zwar die Morgenröte noch nicht, aber dem Wege nach zu urteilen, mussten sie schon eine volle Woche unterwegs sein: so viele Schluchten und spitze Berge, Flüsse und Seen hatten sie hinter sich gelassen, so viele Wälder und Ebenen hatten sie durchwandert. Wenn Makar sich umsah, schien der dunkle Wald auch seinerseits zurück zu fliehen, die hohen Schneeberge aber zerflossen im Nachtdunkel und verschwanden rasch hinter dem Horizont.
Anscheinend stiegen sie beide immer höher und höher. Die Sterne wurden grösser und heller. Dann kam hinter dem Rücken der Anhöhe, die sie empor gestiegen, der Rand des untergegangenen Mondes hervor. Er beeilte sich, zu fliehen, aber Makar mit dem Popen holte ihn ein. Schliesslich erhob er sich von neuem über den Horizont. Sie gingen über eine Hochebene. Jetzt wurde es hell, – viel heller, als bei Anbruch der Nacht. Das kam sicher davon, dass sie nun den Sternen viel näher waren. Jeder von denselben hatte die Grösse eines Apfels und glänzte fortwährend; der Mond aber, gleich dem Boden eines grossen goldenen Fasses, leuchtete wie die Sonne und ergoss sein Licht über das Hochplateau von einem Ende bis zum anderen.
Man sah ganz deutlich jede Schneeflocke. Viele Wege durchzogen sie und alle mündeten an einer Stelle im Osten. Auf dem Wege gingen und fuhren Menschen in allerlei Trachten und von verschiedenem Aussehen. Plötzlich bog Makar, der aufmerksam einen Reiter betrachtet hatte, vom Wege ab und lief ihm nach.
– Halt, Halt! – rief der Pope, aber Makar hörte ihn gar nicht. Er hatte einen Tataren erkannt, der vor sechs Jahren sein scheckiges Pferd gestohlen hatte und vor fünf Jahren gestorben war. Jetzt ritt der Tatare dasselbe scheckige Pferd. Das Pferd bäumte sich in einem fort. Unter seinen Hufen flogen ganze Wolken von Schneestaub auf, der im bunten Wiederschein des Sternlichtes leuchtete. Makar wunderte sich beim Anblicke dieses wahnsinnigen Rittes, dass er zu Fuss so leicht den Tataren einholen konnte. Übrigens, als der Tatare einige Schritte von sich entfernt Makar erblickte, hielt er ganz von selbst an. Makar fiel hitzig über ihn her. – Gehen wir zu dem Starost! – schrie er. – Das ist mein Pferd! Sein rechtes Ohr ist durchschnitten ... Schau, wie gewandt du bist! ... Reitest da auf fremdem Pferde, der Besitzer aber geht zu Fuss, wie ein Bettler!
– Warte! – sagte darauf der Tatare. – Wir brauchen nicht zum Starost zu gehen. Du sagst, es ist dein Pferd? ... Na, nimm es dann! Verfluchtes Tier! Das fünfte Jahr reite ich schon auf ihm und komme fast nicht von der Stelle ... Die Fussgänger holen mich so oft ein; ein ordentlicher Tatare muss sich desselben schämen.
Und er hob das Bein, um aus dem Sattel zu steigen, aber da kam völlig ausser Atem der Pope herangelaufen und ergriff Makar bei der Hand.
– Unglücklicher! – rief er, – was thust du? Siehst du denn nicht, dass der Tatare dich betrügen will?
– Gewiss betrügt er mich, – schrie Makar und schwenkte die Arme: – das Pferd war gut, ein echtes Wirtschaftspferd ... Man bot mir schon im dritten Jahr vierzig Rubel dafür ... Nein, Bruder! Wenn du das Tier zu Schanden gemacht hast, schlachte ich es zum essen, du aber bezahlst mich in blankem Gelde. Meinst wohl, weil du ein Tatare bist, so kann man keinen Schutz dir gegenüber erhalten?
Makar ereiferte sich und schrie absichtlich, damit sich mehr Leute um ihn sammelten, weil er gewohnt war, die Tataren zu fürchten. Aber der Pope dämpfte seinen Eifer.
– Ruhig, sei still, Makar! Du vergisst immer, dass du schon gestorben bist ... Wozu brauchst du ein Pferd? Ja, und ausserdem, merkst du denn nicht, dass du zu Fuss viel schneller vorwärts kommst, als der Tatare? Oder willst du lieber volle tausend Jahre reiten?
Makar begriff, warum der Tatare ihm so bereitwillig das Pferd abtreten wollte.
»Schlaues Volk!« – dachte er und wandte sich an den Tataren.
– Es ist gut! Reite du zu Pferde, ich aber werde dich verklagen, Bruder.
Der Tatare stülpte ärgerlich die Mütze auf und schlug das sich bäumende Tier. Schneewolken stäubten unter seinen Hufen, aber bevor Makar und der Pope sich nicht auf den Weg machten, kam der Tatare keinen Schritt weiter.
Er spie ärgerlich aus und wandte sich zu Makar:
– Hör mal, Freund, hast du nicht etwas Tabak? Ich habe ein schreckliches Verlangen zu rauchen, mein Tabak aber ist seit vier Jahren schon alle!
– Ein Hund, nicht aber ich, ist dein Freund! – antwortete ärgerlich Makar. – Sieh mal: du hast mein Pferd gestohlen und bittest mich noch um Tabak! Du kannst ganz und gar zu Grunde gehen, mich wird es nicht dauern.
Mit diesen Worten setzte Makar seinen Weg fort.
– Schade, dass du ihm keinen Tabak gegeben hast, – sagte der Pope Iwan. – Der Herr hätte dir dafür nicht weniger als hundert Sünden am Tage des Gerichts vergeben.
– Ja, warum hast du mir das nicht früher gesagt? – gab Makar ärgerlich zur Antwort.
– Jetzt ist es zu spät, dich zu belehren. Du musst das früher von deinen Popen erfahren haben. Makar wurde böse. Von den Popen hatte er nichts Vernünftiges gelernt: sie nahmen ihr Deputat mit ruhigem Gewissen, hatten ihn aber nicht mal gelehrt, wann man einem Tataren etwas Tabak geben muss, um Vergebung der Sünden zu erhalten. Es war doch kein Spass: hundert Sünden ... und alles nur eines einzigen Blättchens Tabak wegen! ... Das lohnte sich doch!
– Warte, – sagte er. – Wir haben genug an einem Blatte Tabak, die andern vier aber gebe ich dem Tataren. Das sind vierhundert Sünden.
– Sieh dich um, – sagte der Pope.
Makar wandte sich um. Hinter ihm breitete sich nur die weisse öde Ebene aus. Der Tatare tauchte auf einen Augenblick als ein weitentferntes Pünktchen auf. Makar schien es, als ob er gesehen habe, wie der weisse Staub unter den Hufen seines Schecken hervorfliege, aber nach einer Sekunde war auch dies verschwunden. – Na, auch gut! – sagte Makar. –
Der Tatare wird schon ohne Tabak auskommen. Siehst du: er hat das Pferd zu Schanden geritten, der Verfluchte!
– Nein, – sagte der Pope, – er hat dein Pferd nicht zu Schanden geritten, aber es ist ein gestohlenes. Hast du denn nie von alten Leuten gehört, dass man auf einem gestohlenen Pferde nicht weit kommt?
Makar hatte dies in der That von alten Leuten gehört, aber da er nicht selten im Leben gesehen hatte, dass die Tataren auf gestohlenen Pferden bis zur Stadt geritten waren, schenkte er selbstverständlich den alten Leuten keinen Glauben. Jetzt aber kam er zu der Überzeugung, dass auch alte Leute manchmal recht haben.
Viele Reiter holte er auf der Ebene ein. Alle jagten ebenso rasch, wie der erste. – Die Rosse flogen wie Pfeile dahin, die Reiter waren mit Schweiss bedeckt, aber Makar überholte sie fortwährend und liess sie weit hinter sich zurück.
Meistens waren es Tataren, aber er sah auch Bewohner von Tschalgan; einige von ihnen sassen auf gestohlenen Ochsen und trieben sie mit einer Weidengerte an.
Makar blickte die Tataren feindselig an und jedesmal brummte er, dass dies noch eine geringe Strafe für sie sei. Wenn er aber Landsleute aus Tschalgan sah, blieb er stehen und unterhielt sich gutmütig mit ihnen; sie waren, obwohl Diebe, doch seine Freunde. Zuweilen äusserte er sogar seine Teilnahme dadurch, dass er eine Weide vom Wege aufhob und die Ochsen und Gäule damit antrieb; aber kaum hatte er einige Schritte gethan, so blieben die Reiter als kaum erkennbare Punkte zurück.
Die Ebene schien endlos zu sein. Sie überholten zwar oft berittene Menschen und Fussgänger, aber ringsum erschien doch alles leer. Zwischen je zwei Wanderern schienen hunderte oder sogar tausende von Werst zu liegen.
Unter all diesen Gestalten sah Makar einen unbekannten Greis; anscheinend war derselbe aus Tschalgan; das merkte man an seinem Gesichte, an der Kleidung, sogar am Gange, aber Makar konnte sich nicht entsinnen, ihn jemals vorher gesehen zu haben. Der alte Mann trug einen zerrissenen Pelz, alte lederne Hosen und zerrissene Stiefel aus Kalbleder. Aber was am schlimmsten war, – er trug, trotz seines Alters, auf den Schultern ein noch älteres Weib, dessen Füsse auf der Erde schleiften. Der Alte atmete schwer, stolperte und stützte sich schwer auf seinen Stock. Makar bemitleidete ihn und blieb stehn. Der Alte that desgleichen.
– Erzähle! – sagte Makar freundlich.
– Nein, – antwortete der Alte.
– Nichts habe ich gehört.
– Was hast du gesehen?
– Nichts habe ich gesehen.
Makar schwieg eine Weile und danach hielt er es für angebracht zu fragen, wer jener sei und woher er komme.
Der Alte nannte seinen Namen. Schon lange, – er wusste selbst nicht vor wieviel Jahren, – hatte er Tschalgan verlassen und war »auf den Berg« gegangen seine Seele zu retten. Dort hatte er nichts gethan, und sich von Torfbeeren und Wurzeln genährt, er hatte weder gepflügt, noch gesäet, weder auf dem Mahlstein das Korn gemahlen, noch Steuern gezahlt. Als er gestorben, war er zu dem Herrn gegangen vor das Gericht. Der Herr hatte ihn gefragt, wer er sei und was er gethan habe. Er hatte erzählt, dass er auf den Berg gegangen sei und seine Seele gerettet habe. »Sehr gut«, – hatte der Herr gemeint, »aber wo ist deine Alte? Geh, bring sie mal her.« Und da war er gegangen, seine Alte zu holen. Die Alte aber hatte vor ihrem Tode betteln müssen, weil niemand dagewesen war, sie zu ernähren; sie hatte weder Haus noch Kuh, noch Brot. So war sie schwach geworden und ihre Füsse trugen sie nicht, und nun trug er sie zum Herrn.
Der Alte weinte, die Alte aber schlug ihn mit dem Fuss, wie einen Ochsen und sagte mit schwacher, aber ärgerlicher Stimme: – Trage mich weiter!
Makar that der alte Mann noch mehr leid und er freute sich von ganzem Herzen, dass es ihm nicht gelungen war »auf den Berg zu gehen.« Seine Alte war ein grosses starkes Weib und ihm würde es noch schwerer gewesen sein, sie zu schleppen. Und wenn sie ihn ausserdem noch mit dem Fuss gestossen hätte wie einen Ochsen, so hätte sie ihn sicher zum zweiten Mal tot geritten.
Mitleidig fasste er die Alte an den Beinen, um dem Freunde zu helfen, aber kaum hatte er ein paar Schritte gethan, als er die Beine loslassen musste, damit sie nicht in seinen Händen blieben. Einen Augenblick später war der Alte mit seiner Last aus den Augen verschwunden.
Von nun an trafen sie keine Menschen mehr, die Makar einer besonderen Beachtung gewürdigt hätte. Es waren Diebe, die wie Lasttiere mit gestohlenen Sachen beladen waren und die Schritt für Schritt vorwärts gingen; dicke reiche Jakuten sassen auf hohen turmartigen Sätteln und stiessen mit ihren hohen Mützen an die Wolken. Arme Knechte liefen hüpfend dahin, mager und leicht wie Hasen. Ein finstrer Mörder ging ganz mit Blut bedeckt und wildirrendem Blicke. Umsonst warf er sich in den reinen Schnee, die blutigen Flecke abzuwaschen. Der Schnee rötete sich sofort und die Flecken an dem Mörder traten noch deutlicher hervor. In seinen Blicken sah man wilde Verzweiflung und Schrecken. So ging er immer weiter und wich den fremden erschrockenen Blicken aus.
Kleine Kinderseelen tauchten oft in der Luft gleich Vögeln auf. Sie flogen in grossen Scharen und Makar wunderte sich nicht darüber. Die schlechte grobe Nahrung, der Schmutz, der Kamindunst und der kalte Luftzug in den Hütten brachten sie fast zu Hunderten in Tschalgan allein schon um. Wenn sie dem Mörder nahekamen, wichen sie in erschreckter Schar weit zur Seite und noch lange nachher hörte man in der Luft das rasche unruhige Schwirren ihrer kleinen Flügel.
Makar bemerkte, dass er im Verhältnis zu den anderen ziemlich rasch vorwärtsschreite, und er beeilte sich, dies seiner Tugend zuzuschreiben.
– Höre, Vater, – sagte er, – was meinst du? Obwohl ich im Leben gern getrunken habe, war ich doch ein guter Mensch. Gott hat mich gern ... Er blickte den Popen Iwan forschend an und hatte den Hintergedanken, etwas von ihm zu erfahren. Aber der Pope sagte kurz:
– Sei nicht stolz! Wir sind bald da, dann erfährst du es selbst.
Makar hatte nicht bemerkt, dass es auf der Ebene lichter zu werden schien. Zuerst brachen hinter dem Horizont, wie erste Klänge eines mächtigen Orchesters, einige helle Strahlen hervor. Sie durcheilten schnell den Himmelsraum, die hellen Sterne auszulöschen. Und die Sterne erloschen, der Mond ging unter, und die Schneeebene wurde dunkel.
Dann erhoben sich Nebel und umringten die Ebene, wie eine Ehrenwache.
An einer Stelle, im Osten, wurden sie heller, gleich in Gold gekleideten Kriegern. Und dann gerieten sie in wallende Bewegung: die goldenen Krieger neigten sich tief. Hinter ihnen aber kam die Sonne hervor, stellte sich auf die geneigten goldenen Rücken und warf einen Blick auf die Ebene.
Und die Ebene erstrahlte ganz in wunderbarem blendenden Lichte.
Die Nebel stiegen empor in einem ungeheuren Reigen, zerteilten sich im Westen und eilten wellend dahin. Makar glaubte ein wundervolles Lied zu hören. Es schien dasselbe ihm längst bekannte Lied zu sein, mit dem die Erde jedesmal die Sonne grüsst. Aber er hatte ihm nie gebührende Beachtung geschenkt und nun zum ersten Male begriff er, wie wunderbar dieses Lied war.
Er stand und hörte zu und wollte nicht weiter gehen, sondern ewig hier stehen und lauschen ...
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Aber der Pope Iwan zog ihn am Ärmel. – Treten wir ein, – sagte er. – Wir sind da.
Da sah Makar, dass sie an einer grossen Thür standen, die die Nebel früher verdeckten.
Sehr ungern ging er, aber dennoch fügte er sich.
Sie traten in eine gute geräumige Hütte und als sie darin waren, da merkte Makar erst, dass draussen ein starker Frost herrschte. Mitten in der Hütte stand ein Kamin mit prachtvollen Verzierungen aus reinem Silber und darin brannten goldene Scheite, die eine gleichmässige den ganzen Körper durchdringende Wärme verbreiteten. Das Feuer dieses prachtvollen Kamins that den Augen nicht weh, verbrannte einen nicht, sondern erwärmte bloss und Makar wollte wieder ewig hier stehn und sich erwärmen. Der Pope Iwan ging ebenfalls zu dem Kamin und streckte die erstarrten Hände aus.
Im Zimmer waren vier Thüren, von denen nur eine nach aussen führte; durch die anderen aber gingen und kamen fortwährend allerhand junge Leute in langen weissen Hemden. Makar dachte, dass es wahrscheinlich die Knechte des Besitzers seien. Ihm schien es, dass er sie irgendwo schon gesehen habe, aber er konnte sich nicht besinnen, wo es gewesen war. Er wunderte sich auch nicht wenig über den Umstand, dass jeder Knecht auf dem Rücken grosse weisse Flügel trug, und er dachte, dass der Herr dieser Hütte wahrscheinlich noch andere Diener habe, denn diese kamen mit ihren Flügeln sicher nicht durch das Dickicht im Walde, um Holz zu fällen. Einer von den Knechten trat zu dem Kamin heran, und sagte, ihm den Rücken zuwendend, zum Popen Iwan:
– Erzähle!
– Ich habe nichts zu erzählen, – antwortete dieser.
– Was hast du auf Erden gehört?
– Ich habe nichts gehört.
– Was hast du gesehen?
– Ich habe nichts gesehen.
Sie schwiegen beide eine Weile und dann sagte der Pope:
– Ich habe jemand mitgebracht.
– Ist er aus Tschalgan? – fragte der Knecht.
– Ja, aus Tschalgan.
– Na, dann müssen wir die grosse Wage aufstellen. Damit ging er durch die eine Thür hinaus, um alles anzuordnen. Makar aber fragte den Popen, wozu braucht er eine Wage und wozu gerade eine grosse?
– Siehst du, – antwortete der Pope ein wenig befangen, – die Wage braucht er, um das Gute und das Böse, das du im Leben gethan hast, abzuwiegen. Bei allen anderen Menschen hält das Böse und das Gute die Wagschalen fast im Gleichgewicht; nur die aus Tschalgan allein haben soviel Sünden, dass der Herr befohlen hat, für sie eine besondere Wage mit einer grossen Schale für die Sünden herzustellen.
Bei diesen Worten begann es in Makars Herzen zu kribbeln. Er fühlte Furcht.
Die Knechte brachten die grosse Wage herein und stellten sie auf. Eine kleine Schale aus Gold war daran, die andere aus Holz war von ungeheurem Umfange. Unter dieser Schale that sich plötzlich eine tiefe, schwarze Öffnung auf.
Makar trat heran und besah sich aufmerksam die Wage, damit kein Betrug vorkomme. Aber es war alles in Ordnung. Die Schalen standen gleichmässig ohne zu schwanken.
Übrigens begriff er ihre Einrichtung nicht ganz und er hätte es lieber mit einer Schnellwage zu thun gehabt, denn während seines langen Lebens hatte er sich angeeignet, mit einer solchen ausgezeichnet umzugehen, mit grossem Vorteil einzukaufen und zu verkaufen.
– Der Herr kommt, – sagte plötzlich der Pope Iwan und begann, schnell seinen Rock in Ordnung zu bringen.
Die Mittelthüre öffnete sich und ein alter, sehr alter Herr mit einem grossen silbernen Barte, der bis über den Gürtel herabging, trat ein. Er war mit teuren, Makar unbekannten Fellen und Geweben bekleidet, an den Füssen trug er warme Stiefel, die mit Plüsch benäht waren, ebensolche, wie Makar sie bei dem alten Heiligenmaler gesehen hatte.
Und beim ersten Blick auf den alten Herrn erkannte Makar, dass es derselbe Greis war, der gemalt in der Kirche hing. Nur seinen Sohn hatte er nicht bei sich; Makar dachte, dass dieser wahrscheinlich in Geschäften fort gegangen sei. Dafür aber flog die Taube ins Zimmer hinein, schwebte über dem Kopfe des Alten und liess sich auf seinen Knieen nieder. Und der alte Herr streichelte sie mit der Hand, auf einem besonders für ihn hingestellten Stuhle sitzend.
Das Gesicht des alten Herrn war gütig und wenn es Makar sehr schwer ums Herz wurde, blickte er dieses Gesicht an und es wurde ihm leichter zu Mut. Das Herz aber wurde ihm schwer, weil er sich plötzlich seines ganzen Lebens bis auf die kleinsten Einzelheiten erinnerte, er entsann sich jeden Schrittes, jeden Beilschlages, jeden gefällten Baumes, jeden Betruges und jeden getrunkenen Glases Branntwein.
Und er schämte sich und ihm wurde es bange. Aber wenn er dem alten Herrn ins Gesicht blickte, wuchs sein Mut. Und dann dachte er, dass es ihm vielleicht gelingen könnte, irgend etwas zu verheimlichen. Jener Herr blickte ihn an, fragte, wer er sei und woher er stamme, wie er hiesse und wie alt er sei.
Als Makar geantwortet hatte, fragte er ihn:
– Was hast du in deinem Leben gethan?
– Du weisst es ja selbst, – antwortete Makar, – bei dir muss es ja eingetragen sein.
So stellte er den alten Herrn auf die Probe, da er erfahren wollte, ob bei ihm thatsächlich alles verzeichnet sei.
– Erzähle es selbst, – sagte der alte Herr. Makar fasste Mut.
Er begann seine Thaten einzeln aufzuzählen und obwohl er sich jeden Beilschlages, jeden gefällten Baumes, jeder mit dem Pfluge gezogenen Furche entsann, log er tausende von Stämmen, hunderte von Holzfuhren, hunderte von Pud Getreide hinzu.
Als er alles aufgezählt hatte, wandte sich der alte Herr zu dem Popen Iwan:
– Hole mal das Buch her.
Da sah Makar, dass der Pope Iwan als Schreiber bei dem alten Herrn diene und wurde sehr böse, dass er ihm das aus Freundschaft nicht früher gesagt hatte. Der Pope Iwan brachte ein grosses Buch, klappte es auf und begann zu lesen.
– Sieh mal nach, – sagte der alte Herr, – wieviel Stämme sind es?
Der Pope Iwan sah nach und sagte betrübt:
– Er hat volle dreitausend hinzugelogen.
– Er lügt! – rief Makar erregt aus. – Er hat sich wahrscheinlich versehen, denn er ist ein Trinker und eines schlechten Todes gestorben!
– Schweige! – sagte der alte Herr. – Hat er von dir mehr, als es sich gehört, für Taufe oder für Hochzeit verlangt? Hat er sein Deputat von dir mit Gewalt beigetrieben?
– Das wäre unwahr, wenn ich es behauptete! – antwortete Makar.
– Siehst du, – sagte der Herr, – dass er gern trank, weiss ich ...
Und der alte Herr wurde böse.
– Lies jetzt seine Sünden aus dem Buche, denn er ist ein Betrüger und ich glaube ihm nicht, – sagte er zu dem Popen Iwan.
Indessen aber warfen die Knechte auf die goldene Schale Makars Stangen, und sein Holz, seine Pflugarbeit und seine ganze Arbeit. Und zusammen ergab es so viel, dass die goldene Wagschale herabsank, die hölzerne aber stieg hoch, hoch empor und man konnte sie nicht mit der Hand erreichen, die jungen Gottesknechte flogen auf ihren Flügeln hinauf und ein ganzes hundert zog sie mit Stricken nach unten. Schwer war die Arbeit eines aus Tschalgan!
Und der Pope Iwan begann die Betrugsfälle vorzulesen und es erwies sich, dass es einundzwanzigtausendneunhundertdreiunddreissig Betrugsfälle waren; und der Pope begann zu rechnen, wieviel Flaschen Branntwein Makar leer getrunken habe und es ergaben sich vierhundert Flaschen, – und der Pope las weiter, Makar aber sah, dass die hölzerne Wagschale die goldene überwog und dass sie schon in der Grube versinke und solange der Pope las, sank sie immerzu. Da dachte Makar, dass seine Sache schlecht stehe, er trat zu der Wage und versuchte unbemerkt mit dem Fusse die Wagschale aufzuhalten. Aber einer der Knechte erblickte es und es entstand zwischen ihnen ein Streit.
– Was ist da los? – fragte der alte Herr.
– Er wollte die Wage mit dem Fusse anhalten, – antwortete der Knecht.
Da wandte sich der Herr zornig zu Makar und sagte:
– Ich sehe, dass du ein Betrüger, Faulpelz und Trinker bist ... Mit der Steuer bist du ebenfalls im Rückstand, der Pope erhält von dir noch sein Deputat und der Kreisrichter sündigt deinetwegen, indem er dich jedesmal mit gemeinen Worten schimpft! ... Und sich zu dem Popen Iwan wendend, fragte der alte Herr:
– Wer beladet in Tschalgan am meisten die Pferde und wer schindet sie am meisten?
Der Pope Iwan antwortete:
– Der Kirchenvorsteher. Er hält die Post und fährt den Kreisrichter.
Da sagte der alte Herr:
– Gieb diesen Faulenzer als Wallach dem Kirchenvorsteher, möge er den Kreisrichter fahren, bis dieser ihn zu Tode hetzt ... Dann werden wir weiter sehen ... Und kaum hatte der alte Herr dieses Wort gesprochen, als die Thüre sich öffnete, der Sohn des alten Herrn ins Zimmer trat und sich zu seiner rechten Hand hinsetzte.
Der Sohn sagte:
– Ich habe dein Urteil gehört ... Da ich lange auf der Welt gelebt habe, so kenne ich die dortigen Verhältnisse: es wird dem armen Menschen schwer fallen, den Kreisrichter zu fahren! ... Jedoch ... dein Wille geschehe! ... Vielleicht aber hat er uns noch irgend etwas zu sagen. Sprich, armer Mensch! Da geschah etwas sonderbares. Makar, derselbe Makar, der in seinem Leben nie mehr als zehn Worte hintereinander gesprochen hatte, fühlte plötzlich eine Redegabe. Er fing an zu sprechen und war selbst erstaunt. Es schien als ob es zwei Makars gäbe: der eine sprach, der andere hörte zu und wunderte sich. Er traute seinen Ohren nicht. Seine Rede floss gleichmässig und leidenschaftlich dahin, die Worte jagten einander und wurden dann zu langen gleichen Reihen. Er war nicht furchtsam. Wenn es auch vorkam, dass er stockte, sofort fasste er sich und schrie um so lauter. Die Hauptsache aber, er fühlte selbst, dass er überzeugungsvoll spreche.
Der alte Herr, der zuerst über seine Frechheit ein wenig ärgerlich war, hörte ihm später mit grosser Aufmerksamkeit zu, als ob er sich überzeugt hätte, dass Makar doch nicht ein solcher Dummkopf sei, als der er zuerst schien. Der Pope Iwan erschrak sogar im ersten Augenblick und zupfte Makar am Pelze. Makar aber befreite sich und fuhr fort zu sprechen. Dann hörte auch der Pope auf, sich zu fürchten und erstrahlte sogar in einem Lächeln, als er sah, dass einer aus seiner Gemeinde so scharf die Wahrheit sagte und dass diese Wahrheit dem alten Herrn wohlgefiel. Sogar die jungen Leute in den langen Hemden und mit den weissen Flügeln, die beim alten Herrn als Knechte dienten, kamen aus ihrem Zimmer zu der Thüre, hörten erstaunt der Rede Makars zu und stiessen einander mit den Ellbogen an.
Er begann damit, dass er zu dem Kirchenvorsteher als Wallach nicht gehen wolle. Und er wolle es nicht deshalb, weil er sich vor schwerer Arbeit fürchte, sondern, weil dies Urteil ungerecht sei. Und da es ungerecht sei, so unterwürfe er sich ihm nicht, beachte es gar nicht und rühre den Fuss nicht. Möge man mit ihm verfahren, wie es beliebt! Möge man ihn sogar als ewigen Arbeiter dem Teufel abgeben, – er würde den Kreisrichter nicht fahren, weil es ungerecht sei. Man möge nicht denken, dass ihn die Lage eines Wallachs schrecke! Der Kirchenvorsteher hetze den Wallach, aber er gäbe ihm doch Hafer, ihn aber habe man sein Lebelang gehetzt und gejagt, aber nie mit Hafer gefüttert.
– Wer hat dich gehetzt? – fragte der alte Herr ärgerlich. Sein ganzes Leben hindurch hat man ihn gejagt und gehetzt! Die Staroste und die Gemeindeältesten, die Assessoren und Kreisrichter haben ihn gehetzt und die Steuer verlangt; die Popen haben ihn gehetzt und das Deputat verlangt; Not und Hunger haben ihn gehetzt, Frost und Hitze, Regen und Dürre haben ihn verfolgt; der durchfrorene Boden und der böse Wald haben ihm das Dasein erschwert ... Das Vieh geht vorwärts und blickt zur Erde, ohne zu wissen, wohin man es jagt ... Und ebenso war es mit ihm ... Wusste er denn, was der Pope in der Kirche vorliest und wofür er sein Deputat erhält? Wusste er denn, warum und wohin man seinen ältesten Sohn führte, den man zum Soldaten gemacht hatte, der dann gestorben war und er wusste nicht einmal, wo seine armen Knochen lagen?
Es heisse: er habe viel Branntwein getrunken? Gewiss, es ist wahr! Sein Herz hat nach Branntwein verlangt ...
– Wieviel Flaschen, sagst du?
– Vierhundert, – antwortete der Pope Iwan in das Buch blickend.
– Gut! Aber war es denn Branntwein? Dreiviertel davon war Wasser und nur ein Viertel echter Branntwein und ausserdem aufgezogen auf Tabak. Also musste man dreihundert Flaschen davon abrechnen. – Sagt er die Wahrheit? – fragte der alte Herr den Popen und man sah, dass er noch böse war.
– Die reine Wahrheit, – antwortete dieser eilig. Makar aber fuhr fort: Er hat dreitausend Stämme hinzugelogen? Gut, er hat nur sechzehntausend gefällt! Ist das etwa wenig? Und ausserdem zweitausend hat er gefällt, als seine erste Frau krank war ... Sein Herz war schwer und er wollte bei seiner Alten sitzen, aber die Not trieb ihn in den Wald ... Dort weinte er und die Thränen gefroren an seinen Wimpern und vor Kummer drang ihm die Kälte bis zum Herzen ... Trotzdem hat er Stämme gefällt! Später starb ihm die Alte. Er musste sie beerdigen lassen, hatte aber kein Geld. Da hat er sich verdungen, Holz zu hacken, um die Behausung der Alten für jene Welt bezahlen zu können ... Der Kaufmann hatte gemerkt, dass die Not ihn zwang und er hat ihm nur zehn Kopeken für jeden bezahlt ... Die Alte lag allein in der ungeheizten kalten Hütte, er aber hackte wieder und weinte. Er meine, man müsse ihm diese Fuhren fünfmal und sogar noch mehr anrechnen.
Dem alten Herrn standen Thränen in den Augen und Makar sah, dass die Wagschalen in Schwankung gerieten und dass die hölzerne emporstieg und die goldene sich senkte.
Er fuhr fort: Bei Euch ist alles in einem Buche eingetragen ... Seht doch nach: wann hat er von jemand eine Liebkosung, ein gutes Wort oder Freude erfahren? Wo sind seine Kinder? Als sie starben, war's bitter und schmerzlich für ihn, wenn sie aber aufwuchsen, so gingen sie fort von ihm, um allein mit der bittren Not zu kämpfen. So ist er alt geworden, allein, einsam mit seiner zweiten Frau und hat gesehen, wie ihn die Kräfte verliessen und das böse hilflose Alter nahte. Sie standen einsam, wie zwei verwaiste Tannen in der Steppe, die erbarmungslos das Schneegestöber schüttelt.
– Ist das wahr? – fragte wieder der alte Herr.
Und der Pope beeilte sich zu antworten:
– Die reine Wahrheit!
Da zuckte die Wage wiederum ... Der alte Herr aber verfiel in Gedanken.
– Wie kommt das denn, – sagte er – es leben doch wahre und gerechte Menschen auf Erden. Ihr Auge ist klar und ihr Antlitz ist rein und ihre Gewänder ohne Flecken ... Ihre Herzen sind weich, wie guter Boden, der guten Samen empfängt, und Feldlilien hervorbringt und wohlriechende Saaten, deren Geruch mir wohlgefällt. Sieh nun dich selbst an ... Aller Blicke wandten sich zu Makar, und er schämte sich. Er fühlte, dass sein Auge trübe und sein Gesicht dunkel, die Haare und der Bart zerzaust und das Kleid zerrissen war. Obwohl er lange vor seinem Tode die Absicht gehabt hatte, sich Stiefel zu kaufen, um vor dem Gericht zu erscheinen, wie sich's für einen echten Bauern gehört, so hatte er immer das Geld vertrunken und jetzt stand er vor dem Herrn, wie der schlechteste Jakute, in abgetragenen, weichen Stiefeln ... Er wünschte in den Boden zu versinken. – Dein Gesicht ist dunkel, – fuhr der alte Herr fort, – dein Auge ist trübe und dein Kleid zerrissen. Und dein Herz ist mit Steppengras und Disteln und bittrem Wermut überwuchert. Darum liebe ich die Gerechten und wende mein Angesicht von solchen Ungerechten, wie du ...
Makars Herz krampfte sich zusammen. Er fühlte die Schande des eignen Daseins. Er liess den Kopf sinken, aber erhob ihn sofort wieder und sagte von neuem: Von welchen Gerechten sprichst du, Herr? Wenn es die sind, die gleichzeitig mit mir in reichen Häusern auf Erden gelebt haben, so kenne ich sie ... Ihr Auge ist klar, weil sie nicht soviel Thränen vergossen haben, wie Makar und ihr Gesicht ist rein, weil sie mit wohlriechendem Wasser gewaschen sind und ihre reinen Gewänder sind von fremden Händen gewebt. Makar liess wiederum seinen Kopf sinken, hob ihn aber sofort.
Aber sieht er denn nicht, dass auch er wie andere zur Welt gekommen ist, – mit klaren offenen Augen, in denen sich die Erde und der Himmel wiederspiegelten, und mit reinem Herzen, das bereit war, alles Schöne in der Welt in sich aufzunehmen? Wenn er jetzt seine düstere und schmachvolle Gestalt unter der Erde verbergen möchte, so ist das nicht seine Schuld ... Wessen denn? Das weiss er nicht ... Aber er weiss eins, dass die Geduld in seinem Herzen erschöpft ist.
Gewiss, wenn Makar gesehen hätte, welche Wirkung seine Rede auf den alten Herrn ausübte, wenn er gesehen hätte, dass jedes seiner zornigen Worte auf die Wagschale fiel wie ein bleiernes Gewicht, es würde Ruhe eingekehrt sein bei ihm. Aber er sah alles dies nicht, weil sich blinde Verzweiflung in sein Herz ergoss. Sein ganzes bittres Leben beschaute er. Wie hatte er bis jetzt nur diese schreckliche Last ertragen können? Er hatte es gethan, weil in der Ferne noch immer – wie ein kleiner Stern im Nebel – die Hoffnung schimmerte.
So lange er lebte, konnte, ja musste sich sein Los noch besser gestalten ... Jetzt war er am Ende des Weges und jede Hoffnung war dahin ...
Es wurde dunkel in seiner Seele und in ihm tobte der Zorn, wie der Sturm in der öden Steppe in dunkler Nacht. Er hatte vergessen wo er war, vor wessen Antlitz er stand, – er hatte alles vergessen, ausser seinen Zorn ...
Da sagte der alte Herr zu ihm:
– Warte, armer Mensch! Du bist nicht mehr auf Erden ... Hier findet sich auch für dich die Wahrheit ...
Makar zuckte auf. In sein Herz fiel das Bewusstsein, dass man das Gefühl des Bedauerns für ihn habe, und er wurde weich. Vor seinen Augen aber stand immer noch sein armes Leben, vom ersten bis zum letzten Tage, und unsägliches Mitleid mit sich selbst erfasste ihn. Er weinte.
Und der alte Herr weinte auch ... Auch der alte Pope weinte und die jungen Gottesknechte vergossen Thränen und wischten sie mit den breiten weissen Ärmeln ab. Und die Wage schwankte in einem fort und die hölzerne Schale hob sich immer höher und höher! ...