Leopold Kompert
Der Dorfgeher
Leopold Kompert

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Leopold Kompert

Der Dorfgeher

(1851)

Aus dem Hause des Rabbi, das hart an der Synagoge steht, kam eines Freitags Nachmittag ein hastiger Knabe gesprungen, der unter seinem linken Arm einen schweren dicken Folianten trug. Das Gesicht dieses etwa eilfjährigen Kindes glühte von dem Feuer einer innern Aufregung, oder gar von der Last des Buches – es war in diesem Augenblicke wunderbar schön! Keinem von Allen, wie sie da in der Gasse herumstanden oder gingen, fiel es ein, diesen Knaben um die Rosen auf seinen Wangen, oder um den perlenden Thau auf seiner Stirne zu fragen! Da hätte man Wind und Athem zugleich sein müssen, aber auch unbarmherzig dabei: denn, störet die Kinder nicht, wenn sie freudig dahin rennen, ihr werfet einem Blinden Steine vor den Fuß, und das verbietet die Bibel!

Aber wie der Knabe an der ›Schlafstub‹ vorüberkam, da, wo gewöhnlich die fahrenden Bettler auf Sabbath einkehren, stand dort Einer von diesen Gästen, der ihn nicht ungefragt vorüber lassen wollte.

»Jüngel Leben«, rief der Bettler, »kannst Du mir sagen?«

Das Kind mußte sich wie Einer, der einen steilen Berg hinabläuft, fast wie ein hastiges Rad absperren, ehe es zum Stehen kam.

»Was?« fragte es sich umdrehend, leisen Verdruß um die feinen Mundwinkel.

»Kannst Du mir sagen, wo da Rebb Schimme Prager wohnt? ich hab' da eine PlettAnweisung des Gemeinde-Cassiers auf Sabbathkost bei einem der Familienväter. für ihn, ich soll bei ihm auf den Sabbath essen.«

»Und warum soll ich das nicht wissen?« rief der Knabe verwundert, »das ist ja mein eigener Vater.«

Da that der Bettler einige Schritte auf den Knaben hastig vorwärts. »Ist das auch wahr, was Du sagst?« rief er, indem er ihn stürmisch bei der Hand ergriff, mit unaussprechlich bebender Stimme.

»Und wer denn soll mein Vater sein?« fragte das Kind mit jenem leicht erklärlichen Ärger, wie ihn vielleicht nur ganz lebhaft Kinder empfinden, wenn man sich in etwas verfänglicher Weise nach ihren Eltern erkundigt.

»Verzeih', verzeih' mir«, fuhr der Bettler in derselben heftigen Aufregung fort, »heißest Du nicht Benjamin, mein Kind, und hast Du nicht eine Schwester, die Rösele heißt? Hat sie nicht schönes schwarzes Haar? und ist sie noch so lustig und herzfreudig, daß man's selbst wird, wenn man sie nur ansieht? Singt sie noch so prächtige Lieder, besonders Freitag Abends, wenn der Vater aus der Synagoge heimkömmt? Weißt Du das: Salem Alechem, Alechem Salem? Und die Mutter, nicht wahr! Sie heißt Channa und ist Gott Lob und Dank frisch auf und gesund? Sie trägt noch das schwarze Sammetband auf der Stirn – und den Goldducaten um den Hals hat sie den noch?« –

Plötzlich hielt der Bettler inne; er fuhr sich über den Mund, als ob der zu viel verrathen hätte, dann sagte er leise lächelnd: »Wenn Du's also weißt, mein Kind, wo Rebb Schimme Prager wohnt, so führ' mich hin – aber Du mußt wollen.«

Benjamin, und es war dieß in der That sein Name, wußte vor Staunen und Erregung nicht, was er von der so seltsamen Erscheinung des Bettlers denken sollte; mit einer solchen Stimme, die ihm bis an das Herz drang, hatte er noch Niemanden nach den Familienverhältnissen sich erkundigen gehört; zu antworten vermochte der Knabe nicht.

Sonderbar! der Bettler schien auch nicht darauf zu warten; mit niedergesenkten Blicken, aber ein herrliches Lächeln auf den Lippen, das sich im Weitergehen immer schöner und siegreicher entfaltete, schritt er an der Seite des Knaben durch alle Windungen und Krümmungen der Gasse, ja sogar durch das finstere Durchhaus, das man sonst ohne Wegweiser nicht finden konnte. Mit Einemmale standen sie vor Rebb Schimme Pragers Wohnung; da mußte dem Knaben die frühere Freudigkeit seines Laufes eingefallen sein; mit einem mächtigen Sprunge sich von seinem Begleiter losreißend, war er in's Haus hinein. Der Bettler blieb draußen auf der Schwelle der Thüre, er wagte nicht einzutreten.

»Hab' ich Dir's gesagt«, hörte er drin den Knaben ausrufen, »daß ich auf Freitag werd' mein erstes Blatt Talmud können? Mein Wort hab ich gehalten, Mutterleben, jetzt halt's an Dir.«

»Ja ja, mein Kind«, bestätigte darauf eine weibliche Stimme, die den Bettler erbleichen machte, »ja ja, aber nicht eher, bis Dich der Vater hat verhören lassen aus dem Blatt Talmud. Heut' zu Tag, Benjamin Leben, muß man sicher gehen; aber Freud' wird er genug haben, wenn er daheim kömmt. Willst Du aber ein Draufgeld?«

Ehe aber Benjamin noch antworten konnte, war es dem lauschenden Ohre des Bettlers, als legten sich drin zwei weiche mütterliche Lippen auf die Wangen des Kindes; Minuten lange schallte dieser süße Austausch zwischen Geben und Nehmen, und eine so gewaltige Erschütterung tobte in den Adern des Bettlers, daß er sich an der Thüre festhalten mußte. Nun hörte er, wie Benjamin drin von seinem Begegniß mit einem ›merkwürdigen‹ Bettler erzählte, den er draußen habe stehen lassen.

Gleich darauf traten Mutter und Kind heraus, und der Bettler hatte nur noch Zeit, zur Seite zu springen.

»S'Gott's willkumm, Gast«, sprach ihn die Mutter an, »Ihr bringt mir eine Plett?«

Keines Wortes mächtig, reichte ihr der Bettler die schriftliche Anweisung auf die Sabbathkost hin, aber wie ein Donnerschlag traf 's ihn, als die Mutter den Zettel mit der Hand abwies und meinte: »Soll ich leben, es thut mir leid, daß ich Euch wieder zurückschicken muß; ich kann Euch nicht behalten, der Schabbes ist schon gemacht, und ich hab' mich nicht gericht't auf Euch.«

»Also muß ich fortgehen?« rief der Bettler bebend, aber mit an den Boden gehefteten Augen, »Ihr wollt mich auf den Sabbath nicht behalten?«

Befremdet und ergriffen durch den eigenthümlich schmerzlichen Ton, der in diesem Ausrufe lag, sah die Mutter aufmerksam auf den Bettler, dessen Angst sie nicht zu deuten wußte. Aber sogleich meinte ihr vortreffliches Herz: »Nu, nu, wenn Euch so viel an armer Leute Kost aufliegt, so bleibt nur, Gast, bleibt nur! Verhungern sollt Ihr nicht auf Schabbes, Channe Prager führt, Gott Lob und Dank, nicht so ein Haus, daß, wo fünf Mäuler voll werden, ein sechstes soll leer von ihr ausgehen.«

»Weißt Du was?« sagte Benjamin einfallend, »ich geb' dem Gast meine Fisch!«

»Nu, seht Ihr, Gast«, fuhr die Mutter mit einem triumphirenden Lächeln auf den Knaben fort, »nu, seht ihr, daß Ihr werdet satt werden? Benjamin will Euch seine Fisch' geben, und an einem Stück Barches wird er's auch nicht fehlen lassen. Also bleibt nur und kommt. Weiß ich denn, ob mein Sohn Elije, der auch in der Fremd' ist, wird heut' auf Schabbes etwas zu essen haben? Ich begreif mich gar nicht, wie ich das hab' vergessen können. Also kommt nur, verhungern werdet Ihr nicht, ich will schon dafür sorgen.«

Es traf sich glücklich, daß um diesen Augenblick der heimkehrende Rebb Schimme Prager, der Vater des Hauses, dem Bettler, der antworten und danken wollte, jedes Wortes überhob. Es war ein Mann in's Haus getreten, dem man an dem schweren Packe, den er auf dem Rücken trug, den ›Dorfgeher‹ ansah; ihm entgegen flog Benjamin und rief. »S'Gotts willkumm, s'Gotts willkumm, Vater! weißt Du schon, daß ich mein erst' Blatt Talmud thu' können?«

Rebb Schimme, ehe er antworten wollte, berührte früher die geheiligte Stelle an der Thürpfoste, wo der geheimnisvolle Name Gottes ›Schadai‹ durch ein glänzendes gläsernes Fensterchen hindurchblickte, mit der Hand, die er dann andächtig an die Lippen führte. Dabei wurde die ganze Gestalt des Dorfgehers höher und mächtiger, als man bei seinem ersten Anblick vermuthet hätte; es war, als hebe ihn die Nähe seines Gottes über die Wucht seines Packes und über sich selbst hinaus. Auch sein Antlitz war nun besser zu sehen; es war eines jener von Kummer, Lebensmüh' und Plackerei tief eingefurchten, wie sie nur das Ghetto zu zeichnen vermag! Der Bettler erschrak innerlich vor diesem Anblick!

In der Stube vorschreitend, wo er den Pack wie eine Riesenraupe von sich abschüttelte, sprach erst der Dorfgeher: »Das sagst Du, Benjamin Leben, was sagt aber die Welt dazu? Heut zu Tag' lassen sich die Leut' nicht foppen und ein Blatt Talmud ist kein Spaß.«

»So lass' mich verhören«, meinte Benjamin mit leicht erklärlichem Stolz.

»Das heißt geredt, wie man soll reden«, rief kopfnickend der Dorfgeher. »Wenn Du also willst und Lust hast, gehen wir morgen zum Vetter Rebb Jaikew, hörst Du gut? Zum Vetter Rebb Jaikew, zu dem großen Frommen, dem wirst Du sagen: Vetter, verhört mich, mein Vater will nicht glauben, daß ich schon kann mein erstes Blatt Talmud. Das aber sag' ich Dir, Benjamin Leben, bestehst Du so, wie ein rechtschaffen Jüngel soll bestehen – kein Grafenkind auf der ganzen Erd' soll hernach ein schöner Röckel bekommen, als ich Dir machen will. Das Tuch kannst Du Dir selber bei Rebb Maier Tuchhändler aussuchen.«

Jetzt erst trat Channa vor, die als eine gute Mutter ihrem Kinde die ersten Blüthen des Empfanges überlassen hatte. »S'Gotts willkumm, Schimme«, rief sie mit einem leisen Anflug von Groll, »mich kriegst Du ja gar nicht zu sehen! Was heißt das?«

Lächelnd reichte ihr der Dorfgeher die Hand; sie war versöhnt. »Was hast Du für eine Woche gehabt, Schimme«, fragte sie dann.

»Wie ich noch keine hab' gehabt, Channa Leben, Geld hab' ich auch gelöst, aber das Beste war doch die schöne Bäuerin, ja die schöne Bäuerin.« – Hierbei lächelte der Dorfgeher auf ganz geheimnisvolle Weise.

»Was ist das mit der Bäuerin?« fuhr Channa auf, und eine schöne Röthe lag auf dem sonst blassen, lieben Antlitze der Mutter, dann setzte sie aber lachend dazu; »Vielleicht bist Du gar verliebt, Rebb Schimme? Das fehlt mir noch.«

»Vielleicht, vielleicht«, lächelte der Dorfgeher noch geheimnißvoller.

»Die Zeiten sind vorüber, mein lieber Rebb Schimme«, meinte Channa achselzuckend, »Du bist ja schon ein alt Äpfele und schmeckst sauer.«

»Soll ich leben und glücklich sein«, rief dagegen lachend der Vater, »die eifert mit mir, aber die Bäuerin – meine schöne Bäuerin, die will mir doch nicht aus dem Kopf.«

Zwei Augen hatten auf dieser so eigenthümlichen Scene zwischen den Eheleuten geruht, die schon längst nicht wußten, wohin sie sich wenden sollten. Erst jetzt, wo sich Rebb Schimme mit seiner geheimnisvollen ›Bäuerin‹ von der Mutter wegwandte, wurde der noch immer an der Thüre stehende Bettler von ihm bemerkt... »Salem Alechem«, hieß es sogleich, indem er ihm die Hand hinbot. »Alechem Salem«, gab der Bettler zurück.

»Wo kommt Ihr her?« ging es sodann ans Verhör.

»Ich – ich komm' aus Ungarn.«

»Was seid Ihr eigentlich? ganz wie ein Bettler seht Ihr mir nicht aus, Ihr müßt noch was Anderes vorstellen.«

»Ich? – ich bin ein Lehrer.«

»Und da geht Ihr schnorren? Habt Ihr noch Vater und Mutter?«

»Ja, bis zu hundert Jahr!«

»Ich werd' Euch um eine Narrheit fragen: Wie heißt Euer Vater?«

»Mein Vater heißt – Rebb Schimme, meine Mutter – Channe!«

Die beiden Eheleute sahen sich verwundert an, und es stand vielleicht von Seite der Mutter eine neue Reihe von Fragen bevor, als von draußen zu gelegener Zeit der heisere Ruf des Schuldieners, daß der Sabbath im Anzuge sei, schreckensvoll ertönte. Denn Channa besann sich, daß es in Küche und Haus noch Manches zu thun gab; die Lampe war noch nicht gefüllt, nicht einmal die Dochte waren noch von Benjamin gedreht; auch lag noch nirgends ein weißes Tuch ausgebreitet. Und Rebb Schimme gar! der stak noch ganz in der ›Woch'‹, und hatte sich nicht einmal noch barbiert. Der Bettler empfahl sich. Gewaltsam mußte er sich von dem Boden losreißen, auf dem er, wie Moses, mit bloßen Füßen hätte stehen sollen. Als er draußen in der Küche an der schaffenden Mutter vorüberkam, rief sie ihm nach: er möge ja nicht vergessen, heute zu kommen, und ihr nichts für ungut zu nehmen. Er war ihr lieb geworden, dieser fremde seltsame Gast! Mit schnellen Schritten verließ er das Haus und ging auf die ›Schlafstube‹ zu.

 

Aus einem Briefe Emanuels an Clara.

»Die Lectionen Deines Lehrers haben gar zu wenig gefruchtet, theure Clara! Zwei Stunden im Ghetto haben mich davon überzeugt: Du kennst das Judenthum noch gar nicht! Wie auch das? Worauf es besonders ankam, den unergreifbaren, untastbaren Duft des Weines – ich meine das Gemüth – das habe ich Dir doch nicht gegeben. Aber bedenke nur Eines, Clara! Das Weltgemüth, das mit dem blonden Rabbi von Nazareth am Holze starb, ging aus einem solchen Ghetto hervor; ich sage Dir, Funken und Blüthen leben noch heute unter seinen Bewohnern! Zwei Stunden haben mich davon überzeugt...

Meine Eltern habe ich bereits gesehen; Keines hat mich erkannt. Mein Brüderchen Benjamin, eines jener Spätröslein ehelicher Liebe, wie es Gott den Leuten schickt, wenn er sie noch lange will einander zulächeln machen, mein Brüderchen Benjamin habe ich auf offener Straße getroffen! Eine wunderbare Schönheit liegt über dem geistig regen Antlitz dieses Knaben. Dann kam ich zur Mutter und stand ihr gegenüber! Ich spielte mit der Gefahr des Erkanntwerdens wie mit einem spitzigen Instrumente, das wider Versehen Einem in das Blut fährt. Aber erkannt hat mich Keines. Es ging an mir ein Schauspieler verloren.

Fürchte nichts für mich, geliebtes Mädchen! Ich weiß, wie nöthig es für meine Ruhe ist, in dieser Lage zu verharren! – Befriedigt ist nun meine Sehnsucht; ich habe sie Alle gesehen, ehe die Wogen eines alten Glaubens über meinem Haupte zusammenschlagen, und ich wieder am Gestade eines neuen auftauche, wo die menschgewordene Liebe meiner harrt. Fürchte nichts!

Diesen Brief erhälst Du übrigens aus einer Gesellschaft, wie Du dir sie nicht sonderbarer vorstellen kannst. Ich bin in einer ›Schlafstube‹, der Wohnstätte jüdischer Bettler, wie sie jeder Sabbath haufenweise in's Ghetto führt. Ich selbst bin ein solcher! Zerlumpte Gestalten aus allen Erdtheilen, polnische, deutsche, ungarische Bettler lungern um mich herum. In ihrer Gesellschaft schreibe ich diesen Brief – Zwei Schritte von mir säugt ein polnisches Weib ihr krankes Kind; verwittert und gramzerstört sind die einst schönen Züge ihres Antlitzes, aber ihre Augen – sie haben mich schon oft an Deine gemahnt.

In's Ghetto zieht der Sabbath ein, die Feder länger zu halten fängt an Sünde zu werden. Ich schließe. Auf baldiges Wiedersehen, theure Clara!«

 


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