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Die Polizei hatte diesmal in der Tat prompt gearbeitet. Am Nachmittag des vorigen Tages hatte sie den Menschen aufgefunden und in Haft genommen, der das Attentat auf den Besitzer von Schloß Lünzin verübt hatte, und den man daneben eines anderen, vollendeten Verbrechens dringend verdächtig hielt. Er hatte nach eigener Aussage das Gebiet von Lünzin in der Zwischenzeit nicht verlassen, sondern sich in Strohdiemen, Heuschuppen und Waldesdickicht verborgen gehalten. Als man ihn dann in einem alten, verlassenen Kalkofen endlich entdeckte, dessen Sohle ein Paar Zentimeter hoch unter Wasser stand, zog man ein verkümmertes, krankes, vor Frost und Fieber zitterndes Geschöpf hervor, das um ein Stück Brot bettelte, seinen Hunger zu stillen. Papiere trug der abgemagerte, heruntergekommene Mensch nicht bei sich; er behauptete, sie befänden sich in einem Koffer, den er in Berlin in der Wohnung eines Verwandten zurückgelassen habe. Nach seinem Namen befragt, gab er an, Xaver Höhenleitner zu heißen und in einer Stadt Niederbayerns geboren worden zu sein. Den Mordversuch gegen Herrn von Breitenbach gestand er ohne weiteres zu, verweigerte jedoch alle sonstigen Mitteilungen über Beweggrund und Zweck seines Verbrechens. Den Mord an Baron Bassow bestritt er mit müder Entschiedenheit.
Vielleicht war er zunächst wirklich zu schwach und erschöpft von Hunger und Krankheit, um zu weiterer Vernehmung fähig zu sein. So brachte man ihn denn für die Nacht in das Dorfgefängnis von Lünzin und erstattete telegraphisch Bericht an die Staatsanwaltschaft. Von ihr erging die Weisung, den Verbrecher am anderen Morgen um halb zehn Uhr nach Schloß Lünzin zu bringen, wohin der Staatsanwalt in Person zur Abhaltung eines Lokaltermins kommen würde. Zur festgesetzten Zeit ging der Transport vor sich. Der Gendarmeriewachtmeister zu Pferde und ein anderer Gendarm zu Fuß – derselbe, der den Verhafteten schon vor mehreren Wochen in der Gegend beobachtet hatte, – bewachten den Verbrecher, der noch ebenso kläglich aussah wie am Tage zuvor und von häufigen Hustenschauern geschüttelt wurde.
Schloß Lünzin war offenbar zu gleicher Zeit und vom gleichen Architekten erbaut worden wie Schloß Garchim. Es wirkte wie eine Wiederholung des dortigen Gebäudes, nur in kleineren Abmessungen. Auch hier sprangen an den Enden des langgestreckten Bauwerks zwei Flügel nach dem Park hin vor, auch hier dehnte sich eine niedrige Terrasse zwischen diesen Flügeln aus, und hier, wie zu Lebzeiten des ermordeten Besitzers von Garchim, lag das Arbeitszimmer des Schloßherrn im Erdgeschoß nach dieser Terrasse hinaus, auf die sich eine Glastür öffnete. Nur der Park war anders als in Garchim. Schon vor längerer Zeit hatte man hier den französischen Charakter der Anlage aufgegeben, und so machte sie nun den Eindruck eines halbverwilderten englischen Gartens.
Wenige Minuten vor halb zehn Uhr traf der Staatsanwalt von Sieglitz in Begleitung seines Protokollführers, des eleganten Referendars Widukind, auf Lünzin ein. Während ihr Wagen in den Hof einfuhr, kam Breitenbach von der anderen Seite zu Pferd im Galopp heran und begrüßte die Gerichtsherren, mit kraftvoller Geschicklichkeit absteigend. Ein Lächeln war auf seinem Gesichte, der Anschein heiterer Frische in seinem Wesen.
»Ich bitte sehr um Entschuldigung, daß ich mich beinahe verspätet habe; gerade im Augenblick haben wir eilige Arbeit, ich mußte gleich nach dem Frühstück zum Vorwerk hinaus.«
»Nun, Sie sind ja pünktlich zur Stelle, Herr von Breitenbach,« sagte der Staatsanwalt, der mit rückwärts gebeugtem Kopfe nach den Tauben zu spähen schien, die aufgescheucht in der Luft umherschossen. »Vor allem gratuliere ich Ihnen, daß der Schurke jetzt in unseren Händen ist, der Ihnen nach dem Leben getrachtet hat.«
Breitenbach lachte. »Ach, meinetwegen hätte der Kerl sich seiner Freiheit noch weiter freuen können. Furcht ist ein Gefühl, das ich nicht kenne.«
Stolz aufgerichtet stand er einen Augenblick da, ein Bild von Kraft und Gesundheit, um dann dem Stallknechte, dem er die Zügel seines Pferdes zugeworfen hatte, zuzurufen: »Der Gaul soll gesattelt bleiben; ich reite vielleicht noch nachher, – vorausgesetzt, daß die Vernehmung nicht zu lange dauert.« Er fügte die letzten Worte mit höflicher Wendung nach dem Staatsanwalt hinzu, der entgegnete: »Ich denke, wir werden kaum lange zu tun haben. Der Kerl ist ja geständig, in bezug auf das gegen Sie verübte Verbrechen wenigstens. Die Hauptsache wird sein, ihm auch die Tat in Garchim nachzuweisen.«
»Hoffentlich glückt es Ihnen,« sagte Breitenbach mit unverändert heiterem Ausdruck im Gesicht und nötigte die Herren zum Eintreten, die sich unter seiner Führung in das nach der Terrasse hinaus liegende Arbeitszimmer begaben. Hier wurden die bereits genau untersuchten Vorgänge bei dem gegen Breitenbach verübten Attentat noch einmal rekapituliert; dann sagte der Staatsanwalt: »Ich werde nun zunächst den Verhafteten vernehmen. Sie halten sich wohl freundlichst zu Hause, daß ich Sie kann rufen lassen, wenn eine Konfrontierung mit Ihnen notwendig ist.«
Stumm und leicht sich verneigend, verließ Breitenbach das Zimmer. Kurz darauf brachten die beiden Gendarmen den Gefangenen herein. Er war wohl kaum dreißig Jahre alt, aber nur noch die traurige Ruine eines Menschen. Sein ehemals bartloses, jetzt unrasiertes Gesicht war von schmutziggrauer Farbe, seine Glieder steckten in einem abgetragenen, an verschiedenen Stellen zerrissenen Anzuge. Weil er taumelte und beinahe zu Boden gestürzt wäre, als die Gendarmen ihn freigaben, gestattete der Staatsanwalt, ihm einen Stuhl zu reichen, auf den er halbohnmächtig, hustend und röchelnd niedersank. Als er zu reden begann, geschah es mit bayerischem Dialekt, der aber – wohl durch langen Aufenthalt unter anders redenden Menschen – schon einigermaßen abgeschliffen war.
»Wenn der Herr Staatsanwalt die Gnade haben möchten, es kurz zu machen. Ich bin halt sehr krank und werd's nicht lange mehr machen. Ich hab's ja auch schon g'stand'n –«
»Es wird von Ihnen abhängen, wie lange die Vernehmung dauert. Wenn Sie keine Schwierigkeiten machen, wird sie rasch erledigt sein. Zunächst also die Personalien. Wie heißen Sie? Wann und wo sind Sie geboren worden?«
»In Passau, im Jahre 1880. Xaver Höhenleitner ist mein Name. Mein Vater war Schreiner, aber die G'schäfte sind halt schlecht 'gangen. Als Kind schon hab ich's Hungern g'lernt.«
»Haben Sie auch den Beruf Ihres Vaters ergriffen?«
»Zuerst freilich. Aber beim Militär, da haben's mich zurechtgestutzt. Ich bin Diener g'worden bei einem der Herren Offizier'. Und hinterher hab' ich dann auch eine Stell' als Diener bekommen.« Er sprach offenbar mit großer Anstrengung und hielt seine linke Hand auf die Brust gepreßt, als wenn er dort Schmerzen hätte.
»Wo waren Sie in Stellung und bei wem?«
Ein grimmiges, grausames Lächeln flog über das graue Gesicht. Der Kopf bewegte sich mit einer deutenden Bewegung. »Bei ihm!«
»Wollen Sie sagen: Bei Herrn von Breitenbach?«
»Ja, bei ihm!«
»Wo war das?«
»Auf seinem Gut bei Augsburg.«
»Waren Sie lange dort?«
»Etwas über ein Jahr.«
»Dann wurden Sie entlassen?«
»Nein, freiwillig bin ich 'gangen.«
»Glaubten Sie Grund zu haben, mit Ihrer Stellung unzufrieden zu sein? Hatten Sie einen Haß auf Herrn von Breitenbach?«
»Damals noch nicht.«
»Was soll das heißen? Sind Sie später noch weiter mit ihm zusammengekommen?«
»Einmal nur, bis zu dem Abend, wo ich hier auf ihn g'schossen hab'.«
»Erzählen Sie mir alles geordnet in Ruhe. Regen Sie sich nicht auf. Sagen Sie mir zunächst, wohin Sie gegangen sind, nachdem Sie die Stellung bei Herrn von Breitenbach verlassen hatten.«
»Damals bin ich nach Amerika 'gangen.«
»So? Hatten Sie einen Anlaß, Deutschland zu verlassen? Hatten Sie sich schon so viel Geld erspart, um die Reise machen zu können?«
»Nein – das nicht. Erspart hab ich mir das Geld dafür nicht g'habt.«
»Woher haben Sie es dann bekommen?«
Der Verhaftete schwieg einen Augenblick und preßte seine Hand noch fester auf die Brust, um dann widerstrebend zu sagen: »Das Geld hat mir halt der Herr von Breitenbach gegeben.«
»Da hätten Sie doch allen Grund, ihm dankbar zu sein.«
Der Kranke bewegte seinen Körper hin und her, wie von heftigen Schmerzen gepeinigt. »Ich tät schön bitten, Herr Staatsanwalt, lassen's die alten G'schichten ruhen. Es ist eine Sach' zwischen mir und dem Herrn von Breitenbach, und 's regt mich halt so furchtbar auf und macht mich noch kränker, als wie ich's ohnedem schon bin, wenn ich das alles hier sagen soll. Ich hab ja doch schon g'stand'n, Herr Staatsanwalt.«
Einen Augenblick überlegte Herr v. Sieglitz, um dann mit herablassender Freundlichkeit zu sagen: »Sie scheinen mir wirklich nicht ganz wohl zu sein, und ich werde veranlassen, daß ein Arzt zu Ihnen kommt. Verzichten kann ich auf die weitere Vernehmung nicht, aber wenn gerade dieser Punkt Sie besonders aufregt, können wir ihn ja jetzt lassen. Ich werde zunächst ein paar andere Fragen an Sie richten. Wo und wann haben Sie den verstorbenen – ermordeten Baron von Bassow kennen gelernt?«
»Gekannt hab ich den Herrn Baron überhaupt eigentlich nicht. Was man so kennen heißt. G'sehn hab ich ihn zweimal in meinem ganzen Leben.«
»Wo war das? Wann und wo sahen Sie ihn das erstemal?«
»Hier in dem Zimmer da, Herr Staatsanwalt.«
Herr von Sieglitz brachte seinen Kopf in eine sehr unbequeme Lage, um den Gefangenen auf etwaige Zeichen der Unzurechnungsfähigkeit hin zu betrachten. Er enthielt sich aber der Kritik über die eben erhaltene, merkwürdig klingende Auskunft und fragte in scheinbar gleichgültigem Tone weiter: »Als Sie den Herrn Baron zum ersten Male sahen – in dem Zimmer hier, war noch sonst jemand zugegen?«
»O ja, der Herr von Breitenbach.«
»So? Und wo haben Sie den Baron von Bassow das zweitemal gesehen?«
»In einem Wirtshaus ist das g'wesen, Herr Staatsanwalt, in einem Dorf, nicht weit von hier entfernt. Aber wie's g'heiß'n hat, kann ich nimmer sagen. Ich bin halt wenig bekannt in der Gegend hier. Aber der Herr Baron hat sich im Wirtsgarten drauß'n mit mir niederg'setzt und hat mir zu essen geben lassen und zu trinken auch.«
»Diese Tatsache ist mir von anderer Seite bestätigt worden. Von dem Wirte des fraglichen Gasthauses. Er hat eine ziemlich genaue Personalbeschreibung von Ihnen gegeben. Und wie kam der Herr Baron dazu, sich dort mit Ihnen zu unterhalten?«
»Er hätt' halt eine Auskunft von mir haben mögen.«
»Eine Auskunft? Und worüber?«
Der Gefangene zögerte einen Augenblick und sagte dann in dem grimmigen, haßerfüllten Tone, den er jedesmal bei der Nennung dieses Namens anschlug: »Ueber den Herrn von Breitenbach.«
Der Staatsanwalt machte mit Schultern und Händen eine Bewegung der Ungeduld. »Breitenbach und immer wieder Breitenbach. Man kann Sie fragen, was man will, Sie antworten jedesmal: ›Herr von Breitenbach.‹ Das macht ja beinahe den Eindruck wie eine fixe Idee. Da wollen wir doch zunächst einmal konstatieren, ob dieser Herr, der eine so große Rolle in Ihren Phantasien spielt, Sie denn in Wirklichkeit überhaupt kennt oder nicht. Gendarm Hoyer, gehen Sie einmal hinüber, und bitten Sie den Herrn von Breitenbach hierher.«
»O nein, Herr Staatsanwalt, ich tät' schön bitten, lass'n 's den Herrn von Breitenbach nicht daherkommen. Den Menschen, wenn ich ihn noch einmal sehen müßt', – o, tun 's mir das nicht an, Herr Staatsanwalt.«
Mühsam hatte sich Höhenleitner von seinem Stuhl erhoben und seine gefalteten Hände bittend ausgestreckt. Keuchend hob und senkte sich seine Brust.
Aber der Staatsanwalt achtete nicht auf sein Bitten. Er sagte, zu dem Gendarm gewendet, der bei den Worten des Gefangenen an der Tür ein wenig gezaudert hatte: »Gehen Sie. Rufen Sie Herrn von Breitenbach. Wir wollen Klarheit in die Sache bringen.«
Die Arme sanken dem Gefangenen hinab, die Hände lösten sich auseinander, aber nur um sich gleich zu Fäusten zu ballen, die krampfhaft bebten und zuckten. So bot er ein erbarmungswürdiges Bild von Schwäche, Wut und Verzweiflung zugleich.
Es dauerte nur kurze Zeit, bis Breitenbach in Begleitung des Gendarmen in der Tür erschien. Auf seinem Gesichte war noch immer das Lächeln, womit er den Staatsanwalt begrüßt hatte, und er fragte mit leichtem Ton: »Worin kann ich Ihnen dienen, Herr von Sieglitz?«
»Ich möchte Sie bitten, sich diesen Menschen hier einmal genau anzusehen. Er gibt an, Xaver Höhenleitner zu heißen und früher bei Ihnen in Diensten gestanden zu haben.«
»Gern.« Breitenbach trat ein wenig näher an den Gefangenen heran, blieb jedoch immer noch einige Schritte von ihm entfernt. Er betrachtete aufmerksam das ihm zugewandte, vom Fenster her hell beleuchtete Gesicht, aus dem die eingefallenen Augen unheimlich hervorleuchteten, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, Herr Staatsanwalt, ich kenne diesen Menschen hier nicht. Ein Diener des Namens, den Sie nannten, hat in der Tat vor Jahren einmal bei mir in Dienst gestanden. Dieser Gefangene hier ist aber nicht mit ihm identisch.«
»Haben Sie ihn genau betrachtet? Er ist krank und heruntergekommen, – er kann sich verändert haben.«
»Ich bin meiner Sache ganz gewiß. Der wirkliche Xaver Höhenleitner, der meines Wissens in Amerika ist, hat eine Narbe über dem rechten Auge, die bei diesem fehlt.«
Ein erstauntes, verzerrtes Lächeln war zuerst über die noch bleicher gewordenen Züge des Gefangenen gegangen bei den Worten Breitenbachs. Jetzt aber nahmen sie den Ausdruck einer fassungslosen Wut an; sein ganzer Körper begann zu beben, und er schrie mit heiserer, entstellter Stimme: »Was, verleugnen will mich der Herr? Da muß ich mich dem Herrn wohl a bisserl ins Gedächtnis zurückrufen. Ich kenn' den Herrn schon, und ich hab' nichts vergessen von dem, was ich g'wußt hab' und weiß. Auch nichts von dem Meineid, den der Herr von Breitenbach g'schworen hat vor Gericht!«
»Was soll das heißen?« Streng, aber zugleich ein wenig betroffen tat Herr von Sieglitz die Frage. Breitenbach schwieg und lächelte noch immer, doch dies Lächeln wurde nach und nach von einer kalten Starrheit, als wenn es festgefroren wäre auf seinem Gesicht.
»Das soll heißen, daß der hochedle Herr von Breitenbach daher g'hört, daher an mei' Seit'n, wo die Angeklagten ihren Platz haben. Daß er schon lang' das ist, wozu er mich erst g'macht hat, ein Lump und ein Verbrecher!«
»Halten Sie es für angebracht, Herr Staatsanwalt, solchen Unsinn, – solchen Wahnsinn länger anzuhören?«
Mit einem heiseren Lachen in der Stimme tat Breitenbach die Frage. Aber war es der sonderbare Ton seiner Worte, war es der Klang der Wahrheit im Wutschrei des Gefangenen, – der Staatsanwalt warf einen Blick erwachenden Mißtrauens auf den lächelnden Frager und entgegnete: »Der Mann mag sagen, was er zu wissen meint. Es wird Ihnen ja voraussichtlich leicht werden, seine Behauptungen zu widerlegen.«
»Ja, Herr Staatsanwalt, das dürfen's mir nicht verbieten, daß ich Ihnen jetzt sagen tu', was ich weiß. Diener bin ich g'wesen bei diesem Herrn, bei diesem selben Herrn von Breitenbach hier, – acht Jahr sind's g'wesen im vergangenen Frühjahr. Er ist mir kein schlechter Herr g'wesen, ich muß es sagen, wie's ist; und ich hab' ihm darum auch nichts Böses gewollt und hab's Maul gehalten, wie die Sach' mir offenbar worden ist. Das ist nämlich so g'wesen: Eines Morgens, wie ich in der Früh den Papierkorb ausg'leert hab' im Arbeitszimmer von dem Herrn von Breitenbach, von diesem Herrn hier, wo da vor mir steht, – da hab' ich in dem Papierkorb einen Brief g'funden. Zerrissen war er schon, aber nur so zwei-, dreimal durchg'riss'n in große Stück', wie's die Herrschaften manchmal tun, weil s' nicht daran denken, daß ein Diener gern etwas wissen möcht' von die Heimlichkeiten von seine Herrschaft. Ich aber, ich hab' noch keinen Diener kennen g'lernt, wo solch einen Brief nicht 'rausklaubt aus dem andern Papier und in seine Tasch'n steckt und sauber wieder z'sammensetzt, wenn er Zeit hat und allein ist. Na, so hab' ich's denn auch g'macht. Und ich hab' den Brief ganz gut wieder z'sammenbracht, daß ich ihn hab' lesen können. Und er ist g'schrieb'n g'wes'n von einem Fräulein Eugenie Neubeck, wo ich ganz gut gekannt hab'. Weil ich öfter hab' zu ihr müss'n und Botschaften hintragen vom Herrn von Breitenbach und Buketter und so dergleichen. In dem Brief im Papierkorb aber hat's g'schrieb'n, wie sie unglücklich wär', und wie der Herr ihr doch versprochen g'habt hätt', daß er sie heiraten tät; und wie er nun sein Wort nicht hielte. Wo die Sach' aber so läg', da wollte sie nun auch die dreißigtausend Mark wieder haben, wo sie dem Herrn von Breitenbach ein halbes Jahr zuvor g'liehen hätt'. Und um dieses Geld, Herr Staatsanwalt, um diese dreißigtausend Mark hat sich's dann gedreht in dem Prozeß, wo das Fräulein gegen den sauberen Herrn hier angestrengt hat ein paar Wochen danach. Und weil's nichts Schriftliches nicht in Händen g'habt hat, ist's zum Schwur gekommen, und dieser edle Herr von Breitenbach hat einen Meineid geschworen vor Gott und vor'm Gericht.«
Erschöpft hielt er inne und hielt sich taumelnd an der Lehne seines Stuhles. Alle schwiegen für einen Augenblick, dann fragte der Staatsanwalt: »Was haben Sie auf diese sonderbaren Beschuldigungen zu erwidern, Herr von Breitenbach?«
Das Lächeln auf dem Gesichte des Befragten war noch starrer und krampfhafter geworden, aber Haltung und Stimme blieben ruhig. »Der arme Mensch ist krank, er phantasiert.«
»Du Lump, du Hund, elendiger!« Höhenleitner hatte einen Versuch gemacht, sich auf Breitenbach zu stürzen, aber die Gendarmen waren aufgesprungen und hatten ihn gepackt. Röchelnd sank er nun auf den Stuhl. Herr von Sieglitz sagte mit erhobener, drohender Stimme: »Wenn Sie sich Ungehörigkeiten erlauben, werde ich sie fesseln und abführen lassen, bis Ihnen Vernunft und Besinnung zurückgekommen sind.«
»'s ist schon vorüber, Herr Staatsanwalt; 's war nur – aber 's ist schon vorüber. Ich will ganz ruhig sein. Und wo's nun einmal so gekommen ist, möcht' ich's halt los werden vom Herzen. Ich weiß ja so nicht, ob ich noch lang' werd' reden können.«
»Glauben Sie noch Tatsächliches und Sachdienliches mitteilen zu können, so sprechen Sie.«
»Aber ein wenig rasch, wenn ich bitten dürfte,« warf Breitenbach in hochmütigem Tone ein. »Ich habe keine Zeit, um noch lange diese tollen Erfindungen eines wahrscheinlich vom Trunk zerrütteten Gehirns anhören zu können.«
Der Staatsanwalt ignorierte den Zwischenruf und forderte nur durch eine Bewegung noch einmal den Gefragten zum Reden auf.
»Also, das ist so g'wesen,« begann Höhenleitner. »Ich war damals noch jung und g'sund und leichtsinnig und hab's Leben nicht schwer g'nommen, nicht für mich und nicht für andere. Und wie der Herr von Breitenbach den Meineid g'schworen hat, da hab' ich mir denkt, das ist ja seine Sach'; das geht mich nichts an. Aber g'sagt hab' ich's ihm doch einmal, was ich weiß, und hab' geglaubt, er schenkt mir vielleicht a bisserl was, damit ichs Maul um so fester halt'n tu! Das hat er denn auch getan, und mehr noch, als ich mir erwartet g'habt hab'. Ein paar Tag' lang hat er's mit sich rumtrag'n, dann hat er mich zu sich ins Zimmer kommen lassen und hat mir g'sagt, er wüßt' ja, daß ich ein Mädel hätt', wo ich gern heiraten möcht' – ich hab' ihm nämlich davon schon erzählt g'habt – und ob ich nicht Lust hätt', nach Amerika zu gehen. Er wollte mir's Geld geben, und ich könnte drüben ein G'schäft anfangen, wo ich doch gelernter Schreiner wär' von Haus aus. Und ich bin sehr froh g'wes'n und hab' ihm sehr gedankt, und hab' mich trauen lassen mit meinem Mädel und bin abgedampft nach Amerika.«
»Das ist ja eine wundervoll romantische Geschichte,« sagte Breitenbach. »Neugierig bin ich, wie sie weiter geht.«
»Das wissen S' bereits ohnedem, Herr von Breitenbach, wie's weiter gegangen ist. Aber heut' soll's auch der Herr Staatsanwalt erfahren. Also: zu Anfang war's lauter Freud' und Seligkeit. Wir sind nach Milwaukee, wo's viele Deutsche gibt, und ich hab' Stellung g'funden in einer großen Möbelfabrik. Geld g'nug hab' ich verdient, so daß wir gut haben leben können, und ich hab' nicht etwa weiter was gefordert von dem großen Herrn hier. Nicht etwa, daß ich ein Erpresser oder dergleichen g'wesen war', Herr Staatsanwalt, das ist nicht an dem. Aber so gut, wie's aufwärts 'gangen ist die ersten Jahr', so rasch ist's abwärts 'gangen hinterher. Die Fabrik, wo ich in Stellung war, hat Konkurs g'macht, und meine Frau ist krank worden und krank geblieben nach einer schweren Geburt, und so haben wir's Elend kennen g'lernt, Herr Staatsanwalt, was man so recht eigentlich 's Elend nennt. Und in der Zeit, so recht mitten aus der Not heraus, da hab' ich denn einmal an den Herrn von Breitenbach g'schrieben und hab' ihn gebeten, ob er mir nicht helfen möcht' um Gottes willen. Ich hab' nicht etwa gedroht oder gepreßt, das hab' ich nicht getan. Gebeten hab' ich nur mit so beweglichen Worten, wie mir 's Elend eingeben tät. Aber geantwortet hat mir der Herr von Breitenbach nicht, wo ich doch g'wußt hab' aus Briefen von Augsburg, daß er noch lebt, und daß er sich hier dies schöne Rittergut gekauft hat. Zweimal, dreimal hab' ich g'schrieben und hab' die Brief' eing'schrieben g'schickt, damit er sie auch ja bekommt, und hab' auf eine Antwort g'wartet wie ein Kind auf'n heiligen Christ, aber kein Wörtl hat er mir g'schrieb'n, der große Herr. Gedacht wird er sich haben: ›Der ist gut aufg'hoben in Amerika, der kommt nimmer.‹ In Hunger und Kummer ist mir die Frau g'storben und mein einziges Kind, meine kleine Kreszenz, hinterdrein, und wie ich nun so ganz allein wieder dag'standen bin, da hab' ich zu mir g'sagt: ›Jetzt schaugst, daß du wieder 'nüberkommst aus eigener Kraft und red'st einmal ein Wörtl persönlich mit dem Herrn von Breitenbach.‹ Und ich hab' g'sucht und gebettelt, bis ich eine Stell' g'funden hab' auf 'nein Schiff als Kohlenzieher, und so bin ich denn glücklich bis nach Hamburg gekommen.«
Ein furchtbarer Hustenanfall unterbrach ihn für ein paar Minuten. Er zog ein schmutziges Taschentuch hervor, das er auf den Mund preßte, und als er es wieder fortnahm, war es rot von Blut. Er nickte vor sich hin und sagte leise: »Da haben wir's wieder, 's Blut. Ich kenn's jetzt bereits, – mit mir geht's bald dahin. Aber ein anderer soll mit mir kommen, dieser da! Herr Staatsanwalt, so also ist's g'wesen: Mit dem letzten Geld, wo ich g'habt hab', bin ich daherg'fahren und hab' mich durch'n Park hereing'schlichen, weil ich mir g'sagt hab', so, wie ich ausschau, lassen die Diener mich doch nicht 'nein zum gnädigen Herrn. Und ich hab' vom Park aus g'sehn, wie der Herr von Breitenbach allein hier im Zimmer am Schreibtisch g'sessen ist, und die Glastür da ist offeng'standen. Da bin ich 'nein zu ihm und hab' mich zu erkennen gegeben, und hab' noch einmal gebeten, daß er mir helfen soll. Er hat mir's abgeschlagen, rund und hart, und da ist mir die Wut gekommen, und ich hab' ihm g'sagt, was ich von ihm weiß und von ihm denk', und daß er sich hüten soll vor mir. Und ich bin heftig g'worden und hab's laut herausg'schrien, und auf einmal ist noch ein zweiter Herr im Zimmer g'standen, wo auch vom Park hereingekommen ist, und hat g'fragt, was es gibt und wer ich bin. Da hat den Herrn von Breitenbach eine ganz rasende Wut gepackt, und er hat die Hundspeitsche vom Nagel g'rissen, wo da hängt, und hat g'schrien: ›Ein Bettler ist's, ein Unverschämter! 'naus aus meinem Hause, 'naus aus meinem Zimmer!‹ Ich aber hab' ihm noch zugerufen: ›Besser ein Bettler als wie ein Meineidiger‹ – und bin fort in den Park 'naus.«
»Und wer soll der Herr gewesen sein, den Sie hier gesehen haben wollen?«
»Das ist der Herr Baron von Bassow g'wesen, wie ich aber hintennach erst erfahren hab'. Einen Tag lang hab' ich mich noch hier in der Gegend aufgehalten, und am anderen Morgen hat mich der Herr Baron ganz zufällig angetroffen und hat mich eing'laden auf ein Glas Bier im nächsten Wirtshaus und hat mir auch was zu essen geben lassen, weil er wohl g'sehen hat, wie ausgehungert ich bin. Und er hat mich ausg'fragt nach dem Herrn von Breitenbach, und ich hab' ihm g'sagt, was ich weiß. Und auch den Namen vom Fräulein Eugenie Neubeck hab' ich ihm sagen müssen, und wo s' g'wohnt hat in Augsburg. Und er hat Erbarmen mit mir g'habt und hat mir Geld g'schenkt, daß ich nach Berlin fahren kann und mich umtun um eine Stell', und hat g'sagt, ich soll ihm schreiben, wenn's mir wieder schlecht gehen sollt. Und ich hätt' in Berlin auch wirklich eine Stell' haben können als Hausmeister, nur daß man ein Zeugnis von mir hat haben wollen aus einem früheren Dienst. Und weil ich mir all die langen Jahr' das Zeugnis nicht aufbewahrt g'habt hab', wo ich früher bekommen hab' von Herrn von Breitenbach, da hab' ich noch einmal an ihn g'schrieben und ihn gebeten, er soll mir doch wenigstens das Zeugnis noch einmal ausstellen. Aber wer wieder nicht geantwortet hat, das ist der Herr von Breitenbach g'wesen. Und vor lauter Wut und Aufregung bin ich krank worden, und sie haben mich ins Krankenhaus bringen müssen, und da bin ich drin gelegen ein paar Wochen lang. Aber mein Haß und mein Zorn auf den Herrn von Breitenbach, die sind immer nur noch größer worden bei dem stillen Daliegen, und sobald ich wieder entlassen worden bin und meine Kraft' ein bisserl wieder beieinand' g'habt hab', da hab' ich den Revolver g'nommen, wo jetzt auf dem Tisch da liegt, und wo ich mir noch aufbewahrt g'habt hab' von Amerika her, wenn 's mit mir einmal zum Letzten kam, und bin zu Fuß gegangen von Berlin bis hierher – zum Fahren hat 's nimmer g'langt – und hab' mich wieder in den Park 'neing'schlichen, und hab' am Abend zu der Tür da 'neing'schossen auf den Herrn von Breitenbach. Aber die Hand hat mir gezittert vor Aufregung und vor Schwäche von der Krankheit her, und ich hab' ihn verfehlt, Gott sei's geklagt! Aber das kann ich sagen und beschwören, Herr Staatsanwalt, er ist ein herzloser und meineidiger Schurke und –«
»Jetzt ist's aber genug! Herr Staatsanwalt, ich bitte und ersuche Sie, mich vor diesen Beschuldigungen eines Wahnsinnigen zu schützen in meinem eigenen Hause!«
»Den Eindruck eines Wahnsinnigen macht mir der Mann hier nicht,« entgegnete Herr von Sieglitz auf Breitenbachs Ausruf mit merklich abgekühltem Ton. »Aber ich denke –«
Der Staatsanwalt kam nicht weiter; denn in diesem Augenblick ertönte an der Tür vom Korridor her ein kurzes, lautes Klopfen wie ein einzelner fester Schlag, und gleichzeitig öffnete sich auch schon die Tür. Baron Bassow trat ein. Er hielt in der einen Hand ein zusammengefaltetes Papier, in der anderen einen eingewickelten, unerkennbaren Gegenstand. Schon in der Tür begann er hastig und stoßweise zu sprechen. »Verzeihen Sie, Herr Staatsanwalt, – ich störe Sie, – ich dringe hier ungerufen ein, – aber es ist eine Sache von Wichtigkeit, – von höchster Wichtigkeit, – ich weiß jetzt, wer meinen Vetter ermordet hat.«
»Sie wissen das?« fragte der Staatsanwalt und unterstrich das Wörtchen »Sie« durch einen ungläubigen, erstaunten Ton.
»Ja, ich weiß es. Haben Sie die Güte, dieses Papier hier anzusehen.«
Er hatte den Plan für den zu erbauenden Pavillon ausgebreitet und legte das Blatt vor Herrn von Sieglitz auf den Tisch.
»Sie zeigen mir da nichts Neues. Ich habe dies Papier bereits mehr als einmal gesehen.«
»Aber Sie haben doch etwas nicht gesehen.« Bassow legte den Zeigefinger auf eine Stelle des Blattes, der Staatsanwalt schaute ein wenig widerwillig dorthin.
»Ich finde hier nichts Besonderes.«
»Warten Sie, – das Papier muß anders zum Lichte liegen, wenn man es sehen soll. Darum hat es auch niemand früher bemerkt. So, – jetzt werden Sie es auch erkennen können.«
Er hatte das Blatt mehr nach der Seite geschoben, wo das Licht vom Fenster her schräger darauf niederfiel. Der Staatsanwalt blickte mit Aufmerksamkeit hin, schüttelte den Kopf, schaute noch einmal und sagte: »Wirklich, – in dieser Lage sieht man hier auf dem Papier einen merkwürdigen Eindruck. Das Ding hat eine Form, – eine Gestalt wie –«
»Wie was, Herr Staatsanwalt? Ich möchte das gern aus Ihrem Munde hören.«
»Es sieht aus wie ein Kreis mit einem Kreuze darin.«
»Ganz recht. Manche Herren tragen so geformte Gummiabsätze unter den Hacken ihrer Stiefel, und hier ist auch der Stiefel, von dem dieser Eindruck stammt. Sie sehen, an dem Kreuze fehlt eine Ecke, und auf dem Abdruck fehlt sie auch an der gleichen Stelle. Dies Papier aber ist in Begleitung eines Briefes – dieses Briefes hier – erst am Nachmittage des zweiten Juli, an dessen Abend mein Vetter ermordet wurde, nach Garchim gekommen, das Papier hat auf dem Schreibtisch des Ermordeten gelegen, es ist vom folgenden Morgen an beständig unter Verschluß gewesen, – dieser Abdruck muß also erst an jenem Abend auf das Papier gelangt sein. Ich vermute, das Blatt ist vom Tisch herabgestreift worden, der Fuß, der damals diesen Stiefel trug, hat unachtsam darauf getreten, und es ist hinterher wieder auf den Tisch gelegt worden. Und so behaupte ich, Herr Staatsanwalt, wir haben in diesem Abdruck die einzige bestimmte Spur des Mörders in Händen.«
»Warten Sie einmal, – Sie folgern zu schnell. Die Spur könnte auch vor Absendung des Planes durch den Fuß des Architekten selbst darauf gekommen sein, oder auch durch den Ermordeten, sofern er solche Stiefel getragen hat.«
»Beides habe ich bedacht, Herr Staatsanwalt, und habe sofort Erkundigungen eingezogen. Der Architekt so gut wie mein Vetter haben solch einen Stiefel niemals getragen.«
»Wirklich? Dadurch gewinnt allerdings die Sache ein anderes Gesicht. Vielleicht ist sie tatsächlich von der Bedeutung, die Sie, Herr Baron, ihr beilegen!«
»Eins muß ich noch bemerken. Ich habe heute früh an die Gendarmeriestation telephoniert und angefragt, ob etwa der Verhaftete hier solche Absätze unter seinen Stiefeln trüge. Die Antwort lautete bejahend.«
»Nun also!«
»Auch ich glaubte schon, der Schuldige wäre damit endlich aufgefunden. Aber ich wollte Gewißheit und bin daher sofort hinübergeritten, habe verglichen und gefunden: die Spur stimmte nicht.«
»Nein?«
»Nein, – – womit freilich nicht ausgeschlossen war, daß der Gefangene zur Zeit, als das Verbrechen in Garchim verübt wurde, andere Stiefel getragen hatte, von denen der Abdruck stammen konnte. Aber weil ich noch einen anderen Verdacht hegte, habe ich den Herrn Wachtmeister gebeten« – der Bezeichnete machte eine zustimmende Bewegung –, »ein paar Stunden lang von meiner Entdeckung zu niemandem zu sprechen.«
»Das hätte nicht geschehen dürfen.«
»Ich weiß. Aber ich hatte fest versprochen, rechtzeitig hierherzukommen, und Sie sehen, ich bin hier, um Ihnen zu sagen, was ich weiß.«
»Darf ich auch diesen wunderbaren Abdruck einmal sehen?« Es war Breitenbach, der die Frage tat. Er hatte bisher mit seinem immer gleichen, erstarrten Lächeln zugehört. Jetzt war er langsam an den Tisch herangetreten. Der Staatsanwalt reichte ihm den Plan.
»Hier ist es, hier unten rechts. Nein, so können Sie es nicht erkennen, Sie müssen es mehr schräg zum Lichte halten.«
Breitenbach hatte das Papier ergriffen, gab aber durch Kopfschütteln zu erkennen, daß er nichts darauf entdecken könne. Scheinbar im Bemühen, besseres Licht zu bekommen, trat er dann ein paar Schritte weiter an die Glastür heran, die nach dem Park hinausführte. Sobald er ihr aber mit ruhigen, scheinbar gleichgültigen Bewegungen ganz nahe gekommen war, verwandelte sich plötzlich sein Wesen. Er schleuderte das Papier mit jäher Gewalt beiseite, riß die Tür auf und stürzte hinaus.
Eine Sekunde lang waren alle vor Ueberraschung gelähmt. Bassow gewann aber gleich die Geistesgegenwart wieder und rief: »Ihm nach, ihm nach! Er ist der Mörder!«
Jetzt kam rasches Leben auch in die übrigen. Während der eine Gendarm den Gefangenen, der hysterisch zugleich lachte und weinte, beim Arm packte, daß er nicht auch zu fliehen versuchte, rannte der Wachtmeister in den Park hinaus, während Bassow hinter ihm her schrie: »Sein Pferd stand gesattelt auf dem Hofe, als ich kam; auf ihm wird er fliehen wollen.«
Hinauseilend sah er, daß der Wachtmeister seiner Weisung folgte und sich nach links in das Haus wandte, um über den Flur auf den Hof zu gelangen. Laufend nahm Bassow denselben Weg; ein wenig langsamer, doch gleichfalls ungewohnt beweglich folgte der Staatsanwalt ihm nach.
In die Tür vom Schlosse zum Hof hinaustretend, sahen sie noch eben, wie der Gendarmeriewachtmeister, dessen Pferd gleichfalls gesattelt geblieben war, zum gegenüberliegenden Hoftor hinaussprengte. Ein paar Sekunden lang hörten sie noch den eiligen Hufschlag auf der Landstraße, dann kam eine plötzliche Stille, in die nur die Schläge der Dreschmaschine gleichmäßig und friedlich hineintönten.
Sie standen, schwiegen und horchten. Und nun kam durch die ruhige Luft ein Ton, der sie zusammenfahren ließ, – der Klang von zwei rasch aufeinander folgenden Schüssen. Dann war es wieder still, bis der Laut eiliger Hufe neu erwachte, näher kam und sich verstärkte ... Und jetzt erschien auch die Gestalt des Gendarmen wieder im Hoftor, der auf sie zugaloppierte, und dem sie nun entgegeneilten.
»Was hat es gegeben? Was ist passiert?«
»Ich habe ihn vom Gaul heruntergeschossen, – es war Notwehr, Herr Staatsanwalt. Wie er bemerkt hat, daß ich mit meinem guten Pferd ihm nähergekommen bin, da hat er sich umgewandt und hat auf mich geschossen. Die Kugel ist ganz nahe an meinem Kopfe vorübergeflogen. Aber da habe ich auch meinen Revolver herausgerissen und habe ihn mir heruntergeholt.«
»Und jetzt, – wo ist er?«
»Auf der Landstraße liegt er in seinem Blute. Wir müssen eine Bahre haben, um ihn hereinzubringen.«
»Ist er tot?«
»Nein, – aber –«
»Aber was?«
»Ich glaube, er hat genug.«
Einen Augenblick schwiegen alle. Dann sagte Bassow sehr ernst: »Wir wollen es ihm wünschen. Dieser Tod wäre besser als ein anderer.«