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Erstes Kapitel

Hell und sauber war es, das Dienstbotenzimmer in Schloß Garchim. An den beiden im Augenblick weit geöffneten Fenstern hingen weiße Vorhänge schlaff herab, die Tische und Stühle waren aus ungestrichenem, reingescheuertem, weißem Holz; weiß leuchteten die Schürzen der Köchin und des Hausmädchens, weiß war auch der große, runde Blechschirm über der mächtigen Petroleumlampe, die von der Decke niederhing und ihr Licht über den weißen Raum ergoß.

Die drei Personen, die sich im Zimmer befanden, ruhten vom Tagewerk aus. Die Köchin hatte sich eine Brille aufgesetzt und häkelte an einem weißen Wolltuch für Winterstage. Das Hausmädchen saß ganz untätig ihr gegenüber am großen, länglichen Mitteltisch unter der Lampe und wehte sich mit ihrer Schürze Kühlung zu. Dabei warf sie vergeblich lockende Blicke auf den hübschen, jungen Diener, der, in ein Zeitungsblatt vertieft, ein wenig abseits von ihr saß und sich durch ihr Augenspiel nicht stören ließ. Er war ganz mit seiner Lektüre beschäftigt und strich sich nur zuweilen den kecken, blonden Husarenschnurrbart, den er aus der Militärzeit mit Erlaubnis der Herrschaft in das gegenwärtige Dienstverhältnis gerettet hatte.

So saßen die drei eine Weile; dann blickten sie gleichzeitig empor. Die weiße Tür zum Korridor öffnete sich – sie tat es mit jenem behaglichen Knarren, das alten Türen in altmodischen Häusern eigen ist, – und ein Mann trat herein, der sich mit einem roten, baumwollenen Taschentuch über das Gesicht fuhr. Es war der Kutscher Sürjahn, der nun mit knurriger Stimme rief: »Donnerwetter nochmal! Schockschwerenot nochmal! Ist das eine Bullenhitze heute abend!«

Die Köchin schob die Brille auf die Stirn und sah darunter her mißbilligend auf den Uebelgelaunten. »Herr Sürjahn,« sagte sie dann vorwurfsvoll mit spitzigem Ton: »Wenn Sie die Bemerkungen über das Wetter nicht mit so abscheulichen Flüchen begleiten wollten, so wäre das meiner Ansicht nach gebildeter.«

»Ach was, gebildet! Wenn einem das Wasser den Buckel hinunterläuft, kann man nicht auch noch groß gebildet sein. So 'ne Hitze ist mir hier überhaupt noch nicht vorgekommen, und ich bin doch nun schon beinahe dreißig Jahre im Schloß. Ein Wind weht heute, so schwül, als wenn er geradeswegs aus dem Backofen herauskäme. Der Herr Verwalter hat ihm auch einen besonderen Namen gegeben; es war was Ausländisches, ich habe mir's nicht behalten. Aber daß ich schwitze, das weiß ich auch ohne den Namen.«

»Ich glaube, das tun wir wohl alle,« versetzte die Köchin mit unverminderter Würde. »Vom Fluchen wird das aber nicht besser.«

Der Kutscher hörte nicht viel nach ihr hin, sondern setzte den eigenen Gedankengang fort.

»So ähnlich war es vor sechs Wochen, eh' wir den großen Windbruch hatten –«

»So heiß war es nicht,« widersprach die Köchin.

»So heiß natürlich nicht. Es war ja noch Mai, und heute haben wir den zweiten Juli. So ein Wetter aber war's, genau so war es damals. Dieser Wind –«

»Wir wollen hoffen,« unterbrach ihn die Köchin, »daß wir heute nacht nicht wieder was Aehnliches erleben. Ein Gewitter gibt es, das fühle ich ganz deutlich in meinem rechten Bein, und wenn die Schmerzen so bis in die große Zehe hinuntergehen, dann kommt es tüchtig.«

»Das war eigentlich schrecklich damals mit dem Windbruch!« sagte das Hausmädchen mit einem Augenaufschlag, den sie gern verwendete, wenn der hübsche Diener in ihrer Nähe war. »Dies Heulen und Pfeifen und Krachen, und am andern Morgen dann alle die schönen Bäume am Boden – wie umgemäht. Ach, und der Pavillon, den es auch mit zerstört hat! Vorigen Sommer haben wir dort manchmal abends gesessen, und Ihr Vorgänger, Franz, hat uns was erzählt. Er war sehr unterhaltend, Ihr Vorgänger.«

Der Diener, den sie also anzustacheln suchte, sah nur flüchtig von der Zeitung auf, in die er sich wieder vertieft hatte, und sagte mit beleidigender Kälte: »Wirklich? Na, wir können ja nicht alle gleich sein.«

Diese Antwort erfreute den Kutscher, der den Rock ausgezogen und sich in Hemdärmeln auch an den Tisch gesetzt hatte. »Bravo!« rief er. »Nur immer die Frauenzimmer abfallen lassen, nur nicht auf ihre schönen Reden hören! Tun Sie alles, Franz, aber lassen Sie sich nicht einfangen. Heiraten Sie nicht, heiraten Sie nicht!«

»Ach, was verstehen Sie alter Junggeselle denn vom Heiraten?« fragte das Hausmädchen mit einer verächtlichen Kopfbewegung.

»Gerade genug. Denn es hat ausgereicht, um mich davor zu bewahren. Uebrigens meine ich, daß man just hier im Hause keine große Ursache hätte, ein Loblied aufs Heiraten zu singen.«

»Das ist leider Gottes wahr!« gab die Köchin zu, die sich dabei zum ersten Male in Uebereinstimmung mit dem Kutscher zeigte. Das war Wasser auf seine Mühle, und er knurrte die Worte jetzt noch lebhafter hervor. »Ja, habe ich nicht recht? Haben wir nicht hier vor Augen ein Beispiel von einer unglücklichen Ehe? Müssen Sie mir das nicht selber bestätigen, Fräulein Sophie?«

So als Autorität angerufen, stimmte die Köchin ihm zum zweiten Male bei, wenn sie auch gewohnten Widerspruch nicht ganz unterdrücken mochte.

»Jawohl, recht haben Sie, Herr Sürjahn. Aber das hat nichts mit dem Heiraten im allgemeinen zu tun, sondern nur mit dem Heiraten im besonderen.«

»Wieso meinen Sie das?«

»Ach, das wissen Sie doch so genau wie ich selbst. Wenn der Herr Baron sich in seinen Kreisen eine Frau gesucht hätte, dann wäre die Sache gut gewesen. Aber warum hat er diese Theaterprinzessin heiraten müssen? Wenn der Herr Baron selig das wüßte, der den ganzen Tag nur über seinem Stammbaum und seinen Familienpapieren saß, der drehte sich im Grabe um. Noch niemals ist es dagewesen – er hat oft mit mir gesprochen und von seinen Vorfahren erzählt – noch niemals, daß einer von ihnen aus seinem Kreise heraus geheiratet hat. Und das tut überhaupt niemals gut. Meine Mutter selig hat schon immer zu mir gesagt: ›Sophie, hat sie gesagt, wenn du mal heiraten willst, sieh nicht nach oben und nicht nach unten, sieh auf deinesgleichen‹ –«

Der Kutscher hatte sich, nachdenklich geworden, auf dem Kopfe gekratzt. »Na, gegen die Frau Baronin an sich möchte ich doch nichts einwenden,« warf er jetzt bedächtig ein, und gleich kam eine Zustimmung von den beiden jüngeren Dienstboten.

Langsam die Zeitung sinken lassend, hatte auch der Diener mehr und mehr auf das Gespräch gehorcht. Er sagte jetzt und wurde ein wenig rot, indem er sprach: »Die Frau Baronin ist doch eine so schöne Frau! Und so vornehm und so gut –!«

»Ja, gut ist sie wirklich,« bestätigte das Hausmädchen, das froh war, den Diener jetzt reden zu hören. »Ich kann mich gar nicht über sie beklagen. Vor drei Tagen erst hat sie mir wieder eine seidene Bluse geschenkt, ganz wie neu. Hellgelb und mit Spitzen. Am nächsten Sonntag will ich sie anziehen. Vielleicht bin ich dann schön genug für den Herrn Franz, daß er einmal mit mir ausgeht.«

Einer Antwort wurde Franz enthoben; denn die Köchin, die mit ausdrucksvoller Bewegung soeben einen Faden von ihrer Häkelei abgebissen hatte, nahm wieder energisch die Führung der Unterhaltung. »Das ist alles eins. Ich sage nichts gegen die Frau Baronin. Wenn sie geblieben wäre, wo sie hingehörte, da möchte die Sache wohl ganz in Ordnung sein. Aber gleich und ungleich soll sich nicht gesellen.«

»Solche Vorurteile kennt man doch eigentlich heutzutage nicht mehr.« Das Hausmädchen warf sich in die Brust als Vertreterin freidenkerischer Jugend, doch löschte die Köchin gleich ihr Kampfesfeuer. »Sie haben überhaupt noch gar nicht mitzureden. Wer noch nicht länger als drei Jahre hier im Schlosse ist, hat den Mund zu halten. Herr Sürjahn und ich, die wir schon beim Herrn Baron selig in Diensten waren, wir wissen es, wie hier die Sachen stehen.«

»Jawohl,« sagte der Kutscher, »so ist es. Wir haben das alles mit angesehen, wie es nach und nach so gekommen ist. Zu Anfang, in den ersten beiden Jahren nach ihrer Heirat, sind ja die zwei wohl ganz glücklich miteinander gewesen. Ich sage das ungern, weil ich grundsätzlich gegen das Heiraten bin, aber ich muß es zugeben. Und hinterher ist ja dann das Unglück auch ganz richtig gekommen; seit einem halben Jahr ungefähr ist es da. Wer von den beiden die Schuld daran trägt, das kann ich nicht entscheiden. Aber ein alter Dienstbote hat offene Augen und sieht, was er sieht.«

»Jawohl, jawohl,« bestätigte Sophie mit einem tiefen Seufzer.

Sürjahn aber fuhr fort: »Wie kommt es denn sonst, daß der Herr Baron jetzt so oft nach Berlin und anderswohin fährt? Er allein, was er sonst nie getan hat. Vor drei Tagen erst habe ich ihn wieder zur Bahn fahren müssen, und er ist noch nicht wieder zurück. Warum streiten die beiden so oft miteinander, und warum ist die Frau Baronin von unten weggezogen in den ersten Stock hinauf, ganz in den äußersten Flügel vom Schlosse?«

»Ach, das hat doch wohl nichts damit zu tun,« sagte der Diener und errötete abermals unter seinem blonden Schnurrbart.

»Mir hat die Frau Baronin gesagt, weshalb sie da hinaufgezogen ist, – ich habe ja die Möbel dort umrücken müssen. Weil sie die Sonne und die Wärme liebt, hat sie gesagt, und weil doch ihr neues Wohnzimmer dort nach dem Süden liegt. Früher, sagt sie, hat sie das Zimmer nicht so gern gemocht, aber jetzt hat es eine so schöne, weite Aussicht, weil doch der Windbruch den Wald niedergelegt hat. Nun kann sie bis Lünzin hinübersehen, und wenn die Sonne darauf scheint, blitzt sogar der tote See herüber, hat sie gesagt.«

»Hat sie gesagt, jawohl,« wiederholte Sophie verächtlich und setzte die Häkelnadel mit einem verstärkten, kriegerischen Eifer in Bewegung. »Wenn alles nur wahr wäre, was die Menschen sagen! Schöne Redensarten sind es, womit Sie die Frau Baronin dumm gemacht hat, junger Mann. Sie können das eben noch nicht unterscheiden. Ich aber sage Ihnen: darum allein ist sie nach oben hinaufgezogen, weil sie da hübsch weit entfernt ist vom Herrn Baron, der seine gewohnten Zimmer im Erdgeschoß niemals aufgeben wird. Die Zimmer, wo schon sein Vater selig und sein Großvater gewohnt haben. Ein Skandal ist es, aller Welt so zu zeigen, was kein Mensch erfahren sollte.«

Das Hausmädchen zuckte rebellisch die Achseln. »Nun, ich kann es keiner Frau verdenken, wenn sie einem Manne aus dem Wege geht, der sie schlecht behandelt. Wie du mir, so ich dir. Scheiden ließe ich mich ohne weiteres von ihm – und sie will das auch, soviel ich neulich zufällig gehört habe. Und wenn sie es einstweilen macht wie er und sich auch nach was anderm umsieht und auch ihre kleinen Heimlichkeiten hat –«

»Was für Heimlichkeiten?« Sophie hatte die Arbeit sinken lassen und fragte mit strengem Ton, der aber zugleich lebhafte Neugierde verriet. »Wissen Sie was von Heimlichkeiten bei der Frau Baronin?«

»Oh, ich will nichts gesagt haben.«

»Aber Sie haben etwas gesagt. Und wenn Sie dafür vielleicht die seidene Bluse geschenkt bekommen haben, damit Sie den Mund halten –«

»Aha, die seidene Bluse! Die hätten Sie wohl selbst gerne gehabt, Fräulein Sophie?«

»Ich kaufe mir, was ich brauche. Und ich würde mir niemals erlauben, etwas zu tun, was dem Herrn Baron mißfallen könnte, in dessen Diensten ich stehe. Und ich meine, daß es gerade genug ist, wenn schon das Unglück über einem Hause hängt –«

Jäh brach sie ab. Ein heller Glockenton, dem nach ganz kurzer Pause ein zweiter folgte, war in ihre Worte hineingeklungen. Der Kutscher warf einen Blick auf die runde Uhr an der Wand und sagte: »Das gilt Ihnen, Franz. Was mag das bedeuten? Es ist schon über halb elf; da klingelt sie doch sonst nicht mehr.«

Franz war bereits eifrig aufgesprungen und vertauschte rasch einen blauweiß gestreiften Drillichrock mit einer schwarzen Livree, die an einem Hakenbört hing. »Nein, das kommt selten vor. Es muß wohl was Besonderes sein. Aber ich werd' es ja gleich hören.«

Damit ging er hinaus auf den Korridor, der das Gebäude in seiner ganzen Längsrichtung von einer Schmalseite zur andern durchzog und in der Mitte das geräumige Treppenhaus kreuzte. Das Dienstbotenzimmer lag am äußersten Ende von diesem Korridor, und Franz wandte sich rechts hin auf das Treppenhaus zu. Dort brannte eine einzige, große, schmiedeeiserne Laterne, die nur mattes Licht in die beiden Korridorhälften sandte. Bevor der Diener jedoch seinen Fuß auf die unterste Stufe der nach oben führenden Treppe gesetzt hatte, blieb er in lebhafter Ueberraschung stehen. Denn ihm entgegen von oben herab kam die Baronin selbst und rief ihm schon im Gehen eine Frage zu: »Wo sind Sie gewesen, Franz? Haben Sie nichts gehört?«

»Frau Baronin entschuldigen, ich habe mich so sehr als möglich beeilt. Ich war in unserm Zimmer, wo auch die andern sitzen –«

»Und Sie haben nichts gehört?«

»Nein. Ich wüßte nicht, was ich gehört haben sollte.«

»Einen Ton. Einen Schrei, einen Hilferuf – ich kann ihn nicht beschreiben. Ich saß in meinem Zimmer, da hörte ich diesen furchtbaren Ton. Es war, als wenn er unmittelbar unter dem offenen Fenster wäre, oder, als wenn er aus den Mauern hervorkäme. In meinem Leben habe ich so etwas Unheimliches noch nie gehört. Und keiner von Ihnen –«

»Gewiß nicht, Frau Baronin. Wir haben freilich ein wenig lebhaft gesprochen, und unser Zimmer liegt ja ganz nach der andern Seite –«

»Nun, es ist gut. Rufen Sie mir auch die andern her und wecken Sie den Gärtner, wenn er schon schlafen sollte. Sagen Sie, daß er eine Laterne mitbringt; wir müssen im Park nachsehen, was dieser Ton bedeutet hat.«

Die Baronin sprach atemlos, ohne Pause; ein Zittern überlief ihren Körper. Eilig ging der Diener nach dem Zimmer zurück, aus dem er gekommen war; die Baronin tat ein paar hastige Schritte ihm nach, als wenn sie sich fürchtete, allein zu sein. Dann aber, als die von Franz herbeigerufenen übrigen Dienstboten sich um sie versammelt hatten, wiederholte sie die Frage von vorhin, ob niemand jenen Hilferuf, jenen Schrei vernommen habe. Allgemeines Erstaunen, allgemeines Verneinen war auch hier die Antwort.

Im Sprechen waren sie bis ins Treppenhaus zurückgegangen; Franz hatte sich durch den einen der beiden Hauptausgänge, der nach dem Hof zu lag, entfernt, um den Gärtner zu rufen. Auf das erste, lebhafte Durcheinander von Fragen und Antworten war ein tiefes, drückendes Schweigen gefolgt. Gerade unter der großen, schmiedeeisernen Laterne in der Mitte des Flurs, die helles Licht auf die Menschengruppe darunter niederschüttete, stand die Baronin, hoch aufgerichtet, aber totenbleich. Gleich einer breiten, goldigrötlichen Krone lag ihr Haar auf dem Kopf; unter dunklen Augenbrauen hervor schauten aus dem weißen Gesicht ihre blauschwarzen Augen mit starrem Ausdruck in eine geheimnisvolle Ferne.

Jetzt meldete sich mit vorsichtigem Räuspern der Kutscher zum Wort; jeder Ton hallte seltsam wider in dem hoch hinansteigenden Treppenhaus. Leise und rauh, mit einer deutlichen Scheu vor der eigenen Stimme begann der alte Mann zu sprechen. »Frau Baronin haben uns gefragt, ob wir nichts gehört haben – was Besonderes, Unheimliches. Und wir haben geantwortet, wie es richtig war, daß wir nichts gehört haben. Frau Baronin haben aber nur wegen heute gefragt –«

»Wegen heute, gewiß.«

»Ja natürlich, aber –«

»Aber was?«

»Wenn Frau Baronin gefragt hätten, ob man hier noch niemals etwas Derartiges gehört hätte, dann wäre wohl auch anders geantwortet worden.«

»Wieso? Was meinen Sie?«

»Ja, es ist nun so drei Wochen ungefähr her. Wir waren gerade vor dem ersten Heuschnitt, aber wir hatten damit noch nirgends angefangen, noch an keiner einzigen Stelle. Das ist nämlich wichtig, das darf man dabei nicht vergessen. Da hat eines Tages der Gärtner – aber da kommt er ja selber. Da kann er es der Frau Baronin auch selbst erzählen.«

Mit einem schweren Geräusch, das den hier hausenden Widerhall abermals weckte, hatte sich die große Eichentür nach dem Hofe hin geöffnet, und mit dem Diener zusammen, der eine brennende Laterne trug, war der Gärtner eingetreten. Er war nach seinem Aussehen der älteste von allen Anwesenden, weißköpfig und hager, aber mit gesundem, von Regen und Sonne gebräuntem und gegerbtem Gesicht. Er hatte sich wohl schon schlafen gelegt gehabt; noch im Eintreten zog er sich seine graue Joppe über ein blaues, gestricktes Hemd. Er wußte bereits durch den Diener, um was es sich handelte, konnte der Baronin aber nur sagen, daß auch er von dem geheimnisvollen Tone nichts gehört habe. Sie unterbrach ihn, als er sich darüber noch näher auslassen wollte, mit raschem, befehlendem Wort. »Wir haben jetzt keine Zeit, um viel zu reden. Wir müssen zunächst in den Park und sehen, ob wir dort nichts finden, was den Ton erklärt, den ich scheinbar allein gehört habe. Kommt alle mit – Sie gehen voran, Franz, mit der Laterne.«

Der Tür vom Hofe her lag eine andre, gleich große gerade gegenüber, die nach dem Park hinausführte. Zwischen zwei Vorbauten an den beiden Enden des Schlosses dehnte sich hier eine lange Terrasse aus, auf die noch vier Glastüren und eine ansehnliche Reihe von Fenstern des Erdgeschosses mündeten. Drei Stufen führten hinab in den Park.

Eine glühende Luft von fast körperlicher Schwere drang auf die Hinaustretenden ein, von einem starken, stoßweise noch mehr anschwellenden Winde gepeitscht. Im zitternden Schein der Laterne tauchten jenseits eines breiten Kiesweges, der am Schloß entlang führte, ein paar weiße Figuren auf hellen Sockeln ungewiß aus der Nacht hervor, denen sich andre in weiterer Ferne noch undeutlicher und geisterhafter anschlossen – eine doppelte Statuenreihe, die auf beiden Seiten einen rechtwinkelig begrenzten Rasenstreifen umsäumte. Seine kurze Schmalseite dem Schlosse zukehrend, zog er sich mit seinen weißen Gestalten scheinbar endlos in die Dunkelheit hinein, in der er verschwand. Rechts und links an ihm hin verliefen zwei Wege mit ihm zusammen in die finstere Ferne. Der am Schloß entlang führende Kiesweg zog sich ebenfalls weit über das Gebäude gradlinig hinaus nach beiden Seiten in die Nacht hinein. Hohe, beschnittene Hecken standen gleich schwarzen Mauern an den Seiten der Wege, und über sie her wuchsen alte, mächtige Bäume zu den grauen, schweren, gejagten Wolken empor, in die sie mit ihrem bewegten, im heißen Winde seufzenden Wipfeln hineinzugreifen schienen. Ein wildes, drohendes Rauschen war dort oben in der Höhe, und mitunter klang es, als wenn böse, fauchende Tiere miteinander kämpften.

Das ganze nächtliche, vom Windesbrausen durchklungene Bild tauchte nur immer stückweise, für Augenblicke rasch wieder verschwindend, aus der Finsternis empor, wenn der bebende Schein der Laterne darüber hinglitt, um beim Weiterwandern die verlassene Stelle noch dunkler, ungewisser, geheimnisvoller zu machen als zuvor.

»Dorthin!« sagte die Baronin mit einer Stimme, die von der glühenden Luft erstickt zu werden schien, und bewegte die Hand, um rechtshin zu deuten.

Eng sich aneinanderschließend ging nun die Menschengruppe in erwartungsvoll-ängstlichem Schweigen auf dem Kieswege hin, der an der Terrasse und an dem rechten Vorbau des Schlosses entlang führte. Hier hob die Baronin den Blick und sah nach oben. Dort im ersten Geschoß war das Eckzimmer hell beleuchtet, in dem sie wohnte, und grüßte mit seinen drei gelbschimmernden Fenstern herab. Eins davon lag in der Hauptfront vom Schlosse, die beiden andern, die geöffnet waren, in der seitlichen, schmäleren Wand. Bevor die schwarzen, rechts und links am Wege hin geradeaus laufenden Hecken begannen, führte hier noch ein kleiner Pfad an der Seitenfront entlang zu einer hölzernen Tür an der vorderen Ecke des Schlosses nach dem Hofe zu. Als im darübergleitenden Laternenschein diese Tür für einen Moment sichtbar geworden war, wandte sich die Baronin hastig zum Gärtner und fragte: »Haben Sie alle Parktüren heute wie gewöhnlich verschlossen?«

»Gewiß, Frau Baronin.«

»Dann gehen Sie schnell zurück und verschließen Sie auch die große Ausgangstür, durch die wir gekommen sind. Der Schlüssel steckt innen. Ziehen Sie ihn ab und bringen Sie ihn mir.«

Gehorsam, wenn auch mit einer Bewegung des Unbehagens über die Entsendung in die unheimliche Dunkelheit, folgte der Gärtner ihrem Befehl. Während er fort war, blieben die übrigen stehen, und ein ruhigerer Lichtschein fiel aus der Laterne auf eine Steinbank, die hier ganz nahe dem Schloß unter einer weißen Götterfigur in einer Nische der Hecke stand. Rasch war der Gärtner aber wieder zurück und überreichte der Baronin den geforderten Schlüssel.

»Nun müssen wir suchen,« sagte sie und schritt selbst voran. »Von hier, ganz aus der Nähe, muß dieser Ton gekommen sein. Ich hatte beinahe geglaubt, wir würden bei dieser Bank schon etwas finden, was ihn erklärt.«

Mit besonderer Sorgfalt beleuchtete der Diener noch einmal die bezeichnete Stelle, doch zeigte sich keine Spur eines lebenden Wesens. Leer und frei dehnte sich auch der Weg in die Ferne aus. Erstaunt bewegte die Baronin den Kopf. »Es ist nichts zu sehen. Wir müssen weiter hinein in den Park.«

Sie hieß den Diener vorangehen, und sie traten durch eine Oeffnung in der festen Hecke hinein in die stückweise erhellte Finsternis unter den hohen Bäumen, deren stöhnendes Rauschen hier noch drohender und lauter klang. Im Innern des von den Hecken mit geraden Wänden abgegrenzten Raumes, den sie betraten, endete der französische Charakter des Gartens, der dem Versailler Stil des Schlosses entsprach. Hier herrschte freie, nur gezügelte Natur. Unregelmäßig verschlungene Wege umzogen Rasenplätze und Baumpartien von scheinbar willkürlicher Form. Statuen erhoben sich, plötzlich weiß aufleuchtend, auch hier noch an einzelnen Stellen, doch wurden sie seltener, je weiter man sich vom Schlosse entfernte.

Im tiefen Schweigen der ungewissen Erwartung schritten die Suchenden eine Strecke weit in diesen Teil des Parkes hinein, mitunter von einem niedrigen Gesträuch erschreckt, in dem sich erregte Phantasie eine am Boden liegende menschliche Gestalt ausmalen konnte. Aber stets erkannten sie bei näherem Hinsehen die Täuschung und gingen weiter in vergeblichem Suchen. Auch den geraden Hauptweg, auf dem sie gekommen waren, überschritten sie noch einmal auf Befehl der Baronin und spähten im gegenüberliegenden Teile des Parkes in gleicher Weise sorgfältig, aber ohne jeden Erfolg umher.

Endlich blieb sie stehen. »Es hat keinen Zweck, daß wir noch weiter gehen. Von so fern her kann der Ton unmöglich gekommen sein. Ich muß mich getäuscht haben. Und doch –« Sie vollendete den Satz nicht, sondern versank für einen Augenblick in ein tiefes, nachdenkliches Schweigen. Dann sich gewaltsam aufrichtend, gab sie den Befehl, nach dem Schlosse zurückzukehren.

Der Diener öffnete die Haustür mit dem Schlüssel, den die Baronin ihm gab, um dann auf ihren Befehl von innen gleich abermals abzuschließen und den Schlüssel stecken zu lassen, sobald alle wieder auf dem großen, hallenden Flur versammelt waren. Sie gab diesen Auftrag, wie sie sagte, um das Entkommen einer etwa im Parke verborgenen Person durch das Haus unmöglich zu machen. Die Baronin überlegte einen Augenblick, dann fügte sie hinzu: »Alle Türen zum Park sollen morgen früh solange verschlossen gehalten werden, bis ich Erlaubnis gebe, sie zu öffnen. Der Park muß morgen bei Tage noch einmal durchsucht werden.« Sie hatte sich schon bei diesen Worten zum Gärtner gewendet und sprach nun auch weiter zu ihm: »Jetzt haben wir Zeit, Sie anzuhören. Sürjahn sagte mir vorhin, Sie hätten vor ein paar Wochen etwas Aehnliches gehört, wie ich selbst. Erzählen Sie mir das rasch und genau.«

»Ja, Frau Baronin, etwas Aehnliches war es nun eigentlich nicht. Was den Ton anbelangt, meine ich. Denn einen Schrei, oder so was, das habe ich nicht gehört. Aber ganz merkwürdig war es doch, und ich habe gleich zu meiner Frau gesagt –«

»Machen Sie's kurz. War es in Ihrer Wohnung? War es im Park?«

»Im Park natürlich. Der Heinrich Müller war dabei, der Gärtnerbursch. Ja, wenn ich es allein gehört hätte, aber der war dabei. Vor drei Wochen ist es gewesen, auf einen Montag, ziemlich früh am Tage. Wir hatten damals doch neuen Kies aufgeschüttet auf dem Platz mit der Steinbank an der Seite vom Schlosse –«

»Weiter, weiter!«

»Ja, ja, ich komme schon dazu. Wir harkten den Kies nämlich glatt, Heinrich Müller und ich, und auf einmal – auf einmal –«

»Was denn? Reden Sie doch!«

»Da hörten wir auf einmal, und zwar so nahe, als wenn es ganz unmittelbar neben uns wäre, – da hörten wir ganz deutlich, daß einer eine Sense dengelt.«

»Weiter nichts?«

»Nein, weiter war es nichts. Aber daß keiner zu sehen war, der es tat, und daß wir ganz genau wußten, daß keiner auf unserm Gut mit der Sense draußen war, und daß wir es doch hörten, als wenn es fünf Schritte von uns wäre, – das ist uns damals durch und durch gegangen. Und ich habe den Tag nicht mehr aus meinem Gedächtnis gebracht. Es war ein heißer, schwüler Tag, beinahe so wie heute, wie wir sie eigentlich selten hier haben, aber wie doch in diesem Sommer schon ein paar dagewesen sind.«

»Haben Sie nicht nachgesehen, ob nicht vielleicht doch jemand mit der Sense in der Nähe war?«

»Gewiß, Frau Baronin. Rund herum haben wir gesucht im Park, aber nichts haben wir gefunden.«

»Und wie kommt es, daß ich heute erst von dieser Sache höre?«

»Ja, Frau Baronin waren damals gerade verreist –«

»Vor drei Wochen, ganz recht. Ich war in Stettin bei meiner Schwester.«

»Und mit dem Herrn Baron haben wir auch nicht gern davon sprechen wollen, weil wir doch nicht gewußt haben, ob er an solche Sachen glaubt –«

»Wieso? Woran soll er glauben?«

»Ich meine, ob er daran glaubt, was ein solcher Ton bedeuten kann –«

»Was meinen Sie damit?«

»Wir auf dem Hofe haben viel darüber hin und her gesprochen, und einer hat dies gesagt und ein andrer jenes. Unser Schäfer Christian Wulfes aber, der doch mehr von manchen Dingen weiß, als wir andern – wie ja die Schäfer das im allgemeinen tun – der hat es uns gesagt, was der merkwürdige Ton bedeutet hat!«

»Und wie lautet seine Weisheit?«

Einen Augenblick zögerte der Gärtner wieder und bewegte sein rechtes Bein verlegen auf und ab, um dann mit leiser, aber seltsam durchdringender Stimme zu sagen: »Der die Sense da gedengelt hat, ohne daß wir ihn sehen konnten mit unsern leiblichen Augen, das ist, wie Christian Wulfes behauptet, kein andrer gewesen, als der Tod.«

»Der Tod?«

Sie versuchte zu lachen, doch kam kein Ton heraus, und nur ein krampfhaftes Zucken verzerrte ihr die Mundwinkel.

Der Gärtner aber mußte sich nun alles vom Herzen herunterreden, was darauf lag. »Jawohl, wie Christian Wulfes gesagt hat. Und wir haben es gesehen, daß er recht gehabt hat. Zwei Tage nur, nachdem wir das Dengeln der Sense gehört haben, der Heinrich Müller und ich, ist ja die Luise Stöves, was dem Zimmermann Stöves seine Tochter war, denn auch richtig gestorben.«

Die Baronin hatte jetzt ihre volle Fassung wiedergefunden. Mit einem kühlen, beinahe spöttischen Blick betrachtete sie den Gärtner. »Das Mädchen war krank, schon seit langer Zeit. Es hatte die Schwindsucht, und um ihretwillen brauchte sich der Tod nicht noch so besondere Mühe zu machen. Nein, mit solchem Aberglauben wollen wir hier im Schlosse nichts zu schaffen haben. Geht nun alle schlafen und kommt mir morgen mit klarem Kopf an die Arbeit.«

Sie wandte sich und begann, die breite, von schwerem, weißem Steingeländer bekleidete Treppe hinanzusteigen. Aber sie war eben erst auf der dritten Stufe angelangt, als der alte Kutscher hinter ihr herging und sagte: »Frau Baronin entschuldigen, ich bin doch nun schon so lange hier in Diensten, da darf ich mir wohl einmal eine Freiheit herausnehmen. Ich möchte nämlich fragen, – wo die Frau Baronin doch heute den sonderbaren Schrei gehört haben –, ob es nicht besser wäre, wenn wir vor dem Zubettgehen noch einmal alle Zimmer genau nachsähen; ich glaube, wir könnten nicht ruhig schlafen, wenn wir das nicht täten.«

»Sie meinen, der Ton, den ich gehört habe, könnte auch aus einem Zimmer im Schlosse gekommen sein? Ich halte das für völlig ausgeschlossen; er kam unbedingt von außen, aus dem Park. Aber es ist vielleicht gut, wenn die Zimmer noch einmal nachgesehen werden. Wir werden sicher heute nacht ein Gewitter haben, und ich will selbst mitgehen und mich überzeugen, ob auch alle Türen und Fenster gut verwahrt sind.«

Sie gab dem Diener einen Wink, mit seiner noch brennenden Laterne wieder voranzugehen, und aufs neue setzte sich der Zug der Suchenden in Bewegung. Anstatt unter den rauschenden Bäumen hin, ging es diesmal durch die langen, stillen Korridore des Schlosses, über Treppen und Gänge, von Zimmer zu Zimmer. Das obere Stockwerk wurde zuerst abgesucht, ohne daß etwas Verdächtiges gefunden wurde, sodann in gleicher Weise auch das Erdgeschoß. Hier war es, wo die Baronin vor der Tür eines Zimmers, das nach der Parkseite hinaus lag, die Untersuchung selbst unterbrach und sagte: »Hier in das Zimmer meines Mannes brauchen wir nicht hineinzugehen. Ich war vor einer Stunde darin, um ein paar Briefe auf den Schreibtisch zu legen. Ich selbst habe die Läden vor den Fenstern und vor der Glastüre festgemacht, – es ist alles in Ordnung. Denn diese Türe habe ich abgeschlossen, es hat niemand hineinkommen können.«

In stummem Gehorsam folgte die Dienerschaft ihrer Weisung, und ohne dieses Gemach zu betreten, durchsuchte man die Reihen der übrigen Zimmer. Es war unten so vergeblich wie oben; alle Räume waren leer, Türen und Fenster wohl verwahrt.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das einen Schimmer von Farbe zurückgewonnen hatte, wandte sich die Baronin zu dem alten Kutscher und sagte: »So, jetzt haben wir Ihnen den Willen getan. Und nun wollen wir versuchen, ob wir schlafen können.«


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