Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.
Brüssel

Im ersten Brüsseler Restaurant waren vier Köche, vier Kellner und vier Gäste. Von den vier führenden Restaurants der Stadt hatten drei im Laufe des Jahres geschlossen. Der Chefkellner des überlebenden Restaurants breitete die Hände aus, machte rasche Bewegungen mit ihnen, fuhr mit einem Finger seine Hosennaht entlang und rief:

»Es hat keinen Sinn mehr, sie zu flicken. Die Wirtschaftshosen der Welt sind abgetragen. Wir müssen ein neues Paar bekommen.«

Er war selbst Besitzer. Aber er meinte den Kommunismus.

Emile Francqui, der größte Geldmann Belgiens, der reichste Mann in seinem Lande, anerkannter Führer im europäischen Bankwesen, glaubt, daß die Hosen noch geflickt werden können, ist der Ansicht, daß sie geflickt werden müssen, und ist überzeugt davon, daß Europa, wenn sie nicht geflickt werden, vielleicht zwangsweise ein neues Paar Hosen angezogen werden könnte.

M. Francqui hat einen Plan dafür, wie sie geflickt werden können. Als Gouverneur der Société Générale de Belgique, der führenden Bank Belgiens, kann M. Francqui unter den Geldleuten Europas Beachtung für seine Pläne fordern. Als belgisches Mitglied der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und als belgischer Delegierter für die Weltwirtschaftskonferenz kann M. Francqui seinem Plan entscheidende Wichtigkeit für die Frage: »Wird Europa wieder hochkommen?« verleihen.

»Sie fragen nach Europa«, sagte M. Francqui, ein Auge schließend und den Fragesteller mit der jovialen Ironie betrachtend, die ihn zum Witzbold der Basler Konferenz gemacht hat. Er lachte. »Sie müssen wohl die Welt meinen. Wenn ein Teil krank ist, sind auch alle anderen krank. Einige Länder, darunter Ihre Vereinigten Staaten, haben sich mit einer chinesischen Mauer zu umgeben versucht, aber die Krankheit klettert über die Mauer.«

M. Francqui fühlte sich auf sicherem Boden. Sein Vaterland und Holland haben unter allen Ländern der Welt die Führung in der Herbeiführung geplanter Zollherabsetzungen übernommen. Das Holländisch-Belgische Abkommen dieses Jahres, nach dem die Zölle der beiden Länder gegeneinander sofort um zehn Prozent herabgesetzt und alljährlich weiter reduziert werden, bis innerhalb von fünf Jahren eine Herabsetzung von fünfzig Prozent erreicht wird, ist der erste von europäischen Ländern unternommene Initiativschritt, die Handelsabwürgung zu bremsen. Seine weit gesteckten Möglichkeiten sind von M. Francquis Gedanken über die Erholung Europas mit ins Auge gefaßt.

»Jeder weitblickende Plan«, sprach der Gouverneur weiter, während er sich über seinen Tisch beugte und durch das Fenster der gewaltigen Zentrale der Société Générale hinausblickte, die das Geschäftsviertel Brüssels beherrscht, »jeder staatsmännische Plan zu einer Erholung muß mit der Eliminierung der Schuldenlasten beginnen, die das Resultat des letzten Krieges sind. Solange Schuldnernationen gezwungen sind, weiter eine Schuld zu zahlen, die in ihren Augen eine Kriegsentschädigung ist, so lange werden sie Gefühle des Mißtrauens und der Gegnerschaft gegen die Gläubigernationen hegen, und solange diese Gefühle das internationale Vertrauen schädigen, kann es keine Erholung geben.

Das ist die psychologische Vorbedingung der Erholung. Aber das genügt nicht. Es ist zweitens notwendig, die Bedingungen zu schaffen, die eine freie Zirkulation des Kapitals ermöglichen. Auch das genügt nicht. Dann müssen wir noch die Bedingungen schaffen, die für die freie Zirkulation der Waren unerläßlich sind.

Jeder dieser Schritte wäre, allein unternommen, nutzlos. Das Schuldenproblem allein zu lösen, daß hieße, einen kalten Umschlag auf die wirtschaftliche Wunde der Welt legen. Das Schuldenproblem zu lösen und die für die freie Zirkulation des Kapitals nötigen Bedingungen zu schaffen, hieße einen warmen Umschlag daraus machen. Aber alle drei Maßnahmen zu ergreifen, das Vertrauen wieder herzustellen, die Zirkulation von Kapital und Waren wieder zu ermöglichen, das hieße die Wunde heilen.

Aber bevor überhaupt etwas getan werden kann, ist es erforderlich, die einzelnen beteiligten Seiten davon zu überzeugen, daß etwas getan werden muß.« Er blickte seinen Besucher scharf an und sammelte seine Gedanken, um diplomatisch zu Amerika zu sprechen.

»Das dürfte nicht schwer sein. Sehen Sie sich das Gold der Welt an. Heute gleicht es Korkstücken, die während eines Sturmes auf dem Meer schwimmen. Die Wogen des allgemeinen Mißtrauens gehen hoch. Die Korken sind heute da und morgen dort. Kein Land, möge es heute noch so viel Gold haben, kann sicher sein, daß es morgen noch in seinem Besitz sein wird. Milliarden Dollar kurzfristigen Kapitals flitzen in der Welt herum und suchen Sicherheit.

Sehen Sie sich die Schweiz an. Vor dem Krieg hatte die Schweiz einen Gesamtgeldumlauf von ungefähr zweihundert Millionen Reichsmark. Heute ist der Schweizer Umlauf ungefähr sechsmal so hoch, ungefähr tausendzweihundert Millionen. Und die Schweizer haben so viel Gold, daß ihre Deckung hundertdreiundsiebzig Prozent des Umlaufs ausmacht. So etwas war noch niemals da.«

M. Francqui erwärmte sich für sein Thema. In Basel ist er für seine lebhaften Darlegungen berühmt.

»Kein Land ist immun gegen eine Panik. General Soundso in Deutschland hält fünfzehn Kilometer von der Grenze entfernt eine Rede und schwört, sein Vaterland werde das ihm angetane Unrecht heimzahlen. Zeitungen berichten, daß sechzigtausend Zuhörer Hurra riefen und gelobten, sich Elsaß-Lothringen wiederzuholen. In Paris lesen die Leute die Rede. Sie schütteln den Kopf.« M. Francqui schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn.

»Dann laufen sie, um sich ihr Geld aus der Bank zu holen und es an eine sicherere Stelle zu bringen. Sie vergessen ganz, daß die sechzigtausend Zuhörer wahrscheinlich ausnahmslos alte Männer mit dicken Bäuchen waren, und daß die sechzigtausend zusammen vielleicht sechs Millionen Jahre alt sind.« Er lachte. »Nein, sie lesen ganz einfach die Rede, und los gehen sie mit ihrem Geld. Oder die Leute lesen, wie vor einigen Monaten, daß der Dollar wackelt. Augenblicklich beeilen sich Tausende, ihre Dollars in irgendeine andere Valuta umzuwechseln. Dann hören sie, daß die andere Valuta doch nicht so gut ist, und beeilen sich, ihr Geld wieder in Dollars einzuwechseln. Niemand denkt mehr an ein Investieren. Alle sind nur auf Sicherheit aus, auf Sicherheit, auf eine Sicherheit, wie sie in einer Welt, die an der jetzigen Psychose leidet, niemals erlangt werden kann.

Frankreich, die Vereinigten Staaten, die Schweiz und Holland ersticken heute in Gold, weil die ganze Welt diese Länder für sichere Anlageorte für ihr Geld hält. Aber der Sturm tobt weiter, und morgen kann der von der Panik gehetzte Mob nach Chile, nach Paraguay oder Gott weiß wohin laufen. Es ist Tollheit, und weil es Tollheit ist, der keine wahre ökonomische Untersuchung des Zustandes der Währung irgendeines Landes zugrunde liegt, kann sie ebenso leicht ein gesundes Land wie ein nicht gesundes infizieren.

Es bedeutet nicht einmal einen Schutz für ein Land, wenn es große Depots in fremden Valuten hat. Denn die Tollheit kann die eigene Bevölkerung ergreifen. Die Menschen innerhalb des Landes können ihren Glauben an die eigene Währung verlieren und sich in andere Währungen flüchten, ganz so, wie es die Menschen in Deutschland und Mitteleuropa getan haben. Es ist also klar, daß die ganze Welt, ausnahmslos, auf das lebhafteste an der Wiederherstellung des allgemeinen Vertrauens interessiert sein muß, und auch daran, daß die Dinge getan werden, die zur Herbeiführung der Erholung unerläßlich sind.

Daraus folgt ganz von selbst, daß die Vereinigten Staaten auch an einer Lösung des Problems der zwischen den Regierungen schwebenden Schulden interessiert sind. Es mag jedoch vorsichtig sein, dieses Problem auf sich beruhen zu lassen und die beiden nächsten Schritte von fundamentaler Notwendigkeit zu betrachten.

Wenn wir ein Heilmittel anzuwenden suchen, müssen wir zuerst die Stelle finden, der es zu applizieren ist. In Europa ist die wundeste Stelle das Donaubecken. Europa kann sich nicht erholen, ohne daß Deutschland sich erholt, und Deutschland kann sich nicht erholen, ohne daß Österreich und Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, die Tschechoslowakei und Bulgarien sich erholen.«

Es war sehr eindrucksvoll, zu hören, wie ein belgischer Bankier so nachdrücklich versicherte, daß Deutschlands Erholung nicht nur wünschenswert, vielmehr notwendig sei. In dieser Hinsicht sind die europäischen Finanzmänner fast ohne Ausnahme der gleichen Ansicht wie er. Dies war für M. Francqui ganz selbstverständlich.

»Das erste, was wir tun müssen, ist also eine Aktion zur Wiederherstellung der Zirkulation von Kapital und Waren in den Donauländern. Um ihren Handel wieder herzustellen, müssen sie sich von ihren Restriktionen für fremde Valuten freimachen, und um diese Restriktionen aufheben zu können, müssen sie Gold zum Schutz ihrer Währungen haben. Nun lautet die große Frage: ›Woher soll das Gold kommen?‹«

Damit ist der wesentlichste Punkt des Francqui-Planes berührt. Der belgische Bankier war einer der ersten, die einen praktischen Weg zur Aufbringung des Geldes vorschlugen.

»Die Regierungen können es nicht hergeben«, sprach er weiter. »Ihre Staatskassen sind leer, und ihre Parlamente würden niemals einen Goldkredit gestatten. Es geht auch nicht, daß die Zentralbanken bei dem heute herrschenden außergewöhnlichen Zustand allgemeinen Mißtrauens Gold in der gewöhnlichen Art verleihen. Wenn die Bank von Frankreich morgen den Donauländern ein Golddarlehen gewährte, würde es eine Interpellation im Parlament und übermorgen vielleicht eine neue Regierung geben. Nein, es muß einen anderen Weg geben.

Mein Vorschlag geht dahin, daß jede von denjenigen Zentralbanken, die Gold in Überfluß besitzen, einen gewissen Prozentsatz, sagen wir fünf Prozent ihres Goldbestandes, auf die Seite legen und gegen dieses Gold Zertifikate ausgeben soll. Es ist jedoch wichtig, daß das Gold selbst bei jeder einzelnen der verschiedenen führenden Zentralbanken verbleibt.

Die Goldzertifikate aber müßten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich übergeben werden, die ihrerseits ermächtigt werden müßte, die Zertifikate an die Zentralbanken der Donauländer zur Stabilisierung ihrer Währungen weiterzugeben, doch unter bestimmten, genau formulierten strengen Bedingungen. Weiterhin wäre es auch notwendig, daß die Regierungen der darlehenempfangenden Länder ihren Zentralbanken eine Garantie dafür gäben, alle möglichen Verluste abzudecken – aber ich werde beweisen, daß Verluste ganz unmöglich wären.

Die Donaubanken erhalten die Anleihe ohne fixierten Termin unter folgenden Bedingungen: jede darlehenempfangende Zentralbank muß sich von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich einen Berater stellen lassen. Der Berater wird da sein, um dafür zu sorgen, daß das Abkommen, auf Grund dessen die Anleihe gegeben ist, haargenau eingehalten wird, und es wird klar sein, daß die Goldzertifikate, sollte das Abkommen nicht eingehalten werden, zerrissen werden. Das würde bedeuten, daß die Währung des in Frage stehenden Landes augenblicklich auf Null absänke und die Regierung des Landes sich unter vielleicht peinlichen Umständen ihres Amtes enthoben sähe.

Nein, nein«, sagte M. Francqui lachend. »Es ist ganz gewiß, daß das Abkommen eingehalten würde. Es würde drei Hauptpunkte enthalten: erstens, daß die Regierung ihr Budget ausbalanciert und in diesem Zustand erhält; zweitens, daß die Zentralbank eine wirkliche Kontrolle über den Umfang des Kredits ausübt; drittens, daß die internationale Zahlungsbilanz ausbalanciert wird. Der dritte Punkt ist überaus wichtig, weil er bedeutet, daß die in Frage stehenden Länder sich zu einer Herabsetzung ihrer Zölle verpflichten müßten.

Aber diese Zollherabsetzung muß nicht unbedingt so plötzlich vorgenommen werden, daß sie das Leben der Nationen gefährdet.« M. Francqui lachte wieder. »Wenn ein Mann eine Treppe herunterkommt, springt er nicht über ein ganzes Stockwerk auf einmal. Er nimmt bei jedem Schritt eine Stufe. Wir wollen nicht, daß irgendein alter Herr von Land so rasch herunterspringt, daß er sich die Beine bricht.

Nun wollen wir sehen, was geschehen würde, wenn einmal all dies getan ist. Meiner Meinung nach würde folgendes geschehen: in jedem der betreffenden Länder würde das heimische Kapital, das ins Ausland geflohen ist, zurückkehren, sobald offenbar würde, daß die Währung des Landes wieder stabil ist, und sobald der Handel sich besserte. Ich halte es sogar für wahrscheinlich, daß innerhalb weniger Jahre nach Inangriffnahme dieser Aktion die Goldzertifikat-Darlehen zurückgezogen werden könnten, da genug eigenes Geld in die Länder zurückgekehrt wäre, um eine angemessene Deckung der Währungen zu ermöglichen.

Ich bin überzeugt davon, daß die meisten Donauländer genug eigenes Kapital zur Stabilisierung ihrer Währungen haben, sobald einmal das Vertrauen wieder hergestellt ist. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich meine, die Staatsbürger Österreichs und Ungarns hätten genug Gold im Ausland, um augenblicklich den ganzen Reservebedarf ihrer Währungen abzudecken, aber lassen Sie die Währungen nur einmal stabilisiert sein, dann wird genug Geld freiwillig vom Ausland hereinkommen, um mehr als den Bedarf der Währungsreserven abzudecken.

Wenn es nun gleichzeitig mit diesem Plan zur Wiederherstellung der Währungen, des Kredits und des Handels in den Donauländern möglich wäre, die Organisierung einer internationalen Rediskontierungsbank herbeizuführen, dann hätten wir die fundamental notwendigen Maßnahmen zur Lösung der jetzigen Krise und zur Verhütung weiterer unternommen.«

Hier kam M. Francqui auf Dinge zu sprechen, die von besonderem Interesse für Amerikaner sind, die Geld in Europa angelegt haben.

»Was war die Hauptursache dieser Kreditkrise? Sie kam, weil wir kein Zentralorgan hatten, das die Gewährung von Krediten ans Ausland beaufsichtigte. Ein amerikanischer Bankier kam zu einem deutschen Bankier und sagte: ›Wollen Sie nicht etwas Geld borgen? Sie können von mir zehn Millionen Dollar zu fünf Prozent haben!‹«

M. Francqui zog erstaunt die Augenbrauen zusammen.

»›Akzeptiert‹, sagt der deutsche Bankier.

Am nächsten Tag kommt ein englischer Bankier zu dem deutschen und sagt: ›Wollen Sie nicht etwas Geld borgen? Sie können von mir zwei Millionen Pfund zu vier Prozent haben.‹«

M. Francquis Gesicht drückte Zufriedenheit aus.

»›Akzeptiert‹, sagt der deutsche Bankier. Nun nimmt der deutsche Bankier das Geld, weil er die Möglichkeit hat, es zu sieben Prozent zu verleihen. Aber am nächsten Tag kommt ein holländischer Bankier und leiht ihm noch mehr. Und der Amerikaner weiß nichts von dem Engländer und dem Holländer, der Engländer weiß nichts von dem Amerikaner und dem Holländer und so fort. Für ein Darlehen wäre die deutsche Bank gut, aber alle drei sind zu viel für sie. Auf diese Art kam es zu der gewaltigen Überexpansion des Kredites an Deutschland.

Hätte man nun aber eine Internationale Rediskontierungsbank, durch die alle diese Kredite laufen müssen, so wäre es für jeden einzelnen Geldnehmer ein Ding der Unmöglichkeit, zu viel zu borgen. Die Existenz einer derartigen Bank wäre im internationalen Finanzwesen ebenso wichtig wie die Existenz der Federal Reserve Bank für die Finanzen Amerikas. Die Errichtung einer derartigen internationalen Rediskontierungsbank ist meiner Ansicht nach für die Stabilisierung des internationalen Finanzwesens und für die Verhütung eben solcher Kreditverbrechen wie desjenigen, unter dem wir heute leiden, außerordentlich wesentlich.«

»Was aber, wenn keiner dieser Pläne durchkäme? Was, wenn Ihr Donauplan akzeptiert würde, aber die Währungen sich nicht stabilisieren ließen?«

M. Francquis Gesicht verdüsterte sich. »Wenn nicht innerhalb eines Jahres Anstrengungen zu einer geplanten Erholung zu einem Erfolg führen, wenn die Zustände von heute fortdauern – da muß ich sagen, meinem Gefühl nach käme es dann gar nicht mehr darauf an, ob ein paar Zentralbanken einige Prozent ihres Goldes verlieren oder nicht, denn um diese Zeit würde die ganze Welt schon in Rauch aufgehen.

Wir würden alle zusammen miteinander verkrachen«, rief er aus. »Ich sage Ihnen, die Verantwortung der Menschen, die heute die Regierungen leiten, ist sehr groß. Wie lange, meinen Sie, können Sie Ihre acht, zehn, zwölf Millionen Arbeitslosen in Ordnung halten? Wie lange meinen Sie, kann Deutschland seine Arbeitslosen in Ordnung halten? Wie lange können Nationen weiter existieren, wenn der Umfang des Welthandels ein Drittel, noch weniger als ein Drittel des normalen ist?

Die Vereinigten Staaten sagen, bei der Weltwirtschaftskonferenz dürfe es keine Diskussion der internationalen Schulden, keine Diskussion der Zolltarife geben. Wenn Washington dabei bleibt, eine Diskussion der allerwesentlichsten und wichtigsten Faktoren zu verweigern, dann soll es mich nicht überraschen, wenn Europa zu dem Entschluß kommt, sie allein zu diskutieren. Europa weiß, daß es auf diesem Kontinent, wenn nicht innerhalb der allernächsten Monate Maßnahmen zur Besserung seiner Wirtschaftslage ergriffen werden, zu großen Unruhen kommen wird. Wenn eines der großen Länder in Schwierigkeiten gerät, eine Revolution durchmacht, kommunistisch wird – was wäre das Resultat für das übrige Europa?«

»Sie meinen Krieg?«

M. Francqui nickte.

»Aber kommt es zu Kriegen nicht gewöhnlich während Perioden mit steigenden Preisen?«

»Das mag richtig sein, vergessen Sie aber nicht, daß noch nie zuvor im Verlauf der Geschichte die Preise so rasch, mit solcher Heftigkeit und so tief gestürzt sind wie während dieser Krise. Das ist der wahre Grund dafür, daß es durchaus möglich ist, daß vielleicht Revolutionen kommen, und daß die Revolutionen vielleicht von Kriegen gefolgt werden. Meinen Sie, die Nachbaren eines europäischen Landes, das kommunistisch wird, könnten in aller Gelassenheit zusehen?

Nein, nein«, rief M. Francqui aus, »es würde zu einem Interventionsversuch kommen, es würde zum Krieg kommen und dann zum Chaos. Die Folgen sind gar nicht vorauszusehen; ich wiederhole, es ist unmöglich, die Folgen abzusehen, die sich ergeben würden, wenn man es noch länger hinausschiebt, die Heilmittel anzuwenden, die zu Europas Erholung führen können.«

M. Francqui riß die Augen weit auf. Es war ihm bitter ernst. Dann änderte sich seine Stimmung, er lächelte wieder und sagte:

»Aber ich gründe meine Hoffnungen für die Zukunft auf die Überlegung, daß nunmehr die wichtigsten Nationen, die Großmächte, überzeugt davon sein müssen, daß es notwendig ist, zu handeln. Und der Anfang, den die beiden kleineren Länder Belgien und Holland gemacht haben, ermutigt mich. Meiner Ansicht nach ist das Abkommen dieser beiden zur Herabsetzung der Zölle von äußerster Wichtigkeit. Vergessen Sie nicht, daß diese zwei Länder, die innerhalb ihrer europäischen Grenzen wohl nur sechzehn Millionen Einwohner haben, einschließlich ihrer Kolonien nahezu neunzig Millionen umfassen. Und wenn die skandinavischen Staaten, vielleicht auch die Donauländer dem Abkommen beitreten, dann hätten Sie eine Wirtschaftseinheit von etlichen hundert Millionen Menschen. Das muß ein Magnet werden, der mit unwiderstehlicher Gewalt andere Länder anzieht. Ich halte es für wahrscheinlich, daß England nach der Reichskonferenz in Ottawa beitreten wird, später auch Polen und so fort. Die Aussicht auf eine wirtschaftliche Neuorganisierung des europäischen Handels auf einer gesünderen Basis als bisher ist verheißungsvoll, wenn Sie die Möglichkeiten bedenken, die dieser Pakt allein in sich birgt. Europa hat alle Chancen, sich zu erholen, wenn es nur will.«

Ob sie nun gut oder schlecht begründet ist, die Furcht vor einem Zusammenbruch in Europa ist groß. M. Francqui hat das Problem dargelegt und einen Plan geboten. Wieder kommt es auf Frankreich an, aber im Rahmen des Francqui-Planes zum Wiederaufbau kommt es auch auf Amerika an.


 << zurück weiter >>