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Einleitung

»Wird Europa wieder hochkommen?«

Die Antwort lautet: »Ja!«

Das ist eine Antwort, die in dieser Zeit des fast allgemeinen Pessimismus unorthodox klingt. Sie ist nicht theatralisch. Sie ist nicht optimistisch. Sie erhebt einzig und allein Anspruch darauf, realistisch zu sein. Sie hat keine andere Grundlage als im dritten Krisenjahr angestellte persönliche Beobachtungen in acht der wichtigsten Länder des Kontinents.

Zwölf große Depressionen haben die Welt in den letzten hundert Jahren heimgesucht. Jedesmal wurden verzweifelnde Stimmen laut, die den unvermeidlichen, endgültigen wirtschaftlichen Ruin prophezeiten. Diese Stimmen waren nur ein schwacher Widerhall der Klagen, die die leidtragende Wirtschaft selbst ausstieß. In einem Lande führte eine Dürre zu einer Panik, und in der Panik rief der Prophet aus: »Die Ernte ist vorüber, der Sommer ist zu Ende, und wir sind nicht gerettet.«

Heute erheben in Wien, wo die Krise von 1873 und die Kreditkrise von 1931 ihren Ausgang nahmen, die Unheilspropheten des Landes ihre Stimmen so laut wie fast überall in der Welt, aber seitdem der erste Jeremias das Ende aller Dinge prophezeite, sind 2600 Jahre vergangen, und es ist noch immer schwer, in einem Wiener Café einen Platz zu bekommen, der europäische Kontinent erfreut sich jetzt sogar eines höheren Lebensstandards als jemals in den vorhergehenden zehn Jahren der Geschichte.

400 Millionen von den Bewohnern der Erde leben in Europa außerhalb der Sowjet-Union. Ihre Fabriken erzeugen ein Drittel der Fabrikprodukte der Welt, auf ihren Feldern werden 40 Prozent der Nahrungsmittel der Welt geerntet; ihre Bergwerke liefern ein Viertel der Rohmaterialien der Welt. Die 400 Millionen Europäer kaufen von den außereuropäischen Kontinenten die Hälfte alles dessen, was die ganze Erde abzusetzen hat; sie verkaufen an andere Länder 42 Prozent dessen, was die ganze Welt kauft. Die Erholung des europäischen Kontinents würde die Erholung der Welt bedeuten; sein »Zusammenbruch« würde eine unheilvolle Verzögerung in der Wiederherstellung anderer Weltteile bedeuten.

Das Todesurteil ist über Europa seit 1914 ungefähr ein dutzendmal ausgesprochen worden. Viele seiner wirtschaftlichen Unglückspropheten sprechen heute von einem Rückfall ins Mittelalter, von sozialem Chaos, Beginn der Barbarei, Massensterben durch Hunger, und ihre fröhlichste Prophezeiung verkündet »Bolschewismus«. Sie sprechen fast ausnahmslos von dem benachbarten Land, das sie niemals besucht haben.

Alle diese Voraussagen gründen sich auf die Annahme, daß die Bevölkerung Europas verzweifelt sei oder sich der Verzweiflung nähere, daß diese Krise ganz anders sei als alle bisherigen, die sämtlich überwunden wurden.

Diese Voraussagen auf ihren Wert zu untersuchen, diesen Annahmen auf den Grund zu gehen, das ist der Zweck dieser wirtschaftlichen Forschungsreise eines Augenzeugen, und Wien, wo 2 Millionen Menschen nach dem Krieg dem Hungertod näher waren als je zuvor ein europäisches Volk im letzten Jahrhundert, Wien, wo heute 2 Millionen Menschen im großen ganzen besser leben, als die Wiener seit der Gründung der Ostmark durch Karl den Großen jemals lebten, ist ein ausgezeichneter Ausgangspunkt.

Hier und in Budapest, Prag, Mailand, Rom, Paris, Brüssel, Berlin und London, in den acht Wirtschaftstälern und -hügeln dieses Kontinents, wird Material für eine Prognose der europäischen Zukunft gesammelt werden. Europas Wirtschaftspanorama gewährleistet in diesem Augenblick eine bejahende Antwort auf die Frage: »Wird Europa wieder hochkommen?« – eine verneinende Antwort auf die Frage: »Wird Europa zusammenbrechen?« Was verkünden jedoch die Einzelbilder über Europas Aussichten?

Erholung bedeutet im Zusammenhang dieser Untersuchung eine Rückkehr zwar nicht notwendigerweise zu dem Preisniveau, aber zu dem tatsächlichen Lebensstandard, der relativen Kaufkraft und dem internationalen Handelsaustausch der günstigsten vergangenen Periode, die für die meisten europäischen Länder zwischen den Jahren 1927 und 1929 lag. Im Jahre 1929 importierten, kauften aus dem Ausland die 29 Länder Europas Waren im Werte von rund 80 000 Millionen RM, und heute kaufen sie im Ausland Waren für rund 36 000 Millionen RM im Jahr. 1929 kauften sie für rund 10 000 Millionen RM von den Vereinigten Staaten, heute für rund 4 000 Millionen im Jahr.

Das war damals eine Periode der wirtschaftlichen Wiederbelebung, in der für fast ganz Europa der Handel an Ausdehnung gewann und der Komfort zunahm, aber der amerikanische Luxusstandard der Jahre 1928/29 wurde von diesem Kontinent niemals erreicht, und so begreift die Aussicht einer Erholung für Europa nicht die Aussicht auf eine rapide Annäherung an diesen Standard in sich.

Aber was ist »Zusammenbruch?« Das ist ein Lieblingswort der Verzweiflungsastrologen. Was meinen sie damit?

Es gibt drei vorstellbare Definitionen dafür: Autarkie, Anarchie, Kommunismus.

Autarkie ist der neue Name, den Europa für die radikalste Form von wirtschaftlichem Nationalismus, für nationale Selbsterhaltung hat. Sie bedeutet, daß die Abwürgung des internationalen Handels bis zu einem solchen Punkt gelangen kann, daß die Völker Europas völlig aufhören, Waren auszutauschen, und danach streben, innerhalb ihrer Landesgrenzen völlig isoliert von der Umwelt zu leben. Wenn etwas Derartiges zustande kommen könnte, würde es sicher den Zusammenbruch bedeuten. Ein wesentlicher Teil dieser Untersuchung wird darauf abzielen, zu zeigen, daß es wirtschaftliche Grenzen gibt, die der Zug zur Selbstisolierung nicht überschreiten kann, daß Autarkie ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Der Zusammenbruch durch Anarchie würde das Herabsinken auf ein derartig niedriges Niveau von Wirtschaftstätigkeit darstellen, daß die Bevölkerung, durch Entbehrungen zur Verzweiflung getrieben, in einzelne Gruppen zerfiele, die um die nackten Lebensnotwendigkeiten kämpfen würden. Das ist die »Mittelalter«-Prophezeiung: Marodeurbanden werden den ins Chaos gefallenen Kontinent durchziehen, ganze Völker werden zu wandern beginnen, Bürgerkriege werden ausbrechen und das Land verwüsten, und in Europa wird ein Zustand herrschen wie im Inneren Chinas: Räuberhauptleute thronen in den mit Beute angefüllten Rathäusern, während verhungernde Bauern ihre letzten Getreidekörner sengenden und raubenden Bandenmitgliedern ausliefern.

Die weiter Blickenden unter den »Mittelalter«-Propheten kommen bis in die Steinzeit und sehen Europa noch innerhalb dieses Jahrhunderts von Bevölkerungsresten bewohnt, die sich in Felle kleiden, in Höhlen leben und die Wissenschaften, sogar das Alphabet völlig vergessen haben. Das ist kaum eine Übertreibung dessen, was viele düstere deutsche Prophezeiungen besagen, und die einzige Grenze, an der diese Prophezeiungen halt machen, drückt sich darin aus, daß man die Menschen nicht wieder auf Bäumen sieht und noch aufrecht gehen läßt.

Währungsinflation, Zusammenbruch der Austauschmittel, Ohnmacht der Regierungen: das sind notwendige Bedingungen für die Erfüllung dieser Prophezeiung ebenso wie für die dritte Form des Zusammenbruches – Zusammenbruch des kapitalistischen Systems und Übergang zum Kommunismus. Außer diesen dreien wurde keine andere Art des Zusammenbruches genannt. Sie bedeuten das Schlimmste, was die meisten sich vorstellen können. Ist eine von ihnen möglich?

Weitaus die wichtigste dieser drei vermeintlichen Gefahren ist im Augenblick die Bewegung zur nationalen Selbsterhaltung. Zerfiele Europa in 29 hermetisch abgeschlossene Staaten, so würde nicht nur der Lebensstandard in jedem dieser Staaten weit unter das gegenwärtige Niveau absinken, auch der Rest der Welt würde schwer leiden. Mehr als die Hälfte des Welthandels fände ein Ende, Amerika allein würde rund 8 Milliarden RM jährlich, also nahezu die Hälfte seines normalen Exportes, verlieren und auf ungefähr 4 Milliarden RM oder ungefähr ein Drittel seines Imports verzichten müssen, ganz zu schweigen von den 60 Milliarden RM, die in Anlagen und Krediten auf dem europäischen Kontinent stecken. Die politischen und sozialen Folgen für die ganze Welt wären unabsehbar.

Aber bis jetzt hat noch kein europäisches Land zur Autarkie als wünschenswertem Ziel gegriffen. Alle taten die ersten Schritte zu ihr aus dem gleichen Grund: Kriegsfurcht. Alle sind entsetzt über die Entdeckung, daß die ersten Schritte automatisch zu einer Spirale von Repressalien führten, die alle zu ersticken drohen. Alle kämpfen heute dagegen an, in die Autarkie getrieben zu werden, und die Gesetze des Kapitalismus besagen, daß eine Nation, solange sie die Selbsterhaltung nicht als wünschenswertes Ziel einführt, es auch vermeiden kann, zu ihr gezwungen zu werden. Die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und das Britische Weltreich könnten sich selbst erhalten, könnten die Selbsterhaltung als wünschenswertes Ziel für sich in Anspruch nehmen. Das wäre für keines der europäischen Völker möglich. Kein europäisches Volk besitzt heute genug Rohmaterialien, um leben zu können. Nur ein geeintes Europa könnte die Selbsterhaltung anstreben, und Europa hat keine Aussichten auf eine Einigung.

Die Kriegsfurcht gab Europa den ersten Impuls zu einer Steigerung der Selbsterhaltung. Deutschland hat in der Erinnerung an die Hungerjahre 1917/18 gewaltige Summen für seine Landwirtschaft ausgegeben, obgleich sein armer Boden niemals auch nur halb so billig produzieren kann wie der Boden Südosteuropas, der Ukraine oder Amerikas. Nahezu alle Industriestaaten Europas gewähren der Landwirtschaft Regierungsunterstützungen, und fast jeder europäische Agrikulturstaat gewährt der Industrie Regierungssubventionen: alles aus dem gleichen Grunde – man will auf den Krieg vorbereitet sein.

Aber kein Land ging in seinen Vorbereitungen zu einer Verteidigung gegen die Blockade so weit, sich selbst die Blockade aufzuerlegen, gegen die es sich zu schützen wünschte. Die Kriegsfurcht allein hätte das nicht zustande bringen können und wird es auch nicht zustande bringen.

Der Zustand der Halbblockade, der heute in vielen europäischen Ländern herrscht, wurde in überstürztem Tempo herbeigeführt durch die Beanspruchung der Währungen in der ganzen Welt, die mit der Kreditpanik von 1931 einsetzte. Seit damals haben 40 von den 52 Ländern der Erde, um ihre Währungen vor der Inflation zu bewahren, die Erwerbung fremder Valuten verboten oder eingeschränkt. Diese Währungsblockade ist es, welche die Handelsblockade verursacht hat. Die Handelsblockade wiederum ist es, welche die Gefahr nationaler Selbsterhaltung der Wirtschaften herbeigeführt hat. Sobald die Währungsblockade aufgehoben ist, wird die Handelsblockade weichen, und damit auch die Gefahr der Autarkie.

Heute kann man in Europa die Beobachtung machen, daß die Ursachen der Währungsblockade ihr eigenes Heilmittel enthalten. Um dieses Heilmittel zu begreifen, muß man sich in einem kurzen Überblick über die Krankheit klar werden. Als die Österreichische Kreditanstalt im Frühjahr 1931 zahlungsunfähig wurde, riefen die Gläubigernationen, von einer Panik ergriffen, ihre Kredite von den Schuldnernationen zurück.

Die Schuldnernationen haben fünf Möglichkeiten: in Gold zu zahlen, in neuen Krediten zu zahlen, in Waren oder Transportleistungen zu zahlen, einen Ausgleich zu treffen und einen Teil ihrer Schulden in einer der drei zuerst genannten Arten zu bezahlen, oder ein Moratorium zu erklären und überhaupt nicht zu bezahlen, das heißt in den Bankrott zu gehen. Sämtliche fünf Methoden sind angewandt worden. Alle Schuldnernationen zahlten zunächst in Gold, bis ihre Goldvorräte so sehr abnahmen, daß ihre Währungen gefährdet wurden. Überaus wichtig ist die Tatsache, daß jedes insolvente Land den Bankrott der Inflation, der einzigen wirklich ernsthaften Gefahr eines Zusammenbruches, vorgezogen hat.

Als die Goldvorräte ihr Minimum erreicht hatten, verlangten die Schuldnernationen neue Kredite. Deutschland erhielt rund 600 Millionen RM, Österreich rund 180 Millionen RM. Unterdessen versuchten sie wie die anderen Schuldnernationen ihren Verpflichtungen nachzukommen und bemühten sich, in Waren zu zahlen. Das konnten sie nur durch eine aktive Außenhandelsbilanz ermöglichen. Sie forcierten den Export, beschnitten den Import rücksichtslos durch Prohibitivzölle, Kontingentierungen und Verweigerung der Erlaubnis an Importeure, fremde Valuten zu kaufen, es sei denn für die Beschaffung der wesentlichsten Waren. Die Gläubigernationen, durch die Verringerung ihrer eigenen Kaufkraft geschädigt, antworteten mit erhöhten Zöllen, und der Welthandel sank von 100 im Jahre 1929 auf 87 im Jahre 1930, 61 im Jahre 1931 und 41 im Jahre 1932. Sollte dies so fortgehen, so müßte der Zusammenbruch kommen. Aber das Heilmittel ist an der Arbeit.

Automatisch wirkende Wirtschaftskräfte berennen schon die Barrieren dieser Handelsblockade, der strengsten, die die Geschichte kennt. Zahlen zufolge, welche die National City Bank für 17 Schuldnerländer, darunter neun außereuropäische, zusammengestellt hat, haben diese, die Schuldner der Welt, einen Importüberschuß von 468 Millionen RM des Jahres 1930 in einen Exportüberschuß von 3060 Millionen RM des Jahres 1931 umgewandelt, und im laufenden Jahre haben sie bis jetzt einen Exportsaldo von 592 Millionen RM erreicht, dem im gleichen Abschnitt des Jahres 1931 268 Millionen RM gegenüberstehen.

Für die Länder, die nicht imstande sind, die Zollmauern zu übersteigen und ihre Verpflichtungen durch Zahlung in Waren zu erfüllen, bleiben die beiden letztgenannten Methoden, ihre Schulden zu behandeln: Ausgleich und Bezahlung eines Teiles, Moratorium oder Zahlungsverweigerung. Deutschlands Stillhalteabkommen ist eine Insolvenzerklärung. Die Moratorien Ungarns, Griechenlands, Bulgariens und Österreichs sind Insolvenzerklärungen, die zum Bankrott werden können. Österreich mag durch seine Anleihe für eine Weile gerettet werden. Ein halbes Dutzend anderer Länder kämpft gegen den Druck an, diesen Ausweg zu beschreiten.

Bedeutet diese Gefahr europäischer Insolvenz einen »Zusammenbruch?«

Nein.

Man denkt selten daran, daß im 19. und 20. Jahrhundert elf europäische Länder bankrott wurden und ihre Verpflichtungen nicht erfüllten oder willkürlich reduzierten. In der einen oder anderen Form kam es zu Zahlungsverweigerungen in Preußen, Westfalen und Hessen, in Holland, Österreich, Portugal, Spanien, der Türkei, Griechenland, Serbien und schließlich Rußland. Die Bankrotte erfolgten nahezu immer in Krisenperioden nach Kriegen. Österreich griff fünfmal zu diesem Mittel, Spanien sechsmal. Niemals führte der Bankrott zu einem Zusammenbruch des Landes, sondern es kam nach Dr. Leopold Heinemann in Berlin, der diese instruktiven Daten in jüngster Zeit sammelte, stets so, daß das Verschwinden der alten Verpflichtungen die ausländischen Geldgeber von neuem dazu bewog, frische Kredite zu gewähren.

Amerika und andere Gläubiger werden vielleicht noch nicht darauf brennen, frische Kredite zu gewähren, aber aus diesen Tatsachen erhellt, daß der Bankrott eines Landes für den Schuldner schwer sein mag, für den Gläubiger aber noch schwerer ist. Jedenfalls bedeutet in der kapitalistischen Welt der Bankrott eines Landes nicht den Zusammenbruch.

Kein Mensch empfiehlt den Bankrott. Jedes Land kämpft gegen ihn an. Er ist der schlimmste Ausweg, den es gibt. Nur wenige werden gezwungen sein, ihn zu beschreiten. Aber für diese Wenigen ist er kein hoffnungsloser Weg. Die inflationsbewußten Nationen Europas ziehen ihn der Inflation vor und werden auch dabei bleiben. Einige würden statt seiner zur Inflation greifen, wenn sie sich dadurch ihrer Auslandsschulden entledigen könnten, aber seit dem Zusammenbruch der deutschen, der österreichischen und der ungarischen Währung nach dem Krieg sind die meisten europäischen Auslandsschulden auf Goldbasis fixiert. Da sie durch die Inflation nichts zu gewinnen und alles zu verlieren haben, wählen die Schuldnernationen, die an die Wand gedrängt werden, den Bankrott. Er gewährt einen neuen Anfang, weiterhin Aufhebung der Währungsblockade und der Handelsblockade und bannt schließlich die Gefahr der Isolierung.

Die zweite Begrenzung der nationalen Selbsterhaltung liegt darin, daß die Völker, selbst wenn die Währung als internationales Austauschmittel zu funktionieren aufgehört hat, ihren Handel durch direkten Tausch, mit Hilfe des sogenannten gegenseitigen Clearingsystems, fortsetzen. Das ist heute die Hauptform des Austausches zwischen den Völkern Mittel- und Südosteuropas. Jedes Land beschränkt seinen Import aus einem anderen Land auf das Ausmaß seines Exports in das gleiche Land, so daß die kleinere Zahl den Handelsumfang bestimmt. Aber selbst bei dieser primitivsten Form des Geschäftsverkehrs wird das Minimum des Handels aller Nationen, die sich mit dem gegenseitigen Austausch befassen, zumindest dem Gesamthandel des schwächsten Mitgliedes der Gruppe gleichkommen. In der Tat ist nicht einmal hier in Mitteleuropa, wo der Zug zur nationalen Selbsterhaltung sich am schärfsten ausgeprägt hat, dieses Minimum des Handels erreicht worden.

So unbefriedigend der gegenseitige Austausch auch ist, er erhält doch für jedes Land ein Minimum von Kontakt mit der Außenwelt. Und dieser Kontakt ist wesentlich für die Weiterleitung jedes Impulses aus dem Land, in dem er seinen Ausgang nimmt, zu seinen Nachbarländern.

Es ist also klar, daß Europa nicht in isolierte Zellen zerfallen wird, weil die Kriegsfurcht, die den ersten Impuls zur Selbsterhaltung gab, niemals genügen würde, um die Länder dazu zu bringen, daß sie sich selbst gerade die Beschränkungen auferlegen, denen sie zu entgehen wünschten, weil der Hauptfolge des Impulses, der Währungsblockade, schlimmstenfalls durch den Bankrott der Länder abgeholfen werden, und weil der Austauschhandel das notwendige Minimum an Kontakt mit der Umwelt erhalten wird.

Aber Europa wird auch nicht den sozialen Ruin von der Art erleiden, wie er in der »Mittelalter«-Prophezeiung enthalten ist. Erstens weil die beiden Hauptbedingungen des Ruins unwahrscheinlich sind: Inflation und Ohnmacht der Regierungen; zweitens weil Europa sich gegen Revolutionen versichert hat. Von Europas 12 bis 15 Millionen Arbeitslosen beziehen 11 Millionen vom Staate so viel, daß sie zumindest existieren können. In Europa herrscht ein soziales Verantwortungsgefühl wie noch niemals zuvor in der Geschichte, das Karl Marx nicht in Rechnung stellen konnte.

Diese Gründe bestätigen die Ansicht, daß Europa in dieser Krise nicht kommunistisch werden wird. In keinem Lande des kapitalistischen Europa existiert eine starke kommunistische Partei, ohne daß gleichzeitig eine noch stärkere faschistische Partei existierte, die darauf brennt und in manchen Fällen auch die physische Fähigkeit hätte, ihre Feinde von der Linken zu vernichten. In den Ländern, in denen die Gefahr besteht, daß das demokratische Regime vom Ruder gedrängt wird, droht der Faschismus und nicht der Kommunismus. In allen Ländern geht die Tendenz dahin, die Regierungshand zu stärken. Dieser Augenblick wirtschaftlicher Not mit seinem Druck auf die Arbeiterklasse trägt viele oberflächliche Zeichen, die der kommunistischen Revolution günstig zu sein scheinen, aber je länger die Krise dauert, desto wahrscheinlicher wird es, daß nur ein Krieg die Möglichkeit für eine Wiederholung des russischen Erlebnisses im übrigen Europa bringen wird, solange es der Sowjetunion nicht gelingt, den Lebensstandard ihrer Bevölkerung so zu heben, daß er den ihrer Nachbaren übertrifft.

Bei einem allgemeinen Überblick über die Wirtschaft Europas ist also am Horizont nichts von Autarkie, Anarchie oder kommunistischer Revolution, nichts von einem »Zusammenbruch« zu sehen.

Zugrunde gelegt ist diesem Überblick die ungefärbte und weder optimistische noch pessimistische Beobachtung, daß die Wirtschaftsprozesse im privatkapitalistischen System sich so gut wie automatisch abspielen, daß Kräfte, die sich auf die Beherrschung durch den Menschen beziehen, den europäischen Kontinent ebenso der schließlichen Erholung näherbringen, wie sie ihn in den Abgrund stießen. Im Wesen der komplizierten Wirtschaftsbewegung, welche den Besitz jetzt in Europa sowohl wie in der anderen Welt verschiebt, ist ein Element vorherrschend: die Reduzierung der Schuldenlasten. Diese Reduzierung findet in nahezu allen Ländern des Kontinents statt. Ihre Begleiterscheinung ist schließlich ein Ansteigen der Warenpreise. Beides bedeutet Erholung.

Gerade jetzt wird Europas Schuldenlast durch die schmerzlichste Methode reduziert, durch Bankrott und Zahlungsverweigerung. Das ist die rein automatische Methode. Wenn nichts weiter getan wird, wird sie weiter arbeiten und schließlich die Erholung bringen. Es gibt jedoch zwei andere Methoden, und diese erfordern Mitarbeit: die Methode der Verständigung zwischen Gläubiger und Schuldner, bei deren Anwendung der Gläubiger, anstatt alles zu verlieren, einen Teil seines Kapitals rettet, und die Methode der Herabsetzung der Währung auf einen neuen Goldstandard, der so ausbalanciert ist, daß er den Warenpreisen entspricht und zu ihrem Ansteigen beiträgt.

Es ist von Wichtigkeit, zu betonen, daß die Methode des Bankrotts, so schlecht sie auch ist, nicht einen Zusammenbruch, sondern eine langsame, aber sichere Erholung bedeutet. Es ist jedoch erfreulich, festzustellen, daß Europa mit guten Gründen für die nächste Zukunft internationale Bemühungen, zu einer geplanten Erholung erwarten kann, Bemühungen, die eine raschere und bedeutend weniger schmerzliche Wiederherstellung der wirtschaftlichen Gesundheit des Kontinents und der Welt verheißen.

Mit oder ohne Planung, Europa ist auf dem Wege zur Erholung. Die Form des Bankrotts verbirgt die schließlichen Segnungen. Die geplanten Bemühungen wecken augenblickliche Hoffnungen.

Welche Gestalt diese Bemühungen annehmen, und welche Chancen für einen Erfolg sie bieten können – die Beantwortung dieser Frage gehört zu den Aufgaben dieser Untersuchung. Wichtiger ist im Augenblick die Frage, ob Europa tatsächlich, wie viele ausländische und noch mehr europäische Beobachter anzunehmen geneigt waren, bereits so tief in den Abgrund gestürzt ist, daß ein Wiederaufstieg unglaubhaft erscheint. Wie tief ist der Abgrund, in den Europa gelangt ist? Ist die Gewalt seiner Abwärtsbewegung unüberwindbar? Oder ist es schon am Grunde angelangt?

Wie leben die 400 Millionen Europäer inmitten der Krise? Verhungert ein Teil von ihnen, oder ist etwas Derartiges zu erwarten? Geht es ihnen besser oder schlechter als vor dem Krieg? Was für Aussichten haben sie, ihren Kredit wieder zu erlangen, ihre Kaufkraft wieder zu gewinnen, ihre Schulden zu zahlen? Werden sie wieder imstande sein, der übrigen Welt jährlich Waren im Wert von 80 Milliarden RM abzunehmen wie im Jahre 1929? Ist es möglich, Vermutungen darüber anzustellen, wann es dazu kommen kann?

Vor allem, ist diese Krise durch positive, qualitative Unterschiede vor anderen Krisen ausgezeichnet? Birgt diese Krise etwas in sich, das es unwahrscheinlich macht, daß auf die Depression von heute, wie es in den letzten zweihundert Jahren immer war, die Prosperität von morgen folgen wird?

Das sind die Fragen, auf welche dieser Überblick über Fabriken, Säuglinge, Städte, Staatsmänner, Statistiken, Arbeiter, Tanzlokale, Banken, Kaufleute und Nachtquartiere in Europa Antworten geben soll.


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