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Buchwald – Die Moldauquelle – Der Geistliche und der Doktor – Außergefild
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Buchwald gehört zur Herrschaft Groß-Zdikau, Eigentum der gräflichen Familie Thun; hier allein erreicht nicht schwarzenbergischer Besitz die Grenze, das kaum eine halbe Stunde weit entfernte Fürstenhut mit seiner weithin sichtbaren Kirche gehört bereits wieder dem Fürsten Schwarzenberg. Zur Großzdikauer Herrschaft gehören die weiten Forste zwischen dem Schwarzberg, dem Siebensteinköpfel, dem Postberg und dem Hanefberg, bis weit über Außergefild hinaus. Auch hier hat der Sturm vom Jahre 1870 und die darauffolgende Borkenkäferkalamität schreckliche Breschen geschlagen. Wer die Waldwildnisse zwischen den erstgenannten Bergen vor der Katastrophe gesehen und sie dann später wieder betreten hat, der wird mir recht geben, wenn ich behaupte, dass die Gegend viel von ihrem so typischen Aussehen verloren hat. Der herrliche, über alle Beschreibung majestätische Urwald, der die Senkung zwischen dem Schwarz- und dem Postberg ausfüllte, ist dahin; der »Ziehweg«, der von dort gegen Buchwald führt, ist jetzt verhältnismäßig verödet, wenn man die heutige Frequenz mit derjenigen vergleicht, welche hier herrschte, als man das vom Sturm gefällte und später das sogenannte Käferlholz aus dem Walde gegen das letztgenannte Dorf beförderte. Das war ein Leben im Winter! Die ganze Bevölkerung der weit herum zerstreuten Ortschaften war damit beschäftigt, die prachtvollen Stämme auf niedrigen Schlitten fortzuschaffen aus ihrer Heimat, wo sie so lange im Frieden gestanden und gewachsen waren. Und die Glöcklein, die da hinausklangen in die schneidende Winterluft, sie waren das Grabgeläute des herrlichen Waldes. Hingesunken ist er und wird wohl niemals, niemals wieder erstehen in seiner ersten, jungfräulichen Pracht, in seiner düstern Majestät. Es war so schön hier oben, so still und hehr; die Brust wurde weit in dem Gefühl, den Menschen und ihrem habgierigen Treiben entrückt zu sein und zu wissen, dass es noch einen Ort gibt in unserem schönen Vaterlande, wo die Natur allein waltet und schafft, und das an einer Stelle, wo der Hauptstrom des Landes, die Moldau, ihren Ursprung nimmt. Selbst wenn die Wasser nach Prag kamen, sah man es ihnen noch an, wo sie sich gesammelt hatten; dunkel war ihre Farbe, wie der Torfgrund der Filze, die ihnen ihren Überschuss an Feuchtigkeit gaben. Jetzt überwiegt das Braun und Gelb der Ackerkrume, welche die im Land niedergehenden Regen den Flüssen zuführen. Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, dass die ungeheuren Wälder an der Grenze die von Westen kommenden Regenwolken aufhielten, bis dieselben ihnen ihren Inhalt abgegeben. Die Feuchtigkeit sammelte sich in den Wäldern und Filzen, welche sie dann allgemach den ihnen entströmenden Bächen übermittelten. So blieben die Flussadern wasserreich, und doch waren Hochwässer seltener denn jetzt. Diese Tatsache ist bereits vielseitig und gründlich gewürdigt worden; mögen die Kreise, die es angeht, sie nie aus den Augen verlieren!
Will man von Buchwald aus die Moldauquelle besuchen, so führt der Weg über welliges, heute meist von jungem Anflug bedecktes Terrain. Die Quelle selbst liegt in einer filzigen Niederung. Die kleine Vertiefung, worin die Quelle entspringt, ist jetzt eingemauert; eine offene Hütte steht da, mit Tischen und Bänken; wenn ich nicht irre, besteht dieselbe seit der Zeit, als hier der böhmische Forstverein seine Jahresversammlung abhielt.
Bis zum Jahre 1870 lag sie tief drinnen versteckt in schier undurchdringlichem Urwald. Eine Riesenfichte stand unmittelbar am Rande der Quelle, wohl zwanzig Klafter hoch, mit einem Stamm, der mindestens vier Schuh im Durchmesser hatte. Sie stand da an der Wiege unseres typischen Stromes wie ein Wächter aus uralten Zeiten, den Stürmen trotzend, den Blitz herausfordernd. Um ihn herum standen sie dichtgedrängt, die hundertjährigen Genossen – sie erlagen alle dem winzigen Insekt, das hier furchtbar gehaust, gewaltige Riesen den nichtigsten Pygmäen. Ist das nicht ein Omen?
Vor vielen Jahren kam ich an dieser Stelle mit einem alten Pfarrer aus einem entfernten Böhmerwalddorfe zusammen. Er war so lustig, der alte, liebe Herr, und erzählte mir so schnurrige Geschichtchen aus seinem Seelsorgerleben, und wieder so traurige, dass ich mich bald vor Lachen schüttelte, bald zu Tränen gerührt war. Er war so ganz eins mit seinen Pfarrkindern; es war rührend und erhebend, ihn zu hören. Mir wird immer so hart ums Herz, wenn oft Leute, die das Leben bei uns so wenig kennen, so gedankenlos losziehen auf unsere Geistlichen. Fürwahr, die leidige Politik treibt bisweilen hässliche Blasen! Oder ist es etwa leicht, im Eis und Schnee des Winters, in den Stürmen und Regenschauern des Frühjahrs, wo hundert Bäche den Weg kreuzen und denselben in einen moorigen Tümpel verwandeln, stundenweit zu gehen, um einem Sterbenden den letzten Trost zu bringen? Dabei jahraus, jahrein in den einsamen Dörfern wohnen müssen, ohne den anregenden Umgang mit Gleichgebildeten? Kennt ihr die Bedürfnisse des Volkes, ihr, die ihr so hart absprechet, kennt ihr sie besser als diejenigen, die unter ihm wohnen, die alle seine Freuden und Leiden teilen? Ist es etwa ein Verbrechen, wenn ein Diener der Religion dieselbe Religion hochhält? Welchen Ersatz werden die bestgemeinten philosophischen und politischen Theorien dem armen Volke geben für den Trost, den die Religion und ihre Diener den Bedrängten spenden? – Die Natur ist rau und kennt keine Barmherzigkeit; der Mensch, der hier oben leben will, muss schwer ringen im Kampfe ums Dasein, damit er bestehe ...
Verüble mir all diese Fragen und Erwägungen nicht, lieber Leser, wes Glaubens du auch sein magst. Ich werde dir eine kleine Geschichte erzählen und bin überzeugt, du wirst die Gefühle würdigen, die laut zu bekennen ich nicht anstehe. – Da liegen tief drinnen im Wald, zur Gemeinde Außergefild gehörig, einige Hütten. Die Bewohner ernährt der Wald allein, denn nicht einmal Hafer und Kartoffel gedeihen auf diesem rauen Plateau. Eine eigentümliche Industrie verschafft den armen Leuten das wenige Bargeld, dessen sie bedürfen: sie drehen Zündhölzchenschachteln und verfertigen ziemlich roh aussehende Holzschuhe. Das Stück, woraus die Sohle verfertigt werden soll, wird auf einer Art Hobelbank befestigt und mit einem stemmeisenförmigen Messer gehöhlt. Der Familienvater ist eben mit dieser Arbeit beschäftigt; er hat Eile, denn in wenigen Tagen ist Markt in Winterberg; er berechnet wohl im Geiste, wie viel der Erlös für seine Holzschuhe betragen wird. Da rutscht das Messer ab, und die Spitze begräbt sich tief in den Unterleib des Unglücklichen. Das Weib ist vor kurzer Zeit mit einem Tragkorb Fassspunde ins »Polaufengefild« gegangen, und es ist niemand da, der dem Verletzten die erste Hilfe brächte. Sein ältester Sohn, ein zwölfjähriger Bursche, lief wohl schnell zu den Nachbarn, doch sind alle Erwachsenen im Wald an der Arbeit und müssen erst gesucht werden. Indessen läuft der Bursche, um keine Zeit zu versäumen, nach dem zirka vier Stunden entfernten Bergreichenstein, wo damals der nächste Arzt wohnte; es war dies mein Vater.
Ich war damals in Außergefild bei lieben Freunden. Es war ein schauerliches Wetter – im April. Der Schnee lag noch knietief, an manchen Stellen klaftertief; dabei rieselte unendlicher Regen herab, der, wo er sich ansetzte, zu Eis gefror, so dass die Bäume wie mit Kandiszucker überzogen aussahen und die Äste unter der Last brachen. Sämtliche Bäche waren ausgetreten, das Wasser staute an den Schneewehen, überschwemmte die Wege und überzog sich, wo es nicht strömen konnte, mit einer leichten Eisdecke.
Es war bereits Nacht, als der Doktor Klostermann von Bergreichenstein kam; ich sehe ihn noch vor mir, den langen, grauen Bart zu einem förmlichen Eisklumpen gefroren. Er stieg bei Verderber ab, just wo ich damals war, um sich ein wenig zu wärmen. Der Bursche des Verletzten war mit ihm gekommen; er kauerte sich, zitternd vor Frost und verzweifelt weinend, an der Ofenbank nieder.
»Sie können so nicht fort, Herr Vetter«, äußerte Verderber, der mit uns verwandt war, »der Filz ist grundlos, und die Nacht ist rabenschwarz; ich will zwei Leute mit Fackeln mitgeben, die Allerheiligste Jungfrau wird Sie glücklich hin- und zurückgeleiten.«
Die versprochenen Fackelträger wurden beigestellt, und ich schloss mich der nächtlichen Expedition an.
Ich will den Weg, der eine gute Stunde in den Wald hineinführte, nicht schildern; was ich oben angedeutet, möge genügen. Sie war furchtbar unheimlich, diese Aprilnacht. Rechts und links rauschten und brausten die Gewässer, die Äste der alten Fichten knarrten und stöhnten; dazu das flackernde Licht der Kienfackeln, das die glitzernden Eiskristalle millionenfach reflektierten.
Da erglänzte vor uns ein anderes Licht; wir spornten unseren Schritt, um das Licht einzuholen, und es gelang uns auch, trotz des brodelnden Schneebreies, der unsere Schritte hemmte. Es waren zwei Männer, die vor uns dem gleichen Ziele zustrebten; einer trug eine Fackel, der andere schritt gebückt, mit sichtlicher Anstrengung neben ihm her.
Als wir die beiden eingeholt, erklang plötzlich ein Glöcklein. »Ad aegrotum!« (zum Kranken) flüsterte die gebückte Gestalt und hob den Leib Christi, uns zu segnen. Hier im Wald, im wilden Wetter segnete der greise Pfarrer den Doktor, der gleich ihm der Ausübung seines schweren Berufes oblag. Es war ein weihevoller Augenblick; wir sanken alle in die Knie, es war Gott selbst, der auf uns blickte, der Allerbarmer, der dem Sterbenden den Schritt ins Jenseits erleichtert.
»Ich muss schneller fort«, sagte mein Vater, »ich bin jünger als Hochwürden!«
Wir langten an unserem Ziele an; der Verletzte litt unaussprechlich. Eine kurze Untersuchung genügte meinem Vater, um zu konstatieren, dass menschliche Hilfe hier vergeblich sei.
»Ich muss sterben«, stöhnte der Unglückliche auf seinem Schmerzenslager, »nutzt nichts, Herr Doktor! Ach Gott, der Herr Pfarrer!«
Während wir zur Türe hinaustraten, kam der Ersehnte. Wir warteten draußen auf die Rückkehr des Geistlichen, um gemeinsam den Rückweg anzutreten.
Als derselbe dem Kranken die Sakramente gespendet, kehrte mein Vater nochmals in die Stube zurück; der Verwundete war in der Agonie, doch lag tiefer Friede über seinem Antlitz.
»Er ist mit Gott versöhnt!« sprach der Priester. »Das wird auch seine Leute trösten.«
Und fort ging's wieder in den Wald hinein; der Mantel des Geistlichen war schwer geworden vom Regen und steif vom Frost wie Bein.
Am anderen Tage stand mein Vater am Krankenbette des greisen Priesters, dem sein Beruf eine schwere Verkühlung zugezogen hatte; damals kam er noch davon, jetzt deckt auch ihn schon der Rasen des Friedhofs von Außergefild.
Das ist eine Geschichte; ähnliche wiederholen sich mehrere dutzendmal im Jahre. – »In omnibus caritas!« lautet die Devise des Herrn Dr. Herbst. Ich reklamiere sie für unsere Geistlichen.
Siehst du, lieber Leser, das sind Betrachtungen, zu welchen der für immer verschwundene Wächter der Moldauquelle mich veranlasst hat. Er ist fort, der treue Wächter aus guter alter Zeit, und ein hässlich gnomenhafter Zwerg, voll toller Auswüchse, ist stehengeblieben. Ist das nicht wieder ein Omen? – Das sind die traurigen Erinnerungen; aber auch fröhliche, heitere, aus glücklicher Jugendzeit knüpfen sich an diesen verschwundenen Zeugen hingesunkener Urwaldmajestät. Da war ich ein anderes Mal da – ich war noch ein Jüngling mit lockigem Haar –, und da traf ich eine Gesellschaft von Pragern; Papa mit zwei Töchtern. Wir betrachteten einander zuerst mit erstaunten, neugierigen Blicken. Es war gar so romantisch, dieses Zusammentreffen wildfremder Menschen hier im Schatten des ewigen Waldes, in dieser Einsamkeit, die kaum das Zwitschern eines Vogels unterbrach. Das Bekanntwerden an solchen Orten fällt nicht schwer, selbst wenn der eine Teil steif und geziert ist, was, nebenbei gesagt, hier durchaus nicht der Fall war. Der Papa brachte ein reges Interesse für Natur und Volk mit, und die jungen Damen zwitscherten gar so hübsch wie die lieben Vöglein und stellten so naive Betrachtungen und Vergleiche an, dass einem das Herz im Leibe lachte.
Der Witz, den die eine machte: »Nun wollen wir den Pragern eine gehörige Verlegenheit bereiten; wir verstopfen die Moldauquelle! Die werden schauen, bis kein Wasser mehr kommt, und der Odkolek und der Novotny, die werden »suchomelové« (Trockenmüller)« – dieser Witz ist zwar weder neu noch besonders geistreich, doch der rote Mund, der ihn aussprach, lachte so seelenvergnügt und die kleine, weiße Hand, die hinab tauchte in das schwarze Wasser, war so hübsch und niedlich, dass ich am liebsten beide gleich geküsst hätte.
Ich erzählte dann den lieben Mädchen so viel von unserer alten Šumava; ich glaube, lieber Leser, es war unvergleichlich schwungvoller und besser erzählt, als ich es in diesem Büchlein zustande gebracht habe. Und dabei wurde ich so sentimental, dass mir fast die Augen übergingen.
Kurz und gut, lieber Leser, der alte Baum wäre fast Zeuge einer Liebeserklärung unter besonders romantischen Umständen geworden, wenn ich nur einen Augenblick allein mit der Schönen gewesen wäre; sie schien mir – ich darf's wohl sagen, ohne geckenhaft zu erscheinen – ganz dazu disponiert, eine solche entgegenzunehmen.
Doch es sollte nicht sein; ich begleitete die Gesellschaft bis Buchwald und trennte mich dort von ihr mit einem Stachel im Herzen. Lange Zeit hörte ich das silberne Lachen und sah im Gedanken die lieben Augen, so blau wie der Septemberhimmel, der auf mein kurzes Glück herab gelacht hatte.
Da war zur selben Zeit jener »Finanzer« glücklicher, der gerade am Tage nach meiner Waldbekanntschaft in Fürstenhut drüben Hochzeit feierte. Der hatte eine Liebe, und diese seine Liebe liebte ihn auch. Aber wie das schon so zu gehen pflegt, bekam er sie nicht, weil man einen Aufseher nicht gerade für eine Partie hielt, die unter allen Umständen begehrenswert und geeignet wäre, eine Familie in all den möglichen Wechselfällen des Lebens zu erhalten. Diese unpoetische Ansicht über die Ehe teilte auch die vorgesetzte Behörde des Verliebten und weigerte sich unbegreiflicherweise, dem diesbezüglichen Petierenden ihren Konsens zu erteilen. Ja, man munkelte davon, dass die herzlose Behörde mit dem Gedanken umgehe, den armen Teufel irgendwohin ins Riesengebirge zu versetzen.
Da ereignete sich etwas, was dem Geschicke des Mannes eine freundlichere Wendung gab.
Der Krummbichler-Sepp aus den bayerischen Waldhäusern war ein ebenso schlauer als verwegener Schwärzer, der es so arg trieb, dass die Finanzbehörde eine Belohnung auf seine Einbringung setzte. Besagter Sepp kannte alle Schleichwege der Grenze und passte umso besser auf, als ihm nichts daran lag, mit den schwarzen Gefängnismauern von Pisek Bekanntschaft zu machen. Nichtsdestoweniger überraschte ihn einst der unglücklich liebende Finanzer gerade in der Nähe der Moldauquelle. Allein vom Überraschen zum Habhaftwerden war noch ein kleiner Schritt. Sowie Sepp, der eine schwere »Kraxe« trug, sich gefasst fühlte, griff er in seine Tasche und schleuderte dem pflichteifrigen Finanzer eine Handvoll zerriebenen Tabaks in die Augen. Trotz des furchtbaren Schmerzes ließ der Aufseher den Gesetzesverächter nicht los, warf ihn zu Boden und hielt ihn so lange fest, bis auf sein Pfeifen und Schreien ein in der Nähe patrouillierender Kamerad ihm zu Hilfe kam.
Das Ende war heiter. Der Aufseher machte zwar eine grimmige Augenentzündung durch, erhielt aber die ausgesetzte Belohnung und sogar seine Beförderung. Einige Monate später ließ sich sogar die herzlose Behörde herbei, ihm die Bewilligung zur Heirat zu erteilen. Ich habe seiner Hochzeit beigewohnt und ihm alles erdenkliche Glück gewünscht; denn er war ein wackerer Mann, und das in jeder Hinsicht.
Ich habe dir versprochen, lieber Leser, dass ich dich in den verstecktesten, menschenleersten Gebieten unseres zentralen Waldgebirges herumführen werde. Ich habe mein Wort gehalten: in ganz Mitteleuropa gibt es keinen so verlassenen Weltwinkel als den, welchen unser eilender Fuß durchschritten hat.
Es war kein lachendes Stück Erde, voll romantischer Felsenklüfte und kühner Höhenbildungen, kein Land der lauen Lüfte, wo die Vögel singen und die grünen Matten Herz und Aug erfrischen. Die Alpen sind ungleich großartiger, das Riesengebirge, die Böhmische Schweiz, der Harz und der Thüringer Wald sind pittoresker. Kein Komfort ladet dich freundlich zum Bleiben ein – rau ist die Natur und einfach die Menschen. Und was einst einzig war in seiner Pracht und Majestät, der endlose Urwald – er ist dahin bis auf wenige Spuren. Am Kubani bei Winterberg allein finden sich noch größere Strecken davon, doch vor mir haben viele ihn beschrieben und geschildert, ich will nicht in fremde Fußtapfen treten.
Aber eines hat der Böhmerwald: er wirkt wie ein melancholisches Lied, das mächtig an unser Herz schlägt. Eintönig, ewig gleich liegen Wald und düsteres Moor vor uns und erzählen uns eine Epopöe, die wohl kaum ihres gleichen hat, eine Epopöe von einem untergegangenen und untergehenden Riesengeschlechte, welches die Natur großgezogen und das sie grausam vernichtet hat.
So klingt das Lied, und wenn du ein aufmerksames Ohr hast, hörst du seine Töne, und wenn du zu lesen verstehst, so schlägt dir der Boden ein lehrreiches Buch auf, ein Buch mit ungezählten Blättern. Die alten Stämme, die Stümpfe, die den Boden decken, sie alle sind beschrieben mit rissigen Runen; die scheinen geheimnisvoll und sind doch nicht schwer zu deuten.
In Wind und Regen, in Schnee und Sonnenbrand bist du mir treu gefolgt, lieber Leser. Entbehrungen hast du dir auferlegt, über Filz und Fels führte dich deine Bahn; in die Hütten der Niedrigsten bist du ein gekehrt, das ernste Ringen der Menschen hast du gesehen, ob auch da und dort ein heiterer Scherz dir ein Lächeln entlockt hat.
Ich will deine Geduld auf keine zu harte Probe stellen: es ist Zeit, dass ich dich herausführe. Wir gehen nach Außergefild, wo du nicht schlecht aufgehoben sein wirst – verhältnismäßig, natürlich.
Durch meist jugendlichen Wald führt eine ganz hübsche Straße von Buchwald dahin, nördlich von dieser in weitem Bogen durch holziges Terrain, stellenweise bereits ganz verwachsen, eine Abzweigung des ehemaligen goldenen Steiges. Ehe die erwähnte Straße ausgebaut war – ich kann mich dessen noch aus meiner Kindheit erinnern –, wurde dieser Steig noch häufig benützt. Was mir damals besonders auffiel, waren tiefe Gruben, häufig voll schwarzen Moorwassers, die rechts und links vom Wege in gewissen Entfernungen davon dem Wanderer entgegen gähnten. Die Regelmäßigkeit der Form bekundete, dass nicht die Natur, sondern der Mensch dieselben geschaffen hatte. Es waren in der Tat Gruben, die man zum Fange der Raubtiere errichtet hatte. Noch am Ende des vorigen Jahrhunderts gab es hier Luchse und Bären genug; früher noch, nach dem Siebenjährigen Kriege, hatten sich auch Wölfe in großen Rudeln eingefunden. Der Mensch ist hier der Bestien Herr geworden, aber es gibt noch Leute, die sich namentlich der Bären gar wohl erinnern. Der Schaden, den letztere am Viehstande anrichteten, muss enorm gewesen sein. Wie mir erzählt worden ist, verloren die Außergefilder allein jährlich durch Bären über 100 Stück Rindvieh, Lämmer und Ziegen gar nicht gerechnet. Der letzte Bär im Böhmerwalde wurde im Jahre 1856 in den großen Wäldern des Salnauer Reviers geschossen, wann in der Gegend von Außergefild der letzte fiel konnte ich nicht in Erfahrung bringen, trotzdem Leute, welche kaum über fünfzig Jahre alt sind, noch viel von diesen Raubtieren zu erzählen wissen. Der alte Holzhauer von Schlösselwald, dessen ich im Verlaufe dieser Skizzen wiederholt gedachte, erzählte mir, dass in seiner Jugend ganze Rudel von Hirschen hier vorkamen, welche im Winter, wenn der klafterhohe Schnee ihnen Not und Sorge brachte, oft ganz nahe an die Wohnungen der Menschen herankamen.
Heutzutage ist das stolze Hochwild vollständig ausgerottet, woran, wie ich glaube, die Wildschützen, die keine Schonzeit kennen, die größte Schuld tragen; von dem erheblichen Schaden, welchen die Tiere den Saaten jedenfalls zufügen, kann in einer Gegend, wo fast gar kein Feldbau mehr getrieben wird, keine Rede sein.
Ja, lieber Leser, wir befinden uns auf dem Hochplateau von Außergefild, wo, weit zerstreut in hölzernen Hütten, etwa 1200 Leute oft ohne allen Ackerbau leben. Nur hie und da, wo die Lage besonders günstig ist, siehst du dann und wann ein Hafer- oder Kartoffelfeld, dessen Ertrag unter allen Umständen höchst problematisch bleibt. Denn oft schon Ende September, wenn der Hafer noch grün ist, wenn die Kartoffel noch blüht, treten Froste ein, streichen eisige Stürme über das Land hin, hüllen wirbelnde Flocken alles in ein dichtes weißes Kleid. Der Schnee liegt bis zum Mai, und erst im Juni beginnt die Saatzeit. – Auch im Hochsommer ist es selten heiß hier oben, und traurig schlängelt sich die junge Moldau zwischen schwarzem Jungbestand und filzigen Wiesen hindurch; braun ist ihr Wasser und grau die Gneisfelsen, die aus ihr hervorragen.
Außergefild hat mit den anderen Ortschaften des zentralen Böhmerwaldes das gemeinsam, dass es gleich diesen in wirtschaftlichem Niedergange begriffen ist. Wohl treibt noch die Moldau so manche Sägemühle, aber die Stämme werden immer rarer, und die Auswanderer auf Nimmerwiedersehen nehmen immer mehr zu. In früheren Zeiten herrschte ein gewisser Wohlstand, die Holzindustrie, obwohl meist im kleinen betrieben, brachte eine hübsche Summe Geldes herauf, und es blühte hier ein lustiges Leben. Noch halten sich einzelne Unternehmungen, die Zukunft jedoch ist nicht rosig.
Von Außergefild führt eine ganz nette Straße nach Winterberg; du kannst den Postwagen benützen, lieber Leser, und bist in drei Stunden in letztgenannter Stadt, welche dir nach den ausgestandenen Strapazen großartig vorkommen wird mit ihrem Schloss im Kasernenstil und ihren reinlichen, freilich etwas holperigen Gassen. Trinke eine Flasche guten fürstlichen oder städtischen Bieres und gedenke mein!