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Aberglauben – Kinitz-Tetau und Mader – Sommergäste im Wald – Urwaldreste – Der alte Holzhauer und seine Erlebnisse
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Wir sind nun wieder in Rehberg, lieber Leser, und müssen ein wenig ausruhen von den gestrigen Strapazen. Du kannst dich ein wenig umsehen und dir diese oder jene Geschichte erzählen lassen; treuherzig werden dir die guten Leute entgegenkommen, aber gut aufpassen musst du, denn der Dialekt ist ein wenig holperig und dem Fremden schier unverständlich.
Da werden sie dir erzählen von der Wilden Jagd, die nächtlich bald hoch in den Lüften, bald tief unter der Erde dahinsaust; doch ist die Auffassung eine andere als die in Bürgers »Wildem Jäger«. Kein Horn tönt, keine Peitsche knallt, kein Horrido und Hussassa, sondern einfach zwei Hunde jagen, des einen Laut ist »klar«, der des anderen »grob« – so sagen wörtlich die Leute. Es gibt hier wenige Menschen, welche diesen Spuk nicht gehört hätten; besonders im März und November macht er sich bemerklich. Wer um jene Zeit draußen war im weiten Wald, der wird in der Tat eigentümliche, bellende, klagende, kreischende Laute zu hören bekommen, und mag er auch frei von Vorurteilen und Aberglauben sein, er wird sich eines gewissen Gruselns nicht erwehren können, selbst wenn er sich zehnmal sagt, dass die verschiedenen Eulen, deren Stimmen sich an den Felswänden brechen, die Urheber davon sind.
Erzählen werden sie dir vor der alten Fuchtel dort hinten in den Einbauern von Kinitz-Tetau, die – eine böse, übelgesinnte Hexe – es versteht, denjenigen, so bei ihr in Ungnade gefallen, allerhand Ungeziefer auf den Leib zu schicken. Bemeldete Dame ist die Königin aller Wanzen, Schaben etc., die, gehorsam ihren Befehlen, die von ihr Bezeichneten furchtbar martern und sie nicht eher verlassen, als sie hierzu den Abberufungsbefehl erhalten. Eine Kleinigkeit ist imstande, den Zorn der Gefürchteten zu erregen. So gerieten vor einiger Zeit die Mädchen aus der Spunddreherei in Innergefild in nicht geringe Aufregung, weil sie ihr einen Milchtopf zerbrochen hatten. Keine wollte sich zur begangenen Untat bekennen, und jede schob die Schuld auf die andere. Da sprach die in ihrem Eigentum Geschädigte die verhängnisvolle Drohung aus, ihnen allen jene einsilbigen Tierchen zu schicken, welche zur Erfindung des Kammes geführt haben mögen, und siehe da! – kreideweiß geworden, gestand die Schuldige und ersetzte den Schaden.
Dass Wälder und Filze von dämonischen Wesen belebt sind, von denen einige selbst bei hellem Tag ihren frechen Spuk treiben, ist selbstverständlich. Auf den gefürchtetsten dieser Unholde, den »Viehscheuch«, werde ich im Laufe meiner Erzählungen noch zurückkommen. Als im heurigen Frühling die Missionäre hier oben predigten, donnerten sie unter einem gegen den schändlichen Aberglauben und gegen das berüchtigte Fensterin. Die guten Patres! Gelingt es ihnen, den Aberglauben und die feige Gespensterfurcht auszurotten oder doch zu beschränken, so wird das Fensterln immer ärger, und verleiden sie den Burschen Letzteres und leiten sie zu stillbeschaulichem Leben an, so nähren sie den Aberglauben.
Doch es ist Zeit, lieber Leser, dass wir zum Rachel aufbrechen; wir müssen uns hübsch zeitlich auf die Beine machen, auch für Mundvorrat sorgen, denn der Weg ist weit, und die Wohnungen der Menschen sind fern. Träfest du auch Holzhauer oder Hirten, lieber Leser, ihre Kost würde dir kaum behagen, so gern die guten Leute mit dir ihr Letztes teilen würden. Der Schmarren ist ganz gut, aber so fett, dass man einen Holzhauermagen haben muss, um ihn zu verdauen. Das Brot ist schwarz und oft bitter, das Rauchfleisch so hart, dass es vielleicht Funken geben würde, schlüge man Stahl daran.
Der Weg führt uns an dem fürstl. Schwarzenbergschen Forsthaus Schätzenwald vorbei über den ziemlich wasserreichen Kanal, der die Wydra mit dem Kieslinger verbindet, zunächst nach Kinitz-Tetau. Sieh dir diese Hütten gut an, lieber Leser, die längs des Weges in mehr oder minder großen Entfernungen stehen; unscheinbar sind sie und klein, auch ist das Innere nicht eben einladend, aber interessant ist ihre Bauart dennoch. Luft und Licht scheinen nicht zu den Bedürfnissen dieser bescheidenen Hinterwäldler zu gehören, wenigstens haben die Fenster kaum einen Quadratschuh Flächenraum und gleichen verglasten Fluglöchern eines Taubenschlages. Obendrein sind sie von innen so sinnreich verrammelt, dass es wohl niemandem gelänge, sie zu öffnen, ohne sie dabei zu zerbrechen. Menschen und Tiere teilen den Raum im Innern, der Rauch des Sparherdes entweicht gerade durch die Türe, und das Dach wird durch schwere Steine – bayerische Schindelnägel nennt man sie spottweise – vor den Wirkungen der entsetzlichen Äquinoktialstürme geschützt.
Diese Kinitz-Tetauer Einbauern sind wohl die primitivsten Naturkinder unseres ganzen Waldgebirges, roh und unreinlich, doch ehrlich und gefällig. Die meisten sind Holzhauer und waren in früheren Jahren Kohlenbrenner, ein Geschäft, das seit der Borkenkäfermisere im Niedergange begriffen ist.
Auf bequemer Straße geht es nach Mader. Da klingt auch ein Lied aus nicht lange entschwundenen Zeiten an dein Ohr, ein fröhlich Lied von frischem Treiben, das einst hier herrschte. Jetzt ist es still und ruhig geworden. Die großen Resonanzholzsägen stehen, denn die astlosen Urwaldfichten, aus denen die Resonanzblätter einzig und allein hergestellt werden können, sind selten geworden. Vor 20 und 25 Jahren, als der alte, biedere Biennert hier noch waltete und der lustige Hicke, sein Schwiegersohn und Nachfolger, da konnte man sie hier noch zu Hunderten sehen, die gefällten Riesen des Urwaldes, und 600 bis 700 Jahresringe konnte man zählen, bis die Ringe so dicht wurden, dass auch das Zählen aufhörte, und doch waren die Stämme bis ins Mark kerngesund!
Es gibt ein Wirtshaus hier mit 4 oder 5 Betten, lieber Leser! – auch Bier, veritables gutes Bier, eine höchst angenehme Abwechslung in die ewige Milch. Herz, was willst du noch mehr!
Sonst ist's noch ziemlich ruhig hier, und Typen, wie sie in Eisenstein, Prachatitz, Hohenfurt und wie sie alle heißen, die fashionable gewordenen Böhmerwald-Luftkurorte, vorkommen, sind hier denn doch noch eine große Seltenheit. Du hast also, lieber Leser, nicht sonderlich zu fürchten, dass bemeldete vier Betten in Anspruch genommen sein könnten und du gezwungen wärest, nach dem zwei Stunden entfernten Außergefild einen kleinen Abstecher zu unternehmen, um dort zu übernachten und dann früh wieder in aller Gemütlichkeit hierherzukommen, eine Befürchtung, die ein vielgelesenes Böhmerwaldbuch ausspricht. Wenn es dir aber passierte, dass du hier keine Unterkunft fändest, so wüsste ich wirklich keinen anderen Rat, außer du zögest es vor, irgendeine verlassene Holzhauerhütte im Walde zu beziehen und auf dem Mooslager deine Ermüdung auszuschlafen, wie ich es wiederholt getan habe. Sogar unter freiem Himmel bin ich einmal geblieben, und nicht einmal ein herannahendes Gewitter hat mich zu bewegen vermocht, eine der bewohnten Bauernhütten aufzusuchen, denn in dieser Atmosphäre kann nur ein Eingeborener leben.
Ich sagte dir, lieber Leser, dass du Typen à la Eisenstein hier schwerlich zu sehen bekommst: doch halt, es könnte doch passieren. Ich sah zwar keine, aber ein Holzhacker erzählte mir erst voriges Jahr eine unterhaltende Geschichte darüber.
Er entwarf eine ziemlich detaillierte Schilderung von zwei »herrisch« gekleideten Persönlichkeiten, die unweit von Mader ganz unversehens mitten im Walde, als er eben bei seiner Arbeit beschäftigt war, an ihn herantraten. Beide waren leicht gekleidet, der eine trug einen Jägerhut mit Gemsbart und Schildhahnfeder, die Beschuhung war ebenfalls nur eine ganz leichte, und der Mann entwarf eine ebenso drastische als komisch wirkende Beschreibung der lieblichen Schinakelstiefletten. Nach der Beschreibung schien mir der eine der beiden Fremden Sems kraushaariger Nachkommenschaft anzugehören. »Wird wohl ein Jude gewesen sein?« äußerte ich. »A Jud? Dös glaub i nöt, i hob wohl in mein Leben grod zwoa Juden gesehen, den Schleml von Rehberg, aber der ist rothaaret gewesen; a so hat dasöll (derselbe) nöt ausgschaut; der Schwarzkopf von Langendorf, der monnigsmol affa (herauf) kimmt, is a af der routen Seiten.«
Die beiden Fremden nun kamen also auf den Holzhauer zu und forderten ihn auf, sie auf den Rachel zu führen. Vergebens stellte der Mann ihnen vor, dass es schon ziemlich spät am Nachmittag, dass der Weg beschwerlich und ihr Schuhwerk untauglich sei und die Entfernung wenigstens 4 Stunden betrage. Die beiden Herren erklärten, sie seien gut zu Fuß, versprachen ihm zwei Gulden für seinen Dienst und äußerten die Absicht, im Rachelhaus zu übernachten. So ging's denn vorwärts durch pfadlosen Wald und Filz. Bereits nach einer Viertelstunde klagten beide Herren über Nässe in den Füßen, und nach einer weiteren halben Stunde hingen nur mehr einige Fetzen aufgeweichten, formlosen Leders daran.
»Ich habe es Ihnen gesagt«, sprach A., »da haben Sie die Bescherung; Sie wollten gehen.« – »Ich?« replizierte B. »Haben nicht Sie gesagt, dass Sie schon zweimal am Arber oben waren, dass der Rachel nicht so hoch und mithin leichter zu besteigen sei?« – Eine Zeitlang währten diese gegenseitigen Vorwürfe, und vielleicht wäre Feindschaft und grimmer Hader daraus entbrannt, wenn nicht A. auf einen Gedanken gekommen wäre, der ihren Ergüssen eine andere Richtung gab: »Verschonen Sie mich mit Ihren Vorwürfen«, sprach er und neigte seinen Mund an das Ohr seines Begleiters, »ich glaube, der Kerl führt uns absichtlich in den Sumpf hinein, um uns zu berauben, oder er kennt den Weg selbst nicht.« – »Sie können recht haben«, flüsterte B., trat auf den Führer zu, packte ihn am Arm und sprach: »Höret, Mann, jetzt führt uns sogleich aus dem Walde, widrigenfalls Ihr sehen sollt, mit wem Ihr es zu tun habt. Da Ihr selbst den Pfad nicht kennt, so ist es eine Unverschämtheit von Euch, Fremde führen zu wollen.« Der arme Holzhauer war ebenso erstaunt als betroffen; der Fremde schien ihm seiner Kleidung nach ein Mann von Bedeutung und Macht. Er bemerkte in aller Unterwürfigkeit, dass er ja den Herren Vorstellungen gemacht hatte über den weiten Weg und den sumpfigen Boden. Und wo sollte er sie aus dem Wald herausführen? Es gab ja keinen Pfad, nur knietiefen Moder und Sumpf, umgestürzte Bäume, undurchdringliches Dickicht. Und langsam gingen die Herren auch, kaum eine halbe Meile hatten sie zurückgelegt, wo er eine ganze hinter sich gehabt hätte. Wenn er doch schon im Rachelhaus wäre, aber dahin waren noch gute zwei Stunden seiner Gangart. Und die Fußbekleidung der Herren! Gott erbarme dich! Unmöglich, unmöglich, die kommen nicht weiter. Dabei steckten sie fortwährend die Köpfe zusammen; das bedeutete nichts Gutes! Wenn die ihn etwa gar bei Gericht anzeigten! Jetzt, wo es die Herren in der Stadt so scharf auf die Einbauern in Kinitz-Tetau hatten, seit dieser unglückliche Six einen alten Mann, der bei ihm im Ausgeding lebte, ermordet hatte. Den zwei Herren würden sie bei Gericht gewiss Glauben schenken, wenn sie angeben, dass er sie berauben wollte, nicht aber ihm, dem armen Holzhauer. Wie hatte der Herr mit dem goldenen Kragen doch gesagt bei der Kommission am Orte der Mordtat »Ihr seid doch ein niederträchtiges, gottloses Gesindel hier oben im Walde!« hatte er gesagt. Und die dunklen Kerkermauern im fernen Pisek, woher immer nur Unheilvolles kam und über welches er so viel von Soldaten, aus der Haft entlassenen Abgeurteilten und anderen Unglücklichen gehört hatte, ach, wie drohend bauten sie sich auf vor seinem geistigen Auge!
»Herr«, sagte er zu mir, als er mir die ganze Geschichte erzählte, »ich hätte weglaufen können, und sie wären dagestanden im Walde. Aber wer würde das tun! Die wären ja elend umgekommen in den Filzen, denn ihr Lebtag hätten sie den Rückweg nicht gefunden. Das wäre ja doch eine Sünde gewesen.« Und als sie ihn von neuem drängten, fasste er sich ein Herz und erklärte, es sei unter diesen Umständen unmöglich, weiterzugehen, so mir nichts, dir nichts heraus aus dem Walde könne er sie jedoch auch nicht führen, da dieser sich meilenweit nach rechts und links hin ausdehne, es bleibe somit nichts übrig, als umzukehren nach Mader. Die Fremden schimpften und drohten, aber der Holzhauer machte entschlossen kehrt, und sie mussten ihm nach. Da hörten sie Schritte hinter sich, kräftige Schritte, und binnen wenigen Minuten hatte sie ein großer, grobknochiger, verwittert aussehender Mann eingeholt, in hohen Stiefeln, schwarzen Lederhosen und brauner Jacke, der zwei schwere Päcke am Rücken trug. Wie tanzend sprang sein Fuß von Baumwurzel zu Baumwurzel, von Stein zu Stein. Die grauen Augen sahen erstaunt hervor unter den dunkeln, buschigen Brauen, als er der Fremden ansichtig wurde, und etwas wie Hohn blitzte über seine bronzefarbigen, wetterharten Züge. Ich kann's hier dem Leser verraten: es war der bayerische Schwärzer, genannt der lange Hiesel, der mit einer Ladung »Brisil« (Brasilschnupftabak) und Zigarren seines einsamen Weges gezogen kam.
»Grüß di Gott, Wastl«, sprach der Bayer, »was hast denn da für zwee Milirahmg'sichter afg'steckt?«
Der Holzhauer erwiderte den Gruß und berichtete kurz, was die Herren vorhatten und wie er jetzt mit ihnen auf der Rückkehr begriffen sei.
Da mischte sich der Herr mit der Schildhahnfeder ins Gespräch, beschuldigte den Führer auch dem Schwätzer gegenüber der Unkenntnis des Weges oder irgendwelcher böser Absichten und forderte ihn auf, ihre Führung zu übernehmen, wogegen er ihm die dem Holzhauer versprochenen zwei Gulden anbot.
Da richtete sich der Bayer hoch auf, seine gewaltigen Fäuste ballten sich drohend, und dann ergoss sich eine Flut unwiedergeblicher Schimpfworte wie Pistolengeknall aus seinem Munde. »Oh, ös schlechten Sakra ös, ös miserablichten, hoarlousen (schamlosen) Lumpen! Betrüegen wollt's ös den armen Wastl, ös dolkerten Stadtaffen ös! Dos sog i dir, Wastl, dass du sie do losst im Filz, dö elendigen ...« Und so ging's fort mit wenig Grazie in infinitum.
Die Wirkung dieser Apostrophation, deren drastische Eloquenz mit den entsprechenden Gebärden begleitet war, ist eine niederschmetternde gewesen. Mit schlotternden Knien beteuerten die beiden Fremden, es sei ihre Absicht nicht gewesen, den Wastl um den bedungenen Lohn zu bringen, es sei alles ein Missverständnis.
Der Hiesel dagegen wandte sich verachtungsvoll ab und knurrte bloß gegen den Wastl hin: »Nimm mir den einen Pack ab, ich komm heut schon von Grafenau, und trag mir ihn, weißt ohnehin wohin, die zwei Gulden gib ich dir, dass du nicht zu kurz kimmst, und dö zwee, dö sollen hin werden do im Filz, die Mucken fangen eh (ohnehin) schon an, z'ammfressen soll's dos Gflügel.«
Doch der ehrliche Wastl ließ sich nicht überreden. »Sie müssten hier elend umkommen«, sprach er, »und das möcht ich nicht auf meine Seele laden, selbst wenn sie mir die zwei Gulden nöt geben täten.«
»Bist dein Leben lang ein Rindvieh gewesen«, sagte der Bayer verächtlich, und wirst's a bleiben!« Damit wandte er sich zum Gehen, und bald verhallte sein langer, kräftiger Schritt hinter den moosbedeckten Fichten des Urwaldes.
Der Wastl aber brachte die zwei nach etwa einstündigem Marsch nach Mader zurück, wo sie in einem desolaten Zustand anlangten. Von ihren Schnabelstiefletten war so gut wie nichts zurückgeblieben, und mit wunden, geschwollenen Füßen hielten sie ihren Einzug, gar demütig gestimmt und Verzweiflung im Herzen über die so kläglich gescheiterte Rachelexpedition. Da sie keine zweite Fußbekleidung mitführten und absolut keine Bauernstiefel und auch keine Holzschuhe vertrugen, so erbarmte sich ihrer eine mitleidige Seele in Gestalt einer Bäuerin und verfertigte ihnen aus alter Packleinwand ein Paar nicht eben salonmäßig aussehender »Potschen«, in denen sie sich dann und wann dem erstaunten Volke zeigten, bis nach einigen Tagen ihre Füße geheilt waren und sie – immer noch in letzterer Fußbekleidung – auf einem Ochsenkarren nach Außergefild fuhren, wo sie sogar einen Schuster fanden, der sie mit einigermaßen praktikablem Schuhwerk versah. Was weiter mit ihnen geschah, vermag ich nicht anzugeben.
Der ehrliche Wastl aber bekam seine zwei Gulden, mit denen er sich königlich belohnt dünkte. »Es sind keine Fremden mehr dagewesen«, hat er mir erzählt, »aber wenn ihrer hundert kämen und man mir das Dreifache bieten würde, ich übernähme keine Führung mehr. Die Ängste, die ich damals ausgestanden, vergesse ich in meinem Leben nicht mehr. Ins Kriminal möchten sie einen noch bringen, die Stadtherren, die herkommen und von unseren Wäldern nichts verstehen. Man möchte doch denken, sie müssten das aus den schönen Büchern wissen, mit den roten Deckeln und den Goldbuchstaben drauf, die sie immer mithaben und wo, wie sie sagen, alles drinsteht.«
Auf denn, lieber Leser; es hat zwar ein wenig gestürmt, geblitzt und geregnet, aber einige Tropfen Wasser mehr oder weniger in diesem vollgesogenen Schwamm, der selbst nach vierwöchentlicher Dürre noch immer Wasser genug hat, die sollen uns nicht abhalten. Schinakelstiefel aus Kalb- oder gar Ziegenfell hast du ja nicht an, wie die Herren A. und B., deren werte Bekanntschaft wir das vorige Mal gemacht haben, und mit guten Juchten kannst du die Partie schon riskieren. Einen Mann müssen wir uns auf jeden Fall mitnehmen, damit er unseren Proviant trage, denn da oben würdest du dich vergeblich nach einer Restauration umsehen, und von Heidelbeeren kannst du doch nicht leben, die machen den Mund und die Zähne schwarz und würden dir das Aussehen eines betelkauenden Malaien verleihen, ganz abgesehen davon, dass möglicherweise keine zu finden wären – auch keine Preiselbeeren, was zum Beispiel im vorigen Jahre der Fall war, ein Umstand, der wieder eine große Hausse auf der Preiselbörse zu Hartmanitz zur Folge hatte. Mit den Frühlingsspätfrösten muss eben gerechnet werden. – Wir brauchen nicht weit zu gehen, um in den Wald zu gelangen, wir gehen eigentlich immerfort im Walde, aber meist ist's junger Anflug; die Stämme aber, die da modern zu Hunderten und Tausenden, einzeln und in Haufen übereinandergeworfen, mit Moos, Flechten und dichtem Heidel- und Erikagestrüpp überwuchert und von Myriaden von Pflanzenwurzeln wie mit unlöslichen Stricken verbunden, die künden dir eine kaum entschwundene Zeit, wo der Urwald in all seiner Pracht und tiefdüstern Majestät über den Häuptern der Menschenwürmer rauschte, deren Fuß diese stille Einöde betrat. Noch kannst du ihn sehen, lieber Leser, freilich nur beschränkte Strecken, aber doch Urwald, und eine Idee kannst du dir machen, wie's hier einst auf viele Quadratmeilen weit aussah. Nur musst du von der Straße abbiegen und dich mit einem guten, des Weges unfehlbar kundigen Führer seitwärts schlagen. Wohl sickert das braune Wasser unter deinen Tritten hervor, wohl sammelt es sich in tiefschwarzen Lachen, die du sorgfältig umgehen musst, denn sie sind oft trügerisch tief; wohl stolpert dein zagender Fuß über gewaltige, wie Riesenschlangen sich windende Wurzeln; ich will aber hoffen, dass dir kein sonderliches Unglück zustößt, und wenn du ein Naturfreund bist, so wird dir für den mühseligen Marsch ein königlicher Lohn.
Du musst dir nicht denken, lieber Leser, dass im Urwald die Bäume dicht, Stamm an Stamm, stehen; im Gegenteil, die hohen alten Fichten stehen in ziemlicher Entfernung voneinander, und nur das auf den toten Riesenleibern empor wuchernde Gestrüpp und Jungholz bildet oft undurchdringliche Dickungen. Der alte Baum braucht Luft und Licht für sich und lässt in seiner nächsten Umgebung keinen Nebenbuhler aufkommen; erst bis er dereinst hinsinkt von der Gewalt des Sturmes, wenn einmal seine Wurzeln morsch sind und ihn nicht mehr tragen, dann wird sich einer der Jünglinge, die aus seinem Samen hervorgegangen, nach hartem Kampf ums Dasein erheben und seinerseits die aufstrebenden, minder begünstigten Genossen rücksichtslos verdrängen. Die Natur will den Kampf, das selbstsüchtige Ringen. Otetoi, que je m'y mette!
Welch verschiedene Typen in Wuchs und Aussehen! Ein düsteres Graugrün bedeckt die Stämme, und von den dunkelgrünen Zweigen hängen weiße, graue und braune Flechten, bald schlangenartig sich krümmend, herab, bald ineinander verwachsend und breite Wände bildend. Gewaltige Farren entwachsen dem ewig nassen Boden und heben sich straußartig vom dunklen Moos ab. Gespenstisch ragt da einer der Riesen gegen den Himmel empor; seine Nadeln sind längst abgefallen, sein Stamm ist rindenlos; so starrt er da, eine stehende Leiche, und weiß wie Silber erglänzt der nackte Stamm im Mondeslicht. Je weiter hinauf man steigt gegen den Kamm, desto niedriger werden die Fichten, die indes noch immer einen gewaltigen Umfang haben. Nach und nach übergeht der Fichtenwald in verkrüppelte Knieföhren, die, vielfach ineinander verschlungen, längs des sumpfigen Bodens hinkriechen. Auch ein Urwald, jungfräulich und unentweiht, denn wohl keines Menschen Fuß hat je den grundlosen Boden zu betreten gewagt.
Doch ich eile voraus; so hoch oben sind wir noch nicht. Eine tiefe, feierliche, fast beklemmende Stille herrscht im Urwalde. Nur selten ertönt die Stimme eines Vogels, das leise Piepen des hier nirgends fehlenden Goldhähnchens, der nicht unmelodische Gesang des im strengen Winter brütenden Kreuzschnabels, dem keine Kälte, kein Schneesturm etwas anzuhaben vermag. Zuweilen ertönt das hässliche Krächzen eines Raben oder hoch in den Lüften der raue Schrei des Habichts. Sonst ist's still. Doch wir dürfen uns nicht zu lange aufhalten, damit wir unsere Tour vor Nacht vollenden. Zurück also zur Straße. Da wirst du, lieber Leser, zu einer Lichtung kommen, und da wirst du Rauch aufsteigen sehen zwischen den Bäumen, und Stimmen wirst du hören und Laute, die dir die Anwesenheit von Menschen künden.
Richtig, da stehen sie zwischen den Bäumen, die wenigen Holzhauerhütten, die der Mensch hier gebaut in der herzbeklemmenden Öde. Du bist in Josefstadt, lieber Leser; denn diesen Namen hat man der nur sporadisch und zeitweise bewohnten Kolonie gegeben. Welchem Josef zu Ehren mag dieser Name gegeben worden sein? Niemand kann dir Auskunft geben, und deine Phantasie hat einen weiten Spielraum.
Es ist nicht lustig hier oben, lieber Leser, für die, welche jahrein, jahraus um ihre Existenz ringen und kämpfen müssen, im Schweiße ihres Angesichts, in verzehrender Sommerglut, in des Winters eisigem Wehen, von Gefahren und unheimlichem Schreck umdroht.
Da fällt er mir ein, der alte, eisgraue Mann dort unten in Schlösselwald, der bis zu seinem 70. Jahre hier in den Wäldern gearbeitet, über dessen ehrwürdigen Scheitel nun bald ein Jahrhundert dahin gerauscht sein wird. Einen Sohn hatte der alte Mann, dem er ein besseres Los, ein weniger mühevolles Leben bereiten wollte. Gedarbt hat er bei schlechtem Brot und hartem Käse, und gearbeitet hat er Jahr um Jahr, um den Sohn studieren lassen zu können, ein schier wahnsinniger Gedanke hier oben. Ein Auge schlug ihm ein Holzsplitter aus, er aber arbeitete unverdrossen weiter, und alle Monat machte er sich auf den Weg nach dem fernen Klattau, um dem Sohn sein Erspartes zu bringen. Und wie musst er's oft erringen, das blutig verdiente Geld! – Da gingen sie einst ihrer vier in den Wald, ihrer Arbeit nach. Es war ein schauerlicher Wintertag; mit eisigem Regen gemischt und vom Südweststurm gepeitscht, fiel der Schnee herab und überzog, sogleich gefrierend, Boden und Bäume mit einer glasigen, schlüpfrigen Masse. Den ganzen Tag arbeiteten die Männer in dem schauerlichen Wetter, und als die Dämmerung hereinbrach und der Sturm und Schneefall immer heftiger wurde, sahen sie plötzlich, dass es unmöglich war, den mehrere Stunden weit entfernten häuslichen Herd zu erreichen. Auf solche Eventualitäten ist man indes gefasst und hat durch Errichtung höchst primitiver, aus rohen Balken zusammengefügter Hütten, auf die man in vielen Orten im Walde stößt, für sein notdürftiges Obdach und eine Zufluchtsstätte gegen Wind und Regen gesorgt. Solche Hütten haben als ganze Einrichtung ein sich rund um die Wände ziehendes Mooslager und einen Feuerherd in der Mitte, damit die Leute sich wärmen und ein Mahl bereiten können. – Eine solche Hütte nun suchten die vier Männer auf, konnten aber über die Wahl derselben nicht schlüssig werden. Der erwähnte alte Mann mit noch einem Genossen fassten den Beschluss, die nächste derselben, die etwa eine Viertelstunde weit entfernt war, aufzusuchen, während die beiden Übrigen es vorzogen, sich zu trennen und eine etwas fernere zu beziehen, die ihrer Ansicht nach besser geschützt war.
Die beiden ersteren erreichten glücklich ihre Zufluchtsstätte und ließen sich darin häuslich nieder. Aber trotz des mächtigen Feuers, das sie anzündeten, konnten sie sich nicht erwärmen, denn der Wind blies durch die schlecht zusammengefügten Balken, und durch die Risse des Daches tropfte allenthalben der eisige Regen. Vergebens kauerten die beiden eng zusammen, es war nicht möglich, hier auszuhalten.
So beschlossen sie denn, die ungastliche Hütte zu verlassen und die beiden anderen Männer in ihrer Behausung aufzusuchen. Es mochte bereits zehn Uhr abends sein. Hinaus ging's in die grauenhafte stürmische Nacht; schauerlich heulte die Windsbraut in den Kronen der hundertjährigen Urwaldfichten, in den tiefen Schluchten der Berge. Wohl zagte der Fuß, wohl standen die Haare zu Berge, denn all die finstern Geschichten über die geheimnisvollen Wesen des Waldes wurden aufgeregt in den Gedanken der einsam dahineilenden Männer; aber was war zu tun? Fort mussten sie, da gab's keinen anderen Ausweg.
Nach einer mühseligen Stunde erreichten sie ihr Ziel. Schon von weitem fiel es ihnen auf, dass die Türe angelweit offenstand, durch welche der Schein des mächtig lodernden Herdfeuers herausfiel, gespenstisch tanzende Schatten im Walde erzeugend.
Da traten sie ein. Welch entsetzlicher Anblick! Da lag ausgestreckt auf seinem Lager der eine, kalt und starr, die gläsernen Augen weit geöffnet, während der andere, halb sitzend am Boden, die Faust wie zur Abwehr geballt, dahockte, regungslos, wie ein versteinertes Bild. »Hannes! Wenzel!« Keine Antwort – die beiden waren tot – und zur Tür herein blies der Wind, am Herd knisterte die Flamme. – Was war geschehen? Die es hätten sagen können, ihr Mund war stumm in alle Ewigkeit.
»Sie können doch nicht erfroren sein, Franzel?« meinte der Jüngere. »Hier ist's doch wärmer als in der ersten Hütte.«
»Das war nichts Rechtes«, sagte der Ältere, mein Gewährsmann, »Gott soll uns schützen, komm zurück, besser erfrieren, als von den unreinen Geistern der Nacht ...« Er vollendete den Satz nicht, bekreuzte sich und murmelte: »Herr Jesus, steh mir bei in meiner Not ...«
Und fort ging's wieder über Stock und Stein, durch Schnee und Regen in den Wald hinein. Betend brachten sie die Nacht in der ersten Hütte zu, und wenn die tödliche Ermüdung ihnen die Augen zu schließen drohte, da rüttelten sie sich gewaltsam empor aus den schmeichelnden Banden, die sie zu umstricken drohten.
Am anderen Tage ließ das Unwetter nach, und die beiden Männer eilten hinab nach Kinitz-Tetau, Hilfe zu holen und das Geschehene zu berichten. Von dort aus brach man auf und holte die beiden Leichen.
Der alte Franzel aber arbeitete weiter im Walde oben, und als der Monat zu Ende war, eilte er mit dem ausbezahlten Lohn hinunter nach Klattau zu seinem studierenden Sohne. So tat er's jahraus, jahrein, bis sein Sohn die Universität bezog. Da halfen die Abeles, an die sich jeder wandte, der Hilfe brauchte, und aus dem Sohne des armen einäugigen Holzhauers wurde ein angesehener Herr. Oft forderte der dankbare Sohn den greisen Vater auf, zu ihm in die Stadt zu ziehen und bei ihm seine alten Tage in Ruhe zu beschließen; der Alte jedoch war hierzu nicht zu bewegen. Er wäre, von Heimweh verzehrt, gestorben in den steinernen Häusern der Stadt, fern von seiner Ofenbank und seinen Kienspänen, der alte Holzhauer mit dem weißen Haupt, der so viel gearbeitet und so viel erfahren hatte in seinem langen Leben.
Jetzt sitzt er still da, und wenn seine Enkel reden von der harten Arbeit und den Gefahren dabei, da blitzt sein einziges Auge hell auf, und er denkt der Jugend und der schönen Wälder da oben. Es ist gut, dass er nicht mehr hinauf kann, die Verwüstungen des letzten Dezenniums würden, wenn er sie sähe, sein altes Herz brechen.