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Vom Lusen nach Buchwald – Wald- und Filzszenerien – Das Rauchfleisch der Bauern – Der geächtete Rothschild – Waldbayerntypen – Der Herr Bezirkschirurgus
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Um von dem Gipfel des Lusen aus wieder das »Land der Menschen« zu erreichen, wirst du am besten tun, lieber Leser, wenn du direkt nach Buchwald gehst. Du hast in diesem Fall zwar einen, besonders anfangs, ziemlich beschwerlichen Weg von geschlagenen vier Stunden vor dir, wirst aber durch einen in seiner Art einzigen Weg entschädigt, der dich durch unermessliche, herrliche Wälder führt. Du kannst fast sicher sein, keinem Menschen zu begegnen – eine lautlose, imponierende Abgeschiedenheit.
Zwar unterbrechen Durchschläge, an einer Stelle sogar eine blumige Waldwiese die Monotonie des ewig gleichen und doch so wechselvollen Waldes, doch sind auch diese Schläge erst neueren Datums. Namentlich auf der bayerischen Seite – du gehst ein großes Stück ununterbrochen an der Landesgrenze – trägt der Forst einen urwäldlichen Typus und bringen die zahlreich eingesprengten Laubhölzer einen angenehmen Wechsel in die Szenerie. Schlanke, weißrindige Buchen, zarte Birken, großblätterige Ahornbäume und im Herbst mit roten Trauben behangene Vogelbeerbäume – hier Faulbäume genannt –, sie alle winken dir zu mit dem hellen Grün ihrer Blätter.
Der schmale Pfad bringt dich an eine Stelle im Walde, wo zwei Bäche zusammenfließen, die bereits der Ilz tributpflichtig sind. Der Lauf der Bäche ist nun zum Teil gemauert wegen der Holzschwemmerei, zu meiner Zeit war von einem derartigen »Fortschritt« noch keine Spur, und ich habe das Wort »Wasserpfanne«, wie dieser Zusammenfluss heißen soll, erst in den neueren Böhmerwaldbüchern gelesen.
Ich nehme an, lieber Leser, dass du gut verproviantiert warst und unterwegs nicht Hungers gestorben bist. Bist du aber einmal in Buchwald, so bist du auch gerettet; denn hier findest du zwei recht gute Wirtshäuser, wo du so gut aufgehoben bist, dass du, wenn wieder fort, lange an die Fleischtöpfe dieses hochgelegenen Ägyptens denken wirst. Du stehst hier gegen 3700 Fuß über der Meeresfläche, und eine prachtvolle Aussicht nach Bayern hinein lohnt dich reichlich für die gehabte Mühe.
Das ist der eine Weg nach Buchwald; es gibt aber noch einen andern, quer durch den Wald, direkt von Pürstling nach der Moldauquelle, wobei man den Lusen rechts lässt. Nur wer die Gegend gut kennt, möge ihn ohne Führer einschlagen: die Filze sind tückisch.
Da liegt, tief drinnen im Wald, an diesem Pfad die ziemlich große Vogelsteinschwelle. Wohl selten mag sich ein Sonnenstrahl in diesen dunklen Gewässern baden; tief und schweigsam, von keinem Wind gekräuselt, machen sie den Eindruck eines schwarzen Pfuhles in der Unterwelt. Von zwei Seiten hat das Wasser kein eigentliches Ufer, übergeht vielmehr in einen zähen, endlosen Filz, durch den ein einziger schmaler Prügelweg führt, in Schlangenwindungen, schier zum Verzweifeln für den ungewohnten Touristen.
Man hat diesen Weg lediglich zum Zweck der Auerwildjagd hergestellt, und im Frühling mag ihn manch hohe Jagdgesellschaft beleben. Als ich ihn vor drei Jahren im August in Gesellschaft eines Herrn Professors von Pilsen und des Herrn Forstadjunkten Tuček aus Pürstling betrat, entquollen weiße, neblige Dämpfe dem Sumpf, die uns jegliche Aussicht benahmen. Die Feuchtigkeit der Luft war ungeheuer, jeder Strauch, jedes Farrenkraut, jeder Grashalm troff von Wasser, als hätte es tagelang geregnet. Die jungen Fichten, denen ein unfreundliches Geschick hier in diesem sauern Moorboden ihren Standpunkt angewiesen hatte, rangen wie verzweifelt nach Licht und Luft; sie gediehen schlecht, ihre Nadeln standen kurz und schütter, und nur die grauen, grünen und weißen Flechten, die ihre kropfigen, gleichsam aussätzigen dünnen Stämme bedeckten, fühlten sich wohl und trieben lange bartige Haare, die selbst die dünnsten Reiser noch kraus umhüllten.
So ging's fort, rutschenden, unsicheren Schrittes, über Wassergräben und Löcher, wo der Fuß oft tief versank; der tastende Stock fand keinen Grund. »Das also ist der berüchtigte Filz!« murmelte der Herr Professor und verwünschte wohl mehr als einmal die kalbledernen Stiefletten, die hier zergingen, als wären sie von Kartonpapier.
Dann kam der Wald, ziemlich junger Anflug, auf zahllosen vermoderten Leichen fußend, die in wirrem Durcheinander den Boden bedeckten. Ein unendliches Schweigen herrscht hier, die Ruhe des Grabes dieser in ewigem Schlaf gebetteten Riesen, deren mächtige, so lange alleinherrschende Generation dem 1870er Sturm zum Opfer gefallen ist. Ob wohl die Epigonen das Alter ihrer Väter erreichen werden? – Kaum! Dahin ist hier die alte Urwaldpracht, und was davon geblieben, ist höchstens ein matter Abglanz längst entschwundener Herrlichkeit. Noch tönt aus weiter Ferne das traute Läuten der Kuhglocken; wird es in zehn, in fünf Jahren auch noch tönen?
Über endlose, sonndurchglühte Schläge schreitet der eilende Fuß. Ungeheuere Stöcke ragen noch hervor aus dem meterhohen Gras, zum Teil noch ziemlich frisch, zum Teil schon faulend. An ihnen und zwischen ihnen ranken Himbeeren hervor, dichte, undurchdringliche Hecken und Gebüsche bildend; die aromatischen Beeren, von einem Wohlgeschmack, der ihnen sonst wohl nirgends eigen ist, winken dir freundlich zu und locken viele Leute herauf, die dann schwer beladen heimziehen. Der Kranke, dem der süße, duftende Saft die herbe Arznei mild einhüllt, denkt wohl nicht an die rauen Berge, die ihm freundlich diese Gabe gespendet, ihr alles, was sie noch hatten, was der Orkan, das tückische Insekt und die grausame Hand des Menschen ihnen gelassen.
Als wir die Quelle der Warmen Moldau erreichten, stand bereits die Sonne hoch am Himmel. Ein einsamer Waldstier mit krausem, büffelartigem Kopf empfing uns gesenkten, gedankenschweren Hauptes. Wiederholt fortgejagt, kehrte er immer wieder zurück und glotzte uns an mit seinen langbewimperten Augen; schließlich tat er sich gemütlich nieder am Rande des Bächleins und pflegte wiederkäuend der Ruhe, indes wir unsere hartgesottenen Eier und steinhartes Selchfleisch verzehrten, mit dem uns eine Bäuerin acht Stunden weit von hier, in Kinitz-Tetau, bedacht hatte. – Ich kann dir nicht helfen, lieber Leser; wenn du hier mit Nutzen reisen, wenn du die versteckten, interessantesten Winkel unseres Gebirges kennenlernen willst, so musst du deine Kauapparate und deinen Magen an 'solche Dinge gewöhnen wie das erwähnte Rauchfleisch der Bauern. Der Appetit, den dir die Bergluft macht, ist geradezu merkwürdig; er wird dir gewiss manche Dinge genießbar machen, die du sonst naserümpfend beiseitelegen würdest. Die Entfernungen sind groß, und Gasthäuser sind eine unbekannte Erfindung, wenn du auch da und dort ein Glas Bier mehr aus Gefälligkeit als aus Profitrücksichten erhältst. Der jetzige Heger von Pürstling ist ein solcher Samariter, der immer ein Viertel ganz vortrefflichen Winterberger Bieres in seinem kühlen Keller für durstige Touristen vorrätig hält, um ihren Magen vor den Mikrokokken der Wotawa- und Moldauquellbäche zu bewahren. Wir fanden in unserem Durste, dass besagter Heger ein großer Mann sei; er soll sagen, ob wir seinem Getränk nicht Ehre genug antaten.
Lieber Leser, der du an Prager Schinken, Hamburger Ochsenrücken oder amerikanisches Corned beef gewöhnt bist und mitunter sehr kritisch über derartige Dinge urteilst, höre ein weniges über die hier landesübliche Zubereitung des Rauchfleisches. Da wird vorerst das frische Schweinfleisch in ziemlich dünne Streifen geschnitten, dann eingesalzen, wohl mit Wacholderbeeren gewürzt und lange, lange Zeit der Einwirkung des Salzes überlassen. Dann kommt es in den Rauchfang und bleibt dort monatelang. Der Rauch der Fichtennadeln enthält viel Kreosot, und das wirkt besonders konservierend. Dann, gewöhnlich mit Beginn des Frühlings, hängt man das also geselchte Fleisch an luftige Orte, wo es einen förmlichen Austrocknungsprozess durchmacht. Dieses Fleisch hat nun die Konsistenz einer Hippopotamushaut, ist bisweilen beinhart, bisweilen kautschukartig elastisch und zäh, hält aber auf jeden Fall länger vielleicht als ein Menschenalter, etwa wie der bekannte Pemmikan der kanadischen Trapper oder der Charqui der Südamerikaner. Kein Kochen der Welt, am allerwenigsten aber hartes Gebirgswasser, vermag es völlig weich zu machen; das ist ein Geschäft, welches nur deine Zähne besorgen können, lieber Leser, und hast du keine, um so schlimmer für dich.
Es gibt aber nicht bloß geräuchertes Schweinefleisch, sondern auch ebensolches Schöpsen- und Rindfleisch. Das Fleisch einer altersschwachen Kuh ist in dieser Form besonders empfehlenswert und vermag bei länger dauerndem Genuss den Kaumuskeln eine ganz abnorme Kraft zu verschaffen. Ich will dir gestehen, dass letzteres Nahrungsmittel nie zu meinen Lieblingsspeisen gehört hat; nichtsdestoweniger hat es Momente gegeben, wo ich tapfer einhieb, selbst wenn vorjähriges Kraut serviert wurde, dessen Säure mit der noch zu erwähnenden »Hirgstmül« (Herbstmilch) an Schärfe wetteiferte, ja bei Ungewohnten ein Gefühl von Vitriolvergiftung hervorgerufen hätte. Man lernt alles, lieber Leser.
Während wir also da saßen und derartige kulinarische Betrachtungen anstellten, auch einige Verse und Inschriften besprachen, welche in das Holz der »Ursprunghütte« eingegraben waren, um Zeugnis zu geben von den Gefühlen irgendeines da gewesenen Kieselacks, erfuhren wir aus dem Munde unseres liebenswürdigen Führers eine Neuigkeit, die uns geradezu verblüffte. Du hast ein Recht, mir zu zürnen, lieber Leser, dass ich dir dieselbe so lange vorenthielt. Ich habe zu meiner Entschuldigung nichts anderes anzuführen, als dass ich vor der schrecklichen Börsenpanik Furcht bekam, welche die Publizierung einer so sonderbaren Mär gewiss und sicher veranlasst hätte.
Denke dir nur, lieber Leser: in den Wildnissen zwischen dem Lusen, dem Siebensteinköpfel und dem Mittagsberg treibt sich Tag und Nacht herum, ohne Stiefel, ein Schrecken aller Jäger und Grenzwächter, rate, lieber Leser! – umsonst, du errätst es nicht – Rothschild, der leibhaftige Rothschild, ich weiß nur nicht, ob er mit seinem Vornamen Nathan, Alfons, Mayer oder sonst wie heißt. Die bayerischen Behörden haben einen Preis auf sein Ergreifen gesetzt, aber bis dahin wenigstens war alles vergeblich. Rothschild ist schlau und gerieben, er kennt die geheimsten Schlupfwinkel der Wälder und Filze, er benützt sans façon und ohne einen Rheumatismus befürchten zu müssen die Erde als Unterbett und den Himmel als Zudecke; er entbehrt mit Vergnügen die Gänseleberpasteten und der Witwe Cliquot sowie Röderers süßes, schäumendes Getränk, und es würde schwer halten, dir, mit Ausnahme des nicht eben seltenen Wassers, die Stoffe namhaft zu machen, die er behufs Ernährung konsumiert. Doch die Antisemiten mögen jubeln: die bayerischen Behörden werden sich bis zum Winter vertröstet haben, dann wird selbst dem Rothschild Ober- und Unterbett zu feucht und zu kühl geworden sein und ihn gezwungen haben, etwas tiefer, ins »Land der Menschen« herabzukommen, wofern er es nicht vorzog, kleine Kreisjagden auf seine kostbare Person arrangieren zu lassen. Aber kriegen werden sie ihn gewiss, den Rothschild, und einsperren werden sie ihn dann irgendwo in Passau oder in Regensburg. Es kann auch sein, dass die Rothschildkomödie tragisch enden wird oder schon geendet hat, wie jene mit dem Gesetzesverächter, die ich dir früher erzählte und die mit jenem Schuss oben am Gipfel des Lusen einen so traurigen Abschluss fand.
Ja, bedauere ihn, lieber Leser; das ist abermals ein derartiger Unglücklicher, den Verhältnisse und Leidenschaften in den Kampf mit der Gesellschaft getrieben haben. Er heißt wohl Rothschild, ist aber ein armer Teufel, der die Börse wohl kennt und dem das Steigen eines Birkhuhns tausendmal mehr Aufregung gebracht hat als das Steigen aller Aktien, Prioritäten und Renten der Welt. Die Gesellschaft ist verpflichtet, seine ihr nicht gerade nützlichen Passionen zu steuern und ihn unschädlich zu machen; sonst ist er aber vielleicht ein guter Kerl, der niemandem ein Leid täte; auch ist er gewiss an den mehrfach genannten Viehdiebstählen unbeteiligt, welche die Grenze so sehr in Aufregung versetzen und gewiss noch zu Gewalttaten Veranlassung geben werden, wenn kein Mittel gefunden wird, dem Unwesen ein Ende zu bereiten. Ist halt so ein Waldbayerntypus, der arme Teufel von einem Rothschild.
Gibt viele solche Typen. Weiter unten im bayerischen Land, an der Straße, die von Freyung nach Passau führt, steht unter hohen Buchen eine hübsche Kapelle, geweiht Unserer Lieben Frau von Daxberg. Da drinnen hängen eine Menge Wachspräparate ex voto, Arme, Hände, Füße, ganze Kinder, daneben Rosenkränze, Kreuzeln, Geldstücke, alles Mögliche, was fromme Leute der Heiligen Jungfrau zum Dank für wundertätige Heilungen und Errettungen aus Gefahren dargebracht haben. Vor Jahren unterhielt ich mich einst mit dem geistlichen Herrn des Ortes, dessen Namen ich vergessen habe, über die Leute, welche diese Gaben dargebracht. Er erzählte mir in seiner freundlichen Art viel Interessantes darüber, bemerkte aber auch, dass bisweilen Leute kommen, die ganz sonderbare Zumutungen an die Heilige Jungfrau stellen. Da kam auch einst ein junger Bursche und eröffnete dem Geistlichen, er habe in der vergangenen Nacht in einem benachbarten Dorfe gerauft und die Geschichte sei recht unglücklich ausgefallen. »I bin a gueta Kerl«, sagte er, »i konn koan Menschen nix nöt toa (tun); aber 's Bier mocht mi gach (jäh, jähzornig), und oftern (dann) muess i rafe (raufen); do hon i an Wirt-Luisl oans am Schädel g'haut, dass er hinwird. D' Schtantaren (Gendarmen) sand scho hinter mir drein, und eigspirrt wir' i, do gibt's koa Auskema nöt.« Er erzählte nun des langen und breiten den Hergang der Geschichte, berichtete, wie ihm die Sache am Gewissen nage und dass er bereits zehn Rosenkränze gebetet; zuletzt äußerte er, er mache sich anheischig, zwanzig Pfund Wachs zu opfern und ein schönes Kruzifix in der Kapelle aufhängen zu lassen, wenn sich die heilige Maria herbeilassen wollte, auf den Sinn der Richter dahin zu wirken, dass diese sein Verbrechen für schwere körperliche Verletzung und nicht für Totschlag erachten.
Wir aber brachen nach genommener Mahlzeit auf gegen Buchwald. Dem Herrn Professor muss ich nochmals mein Kompliment machen; er hat das harte Selchfleisch wacker vertragen, und sein Magen schien nicht im Mindesten davon belästigt zu sein. Ich war viel melancholischer gestimmt; der Schwarzberg, den ich noch in seiner vollen Urwaldherrlichkeit gesehen, gleicht dem Orjen an der montenegrinischen Grenze: seine Flanken sind kahl, das graue Gestein blickt düster hervor zwischen dem Himbeer- und Schwarzbeergestrüpp. »Ein Gutes hat uns der verhängnisvolle Sturm und die Borkenkäferkalamität gelehrt«, meinte der Herr Adjunkt, »unsere Vorgänger hieben den Wald von der Windseite an, wo die stärksten Bäume standen. Sie deckten mit ihren Riesenleibern die schwächeren Stämme, die in weichem feuchtem Boden wurzelten. Wären diese Windbrecher stehengeblieben, so hätte der Sturm keinen Ansatz gefunden; so aber warf er ganze Strecken nieder. Wir und unsere Nachfolger werden uns dies zur Warnung dienen lassen.«
Die Buchen um Buchwald herum sind zur Mythe geworden; ich sah nicht eine mehr. Aber – so erzählte man mir – in finsteren, regenfeuchten Nächten phosphoresziert das morsche Holz der alten Stöcke gleich Leuchtwürmerklumpen. Dann bekreuzen sich die nächtlichen Wanderer und denken an üble Zeichen und bösen Spuk.
Ach ja, ein übles Zeichen, das letzte Aufleuchten am Grabe einer Herrlichkeit, die dahin ist, wohl für ewige Zeiten.
Dreitausendsiebenhundert Fuß hoch über dem Meere hast du geschlafen; denn dass die Wände dünn sind und das Läuten der Kuhglocken aus dem Stall zu dir dringt, wird dich wohl nicht übermäßig im Schlafe gestört haben. Es klingt so traulich, das liebe Geläute, es erweckt in mir wenigstens stets so süße Erinnerungen an die Kindheit, dass ich es hier oben nicht gerne missen möchte. Klingkling – bimbam, geht's »klar und grob« durcheinander, wie lieber Stimmen Klang. Fast scheint es, als ob die guten Tiere durch das Medium der erzgegossenen Glocken miteinander sprechen. Versuche es nur und verwechsle die Glocken, und du wirst staunen, was du für eine Verwirrung angerichtet hast. Zuerst stehen die Tiere verdutzt da und blicken ganz ängstlich um sich; von einem ruhigen Grasen ist fortan keine Rede. Die Unruhe wächst immer mehr; angstvoll peitscht der Schweif die Flanken. Bald mischt sich Zorn in die Unruhe; die Tiere scheinen allen Ernstes ihre Genossen im Verdachte teuflischer Ränke und boshaften Diebstahls zu haben. Je nach ihrem individuellen Temperamente greifen sie den vermeintlichen Missetäter wütend an oder jagen in rasendem Laufe, gleichsam verzweifelnd über den Verlust der gewohnten metallenen Zunge, durch dick und dünn davon. Die sonst so friedliche Schar löst sich in eine Reihe Einzelkämpfer auf, die sich, ehe sie zu Tätlichkeiten übergehen, in förmlich homerischer Weise durch Gebrüll und Stampfen herausfordern.
Wo sind die Zeiten, wo ich einst als Knabe meine nun längst dahingeschiedene »Basel« durch oben erwähntes Stückchen, das ich in aller Unschuld und in der besten Meinung ausgeführt, in helle Verzweiflung brachte! Dieser Jammer des Hirten, dem sein Vieh unbotmäßig wurde und durchging, bis man endlich der Sache auf den Grund kam.
Klingkling, bimbam, die Satansfliegen geben keine Ruhe, und wie der Tag anfängt zu grauen, da muss alles hinaus, die Kühe aus dem Stall, die Menschen aus den Betten. Und es ist eigentlich gut so, wenigstens genießt man den ganzen lieben Tag.
Also fort, lieber Leser! Für heute führe ich dich ein wenig nach Bayern hinaus, nach Finsterau, nach Heinrichsbrunn, und wenn du noch nicht genug hast, bis nach Mauth oder nach Kreuzberg hinauf. Du magst hierbei den Unterschied betrachten zwischen der Art und Weise, wie sich das Gebirge nach Bayern zu und wie es sich auf der böhmischen Seite senkt und in flaches Land übergeht: hier sehr allmählich, langgestreckte Ebenen bildend, die bloß von einzelnen hohen Kuppen überragt werden, mit verhältnismäßig wenigen Tieftälern; dort in Bayern – schroff und plötzlich, in langen, parallel laufenden Höhenzügen, die durch tiefe, von brausenden Gewässern durchströmte, schmale Täler geteilt sind. Immer niedriger werden die Bergzüge, und ehe du es meinst, bist du im Donautiefland. Drum scheinen die Berge viel höher auf der bayerischen Seite, trotzdem sie es in Wirklichkeit, wenigstens ihrer absoluten Höhe nach, nicht sind. Milder weht die Luft von Westen her und begünstigt den Wuchs des Laubholzes. Dies ist auch der Grund, warum die Wälder drüben lange nicht so finster, so ungemein düster aussehen wie auf der böhmischen Seite, auf den Hochflächen von Pürstling, Außergefild, Ferchenhaid.
Was dir, lieber Leser, vor allem in den bayerischen Gehöften auffallen wird, das ist die Reinlichkeit und Nettigkeit, die einem von außen und von innen entgegenlacht. Massiv und oft roh genug gezimmert erscheint das hölzerne Haus, das flache Dach voll Steine – bayerische Schindelnägel nennen sie die grauen Gneisblöcke –, aber blank ist alles und sauber zusammengeputzt sogar die Düngerstätte. Im Innern herrscht gleichfalls eine Sauberkeit, die wir – ich muss es schon offen heraussagen – auf unserer Seite des Gebirges vergeblich suchen würden.
Diese minutiöse Reinlichkeit fällt umso mehr auf, als sonst die Waldbayern nichts weniger als feine Manieren haben und bei all ihrer natürlichen Gutmütigkeit gar oft, besonders wenn sie in Affekt geraten, Züge wirklicher Rohheit an den Tag legen. Wenn schon unser Gebirgsbauer wenig von »Europas übertünchter Höflichkeit« kennt, so gilt dies von dem bayerischen Waldbauer in noch erhöhtem Maße: soviel glänzend weiße Tünche das Mauerwerk seines Hauses aufweist, so wenig »getüncht« ist seine Ausdrucksweise, sein Auftreten und so weiter. Sogar für unsere Gebirgsbewohner gilt der Bayer als Inbegriff aller Grobheit. Doch gilt dies natürlich nur in Bezug auf die Art und Weise, wie er sich äußerlich präsentiert; lernt man die Leute näher kennen, so wird man finden, dass sie fast ausnahmslos biederen Sinnes, gutmütig und fromm, gastlich und, wenn ungereizt, sogar weichherzig sind.
Freilich, bei den zahlreichen Sonntagsraufereien, in denen der unbändige Trotz seiner Natur, der überquellende Übermut seines sehr aktiv beanlagten Wesens zum Durchbruch kommt, wird er oft zur wahrhaften Bestie. Es gibt Dörfer, wo sich die Burschen den Nagel am Daumen lang wachsen lassen, wo sie ihn durch verschiedene Mittel härten, um gegebenenfalls dem Gegner das Auge auszustoßen! Was mich betrifft, der ich, ich kann's wohl sagen, dreißigmal und zu jeder Jahreszeit den Weg zwischen Buchwald und Freyung zurückgelegt habe, der ich jedes Wirtshaus, jedes Brauhaus bis nach Passau hinein kenne und stets mit den Leuten verkehrte, ich kann nichts Schlechtes über sie sagen. Ich erinnere mich noch, wie ich einst im März in Begleitung eines Kollegen – ich studierte damals an der Universität zu Wien – von Passau aus zu Fuß über das Gebirge meiner Heimat zuwanderte. Ungeheuere Schneemassen bedeckten das Gebirge, und bei jedem Schritt sanken wir tief in die bereits weich werdende Masse ein, und der Weg wurde uns recht sauer, zumal wir jeder einen ziemlich umfangreichen Pack auf unseren Rücken trugen. Wir schritten so schier verzagend der hochgelegenen Straße entlang und befanden uns gerade auf dem Gebirgskamm zwischen Mauth und Zwölfhäusern, wo links in tiefer Schlucht das Reschwasser, rechts fast noch tiefer der Teufelsbach rauscht und sprachen dar über, wie wir heute noch Buchwald erreichen könnten, als rasche Schritte sich hinter uns hören ließen.
Ein junger Mann in schwarzem Janker und dito ledernen Beinkleidern holte uns ein. Bei unserem Anblick blieb er verwundert stehen.
»Wos hats denn ös für oa?« fragte er. »Hats a recht ormselige Schuesta!« (Was seid denn ihr für »welche«, seid auch recht armselige Schuster!)
Wir gaben ihm Auskunft. Der Mann stellte sich uns quer in den Weg; es war eine wahre Hünengestalt, breitschultrig und hoch, ein wahrer Typus trotziger Manneskraft.
»Ihr armen Schlucker«, sprach er in herzlichem Tone, natürlich im urwüchsigsten Hinterwäldlerdialekt, »gebt her eure Ranzen! Ihr habt euch müde genug geschleppt. Ich gehe zwar eigentlich nur nach Heinrichsbrunn, aber ich will sie euch bis Buchwald tragen.«
Graue Schwaden wälzten sich herüber von Steinberg und erfüllten bald das tiefe Tal des Reschwassers; regenschwer und finster umzog sich's im Westen, und bis Buchwald war's gut 15 Kilometer weit.
Wir erkannten die Größe der uns angetragenen Gefälligkeit und machten den Versuch, sie dankend abzuweisen. Wir wären beinahe schlecht angefahren.
»Was? Ös mochts Faxen?« klang es beinahe drohend. »Man sieht euch doch die Müdigkeit an! Nur her mit den Ranzen; mir is das ein »Kindergspül« – ös Sakra ös!«
Und fort ging's, bergauf, bergab, die unendliche Straße entlang, durch tiefe Wehen, durch den breiartig aufgeweichten Schnee, denn ein feiner Regen rieselte herab.
Ich gestehe, wir hatten alle Ursache, dem Manne dankbar zu sein, denn ohne seine Hilfe wären wir wohl unterwegs liegengeblieben. Dabei erzählte er uns ohne Unterlass bald von seinen zwei Buben und seiner alten Mutter drüben aus Schönbrunn, wobei seine Stimme butterweich wurde, bald wieder von seinen Heldentaten in diversen Wirtshäusern und den kaiserlichen Finanzern gegenüber. Die breitepische Rezitation dieser Tathandlungen war häufig von dramatischen Interjektionen etwa folgenden Inhaltes unterbrochen:
»Glaubts dös eppa nöt? Ös böhmischen Sakra!« oder: »Da gibts nix dreinz'reden! Wer dös nöt glaubt, den schmeiß um Treard (die Erde), dass eam Buina (die Gebeine) krachen!«
Wir befanden uns damals in einer Lage, die uns, abgesehen von den Gefühlen der Dankbarkeit, welche uns beseelten, absolut von jedem Unglauben bewahrte. Wir hätten damals alles geglaubt, auch wenn er uns erzählt hätte, dass er den Lusen, dessen Haupt zeitweise aus dem Nebel heraustrat, von Passau an seinen jetzigen Standort versetzt habe; so glaubensfest machen zuweilen die Umstände den Menschen.
In Heinrichsbrunn machten wir eine kurze Rast. Wir erfuhren dort, dass unser Retter gerade an dem Platz, wo wir saßen, zwei »Böhm« um »Treard g'haut« hatte. Im anderen Wirtshause hatte er »die ganze Wirtsstube, den Wirt mit, außig'feuert«. Das Bier war fast tintenschwarz und roch nach verbranntem Malz; nichtsdestoweniger rühmte es unser Mann und trank schnell vier Glas aus, ehe wir das eine nur mit Schauder hinuntergewürgt. Wir waren indessen so glaubensstark, dass wir in seine Lobpreisungen wacker einstimmten. Nachdem er das vierte Glas geleert, stand er auf und sprach: »Jetzt kimmt's! Wonn i mehr saff, wir i hitzi und gach!« Da wir keine Lust hatten, uns persönlich davon zu überzeugen, welchen Anblick er, »hitzi und gach« geworden, geboten hätte, so stimmten wir bei und folgten ihm.
In Finsterau wurde abermals kurz gerastet; auch hier sollten wir manche Heldentat erfahren, manches Schlachtfeld näher in Augenschein nehmen. In einem der Gasthäuser hatte er alles »verdemelliert« (demoliert) – kein Stuhl war ganz geblieben.
Als wir bereits spät am Abend am Zollschranken von Buchwald anlangten, fiel es uns auf, dass die Finanzer uns eigentümlich anzwinkerten. Unser Gepäck wurde einer ungemein gründlichen Revision unterzogen, wie nie zuvor.
»No jo, sucht's nur, ös Brisilschnüffler, ös dalkerten!« höhnte der Bayer. »Wenn ich etwas schwärzen wollte, ich käme euch just zu eurem Schranken her!«
Dann wandte er sich zu uns: »B'hüet Eng Gott, und wonn's amol af Schönbrunn kimmt's, suecht's mi ham!« (Behüte euch Gott, und wenn ihr einmal nach Schönbrunn kommet, suchet mich heim!) Unsere Dankesbezeugungen wies er mit den Worten ab: »Bin i leit koa Christ?« (Bin ich etwa kein Christ?)
Die Grenzaufseher sowie die Wirtsleute, denen wir von unserem Begleiter erzählten, schlugen vor Verwunderung die Hände zusammen, und wir erfuhren, dass der großmütige Helfer in unserer Not der berüchtigteste Schwärzer, Wilddieb und Raufer im ganzen Wald gewesen sei.
Ein anderes Mal machte ich mit einem anderen Studiengenossen, einem Mediziner, denselben Weg; das war aber im Sommer, und zwar an einem Sonntage.
Wir kamen nach Kreuzberg, gerade als man zur Vesper läutete.
Wir waren müde und der Platz einladend; so beschlossen wir denn, bis zum nächsten Tage hierzubleiben; hatten wir doch von Passau her einen Weg von neun Stunden zurückgelegt.
Gegen Abend setzte sich ein bereits ältlicher Herr an unseren Tisch, und bald war ein Gespräch im Gange. Wir erfuhren, dass dies der Herr Bezirkschirurgus von G. sei. Das war Wasser auf die Mühle meines Freundes. Die beiden vertieften sich in ein Gespräch über die neuesten Fortschritte der Chirurgie, und bald widerhallte der ziemlich geräumige Saal von Worten wie Trepanation, Resektion, Amputation und dergleichen, und »interessante Fälle« wurden mit allen grausigen Details in immer neuer Fülle förmlich auf den Tisch gebracht, so dass die übrige Gesellschaft bald stumm wurde und lautlos den halbverstandenen Schauermären zuhorchte, in deren Erzählung die beiden sich überboten.
Neben mir saß der Lehrer. Er wurde nicht müde, mich zu versichern, was für ein grundgescheiter Mann der.Chirurgus sei; reine Wunderdinge habe er bereits vollbracht.
»Der junge Herr ist offenbar auch ein geschickter Doktor«, meinte der Kreuzberger Pädagog, »aber mehr dialektisch; der Chirurgus ist aber »praktisch«.
Die Folge zeigte, dass der Lehrer »theoretisch« sagen wollte. Indessen hatte sich der Chirurgus zu einer förmlichen Rede aufgerafft. Ohne auf das zahlreiche Bauernauditorium Rücksicht zu nehmen, sprach er etwa also: »Sie würden gar nicht glauben, lieber Herr Collega, was für ein Fell diese Kerle haben. Wird letzthin einer zusammengestochen bei einer Musik: rechter Lungenflügel durch, Zwerchfell durch, und tief in die Leber geht der Stich. Geht noch tausend Schritte weiter, der Kerl, trotz Pneumothorax traumatiens – unbegreiflich! Ich werde gerufen, sehe die Bescherung und sage: Hilft nichts mehr, den Pfarrer holen! Versuche indessen noch mein Möglichstes. Und was denken Sie, lieber Herr Collega? Aufgekommen ist die Kanaille, gesund ist sie geworden, wie ich und Sie. Das können die Leute hier bestätigen ...«
»Eh, eh, is richti nöt hin word'n, der Sakra«, ging's im Kreis herum.
»Ach, hat schon wieder gerauft, der Hund, seit dieser Zeit«, fuhr der Chirurgus fort, »ist wegen körperlicher Beschädigung schon wieder verurteilt worden, drunten im Landgericht von Grafenau.
»Recht hobt's, Boder; ogstroft is er word'n«, bestätigte der Chorus.
»Sie hätten ihn damals hören sollen, Herr Collega«, ging die Rede weiter, was der Lump, der mich sonst einfach Bader her, Bader hin per du anredete, für Titel erfand, als es sich darum handelte, ihm ein Zeugnis auszustellen, dass seine Verletzungen schwer und lebensgefährlich gewesen seien, damit sein Gegner recht eingetaucht werde. Da war ich plötzlich: »Ös, Ew. Hochgestreng! Ew. Gnaden! Exzellenz, Herr Bezirkschirurg!«
Dann überging der Chirurgus auf einen anderen Gegenstand und sprach, seine Bauernpraxis kommentierend: »Glauben Sie denn, so ein Lümmel würde eine farb- und geschmacklose Tinktur für wirksam halten? Gottbewahre! Je missfarbiger das Zeug aussieht, je schauderhafter es schmeckt, desto mehr Vertrauen erweckt es in seiner simpelhaften Seele! »Dös soll helfen?« sagte er, »dös is jo süß! – Aber das is a Medrizin! Dös zerreißt am (einem) grod 's Gedarm!« – Da sollten Sie mal sehen, was Salmiakgeist für ein Arkanum ist! Ich gebe dem Kerl irgendeine Medizin und lasse ihn gleichzeitig zu Salmiakgeist riechen, bis er halb erstickt ist. Er ist dann überzeugt, dass die stinkende »Medrizin« geholfen hat. Täte ich es nicht, so liefe er zu allen alten Weibern, Schindern und Kurpfuschern, opferte allen Heiligen Kerzeln und Wachsfiguren, bis er zugrunde ginge. – Da haut sich einer in den Fuß; würde ich die Wunde einfach zunähen und sagen, er möge weiter nichts tun als dieselbe reinigen, so würde ich damit gar nichts erreichen. Der Kujon und seine Sippschaft würde pfundweise Hirschinselt, Hasenschmalz, Dachsfett und was sonst noch aufzutreiben wissen und schmieren, schmieren – sage ich Ihnen – bis die Wunde durch das ranzige Fett brandig würde. Ich aber reibe ihn oberhalb der Wunde mit Asa foctida ein und lasse noch ein Stückchen davon auf die glühende Ofenplatte fallen, so dass das ganze Haus stinkt wie die infernalische Pest. Dann ist er zufrieden und patzt und kuriert nicht selbst herum.
»Ja, ja, dialektisch sein ist nicht genug«, meinte der Lehrer, »praktisch sein ist die Hauptsache!«
Lange noch unterhielten sich die beiden Äskulape, bis der Chirurgus endlich aufbrach und das Rollen des Steiererwagels seine Abfahrt verkündete.
In der Nacht wurde mein lieber Freund plötzlich krank. Was ich damals für eine Angst ausstand, in dieser Einöde mit ihm zurückbleiben zu müssen, vermag ich niemandem zu beschreiben. Bis er diese Zeilen liest, wird er sich daran erinnern, wie die Wirtin wohl einen Zentner Federbetten über ihn warf, um ihn in Schweiß zu bringen. Die Kur hatte die gewünschte Wirkung; am nächsten Morgen fanden wir uns frisch und munter wieder unterwegs. Bald schimmerte uns von rechts das traute Kirchlein von Fürstenhut entgegen, von drüben her über dem Teufelswasser, und am Abend saßen wir beim Blechinger in Buchwald.