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Erstes Kapitel

Allgemeines – Eisenstein – Hartmanitz – Stubenbach und die Renommisten – Eine Wilderergeschichte

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Wenn ich dich zuerst nach Eisenstein führe, lieber Leser, so folge ich einer eingewurzelten Gepflogenheit: ich muss dich an dem einzigen Punkte absetzen, wo die Bahn das Herz unseres Waldgebirges berührt. Und, bei Gott, er ist schön, dieser Punkt! Sowie der eilende Zug das Angeltal verlässt, bist du mitten drinnen zwischen den hohen, düsteren Berghäuptern; grünende Matten laden dich ein, zerstreute Hütten in mannigfaltigen Gruppierungen künden dir eine neue Welt und neue Verhältnisse. Du siehst rechter Hand den zerrissenen Grat des Osser, des Beherrschers dieser Regionen: du hast ihn und den größten der Riesen des Böhmerwaldgebirges eigentlich schon viel früher gesehen, schon im mittleren Angeltal, wo das Volk sie gut kennt und häufig seine Blicke ihren oft in Wolken gehüllten Gipfeln zuwendet. Das Volk nennt sie poetisch: Prsa matky Boži – Brust der Mutter Gottes.

In Eisenstein also setze ich dich ab, nachdem du lange Minuten durch die Eingeweide des ehrwürdigen Spitzberges gefahren.

Aber lange bleibe ich nicht. Meine Fahrten haben großenteils einen retrospektiven Charakter, und hier gibt es nur wenig mehr, was an die vergangenen Zeiten erinnert – ein totaler Umschwung aller Verhältnisse.

Ich bitte mich recht zu verstehen. Es ist schön hier, unvergleichlich schön. Die Menschen vermochten der Natur ihren ewigen Reiz nicht zu rauben – aber das Typische des Böhmerwaldes, seine erhabene, heilige Ruhe, die Poesie seiner rauschenden Fichtenwälder, ach, es ist von hier verschwunden auf immer!

Du wirst in Eisenstein und am Spitzberg Komfort finden, lieber Leser – allerdings einen verhältnismäßigen Komfort, denn ein Touristenland wie die Schweiz und das Salzkammergut ist der Böhmerwald nicht. Aber es wird dir an nichts fehlen, wenn du nur einigermaßen bescheiden bist. Gelüstet es dich nach diesem Komfort, willst du ihn in keiner Weise missen, vermagst du den Umgang mit Menschen deiner Sphäre nicht zu entbehren, so bleibe getrost hier, es wird dir hier gefallen, die Spaziergänge und auch die weiteren Touren werden dir Abwechslung genug bieten. Grüße mir den Teufelssee, an dessen ewig melancholischen Gestaden ich in meiner Jugend so oft geweilt in träumerischen Gedanken, in Zeiten, wo der Wald noch ohne Pfad war, wo das Holz am Boden faulte und der schrille Schrei eines Raubvogels, das Hämmern eines einsamen Spechtes allein die hehre Stille unterbrach. – Pilgere zum Schwarzen See und zur Seewand und bade deine Blicke in der dunklen sagenreichen Flut. Besteige den hohen Arber und den Osser – die Pfade sind bequem, du findest allenthalben Wegweiser, du bist nicht aus der Welt, denn Schritt für Schritt begegnest du lachenden Gesellschaften, fröhlichen Herren und hübschen Damen.

Eine Literatur besteht heute über Eisenstein und Umgebung, eine Literatur, allen Dankes wert, und es hieße dem Schwarzen See in Gießkannen Wasser zutragen, wollte ich sie vermehren.

Wir müssen klaren Pakt miteinander machen, lieber Leser. Wir sind vielleicht verschieden in unserer Anschauung der Natur, der Dinge und der Menschen. Wir sind verschieden und haben doch beide recht. Wir sehen beide die reale Welt vor uns, wie sie steht und lebt, aber wir betrachten sie durch Gläser, gefärbt durch unser verschiedenes Temperament und unsere individuelle Natur und Veranlagung.

Eines vielleicht habe ich voraus vor dir. Ich bin ein Kind dieser Berge, ein Sohn dieses Volkes; ich habe in seiner Mitte meine goldene Jugend verlebt, ich habe mich mit ihm gefreut und mit ihm gelitten, ich kenne den Schlag seines Herzens und den Pulsschlag der Natur, die, wenn auch rau und unwirtlich, mir doch eine liebende Mutter gewesen ist, die man um so teurer hält, je ärmlicher sie ist.

Mir geht es in Eisenstein immer wie einem alten Mann, den ich da kenne. Wir vermögen das neue Leben und Treiben mit dem, was früher war, nicht zusammenzureimen. Wir sagen uns: es ist schön hier, aber kein Böhmerwald. Es sind gewiss auch liebe, gute Menschen aus der Fremde hierhergekommen, aber unsere Typen sind gegangen. Sie ruhen unter der Hand des Allerbarmers in stillem Schlaf, oder sie haben sich den neuen Verhältnissen angepasst. Die es nicht vermochten, blicken scheu und stier auf all das Neue; sie können es nicht begreifen, es ist ihnen, als schwanke der heimische Boden unter ihren Füßen.

Wir denken nicht anders, als dass der alte Kirchturm mit uns die gleichen Ideen hat, denn er scheint Gehirn zu haben in seiner Mohnkopfkuppel. Sie muss sich von den neuen Menschen ähnliche Gedanken machen wie wir von den modernen Fichten- und Tannenbeständen, die sie »Wald« nennen; uns scheint das eine Blasphemie.

Die wenigen hohen Bäume, die man geflissentlich hier stehenließ als Schaustücke aus einer vergangenen, auf Nimmerwiedersehen entschwundenen Zeit, sie schütteln bedächtig und traurig ihre dunkelgrünen Äste, als gedächten sie der Hekatomben ihrer gemordeten Brüder und Genossen.

Wer Eisenstein vor 20 Jahren gesehen, der wird sich vielleicht wundern über den Fortschritt; wer hier am Busen der Natur gelebt, der wird sich eines tief wehmütigen Gefühls nicht erwehren können.

Du besteigst auf bequemem Pfad das graue Haupt des hohen Arbers und die vielzackige Krone des Ossers; du segnest vielleicht im Geist die wohlwollenden Hände, welche diese Pfade geebnet haben durch dichtes Gestrüpp, durch zersetzende Nässe und über hartes, zerklüftetes Gestein. Ich gebe dir vollkommen recht, aber, siehst du, ich zöge es vor, wenn es noch so wäre wie sonst …

Und dann noch etwas: die Neuzeit nivelliert. Die Reisenden haben es jetzt bequem, und man braucht seiner Liebe zur Natur keine Opfer mehr zu bringen: die gefällige Maschine enthebt uns aller Unbequemlichkeit und setzt uns mitten hinein in die Freistätten der Natur. Freistätten? Sie haben vielfach aufgehört, es zu sein, seit sie so leicht zugänglich sind. Die Maschine fragt nicht, sie bringt gleichgültig die sonderbarsten Kostgänger des Herrn, die uns den Genuss verleiden; sie bilden eine sonderbare Staffage der Gegend. Nicht einmal die hallenden Schläge der Axt hörst du mehr, denn sie haben schon alles umgehauen, die praktischen Menschen, was einst dastand; dafür kannst du unter Glockengeläute des gewissermaßen nur mehr als künstlerische Staffage dienenden Weideviehes folgende Gespräche belauschen.

»Woher beziehen Sie den Moschus?« – »Was heißt beziehen, erzeugen ihn selber.« – »Kennen Sie G. H. Schwarzstein in Podebrad? Ist er gut?« – »Für 10 000 fl. ist er immer gut; wollen Sie ihm mehr kreditieren, so ist das Ihre Sache, ich tu's nicht.« – »Papa, das ist der Urwald, nicht wahr?« fragt ein bleichsüchtiger Backfisch einen gelbsüchtigen Herrn, auf dem der Aktenstaub noch zu liegen scheint, der wie grauer Novemberreif seinen borstigen Schnauzbart überzieht. »Ja, mein Kind, das ist der Urwald«, sagt zerstreut der Papa und denkt der Akten, deren nimmer endender Stoß sich während seines achttägigen Urlaubes zu doppelter Höhe aufgetürmt haben wird. »Ja, das ist der Urwald«, bestätigt der Fremdenführer, ein etwa fünfzehnjähriger Bursche in veritablen Stiefeln, der schon solche Fortschritte in der Zivilisation gemacht hat, dass er mit innerer Beschämung der Zeiten gedenkt, wo er die ersten drei Finger seiner Rechten als Schnupftuch verwendete, wogegen jetzt der Rockärmel zu dieser wichtigen Funktion avanciert ist: Der »Urwald« aber besteht aus einem kaum zehnjährigen Bestand, der kümmerlich fortvegetiert, weil ihm alljährlich der Frost die Triebe wegbrennt und die Aufforstung im Böhmerwalde ohne den Schutz höherer Bäume nur mühsam vonstattengeht.

Doch welche Klänge erschallen andächtig und hehr an dein Ohr? Du bist eine Stunde lang über kahles Gestein dahin gewandelt, welches dich lebhaft an die gesegneten Fluren des Karstes erinnert; nur die sich überall zwischen dem grauen Gestein durchschlingenden, sich verfilzenden weißen Baumwurzeln erzählen dir eine traurige Märe von entschwundenen Zeiten. Da erhebt sich an der Krümmung des Weges knorrig und zum Teil rindenlos eine einsame Knieföhre. Ein einfaches Marterbild hängt daran, denn hier hat vor Jahren ein wütender Stier den Hirten zu Tode gestoßen. Vier Herren stehen hier und zwei Damen. Sie blicken den Baum andächtig an, der sie an Größe kaum überragt, und hinunter ins Tal tönt die Weise:

»Wer hat dich, du schöner Wald,
aufgebaut so hoch da droben.«

Du nahst, und einer der Herren unterbricht das schöne Lied, grüßt dich höflich und sagt: »Erlauben

Sie mal, mein guter Härr, gäht da der Wäg nach Eisenstein? Würden wir keinen Sumpf zu passieren haben?«

Noch ehe du ihm antworten kannst, wirft er einen zufriedenen Blick auf seine wasserdichten Stiefletten und seine ledernen Gamaschen, und nachdem du ihm die gewünschte Aufklärung gegeben, zieht er wieder höflich den Hut, und das Lied wird fortgesetzt.

Was soll man dann für Gedanken haben am Schwarzen See? Man wäre geneigt zu glauben, dass die schöne Nixe ohne Fischschweif, die ihn der Sage nach zu ihrem Wohnsitz auserkoren und die sich den Menschen nicht mehr zeigt, seit sie wegen einer unglücklichen Liebe der Welt grollt, gelockt durch die Neuheit der Erscheinungen, empor tauchen werde aus ihrem Kristallpalast tief unten in der schwarzen Flut, um bei dem erwähnten Moschuserzeuger ihren Bedarf an Moschus, Patschuli und Opopanax zu decken. Die holde Blonde schafft sich dann wohl auch eine moderne Tournüre an, die zu ihrer Erscheinung passen wird wie die Kieselwege zum Arber.

Brechen wir auf gegen Süden. Eine Wasserscheide, dann eine weite melancholische Hochebene voll mooriger Gründe, von zahlreichen Bächen durchflossen. Wir sind auf dem Plateau von Hurkental. Im Sommer gehen hier schauerliche Gewitter nieder; die vom Blitz zerschlissenen Telegraphenstangen längs der Bezirksstraße geben Kunde von diesen Kämpfen der Elemente. Im Winter aber fegen die Stürme darüber weg, und die grauen Schwaden gefrieren zu stechenden Eisnadeln. Ungeheure Schneemassen schüttet der Himmel herab, die liegenbleiben bis spät in den Mai hinein.

Die Schlote der Spiegelgießereien der »böhmischen Hütte« rauchen wie vor Dezennien, ich deut es nicht anders. Vor fünfzig Jahren rauchten sie geradeso, und damals war hier eine bessere, gemütlichere Zeit. Meine Blicke wenden sich nach rechts und gewahren das Kirchlein hoch oben am Berg über einer freien blumigen Lehne und die hohe Gruftkapelle daneben. Darin ruhen, in sonniger, luftiger Höhe, die Gebeine derer, die einst der Industrie hier Bahn brachen und zum Segen der ganzen Gegend wurden.

Es ist die Gruft der Familie Abele, und wer diese ausgezeichneten Menschen gekannt hat, wird ihrer voll Liebe, Pietät und Wehmut gedenken, wie ich es hier tue.

Das war ein Leben zur Zeit der Abele! Der alte, freundliche Pfarrer, der uns auf Verlangen die Gruft öffnet, wird davon zu erzählen wissen. Die herrschten hier wie Fürsten, aber es war ein lebensfroher Hof, voll lieblicher Feste, gastlich für jeden, der, wes Landes er sein mochte, die geräumige Flur des Herrenhauses betrat. Weilte doch selbst Erzherzog Stephan längere Zeit hier und war hier glücklich unter den glücklichen Menschen. Da kam das Verhängnis, und der Glanz der Familie Abele erlosch: ihre Epigonen sind verschwunden und wurden zerstreut nach allen Richtungen der Windrose.

Hinter Hurkental teilt sich die Straße; die linke Abzweigung führt nach Hartmanitz, rechts geht es nach Stubenbach.

Was sollen wir in ersterer Stadt tun? Die Gegend bietet nichts Besonderes, und von Merkwürdigkeiten wüsste ich nichts zu berichten, außer dass sich hier eine Art Preiselbeerbörse etabliert hat, die, wie jedes Verkehrsinstitut, ihre Schwankungen hat. Die entholzten Höhen und Lehnen der Umgebung bringen unglaubliche Mengen dieser säuerlichen Frucht hervor, und aus ziemlicher Ferne noch bringt man sie hierher, massenhaft, Fuhr auf Fuhr. Je nach Angebot und Vorrat steigen und sinken die Preise oft mit erstaunlicher Schnelligkeit. Die Abnehmer kommen aus vieler Herren Ländern; soweit ich unterrichtet bin, stellt Sachsen das Hauptkontingent.

In neuester Zeit verblasst übrigens auch diese Spezialität der Stadt Hartmanitz, und auch an anderen Orten entstehen Börsen, besonders seit Schüttenhofen durch die Transversalbahn in den Weltverkehr mit einbezogen wurde.

Ob wohl das Kasino der Gutsbesitzer der Schüttenhofener Umgebung noch in Hartmanitz existiert? In meiner Jugendzeit ging es hier hoch und lustig her; doch das Schicksal und die neuen Verhältnisse haben grausame Lücken in diese Gesellschaft gerissen. Ein trauriges Kapitel!

Du aber, lieber Leser, lass Hartmanitz links liegen und folge mir nach Stubenbach und von da dann weiter. Zuerst musst du einen wasserreichen Bach überschreiten, der sich aus den zahlreichen Gewässern bildet, welche die moosige Hochfläche von Hurkental entstehen lässt, und den Abflüssen einiger Seen. Es ist der Kieslinger, einer der beiden Quellflüsse der Wotawa; braun sind seine Wasser, wie die aller Böhmerwaldflüsse, aber klar und rein. In ihn steigen die fast mythisch gewordenen Lachse empor; ob sie wohl wieder kommen werden wie früher? Wenn dies ja geschieht, so ist es das Verdienst des Herrn Marcuzzi in Schüttenhofen, der die bedeutendste künstliche Fisch- und speziell Lachszucht in ganz Böhmen betreibt.

Mit dem Stand der Edelfische hat es hier überhaupt seine Schwierigkeiten. Die Holzflößerei ruiniert die Brut, die Bauern fischen am meisten zur Laichzeit, weil da die Fische am leichtesten zu fangen sind, und das Fischereigesetz hat gute Wege. Sie schwinden hin, die rotgetupften, munteren Bewohner der Gebirgsbäche, mit den Wäldern des Gebirges, und wenn die Wälder ausgehauen sein werden, wird auch die letzte Forelle verschwinden. Vor 15 bis 20 Jahren kosteten die Forellen 2 kr. per Stück, heuer bekommt man sie in Eisenstein kaum um 50 kr.

Doch weiter fort unseres Weges. Abwechslungsreich läuft er fort im Tal und über sanfte Höhen, zwischen grünen Wiesen und dunklen Fichtenwäldern, lauter jungen Beständen; Hochwald bekommst du keinen zu Gesicht, geschweige denn Urwald. In etwa zwei Stunden bist du in Stubenbach. Hier lass es dir wohl ergehen, denn du bist an der Grenze der zivilisierten Welt angelangt. Ja, Stubenbach ist ein zivilisierter Ort, zwar ohne Sommerfrischler, aber du findest vorzügliche Gasthöfe, und wenn du das Glück hast, mit dem Herrn Oberförster Lenk bekannt zu werden, so bist du beneidenswert. Ich habe selten ein gastlicheres, gemütlicheres Haus gefunden und eine freundlichere, liebenswürdigere Hausfrau.

Hast du Glück, so kann es sich ereignen, dass du den Abend im Theater zubringst. Ob dich aber die lustigen Stücke freudig stimmen werden, muss ich dahingestellt lassen. Mich stimmte die Vorstellung und das, was ich danach sah und hörte, traurig, recht traurig. Im Tanzsaal eines Gasthauses war die Bühne errichtet, und lange Bretterbänke harrten des Publikums. Es ging recht gemütlich zu in diesem Parterre; die Herren rauchten, ließen sich ihr Bier in den Saal tragen und neben sich auf die Sitzbank stellen. Der Vorhang ging auf; ein junges Mädchen trat auf die Bühne. Das Stück sollte lustig sein, und die gemalten Rosen auf den Wangen sahen so traurig aus und vermochten die Furchen des Grames und der Not nicht zu verdecken, die in dieses jugendliche Antlitz gegraben waren. Der Direktor und zugleich Vater der jungen Schauspielerin gab den Liebhaber. Seine Truppe bestand aus seiner Frau, zwei Töchtern, einem Sohne und zwei ferneren Mitgliedern. Wenn es gut ging, nahmen sie 2-3 Gulden ein, gewöhnlich 50 kr. bis einen Gulden; gleich nach der Vorstellung teilten sie.

Als ich am Morgen nach der Vorstellung die Kirche besuchte, sah ich dort die Heldin von gestern; sie stellte einen Strauß von ihr verfertigter künstlicher Blumen auf den Altar und verließ still das Gotteshaus. Ob der Allbarmherzige die Tränen gezählt hat, die auf die roten und weißen Rosen gefallen waren?

In Stubenbach lebt alles mittelbar oder unmittelbar vom Fürsten Schwarzenberg; so weit dein Auge reichen mag, lieber Leser, gehören ihm die Wälder; die Brettsägen und die Holzschwemmen sind gleichfalls sein Eigentum. Auf Schwarzenbergischem Grund liegt auch der schöne See in stiller Waldeinsamkeit, dessen Besuch ich dir empfehle. Er ist schon seit längerer Zeit mit Schleusen versehen, und wenn ihn im Frühjahr die Hunderte von Wasseradern, die von den Bergen und aus den höher liegenden Mooren ihm zuströmen, bis an den Rand mit Wasser füllen, dann werden die Schleusen geöffnet, und die braune, brausende Flut erfüllt den ihm entströmenden Seebach und treibt ungeheure Scheitholzmassen dem Kieslinger zu, der sie der Wotawa überantwortet.

Einst war ich im Winter hier, schon vor vielen Jahren. Ungeheure Schneemassen lagen auf den Bergen und brachen fast die Äste der alten Fichten. Damals war's noch viel wilder hier, und die hohen Bäume standen dicht gedrängt da, nicht einzeln, wie jetzt. In Begleitung eines alten Hegers war ich hinausgegangen in den Wald, um einige »Kwitscholen« – so nennen sie hier die Krammetsvögel oder Wacholderdrosseln – zu erbeuten. Wir waren glücklich gewesen und kehrten eben mit wohlgefüllten Weidtaschen heim. Ein eigentümlich fahler Nebel hatte sich über Wald und Tal gesenkt, und in glitzernden Nadeln hing sich die gefrorene Feuchtigkeit auf die Zweige der Bäume, die Haare des Lodenrockes meines Begleiters, auf unsere Schnurrbärte und alle Gegenstände. Es war totenstill um uns herum; der Böhmerwald hat ohnehin verhältnismäßig wenig Vögel, und auch im Sommer singt und trällert es weniger in Wald und Busch als drunten im flachen Land; im Winter jedoch, besonders gegen Abend, wird die Stille geradezu unheimlich. Da ertönte plötzlich ein leiser, flötender Gesang, dann noch einer ganz nahe und schneller, als ich es zu schreiben vermag, zehn- und hundertstimmig in die kalte Winterluft hinein.

»Was ist das?« wandte ich mich verwundert an den grauen Waldmann.

Dieser stand regungslos da, und all sein Blut war aus dem wettergebräunten Gesichte gewichen. »Gott sei uns gnädig, Herr«, sprach er endlich leise und deutete nach einer hohen Fichte, »sehen Sie dahin: da sitzen die Pestvögel, das ist nichts Gutes.« Ich blickte nach der bezeichneten Richtung hin, richtig, da saßen sie, dichtgedrängt auf allen Zweigen, fast purpurn hob sich's ab vom blendenden Schnee. Ich erkannte die Vögel auf den ersten Blick an der Farbe und dem immerwährenden nickenden Schopf, denn ich hatte sie schon ausgestopft gesehen. »Pestvögel?« fragte ich verwundert. »Das sind ja Seidenschwänze.« – »Nennen Sie sie, wie Sie wollen. Herr, das sind Pestvögel; dieses Jahr wird unglücklich für uns ausfallen.«

Ich wusste von den schönen nordischen Gästen so viel, dass sie nur in manchen Wintern in unsere Gegenden kommen; mitunter vergeht eine lange Reihe von Jahren, ehe man ihrer wieder ansichtig wird. Kommen sie aber, so erscheinen sie in zahllosen Scharen. Dies seltene Erscheinen der Vögel, das besonders in strengen Wintern beobachtet wurde, hat sicher die Aufmerksamkeit der Landbewohner auf sich gelenkt; was aber oben im höheren Gebirg in schneereichem Winter zuweilen geschieht, davon will ich ein andermal sprechen. – »Schießen Sie nicht, Herr!« flehte der Alte, als ich anlegte. Schießen Sie nicht; aus dem Blute der erschossenen Vögel entsteht die Pest; es ist schon schlimm genug, dass sie da sind.«

Ich tat dem Alten zu Willen, und wir setzten unseren Heimweg fort. Ein ziemlich starker Wind erhob sich und schüttete den Schnee herab auf uns, und die alten Fichten knarrten und stöhnten ein trauriges Lied. Der Alte sprach kein Wort mehr, und mich fröstelte, trotzdem ich vom raschen Gang erhitzt war. Die Dämmerung sank herab über den hohen Bergrücken im Westen, und leise klang das Angelus herüber aus Stubenbach.

Als im Frühjahre die Holzschwemme losging, gab's ein Unglück; ein Mann verlor beim Abstoßen der Scheiter das Gleichgewicht und stürzte in die brodelnde, gurgelnde Flut. Weit unten fand man die schrecklich verstümmelte, unkenntlich gewordene Leiche. Im Hochsommer wurde der älteste Sohn des alten Hegers von bayerischen Wilddieben erschossen. Mehrere Kinder starben, was übrigens alljährlich geschah, doch diesmal fiel's auf. Der alte Mann selbst wurde krank und siechte lange; er erholte sich zwar wieder, seine frühere Rüstigkeit erlangte er jedoch nicht mehr und ging in Pension. Düster brütend, saß er stundenlang auf der Ofenbank, stützte die Ellbogen auf die Knie, bedeckte mit den Händen das Gesicht und murmelte: »Die Pestvögel, die Pestvögel!«

So fand der Aberglaube neue Nahrung und Bestätigung; doch dass in den langen Jahren, in denen die Seidenschwänze nicht erschienen, auch manches Unglück geschah, darüber dachte niemand nach.

Du wirst gut schlafen in Stubenbach, lieber Leser; du bist ja tüchtig ausgeschritten den ganzen Tag über, und die Gebirgsluft zehrt und macht müde. Wie könnte es bei diesem Reichtum an Ozon auch anders sein? Du kannst übrigens von Glück sprechen, wenn du einen schönen Tag gefunden hast, denn ein voll kommen schöner Tag, an dem es nicht regnet, ist hier eine Seltenheit, wenn man etwa vom September absieht. Ich habe immer lächeln müssen über die armen Ausflügler, die im Juni und Juli herkamen, und doch hätte ich sie eigentlich bedauern sollen. Diese enttäuschten Gesichter! Wie nasse Hühner unter dem Schupfendach sammeln sie sich in den Wirtshäusern, trocknen ihre Kleider und werfen wehmütige Blicke auf ihr zerweichtes Schuhwerk und ihre in der Nässe schief getretenen Absätze. Ich sehe ihn noch vor mir stehen, den armen Prager Hausherrnsohn, der bis hierhergekommen war, um den Urwald zu sehen. Da steht er am Fenster, ein Bild unsäglichen Jammers, und trommelt gelangweilt auf die Scheiben. Ich kenne ihn aber, den Herrn. Gott wird ihm eine glückliche Rückkehr schenken, und er wird jahrelang in seinen Stammlokalen von der Sumava (– so heißt auf böhmisch der Böhmerwald –) renommieren, von seinen Abenteuern und Fährlichkeiten erzählen und berichten, was er alles gesehen. Und doch hat er gar nichts gesehen als einen grauen Himmel, graue Wolken und Nebel und in Grau gehüllte Sprösslinge eines ganz jungen Bestandes, den man nicht einmal mit dem Namen Wald bezeichnen kann. Das sah er am ersten Tag seines Hierseins und kehrte dann zurück unter das schützende Dach des Wirtshauses. Der bräunliche Saft, der seinem durchweichten Hutfutter rieselnd entquoll, versah sein zartes Antlitz mit einer Art energischer Kriegsbemalung, und seine vom Regen recht schlaff gemachten Manschetten erfüllten ihn mit Wehmut. Am zweiten Tag kam er nur bis zur ersten Sägemühle, wo er auf mooriger Wiese ein zartes Bouquet weißer Sumpfparnassien pflückte, worauf er abermals durchnässt heimkehrte. Am dritten Tag ging er schon gar nicht aus und ließ den Regen fein staubend, aber laut prasselnd, wie er eben kam, herabfallen; diesmal wurde nur sein Magen gründlich nass von dem vielen Biere, über welches er weidlich schimpfte, das er aber doch trank. Am vierten Tage fuhr er endlich unter strömendem Regen in geschlossener Extragelegenheit nach Eisenstein, wo er den nächsten Zug benützte, um dem Böhmerwald mit seinen erhabenen Schönheiten sanglos adieu zu sagen.

In Prag dagegen behauptete er unausgesetzt: »To Vám byla krása! Tam se musíte podívat!« (Das war schön! Dahin müsst ihr schauen!) – und seine Freunde beneiden ihn. Die Parnassien, das einzige, was er mitgebracht, presst er sorgfältig, steckt sie hinter Glas und Rahmen und teilt dem oder jenem unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit mit, er habe sie von einer ländlichen Schönen erhalten, deren Herz er im Sturm erobert. Einige hingeworfene Worte, ein beredtes Schnalzen mit der Zunge seinerseits, die eigene Phantasie bemeldeter Freunde malt diesen ein reizendes Bild jugendfrischer, gesundheitstrotzender Landmädchenschönheit vor ihr geistiges Auge, und sie beneiden ihn wieder.

Weil ich gerade von einem Renommisten gesprochen, so kann ich nicht umhin, meinen geehrten Lesern ein ergötzliches Histörchen mitzuteilen, das sich vor vielen Jahren gerade in Stubenbach zugetragen hatte.

Zuvor aber muss ich bemerken, dass Stubenbach so ziemlich der Hauptort für die Auerhahnjagd ist. Alljährlich zur Balzzeit, im März und April, finden sich viele Kavaliere hier ein, diesem interessanten Sport zu huldigen. Da kam an einem wie gewöhnlich sehr weinerlichen Junitage zwar kein Kavalier, aber dafür ein possierliches Männchen, von kleiner Statur wohl, jedoch mit mächtig entwickelten Dreschwerkzeugen, die nicht einen Augenblick ruhten. Das Männlein, dessen Possierlichkeit durch seinen komischen Anzug noch gehoben wurde, nahm abends sans façon Platz am Herrentische und legte nun mit einer Zungenfertigkeit los, welche die Stammgäste geradezu verblüffte. Es schnarrte, knatterte, gellte, grölte förmlich durch die sonst so stillen Räume, und noch dazu in den hier nie gehörten Klängen des reinsten Berliner Dialekts. Was er alles erzählte, ist unmöglich wiederzugeben, drei Foliobände würden es nicht fassen. In der Hauptsache war's Jägerlatein. In allen Weltteilen hatte der Kleine gejagt, und dabei passierte es ihm, dass er Elefanten und Flusspferde in Brasilien, Walrosse in Zentralafrika, Jaguare in Sibirien und Kolibris vielleicht im Monde in unzähligen Scharen erlegte. Seine Erzählungen begleitete er mit drastischen Gebärden und bald hoheitsvollen, bald tief mitleidigen Blicken auf seine sprachlosen Zuhörer, die ihn übrigens kaum verstanden und sich anfangs vor Verwunderung kaum fassen konnten. Er hielt nur dann und wann inne, um prüfenden Blickes den Eindruck seiner Worte zu ermessen. Die anwesenden Jäger hätten sehr einfältig sein müssen, wenn sie den Kauz nicht bald durchschaut hätten. Wie dieser Nimrod schließlich dazu gekommen war, dass er Handlungsreisender wurde – denn er erzählte ihnen, er sei auf dem Wege nach Mader, um dort Resonanzböden für Pianos, Violinen und Gitarren einzukaufen –, darüber vergaß er zu berichten, wohl aber sprach er mit großer Verachtung von dem böhmischen Resonanzholz und schwur, dass das sibirische ungleich besser sei.

Eine der seltenen und kurzen Pausen, die der Fremde seinen Zuhörern gönnte, benützte einer der Jäger, um ihn zu fragen, ob er schon Auerhähne gejagt habe. »Ich habe deren, meine Herren, mehr jeschossen, als Sie alle in Ihrem janzen Leben jesehen haben«, lautete die bescheidene Antwort, und nun ging's von neuem los, bis endlich das Bier seine Wirkung tat und der Elefantentöter das Zimmer auf einige Augenblicke verlassen musste. Seine Abwesenheit machten sich die Jäger zunutze, steckten plötzlich die Köpfe zusammen, und an ihrem teuflischen Lächeln konnte man wohl merken, dass ein geheimer Plan geschmiedet wurde. Das verdächtige Flüstern und Lachen wiederholte sich, sooft der Spreeathener das Zimmer verließ, was, beiläufig sei es gesagt, ziemlich oft geschah. Schließlich wurde der Wirt ins Vertrauen gezogen, und gegen 10 Uhr abends verließ einer der Jäger die Stube, machte sich bei den Geflügelställen etwas zu schaffen und verließ mit einem umgehängten, anscheinend ziemlich schweren Sacke das Haus.

Als nach wiederholten vergeblichen Bemühungen endlich wieder einer der Jäger zum Wort kam, lud er den Fremden ein, an der morgen früh stattfindenden Auerhahnjagd teilzunehmen, es sei gerade die richtige Balzzeit. Wohlgemerkt, es war im Juni. Der Berliner Nimrod war gleich dabei, und die Jäger versprachen, ihn zeitlich zu wecken, um die richtige Jagdzeit nicht zu versäumen. Die Aussicht, zeitlich geweckt zu werden, war dem Fremden offenbar nicht sehr angenehm, denn er bemerkte, bei ihm zu Hause falle die Balzzeit in den August und es würden die Auerhähne besonders in den Nachmittagsstunden geschossen. »Das kann bei Ihnen wohl der Fall sein«, bemerkte einer der Jäger, »doch wird Ihnen wohl nicht unbekannt sein, dass wir hier im Gebirge einen anderen Meridian haben als bei Ihnen in der Ebene, und nach dem Meridian richtet sich ja die Balzzeit des Wildes.« Dieses Argument war zu überzeugend, als dass sich dagegen etwas hätte einwenden lassen, und so blieb es denn bei der Verabredung. Die Jäger stellten sich nunmehr sehr schläfrig, und einer nach dem anderen verschwand, so dass schließlich der Fremde niemanden mehr hatte, dem er seine Abenteuer hätte erzählen können, und es deshalb vorzog, gleichfalls seine Lagerstätte aufzusuchen.

Noch graute der Morgen nicht, als an der Zimmertüre des Fremden geklopft wurde. Die Jäger waren erschienen, ihn zu wecken; einer von ihnen stellte ihm ein hübsches, bereits geladenes Doppelrohr zur Verfügung, an dem der bewährte Weidmann indes manches auszusetzen fand. Unter unausgesetztem Geklapper der unermüdlichen Dreschwerkzeuge ging das Ankleiden vor sich, und dann ging's fort dem Walde zu. Ein feiner Regen rieselte herab, und die Dunkelheit war vollkommen, man hätte den dichten Nebel buchstäblich schneiden können. Die Jäger in ihren Stulpstiefeln und Lodenröcken hatten von der Feuchtigkeit verhältnismäßig wenig zu leiden, umso mehr der durchaus nicht balzjagdmäßig gekleidete Preuße. Anfangs ging das Mundwerk des Fremden noch gut, nach und nach jedoch schwand seine Mitteilsamkeit, und endlich schwieg er ganz. Über Stock und Stein führte der Weg, über Sümpfe und angeschwollene Bäche; bald stolperte sein Fuß über eine tückische Baumwurzel, bald versank er tief in den schlammigen Grund oder geriet in ein wohl gefülltes Wasserloch, wobei sich jedes Mal ein scharrender Schwernotsfluch seiner keuchenden Brust entrang. So ging's fort wohl zwei Stunden lang; er merkte nicht, dass man ihn eigentlich fortwährend im Kreise herumgeführt hatte und dass er keine Viertelstunde von Stubenbach entfernt war.

Da fing der Tag im Osten zu grauen an, eine förmlich schmutzige Dämmerung ergoss sich über den Wald, und deutlicher und immer deutlicher hoben sich die dunkelgrünen Wipfel der Fichten aus dem Dunkel der Nacht ab. Gerade war der Fremde wieder ausgeglitten im triefenden Heidekraut, das sich wie Schnüre um seine Füße schlang; um nicht zu fallen, fasste er den Ast einer jungen Fichte, die sich bog und dann zurückschnellte, ihn mit einer förmlichen Wasserflut überschüttend. »Millionenschockschwere Not!« – »Sachte, keinen Laut mehr! Wir sind zur Stelle!« flüsterte der eine der Jäger. »Er balzt!« flüsterte ein zweiter. Die ganze Gesellschaft stand still und horchte. In der Tat, ein seltsamer Ruf erscholl wie aus hoher Luft herab. »Haudrihaudrihaudri!« kollerte es. »Tiau! Tiau! Tiau!« antwortete es aus der Tiefe.

Im Nu waren die Kautschukverhüllungen von den Schlössern herunter, die Hähne gespannt. Mit angehaltenem Atem pirschte man sich vorsichtig näher; so lang der Ruf dauerte, ging's vorwärts, dann stand jeder wie angewurzelt; wohl keuchte der Fremde etwas laut, einmal überkam ihn sogar ein Hustenanfall; der Auerhahn war jedoch offenbar sehr feurig gestimmt in seiner Brunst, denn er »balzte« fast ununterbrochen und nahm nicht die geringste Notiz von dem doch ziemlich lauten Geräusch. Da deutete einer der Jäger nach dem Wipfel einer mäßig hohen Fichte. Richtig, da saß er; die Umrisse eines großen Vogels traten hervor. »Haudrihaudrihaudri!« erscholl es abermals, dann folgte ein eigentümliches Pusten. »Schießen Sie!« flüsterte ein Jäger. Ein gewaltiges Jagdfieber hatte den Spreeathener erfasst. Bilder unsterblichen Ruhmes, der ihm hier winkte, mochten seine Phantasie umgaukeln, denn das Gewehr zitterte in seinen Händen, als er anschlug. Einige erwartungsvolle Sekunden folgten, dann krachte ein Schuss durch die tiefe Stille des Waldes. »Getroffen!« riefen die Jäger. »Ich fehle nie«, sprach der Berliner, das Rohr bei Fuß nehmend und einen triumphierenden Blick auf seine Begleiter werfend. In der Tat musste der Hahn gut getroffen sein, obgleich er nicht herabfiel; ohne Zweifel war er im Geäste hängengeblieben. Dafür regnete es förmlich Federn; schwarz, weiß, rot, in allen Farben rieselten sie herab, an allen Bäumen hingen sie und bedeckten das Preiselbeer- und Heidegestrüpp. Wo nur der arme Hahn so viel Federn hernahm? – In diesem Augenblick erklang's unten im Dickicht am Fuße der Fichte: »Tiau, tiau, tiau« – und oben mächtig und zornig: »Haudrihaudrihaudri.« – »Was ist nun das?« fragte der Preuße und lief dem Dickicht zu. Diesmal brachen die Jäger in ein unbändiges Gelächter aus. Hervor aus dem Dickicht rumpelte, an einen Strick angebunden, eine Truthenne, und oben kollerte abermals ihr dort festgebundener Gemahl.

Der Nimrod stand einen Augenblick starr vor Verblüffung; dann fasste ihn namenlose Wut, sein ganzer kleiner Körper zitterte, und seine Mienen spielten wie die eines boshaften Affen. »Det is eene janz niederträchtige Jemeinheit!« polterte er. »So 'ne Fopperei für mir? Die Foljen werden Sie sehen; ich werde Ihnen bei unserer Jesandtschaft klagen«, und so cum et sine gratia weiter. »Das können S' tun«, sagte endlich einer der Jäger, »und vergessen S' a die Feder net, mit die mir Ihna 's Gewehr gloden hoben. An ondres Mol ober lackieren S' ondre Leut an als uns. Jetzt schaun S' ober, dass mit uns hoamkommen, sonst vergengen S' Ihna noch in die Filzen.« – Der Rat war gut, und trotz seiner Entrüstung musste das Männchen den Jägern folgen.

Es zappelte denn auch in einiger Entfernung hinterdrein her, und hätte die Sonne geschienen an jenem denkwürdigen Morgen, sie hätte wohl gelacht über diese durchnässte, über und über beschmutzte, keuchende Jammergestalt.

Eine halbe Stunde später rollte ein halbgeschlossener Marterkasten die unendlich schlechte »Straße« gegen Mader entlang; am Herrentisch des bewussten Gasthauses aber herrschte durch Wochen hindurch unbändige Heiterkeit. Die preußische Gesandtschaft ließ glücklicherweise nichts von sich hören, was diese Lustbarkeit hätte trüben können. Es ist ein reines Glück, dass Stubenbach nicht am Kamerun liegt.

Auer- und Birkhühner gibt es noch ziemlich viele in den Stubenbacher Forsten; auch das Haselhuhn ist nicht gerade selten. Dafür nimmt das sonst so häufige Rehwild an Zahl sehr ab. Die Wildschützen, die herüberkommen aus Bayern, welches Bockbier erzeugende Land auch an diesem Artikel überreich ist, den es besonders nach Böhmens Grenzgebieten exportiert; die Wildschützen sorgen schon dafür, dass das Wild nicht überhandnimmt. Wohl zerbrach sich das Forstpersonal gar oft den Kopf, wie diesem Unfug zu steuern wäre; doch alles erwies sich bis jetzt als fruchtlos. Streifungen mit und ohne Gendarmerie sind immer problematisch; die Kerle haben feine Nasen und sind unter Umständen verwegen genug, wenn sie in die Enge getrieben werden. Die Geschichte des Böhmerwaldes hat über diesen Punkt manch blutiges Blatt aufzuweisen. Ich kann nicht mehr mit Sicherheit angeben, ob sich die Geschichte, die ich erzählen werde, im Stubenbacher oder in einem anderen Revier des Böhmerwaldes zugetragen hat, denn es ist wohl ein halbes Jahrhundert ins Meer der Ewigkeit geflossen, seit sie sich ereignet. Ich habe sie übrigens von glaubwürdigen Leuten gehört und zweifle nicht, dass sie wenigstens in ihren Hauptzügen wahr ist. Die Geschichte ist in ihren Einzelheiten so unheimlich, zeigt so viel von der Bestie, die in jedem Menschen schlummern soll, dass sie an die Indianerkämpfe im fernen Westen Nordamerikas erinnert.

Da war damals ein Förster, der es mit seinem Amte sehr streng nahm. Er war den Wildschützen Tag und Nacht auf den Fersen und entwickelte die List eines Indianerhäuptlings auf dem Kriegspfade, wenn er in der Verfolgung seiner geschworenen Feinde begriffen war. Die eisernen Stäbe der Gerichtsgefängnisse der Kreisstadt mochten wohl oft verzweifelt gerüttelt worden sein von den ihrer Freiheit beraubten Gebirgssöhnen; aber die Haft dauerte nicht ewig, und kaum war einer eingeliefert, als dafür ein anderer freigelassen wurde, der natürlich seine frühere Tätigkeit von neuem aufnahm. So glich die rastlose Mühe des pflichteifrigen Försters einer wahren Sisyphusarbeit, die ihm weniger Lohn als furchtbaren Hass eintrug. Da geschah es eines Tages, dass er im Walde, weit entfernt von jeglicher menschlichen Wohnung, von seinen Feinden überfallen wurde. Sie überwältigten ihn und schlugen ihn halb tot; dann knebelten sie ihn und hingen ihn an den Füßen an eine junge Fichte, die sich unter seinem Gewichte tief herunterbog, so dass sein Kopf in einen Ameisenhaufen zu liegen kam. Daraufhin entfernten sich die Unmenschen, wünschten ihm höhnisch einen guten Morgen und überließen ihn seinem Schicksale. So hing er denn da in namenloser Qual, unfähig, sich zu bewegen, und durch den Knebel am Schreien gehindert. Die grausamen kleinen Tiere begannen ihr Werk. – Gott hatte Mitleid mit dem Gemarterten. Ein Weib, das auf der Pilzsuche begriffen war, entdeckte ihn, band ihn los und eilte in das Forsthaus um Hilfe.

Lange lag der Förster krank darnieder, sein Geist drohte in ewige Nacht zu versinken; endlich siegte seine kräftige Konstitution, aber Haar und Bart war weiß geworden, weiß wie gefallener Schnee, obgleich er im besten Mannesalter stand, und sein Gemüt finster wie die Nacht.

Als er nach langen Wochen zum ersten Male die rostig gewordene Büchse vom Nagel herab nahm und über die Schulter warf, äußerte er: »Nun geht es los. Ich kenne die Burschen alle. Ich habe fortan nur einen Lebenszweck.« Mit diesen Worten trat er ins Freie und ging strammen Schrittes dem Walde zu, in dem er verschwand; am Abend kam er heim. So tat er jeden Tag. Eines Abends leuchtete ein dämonisches Feuer in seinem Blick. »Einer«, sprach er und wies auf den glänzenden Kopf eines gelben Messingnagels, den er in den Büchsenkolben eingeschlagen hatte. Einige Tage darauf versammelte sich ein Schwarm krächzender Raben auf einer eng umschriebenen Stelle des Urwaldes, und als die Holzhauer, durch das eigentümliche Benehmen der schwarzen Gäste aufmerksam gemacht, der Stelle zueilten, fanden sie eine halbverweste Leiche, deren leere Augenhöhlen grauenhaft gegen Himmel starrten.

So ging's nun weiter. Die Gefängnisse der Kreisstadt beherbergten ihre früheren Insassen nicht mehr, aber bald da, bald dort fand man im Wald und im Moos einen Toten, auch wohl tief versteckt im Dickicht ein Skelett, mitunter auch gar nichts, trotzdem man den Häusler X. oder den Knecht Y. drüben in Bayern vermisste. Dort zog überhaupt Jammer ein unter die steinbeschwerten Dächer der Waldhäuser. An dem Büchsenkolben des Försters jedoch mehrte sich Nagel auf Nagel, sein Auge war sicher, seine Hand zitterte nicht, und der Wald war verschwiegen.

Wohl durchschwirrten mancherlei Gerüchte die Luft, aber die Justiz hatte es nicht eilig damals, und die Beweise waren schwer zu erbringen gewesen. Als aber des Geredes immer mehr wurde, versetzte man den Förster weit fort in ein anderes Land. Die Gefängnisse der Kreisstadt erhielten nun wieder ab und zu einen Kostgänger von der Grenze oder aus Bayern. Von dem Förster aber hörte man nichts mehr.


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