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Männi war ein vergnügter Kerl, der vergnügteste im ganzen Dorf, obgleich sein Vater doch nur ein armer Arbeitsmann war und seine liebe Mutter schon vor zwei Jahren gestorben war und nun ihr liebes, fröhliches Männlein nicht mehr herzen und pflegen konnte. Aber der Vater sorgte für den Jungen, wie nur ein Vater sorgen kann, und der Kleine klapperte den ganzen Tag hinter ihm her, und wenn der Vater zur Arbeit ging, zum Pflügen auf den Acker oder zum Dreschen in der Scheune des Schulzen, dann lief Männi hinterdrein, setzte sich auf den Zaun am Acker oder auf den Stein vor der Scheunentür, schaute den großen Leuten zu und sang sich ein Lied.
Singen war sein Hauptvergnügen. Kein Mensch wußte, wo der Junge all die Melodien hernahm. Sobald er eine hörte, sang er sie nach. Wußte er die Worte dazu nicht, was tat das? – Er erfand sich selbst einen Text. Der war dann oft wunderlich genug. Zum Beispiel, drosch da der Vater mit dem Pferdeknecht des Schulzen. Der Pferdeknecht war ein nachlässiger Bursche, der nicht viel auf sein Äußeres gab. Männi hatte ihn sich eine Weile sehr genau besehen, nun saß er und sang: »Johann Stuhr, der hat ein Loch in der Büx, o, ein Loch in der Büx, o! Und er hat auch 'n großen Fleck auf 'n Knie, Fleck auf 'n Knie, o!«
»Junge, willst still sein,« rief Johann Stuhr und drohte mit dem Dreschflegel, denn die andern Knechte begannen zu lachen.
Männi sah ihn sehr freundlich an, so als wenn er sagen wollte: »Ach, du tust mir ja doch nichts,« und begann von neuem: »Johann Stuhr, der hat sein Haar nicht gekämmt, und sein Hemd ist auch ganz schwarz, o!«
Johann Stuhr kam heran mit einem Gesicht wie ein Menschenfresser, aber Männi rührte sich nicht von seinem Stein und strahlte ihn an wie lauter Liebe und Sonnenschein. Der Knecht knurrte: »Du bist ein Schlingel, aber, weiß der Himmel, man kann dem Kerl nicht böse sein.« Er drohte mit der Hand: »Na, wart nur, machst du mir das noch einmal,« und ging wieder an seine Arbeit.
Außer dem Vater hatte der Männi noch eine Schwester, die war aber schon groß und diente als Magd im Nachbardorf. Am Sonntag kam sie bisweilen herüber, das war dann eine große Freude. Die Kathrine war auch keine, die den Kopf hängen ließ. Sie spielte mit dem Brüderchen, als wenn sie selbst noch ein Kind wäre, und wenn sie beide nicht mehr spielen mochten, saßen sie und erzählten sich was. Am liebsten hatte Männi es, wenn sie von dem Haus erzählte, in dem sie wohnte, und von ihrer Herrschaft.
»Die sind so gut,« sagte sie, »das ist gar nicht zu sagen. Da geht kein Armer vorüber, ohne einen Pfennig auf den Weg. Nur gräßlich still ist es im Hause, denn sie haben kein einziges Kindchen. Sie wünschen es sich wohl sehr, und die Frau hat manchmal ganz verweinte Augen, aber sie will es nicht merken lassen. Sie hat die Kinder gar zu gern, und oft steht sie heimlich am Zaun und schaut hinüber in den Schulgarten, wenn da die Jungen und Mädels toben. Einen großen Bauernhof haben wir,« berichtete sie dann weiter, »mit so vielen Kühen und Pferden und Schweinen und Hühnern und Enten und Tauben, – noch viel mehr sind's, als wie der Schulze hat. Und vor dem Hause ist ein schöner Garten mit bunten Blumen. Am Gartengitter stehen lauter Sonnenblumen wie goldene Scheiben, das sieht so lustig aus; und mitten zwischen den Blumen ist eine Bank, darauf sitzt die Bäuerin, wenn sie nicht mehr arbeiten mag.«
Der Garten mit den bunten Blumen, zwischen denen die Sonnenblumen wie goldene Scheiben standen, der lockte den Männi. Den hätte er gar zu gerne einmal gesehen.
»Im nächsten Jahre,« sagte der Vater, »wenn du noch ein Stückchen gewachsen bist, dann gehen wir einmal hin und besuchen die Kathrine. Jetzt sind deine Beinchen noch nicht stark genug für den weiten Weg.«
Nun freute sich Männi schon auf das nächste Jahr. – Aber wie dauerte es schrecklich lange, bis das kam. Erst wurde es Winter mit Eis und Schnee, und bunte Blumen gab es nirgends mehr. Dann kam langsam der Frühling, und Männi prüfte seine Beinchen, ob sie nun wohl stark genug seien zu dem weiten Weg. Da geschah etwas sehr Trauriges.
Männis Vater wurde krank, und obgleich der Doktor ihm viele Medizin verschrieb, wurde es gar nicht besser mit ihm. Eines Morgens, als Männi aufwachte, war sein lieber Vater nicht mehr bei ihm. Er war zur Mutter in den Himmel gegangen, und der kleine Junge war ein Waisenkindchen.
Nun kam er zu einer Tante, die auch im Dorfe wohnte, und da mußte er bleiben. Das Kathrinchen besuchte ihn fleißig und brachte ihm auch manches Mal etwas mit, einen Apfel oder ein Stück Kuchen, und sprach ihm immer gut zu, daß er ein braver Junge sein sollte, damit die Eltern im Himmel ihre Freude an ihm hätten; aber Männi mochte gar nicht bei der Tante sein.
Die Tante hatte nämlich nie Kinder gehabt, darum wußte sie nicht, wie solchem kleinen Kerl zumut ist. Sie war alt und brummig und fand es nicht schön, daß sie noch für ein fremdes Kind sorgen sollte. Und der Junge war auch noch so klein, daß er nichts verdienen und ihr kein bißchen helfen konnte. Nicht einmal Wasser konnte er vom Brunnen holen, seine Ärmchen vermochten den schweren Eimer nicht zu heben. Er war eigentlich eine rechte Last für sie.
Männi merkte wohl, daß die Tante nicht gut auf ihn zu sprechen war, und er ging ihr aus dem Weg, so viel er konnte. Er hatte auch gewiß nie die Absicht, sie zu kränken und zu ärgern; wenn er es doch tat, so geschah es, weil er eben noch ein kleines Dummchen war.
Und so nahm es eines Tages ein schlimmes Ende zwischen ihm und der Tante. Männi saß auf der Türschwelle, sah so recht vergnügt in den sonnigen Tag und sang vor sich hin. Da kam die Torfmarik gegangen. Die Torfmarik war ein Bettelweib, dessen Mann einstmals Torf verkauft hatte, davon hatte sie ihren Namen.
»Na, du kleiner Kerl,« sagte sie zu dem Jungen, der sie anlachte, »bist immer noch vergnügt? Wundert mich, daß du das Lachen bei der da noch nicht verlernt hast. Wo steckt sie denn?«
»Wer?« fragt Männi. »Na, die Tante.«
Männi zeigt auf das offene Fenster hinter sich, da ist die Küche, und die Tante kocht am Herd die Mittagssuppe. Die Torfmarik steckt den Kopf in das Fenster und beginnt zu betteln. »Bin ein armes krankes Weib, hab heute noch keinen Bissen gegessen. Gebt mir doch was und wenn es nur ein Pfennig ist.«
»Ach was,« ruft die Tante zornig, »immer geben. Ich hab genug zu tun, daß ich für mich selbst und den Jungen mein Brot verdiene. Mach, daß du weiter kommst, sonst hol ich den Gendarm.« Damit schlägt sie das Fenster zu.
»Puh,« sagt die Torfmarik und schüttelt sich, »das ist aber eine Böse. Armer Junge, das ist ja der reine Drachen.«
Männi muß lachen. Das mit dem Drachen kommt ihm sehr lustig vor. Er hat noch von keinem anderen Drachen gehört als von solchen, wie die Dorfjungens sie anfertigen aus Stäben und Papier, und er begreift nicht, warum die Tante solch ein Ding sein soll, das mit einem langen Schwanz versehen in der Luft herumfliegt. Er muß denken, wie das wohl aussieht, wenn sie da oben hin und her schwebt, und bei dem Gedanken wird ihm immer lustiger zu Sinn.
Und wenn er so recht lustig ist, muß er eben singen. Ach, wie lange hat er nicht mehr gesungen. Seit sie den lieben Vater hinausgetragen haben, nicht mehr. Aber nun kommen ihm die Worte ganz von selbst über die Lippen. Er schaut hinauf in den sonnigen, blauen Himmel, schlingt die Hände um das übergeschlagene Knie und spitzt die Lippen. Erst ein paar Flötentöne, dann fängt er an.
»Oha, die Tante ist ein Drachen, – sie hat einen langen Schwanz hinten an. Nun fliegt sie oben in der Luft, hurra! oha, ich muß so lachen, – die Tante ist ein Drachen.«
Und als ob ihm das ganz besonders gefällt, singt er immer heller und lauter:
»Die Tante ist ein Drachen, sie hat einen langen Schwanz hinten an. – Die Tante ist ein Drachen –«
Es hat eben zwölf geschlagen, und die Schuljugend wandert vorüber. Zwei oder drei von den Knaben bleiben stehen und hören zu, was Männi in die Welt hinaussingt. Sie kennen alle die Tante, und keiner mag sie leiden. Nun fangen sie an zu lachen und sagen zu den Gefährten: »Hört nur mal zu, das ist zu ulkig.«
Bald steht ein ganzer Kreis um den kleinen Sänger, der sich gar nicht stören läßt. Im Gegenteil, er freut sich, daß sein Gesang so vielen Beifall findet. – Die Tante sieht zufällig aus der Tür und wundert sich, was die Kinder da alle zu stehen haben. Da hört sie es: »Die Tante ist ein Drachen, sie hat einen langen Schwanz hinten an.« Und nun wieder ein schallendes Gelächter und ein Rufen: »Bravo, Männi, laß dir nichts gefallen. Sag es ihr ordentlich.«
Männi weiß zwar nicht recht, was das nun wieder heißen soll; aber weil alle lachen, lacht er mit und kommt sich selbst sehr witzig vor.
O weh! da hat Lachen und Singen ein Ende. Rot vor Zorn fährt die Besungene aus der Tür und mitten zwischen die Kinderschar. Die nehmen Reißaus, so schnell ihre Beine sie tragen, und ehe Männi noch weiß, was ihm geschieht, ist er gefaßt, über das Knie gelegt, und die Tante zählt ihm den Lohn für seinen Gesang kräftig auf das Höschen. Sie hat eine feste Hand, und der Junge schreit, als wenn er am Spieße steckte. Er schreit mehr vor Schreck und Zorn wie vor Schmerz, denn er weiß gar nicht, warum ihm diese Strafe zuteil wird, und findet sie entsetzlich ungerecht und grausam. Endlich stellt ihn die Tante auf den Boden, sie ist immer noch ganz rot und sieht furchtbar böse aus. »Wart nur, du Schlingel,« sagt sie, »ich werd dich singen lehren. Dafür futter' ich dich nicht groß, daß du mich zum Gespött der Leute machst. Laß mich nur noch einen einzigen Ton hören, dann sollst du was erleben.« Damit geht sie in das Haus.
Nun sitzt mein Männi da, und die dicken Tränen laufen ihm noch immer über sein Gesichtchen. Es ist aber auch gar zu traurig! Nun soll er nicht einmal mehr singen, und das Singen ist doch sein Bestes. – Wenn man solch kleiner Mann ist. Kann man doch nicht immerzu still sein wie die großen Leute. – Ja, Männi findet das Leben gar nicht schön. – Sein lieber Papa hat immer gesagt: »Sing, Kerlchen, sing so viel du magst.« Und die Kathrine freute sich auch daran.
Wie er an die Kathrine denkt, wird ihm tröstlich zu Sinn. Er wischt seine Tränen ab und sagt tapfer: »Ich geh eben einfach zur Kathrine. Ich bin nun schon groß, ich kann schon hinlaufen,« und ohne sich länger mit Überlegen aufzuhalten, spaziert er davon. Wie die Tante nach einem kurzen Weilchen aus der Tür sieht und ruft: »Komm herein und iß,« sitzt kein Männi auf der Schwelle, und auf all ihr Rufen kommt auch keiner. Da denkt sie: er wird sich schon einstellen, wenn ihn der Hunger plagt, und kümmert sich nicht mehr um den Jungen.
Der ist inzwischen schon weit. Er weiß, daß die Kathrine immer, wenn sie ihn besucht, den Weg ein-* schlägt, der zum Dorf hinaus über die Felder führt. Einmal hat er sie ein Stückchen begleitet, da hat sie ihm in der Ferne einen Kirchturm gezeigt: »Sieh, Männe, da wo der Turm ist, da wohn ich nun.«
Also wird er dahin gehen, wo der Turm ist, das Weitere findet sich von selbst. Er geht und geht, und weil hier doch keine Tante in der Nähe ist, die es ihm verbieten kann, fängt er auch an zu singen. »Nun geh ich zur Kathrine,« singt er, »zur lieben, lieben Kathrine. Die hab ich schrecklich lieb.«
Dann denkt er an die Sonnenblumen, die wie große, goldene Scheiben an dem Gartenzaun stehen, daran wird er das Haus wohl finden.
Es ist sehr still auf der Landstraße, denn es ist Mittagszeit, und da sind keine Menschen unterwegs. Männi spürt auch so etwas wie Hunger, aber er tröstet sich, daß er bei der Schwester Essen bekommen wird. Der Kirchturm sieht ihm so lockend entgegen, als wollte er sagen: »Nur Mut, bald hast du gesiegt.«
Aber die Beine werden recht müde. Sie sind am Ende doch noch nicht stark genug für den Weg. Was für ein Glück, daß ein Wagen von hinten daher kommt. Ein Mann sitzt darauf, der hat viele Säcke bei sich; er will wohl Korn zur Mühle fahren. Etwas verwundert schaut er auf den kleinen Gesellen, der so allein singend durch die Felder wandert. Männi strahlt ihn an mit seinem sonnigsten Lächeln. »Du,« ruft er, »nimm mich mit auf 'n Wagen. Ich will nach 'n Kirchturm zur Kathrine.«
»Wer ist Kathrine?« fragt der Mann.
»Das ist meine große Schwester.« Der Bauer hat selber solchen kleinen Jungen und weiß, wie gerne der auf dem Wagen sitzt, also hält er an, streckt die Hand aus und sagt: »Na, da hupf herauf.« Wupp sitzt Männi neben ihm auf dem Brett. So, das geht schneller wie auf den eigenen Beinchen. Zwei kräftige Braune sind vor dem Wagen, die können tüchtig traben. Näher und näher Kommt der Kirchturm. Die Augen des Jungen schauen unverwandt nach ihm aus. Jetzt biegen sie in die Dorfstraße ein, und der Wagen hält vor der Mühle. »So,« sagt der Bauer, »ich bin am Ziel, und wenn du zur Kirche willst, Jungchen, da lauf nur hier gerade aus, da kommst du hin.« Damit hebt er seinen Fahrgast vom Bock; der bedankt sich sehr manierlich und hätt' auch gern die Mütze gezogen, nur daß er die Mütze zu Haus vergessen hat. Dafür streckt er seine Patschhand hin, und dann wandert er weiter, immer auf die Kirche zu.
Mit einemmal sieht er etwas so golden leuchten; wie helle Sonnenscheiben glänzt es über den Weg. Da muß es sein, da muß das Haus sein, in dem die Kathrine wohnt. Er stiefelt quer über die Straße und gleich hinein in den Garten. Eine Bank steht wohl zwischen den Blumen, aber es sitzt niemand darauf. Nur ein schwarzes Hündchen liegt in der Sonne, klopft mit dem Stummelschwänzchen, blafft einmal kurz und fröhlich und läßt sich willig streicheln. Als Männi in das Haus hineingeht, läuft es hinter ihm her. Eine Magd kommt aus der Küche, will hinaus auf das Feld, sieht den Ankömmling und fragt: »Na, wer bist denn du?«
»Ich bin Männi, und ich will zur Kathrine.«
»Ach du mein! Bist der ihr Bruder? Ja, da mußt warten, die ist zur Stadt und trägt Butter auf den Markt.«
Also wartet Männi. Er setzt sich auf die Bank, und das Hündchen setzt sich neben ihn. Der leere Magen ist freilich mit dem Warten nicht einverstanden, er knurrt laut. Dagegen ist Singen gut. Männi beginnt sogleich damit. Er besingt die schönen Blumen und die warme Sonne und das brave Hündchen, und weil ihn niemand hört und stört, hebt er sein Stimmchen immer lauter. Drinnen im Haus sitzt die junge Bäuerin. Sie ist ganz allein, denn ihr Mann ist mit den Leuten im Felde, um das Korn einzufahren. So still ist es im Hause, daß man gar nichts hört wie das Summen der Fliegen und das Ticken der alten Dielenuhr. Der Frau scheint es wieder einmal recht einsam, und sie denkt, wie schon oft: »Hätte ich doch ein Kindchen, das um mich herum spielte und mir mit seinem hellen Stimmchen die Zeit kürzte.«
Und gerade, wie sie das denkt, kommt vom Garten her ein Kinderstimmchen, solch recht helles wie Lerchensingen, das schmettert: »O der kleine, süße Hund, o der hat solch schwarzen Schwanz!« und dann blafft der Ami, als wenn er köstlich vergnügt ist.
Frau Marie lauscht. Das klingt doch, als wäre der kleine Sänger vor der Tür. Sie geht an das Fenster. Auf der Bank sitzt ein blonder Bursche und bammelt mit den Beinen. Sie geht zu ihm. »Wo kommst du denn her, Jungchen?«
Der schaut sie freundlich an, deutet mit der Hand in die Ferne und sagt: »Von da hinten.«
»Und was willst du hier?«
»Dableiben.« Das klingt so, als könnte es gar nicht anders sein.
»Ich möchte dich schon behalten,« meint Frau Marie und setzt sich neben ihn auf die Bank, »aber was würden deine Eltern sagen?«
Männi deutet mit seiner kleinen Hand zum Himmel empor. »Die sind da oben.«
»Armer Kerl, hast du keinen Vater und keine Mutter mehr?«
Er schüttelt den Kopf. »Bloß meine Schwester. Die kommt nun gleich.« Er bammelt weiter mit den Beinchen, und nach einem Weilchen fügt er hinzu: »Dann gibt sie mir auch was zu essen.«
»Hast du denn Hunger?«
»Große Leute fragen manchmal komisch,« denkt der Kleine. Laut sagt er: »Dollen Hunger.«
Gleich muß er mit in die Küche. Frau Marie schneidet ihm ein mächtiges Musbrot und füllt ihm eine Tasse mit Milch. Er ißt und trinkt, und als er satt ist, legt er der guten Frau beide Arme um den Hals, gibt ihr mit dem schmierigen Musmäulchen einen tüchtigen Schmatz und sagt: »Du bist aber mal gut. Bei dir bleib ich nu immerzu.«
»Ach, du Kind,« sagt sie, »wenn ich dich doch behalten dürfte!« Und sie küßt ihn wieder. Dann gehen sie in den Stall und melken die Kühe, das heißt, Frau Marie melkt, und Männi besorgt das Zusehen und Schwatzen. Sein Plappermäulchen steht nicht einen Augenblick still. Wie sie wieder aus dem Stall kommen, geht der Bauer über den Hof. »Na, wen hast du denn da?« fragt er.
»Ach,« sagt seine Frau, »das ist ein Waisenkindchen, hat nicht Vater und Mutter; das will hier bei uns bleiben.«
»Hoho,« ruft der Mann, »will hier bei uns bleiben! das ist gut. Wie heißt du denn?«
»Männi.«
»Du mußt doch noch einen andern Namen haben.«
Männi überlegt sich die Sache. »Manchmal sagen sie auch Hermann zu mir.«
»Wie hieß denn dein Vater?«
»Der hieß Vater.« Plötzlich stößt er einen Freudenschrei aus und saust davon. Die Kathrine tritt auf den Hof. Sie weiß gar nicht, wie ihr geschieht, als ein blondes Kerlchen auf sie zufliegt und sie um den Hals nimmt. »Die Tante hat mich so gehauen,« stammelt ein erregtes Stimmchen, »und singen soll ich auch nicht mehr, und nu bleib ich bei dir, immerzu, das ist hier fein.«
Kathrine weiß nicht, was sie sagen soll; ängstlich schaut sie zu dem Bauer hinüber. Wenn der nur nicht am Ende denkt, sie hat dem Brüderchen das eingeredet mit dem Dableiben. Das geht ja nicht.
Frau Marie kommt ihr zu Hilfe. »Erst bleibt er einmal hier, der kleine Mann. Hat den weiten Weg gemacht und sollte nun wieder zurück? Das geht doch nicht. Er kann bei dir in der Kammer schlafen, Kathrine, und das Weitere das findet sich schon.«
Nun sind die beiden Geschwister glücklich. Aber wer nicht glücklich und zufrieden ist, das ist der Bauer. Er will seiner Frau ja gern eine Freude gönnen, aber sich ein fremdes Kind in das Haus nehmen, das so einfach dahergelaufen kommt und sagt: »Hier bin ich und hier bleib ich,« das paßt ihm doch nicht. Und er hat so eine Ahnung, bleibt der Junge ein paar Tage, so bleibt er auch länger, und am Ende muß er ihn ganz behalten. Das will doch sehr überlegt sein.
*
Einstweilen ist der Männi aber auf dem Hof, und die Tante hat Bescheid bekommen, vierzehn Tage dürfe er bei der Schwester bleiben. Sie läßt antworten: Ihr sei es sehr recht, und ihretwegen brauche der Bengel, der sie vor dem ganzen Dorf zum Gespött gemacht habe, überhaupt nicht wieder zu erscheinen.
»Da siehst du es,« sagt der Bauer Hans zu seiner Frau, »die Tante will ihn nicht wieder haben. Das wird ein schöner Strick sein. Wenn er vier Tage hier geblieben wäre statt vierzehn, wäre es wahrhaftig genug gewesen.«
»Er ist doch so lieb und brav,« seufzt Frau Marie. »Gönn es mir doch, daß ich einmal ein Kindchen lieb haben darf.«
Bauer Hans brummt ein wenig, aber er hat seine gute Frau zu lieb, um weiter zu schelten. Nur das beschließt er bei sich: er will dem Jungen schon aufpassen, wenn der Unfug macht. Und dann kommt er denselben Tag vom Hofe. – Aber Männi gibt ihm keine Veranlassung zum Schelten, ja er ist so zutraulich, als sei Bauer Hans sein bester Freund. Als der am nächsten Morgen auf das Feld hinausgeht, faßt er ihn zärtlich bei der Hand und sagt: »Nun bist du mein Vater, nun mußt du mich mitnehmen.«
»I bewahre, wo bin ich dein Vater,« schreit der Bauer, »das kann nicht gehen.«
»Doch, das geht fein,« antwortet der Kleine. »Du mußt nur sagen: Nun komm mit, mein Schlingel, dann komm ich.«
»Tu dem Kind doch den Gefallen,« bittet Frau Marie; »denk, solch armes Ding, das niemand mehr hat!«
»Na,« knurrt der Bauer, »meinetwegen dieses eine Mal. Komm denn mit, du Schlingel.« Er ist innerlich recht unwirsch, als er das sagt, aber Männi sieht ihn glückselig an: »Ach, so bist du aber einmal nett.«
Draußen auf dem Felde macht er es, wie er es bei dem Vater gemacht hat, er setzt sich still auf den Grabenrand und sieht der Arbeit zu. Die Sonne brennt heiß und den Leuten läuft der Schweiß über die Stirn. Einmal sagt der Bauer zum Knecht, wie sie gerade in Männis Nähe sind: »Wenn ich nur ne Flasche Bier hätt', heute ist es schlimm.« Auf den Jungen achten sie nicht und merken auch nicht, wie er davonläuft. Um so erstaunter ist der Bauer, als er plötzlich ein Stimmchen hinter sich hört: »Da, Vater, trink eins.«
Steht da das Männlein und hat einen großen Krug voll Braunbier in Händen. »Ich hab's von der Mutter geholt, weil du doch so Durst hast,« sagt es. Der Schweiß rinnt ihm über die Stirn, denn es ist ein tüchtiges Ende bis zum Hof, und solch ein Krug hat sein Gewicht. Aber wie der Bauer nun sagt: »Das soll mir schmecken,« und dann einen kräftigen Zug tut, lacht es vor Freude.
Beim Heimweg steckt es wieder vertrauensvoll seine Patsche in die große Hand des neuen Vaters. Dem kommt es wunderlich vor, er hat noch nie ein Kinderhändchen gefühlt, aber er mag den Kleinen, der so tapfer für ihn gelaufen ist, damit er nicht Durst leiden soll, nicht kränken. Darum hält er das Händchen fest, das so weich und warm ist wie ein Vögelchen.
Am andern Tag scheint es dem Männi schon ganz selbstverständlich, daß er mit dem Vater hinausgeht. Er bleibt dabei, Vater und Mutter zu sagen, und Frau Marie, die sich immer gesehnt hat, solch liebes Wort zu hören, ist ganz glücklich darüber. Von Tag zu Tag gewinnt sie den fröhlichen Jungen lieber, sie mag gar nicht daran denken, daß die vierzehn Tage bald um sind und sie dann den süßen Mutternamen nicht mehr hören wird. Männi regt sich darum nicht auf. Er kann noch nicht zählen, und ob vierzehn Tage viel sind oder wenig, das weiß er nicht. Einmal sagt der Bauer Hans: »Nun mußt du bald heim zu der Tante.«
Männi lacht, als wenn er einen Spaß gehört hätte. »Ich geh nicht wieder zu der Tante,« sagt er, »ich bleib hier. Sonst habt Ihr ja gar keinen kleinen Jungen mehr.«
Was soll man dazu sagen? Der Bauer schweigt. Er will es sich selbst nicht gestehen, daß er den lustigen Trabanten vermissen wird. Es fehlt ihm jetzt schon etwas, wenn die weiche Hand sich morgens nicht in seine stiehlt, wenn er auf das Feld geht. Aber er hat es nun mal gesagt, nach vierzehn Tagen muß der Junge zurück, und was er gesagt hat, dabei ist er noch immer geblieben.
Frau Marie sieht ihren Mann manchmal so stille an, als wollte sie bitten: laß mir doch das Kind; aber sagen tut sie nichts, sie fürchtet wohl das Nein. Wenn Männi nicht auf dem Felde ist, klappert er hinter ihr her. Sie hat ihm gesagt, er müßte auch ein Amt und eine Arbeit haben, alle im Hause arbeiten, und darum soll er die Hühner füttern, und abends soll er sie in den Stall locken und nachzählen, daß auch keins fehlt.
Ja, zählen kann unser Männi noch nicht, aber er weiß sich anders zu helfen. Er kennt bald alle seine Pflegebefohlenen, und nun sitzt er vor der Tür des Stalles und sagt sich vor: »Das ist die dicke Gelbe. Das ist die Braune, das ist die Weiße mit den Kücken, das ist der Herr Hahn,« und so weiter, bis sie alle da sind.
So kommt der letzte Tag heran. Am andern Morgen soll die Kathrine das Brüderchen wieder zur Tante bringen. Frau Marie weint heimliche Tränen. Nun wird es wieder so einsam werden wie vorher, und kein kleiner Plappermund wird ihr die Zeit kürzen. Männi regt sich nicht auf. Wie die Schwester nachmittags zu ihm sagt: »Ach mein Männlein, morgen gehst du fort,« schüttelt er seelenruhig den Kopf: »Nee, ich geh nich wieder zur Tante, die haut. Ich bleib hier, hier ist es viel besser.«
Abends sitzt er noch einmal vor dem Hühnerstall und schaut nach, ob alle Klucken mit den Küchlein da sind. »Das ist die dicke Gelbe, – das ist die Braune, – das ist der Herr Hahn, – das sind die Kücken,« – aber wo ist die Weiße, die zu den Kücken gehört? Irgendwo gackert was ganz entsetzlich, – der Fuchs wird doch nicht die allerbeste Henne holen? Vom Zaun her kommt das Gegacker! Schon ist der Kleine am Zaun und späht nach seinem Schützling aus. Und was sieht er? – Draußen geht ein Landstreicher, so ein rechter ekliger Kerl, der hat was Weißes unter seinen Rock gesteckt, ein Flügel schaut noch hervor, und das Weiße gackert, als riefe es in höchster Not um Hilfe. Solch ein Dieb! Mit einem Satz ist der Junge aus der Pforte und hinter dem Menschen her. »Das ist unsere Henne, du! Gib die gleich mal wieder her! Sonst ruf ich den Vater!« Der Vagabund macht schnelle Schritte, aber er ist doch nicht schnell genug, denn schon hängt Männi an seinem Rock und schreit aus Leibeskräften: »Vater, Mutter! er will unsere Weiße stehlen. Vater! Mutter!«
Frau Marie kommt aus dem Hause gerannt, der Bauer aus dem Stall, – so haben sie den Jungen nie schreien gehört. Sie sehen gerade noch, wie der Landstreicher die kleine Gestalt, die sich so fest an ihn klammert, mit Gewalt von sich reißt und fortstößt, wie der Kleine kopfüber zu Boden schlägt und noch im Fall angstvoll ruft: »Vater! Mutter!« Frau Marie hebt erschrocken das Kind in die Höhe, ihr Mann rennt hinter dem Dieb her. Der wirft die Henne von sich und läuft wie gejagt.
Wie Bauer Hans zurückkehrend in den Garten tritt, sitzt seine Frau auf der Bank zwischen den Blumen, hält ein blasses Kinderköpfchen im Arm und trocknet mit ihrem Taschentuch das quellende Blut ab.
»Na, na,« sagt der Bauer, »ist er verletzt? Doch nicht schlimm? Komm, ich trag ihn in das Haus. – Männi, mach doch mal die Augen auf, kennst denn den Vater nicht?«
Langsam heben sich die Lider von den Blauaugen. »Hast die Henne wieder, Vater? Unsere allerbeste! Und die wollte der Kerl stehlen! Aber ich paß auf, du, ich paß alle Tage auf. Kannst dich drauf verlassen.«
»Ja, Jung,« antwortet Bauer Hans, »du paßt auf, du bist ein fixer Kerl. Du wirst schon dafür sorgen, daß hier auf dem Hof Tier und Menschen ihr Recht haben.«
Kathrine kommt aus dem Hause und schreit erschrocken auf, als sie das blutende Brüderlein sieht. Die Bäuerin schickt sie nach Wasser und einem reinen Tuch und sagt: »Es ist nicht so arg, das Männlein wird bald wieder auf den Beinen sein.«
»Aber nun eben, wo er morgen heim soll,« meint die Schwester, »wenn er da nur so weit gehen kann.«
»Was du immer redest,« sagt Männi, »ich hab es dir doch schon hundertmal gesagt, ich bleib hier.«
»Ja,« bekräftigt Vater Hans, »du bleibst hier. Die Tante soll unseren Jungen gar nicht wieder haben. Den behalten wir ganz für uns. – Na, was ist denn nun los?« fragt er. Seine Frau hat ihn plötzlich umfaßt und gibt ihm einen herzlichen Kuß.
*
Den nächsten Tag muß Männi im Bett bleiben, aber am zweiten Morgen sitzt er wieder auf der Bank im Garten hinter den goldenen Sonnenblumen, hat eine weiße Binde um die Stirn, sieht aber seelenvergnügt aus und singt vor sich hin; »Ich hab einen lieben Vater, ei-ei-ei, ich hab eine liebe Mutter, ei-ei-ei. Und auch ne liebe Schwester, hurra.«
Frau Marie kommt aus dem Hause, gibt ihm einen Kuß und sagt: »Gott segne dich, du liebes, fröhliches Herzchen.«
So hat der Männi wieder Eltern bekommen und hat eine glückliche Kindheit gehabt.