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Im Wald, nicht weit von der Stadt, wo die hohen Kiefern stehen, die die langen, braunen Zapfen tragen, und die prächtigen Buchen mit den grauen Stämmen und den rauschenden Kronen, die im Herbst viele Tausende von Bucheckern niederwerfen, lebte die Familie Eichhorn.
Was waren das für vergnügte Leute! Den ganzen Tag tanzten sie an den Bäumen auf und ab, als wenn sie es bezahlt bekämen; aber es gab ihnen kein Mensch etwas dafür, denn Menschen kamen wenig in diesen Teil des Waldes. Man mußte tüchtig klettern, um hier heraufzusteigen, und da sagten die meisten Leute: »Ach, was wollen wir da? Da ist nichts zu holen?«
Das war Eichhorns sehr recht, um so ungestörter konnten sie ihre Spiele spielen und sich die leckeren Tannenzapfen und die fetten Nußeckern in ihr Nest tragen. Das Nest war hoch oben in einer hohlen Buche. Durch einen schmalen Spalt schlüpfte man hinein, und drinnen war es herrlich. Vater und Mutter Eichhorn hatten es köstlich mit Laub ausgepolstert, und das ist für die Eichhörnchen gerade so wie ein Federbett für die Kinder. Es waren noch mehr Höhlungen in der Buche, und in diesen bargen sie ihren Vorrat für den Winter. Den ganzen Herbst waren sie tätig beim Einsammeln, die Kinderchen halfen auch mit, und wenn sie einen recht knusperigen Tannenzapfen herbeitrugen, fragten sie: »Ist das nicht ein fetter Sonntagsbraten?«
Sie aßen aber nicht den ganzen Zapfen, bewahre, dazu waren sie viel zu schleckerig; sie schnitten mit ihren haarscharfen Zähnchen die Schuppen los und verputzten die würzigen Samenkörnchen, die unter ihnen saßen. »Das gibt gelenkige Beine,« sagten sie. Essen konnten sie den ganzen Tag. Wenn sie einen fetten Bissen erwischt hatten, setzten sie sich auf die Hinterbeine, nahmen das Futter zierlich zwischen die Vorderpfötchen und nagten daran. Waren es Eckern oder Eicheln, so verspeisten sie nur den Kern, die Schale warfen sie einfach vom Baum hinunter. So, da lag sie.
Leider hatten sie nicht immer gute Tage. Eine Fuchsfamilie wohnte in der Nähe, und der alte Fuchs aß gerne Eichhornbraten. Darum durften die Kinderchen lange Zeit gar nicht vom Baum hinunter, denn auf die hohe Buche konnte der böse Räuber zum Glück nicht kommen. Endlich fing ihn der Jäger, dem er eine fette Gans gestohlen hatte, im Eisen, und da zog Frau Füchsin mit den Kleinen aus der Gegend fort.
Nun aber gab es neue Feinde, und die waren noch gefährlicher, denn sie konnten oben auf den Baum gelangen. Der eine Feind war der Edelmarder, ein zierlicher kleiner Geselle, dem keiner etwas Böses zutraute. Er war aber ein arger Räuber und konnte klettern wie eine Katz.
An einem schönen Sommerabend saßen die Kinder dicht vor dem Nestchen, während Mutter noch einige Eicheln sammelte und Vater im Nebenbaum sich mit der Elster unterhielt. Sie wußte immer alle Neuigkeiten, denn sie war eine schrecklich neugierige Dame, die sogar in die Stadt flog und in die Häuser der Menschen schaute.
»Herr Nachbar,« sagte sie »wissen Sie schon, daß drüben in dem verlassenen Fuchsbau eine Marderfamilie eingezogen ist? Ich sah vorhin, wie der Mann aus einem Loch herausschaute und die Frau aus dem andern. Es hat mir einen schönen Schrecken gegeben.
Die Bande ist zu dreist, und kein Nest ist vor ihnen sicher. Wenn sie erst wissen, wo Eier oder Junge zu holen sind, können wir uns gratulieren. Ich werde keine Nacht mehr schlafen, bis meine Kinderchen flügge sind.«
»Pfui Spinne,« rief Vater Eichhorn, »Marder! Die haben uns hier gerade gefehlt. Eben ist man froh, daß man Familie Fuchs los ist, und nun kommt es so. Ich werde jedenfalls die Nacht mit meiner Frau wachen, denn die Kinder sind noch klein.«
Inzwischen sahen die Eichhornkinder auf ihrem Baum ein Tierchen, das war allerliebst anzusehen, zierlich und behende, hatte ein braunes Fellchen und ein dottergelbes Westchen. Es huschte von Zweig zu Zweig und rief ihnen zu: »Guten Abend, wo sind denn eure Eltern? Ich wollte ihnen als neuer Nachbar einen Besuch machen.«
»Sie werden gleich kommen,« antworteten die kleinen Eichhörner, und wunderten sich, wer das nette Männlein sein könnte. Sie ließen es auch ruhig herankommen, und das Kleinste streckte ihm zutraulich die Vorderpfote entgegen. Aber das hätte es lieber nicht tun sollen, denn mit einem Satz sprang der Gast ihm an die Kehle, biß mit seinen scharfen Zähnen hinein, daß das arme Kleine tot war, ehe es noch einen Schrei ausstoßen konnte, und jagte mit seiner Beute im Maul davon.
Die andern Kinder pfiffen und schrien entsetzlich, und Vater Eichhorn rief: »Da hat es ein Unglück gegeben.«
»Der Marder, der Marder,« zeterte die Elster, »da läuft er, da läuft er. Und Ihren kleinen Kaspar hat er im Maul.«
Das war ein trauriger Abend bei Eichhorns. Vater und Mutter pfiffen traurig, und die Kinder mochten auch nicht lachen.
Aber die Marder sollten es nicht lange treiben. Schon am nächsten Tage sah die Elster den Mardermann heimkehren, und ein Täubchen trug er im Maule.
»He, Nachbar,« rief sie ihm von droben zu, »wo haben Sie denn den Braten her? Das ist doch keine Wildtaube.«
Der Marder legte das Täubchen vor sich nieder und schaute empor. »Ehrlich geklaut,« rief er zurück.
»Pfui,« zeterte die Elster, »was sind das für Ausdrücke. So etwas war bisher nicht Mode in unserer Gegend. Sie sind wohl nicht von hier?«
»Wenn meine Sprache Ihnen nicht zusagt, kann ich nicht helfen,« pfiff der Marder. »Ich rede, wie mir das Maul gewachsen ist. Diese Taube bringe ich meiner Frau, da wo ich sie hergeholt habe, gibt es noch mehr. Gleich hinter dem Fichtendickicht liegt ein Haus, da wimmelt es nur so von Tauben und Kücken. Der Mann gibt sich viele Mühe, uns leckeres Futter zu verschaffen.«
»Da wohnt ja der Jäger,« spottete die Elster. »Der wird Ihnen bald seine Tauben bezahlen.« Dann flog sie davon und erzählte die Neuigkeit im ganzen Walde.
Der Marder ging noch am selben Abend wieder auf Jagd im Hühnerhof des Jägers, aber er kam nicht wieder, denn der Jäger hatte ein Fangeisen gestellt, und in das Eisen war der schlaue Herr geraten.
Nun mußte sich Frau Marder auf den Fang machen, aber ihr ging es nicht besser, und als die Kinderchen merkten, daß beide Eltern nicht wiederkamen, liefen sie aus der Gegend fort. Nun hätten Eichhorns Ruhe gehabt, wenn die Eule nicht gewesen wäre, die jeden Abend vor dem Neste schrie.
Die Kinder zitterten, wenn sie die unheimlichen Töne hörten, aber der Vater sagte: »Habt nur keine Angst, in das Nest kann sie nicht herein kommen, der Eingang ist zu eng.«
So durchlebten sie den Sommer, und der Herbst kam in das Land. Da sah der rote Hansel, der älteste und kräftigste von den Eichhornbuben, eines Tages in der Nachbarbuche einen alten Raben sitzen. Diesen Raben kannte er nicht, aber der Rabe sprach ihn an und fragte nach seinen Eltern, die seien alte Freunde von ihm. Dann kam der Vater, und der Rabe erzählte, er sei von den Menschen gefangen worden; das sei nun schon zwei Sommer her, und die Menschen hätten seine Flügel gestutzt, daß er nicht mehr fliegen konnte. Nun seien ihm die Schwungfedern aber wieder gewachsen, und da habe er Reißaus genommen, denn er habe immer Heimweh nach seinem Walde gehabt.
Das war aber einmal interessant! Alles Waldgetier kam zusammen und wollte hören, wie es bei den Menschen sei.
»Daß sie dich nicht gebraten haben,« verwunderte sich die Elster; das war eine Cousine von ihm.
»Dafür war ich zu wertvoll,« krächzte der Rabe. »Sie braten nur so niedriges Viehzeug, Hasen und Rehe und allenfalls wilde Enten und Tauben. Mit mir verfolgten sie höhere Zwecke. Sie sahen mich ganz wie ihresgleichen an, und ich mußte sogar die Menschensprache lernen.«
»Wer's glaubt!« rief die Elster.
Da riß der Rabe seinen Schnabel so weit auf, daß der rote Hansel vor Schreck fast vom Ast fiel, und rief mit menschlicher Stimme: »So 'n unverschämtes Frauenzimmer.«
Die Elster kreischte laut auf und nahm Reißaus, die andern Tiere, Tauben, Kaninchen, Amseln und Hasen fuhren ordentlich zusammen, und der Rabe rief noch immer mit einer menschlichen Stimme: »Pack, Pack, Pack. Hahaha.« Dann sah er sich stolz im Kreise um und fuhr in seiner natürlichen Sprache fort: »Seht ihr wohl, so was lernt man bei den Menschen. Aber man muß auch ein Rabe sein und so ungeheuer klug wie ich, sonst ist Hopfen und Malz verloren.«
Jetzt wagte keiner mehr, ihm zu widersprechen, sie hatten alle einen schrecklichen Respekt bekommen vor dem Vogel mit der Menschenstimme.
Der rote Hansel aber hätte gar zu gerne gewußt, wie es bei den Menschen zuginge, und als der Rabe am nächsten Tage allein auf seinem Baume saß und sich gelangweilt den Kopf krauelte, machte er sich an ihn heran und fragte, ob er ihm nicht ein bißchen von den Menschen erzählen wollte.
Der Rabe, der schrecklich gern schwatzte, ließ sich nicht lange nötigen, er erzählte dem Hansel die wunderbarsten Dinge, und von Zeit zu Zeit schrie er dazwischen: »Pack, Pack, Pack.« Dann riß der Hansel jedesmal im ersten Schreck aus, und der alte schwarze Herr lachte hinter ihm her: »Hahaha.«
Allmählich aber gewöhnte sich der Hansel daran, und je mehr der Rabe ihm erzählte, um so größer wurde sein Verlangen, auch einmal die Menschen kennen zu lernen. Er fragte vorsichtig den Raben, ob die Menschen auch Eichhornbraten äßen; aber der meinte, das täten sie wohl nicht. Zu seiner Zeit sei es wenigstens nicht vorgekommen.
»Aber was willst du bei den Menschen?« sagte er. »Sie sind nur langweilig. Und dann soll man immer nach ihrer Pfeife tanzen. Zum Beispiel, auf dem Tisch steht der Käse. Käse ist ein ganz angenehmes Gericht. Nun gehst du hin und holst dir ein Stückchen; sofort fährt der Herr auf dich los und schilt dich Dieb und Räuber und droht dir mit dem Stock. Ist das ein Benehmen? Kannst du im Walde nicht nehmen, was du findest? Aber diese Menschensorte meint, sie hätte das erste Recht an allen Sachen. Schickt sich das? – Oder du findest einen silbernen Löffel. Für silberne Löffel und solche blanken Dinge habe ich von Kind auf ebensolche Liebe wie die Menschen, – also ich finde so einen, in der Küche oder im Zimmer, und trage ihn in meinen Winkel. Keine Stunde dauert das, so kommt die Frau mit dem Besen, jagt mich aus dem Winkel, holt mir den Löffel wieder weg und schreit ebenso wie der Mann: »Du Dieb, du Dieb.« Warum soll ich nicht so gut silberne Löffel haben wie sie? Kannst du das einsehen? Nein, ich kann dir nicht raten, zu den Menschen zu gehen.«
»Ich möchte sie doch bloß mal sehen,« meinte der Hansel.
»Was siehst du denn daran? Meinst du, daß Menschen was Schönes sind? Denk dir einen Turm, der auf zwei Beinen spazieren geht. Oder eine dicke Kugel, die wackelt, wenn sie geht, dann hast du einen Menschen. Und meinst du, sie haben ein ordentliches Kleid von Fell oder Federn? Kein Gedanke. Oben auf dem Kopf haben sie Haare, und manche haben da auch noch nicht mal welche. Auf den Leib müssen sie sich Lappen hängen, das nennen sie Kleider, sonst würden sie tot frieren. Ich würde mich unter die Erde schämen, wenn ich so herumlaufen müßte. Glaub mir, da ist nichts zu holen.« Damit sträubte er sein Gefieder, schrie: »Pack, Pack, Pack. Hahaha!« und flog davon.
»Und ich möchte sie doch sehen,« sagte der rote Hansel für sich. »Nur einmal sehen, fangen ließe ich mich nicht.«
Es war schon kalt, denn der Winter stand vor der Tür, und in den Nächten fror es. Am Tage aber liefen Eichhorns noch fleißig durch das raschelnde Laub und sprangen von Ast zu Ast, denn Vater Eichhorn hielt Bewegung für gesund. Die Kinder durften jetzt auch schon alleine weit durch den Wald springen, und da dachte der Hansel: »Ach, was kann mir passieren, wenn ich jetzt einmal nach dem Jägerhaus hinüberhüpfe. Ich bleibe oben auf den Bäumen, wo die Menschen und ihre Hunde nicht hinkommen können, und spähe von droben herab in ihr Haus. Vorwärts Hansel.« Da huschte er hin.
Aber er war noch ein Dummerchen, denn statt nach links in den Wald zu laufen, wo das Jägerhaus lag, lief er nach rechts. Er sprang von Ast zu Ast, von Baum zu Baum, knusperte hier und da eine Eichel oder ein Bucheckerchen, sah sich mit seinen blanken, schwarzen Augen neugierig in der Welt um und huschte weiter.
So, nun dürfte das Jägerhaus aber auch kommen. Es wurde schon dunkel, und von Menschen war noch nichts zu sehen. Vielleicht lag es da hinter der Waldecke. Wenn es da auch noch nicht war, wollte der Hansel lieber nach Hause gehen. Hinter der Waldecke war auch kein Jägerhaus, und nun machte der lustige Rotschwanz sich auf den Rückweg. Aber das war leichter gedacht wie getan. Die Dunkelheit nahm mit jedem Augenblick zu, und nun wußte Hansel auch nicht mehr, woher er eigentlich gekommen war. Alles sah so seltsam fremd und unheimlich aus, die Tannen standen so schwarz und starr, als drohten sie ihm, in den kahlen Büschen raschelten die letzten welken Blätter so traurig im Nachtwind, und der arme Hansel fing in seiner Angst an, nach Vater und Mutter zu rufen. Aber die waren weit und hörten ihn nicht. Müde wurde er auch, das Springen machte gar keinen Spaß mehr, zuletzt kauerte er sich ganz erschöpft unter einem Dornbusch zusammen, zog den buschigen Schwanz über den Kopf und schlief ein.
Es fror und reifte tüchtig in dieser Nacht.
Am andern Morgen kam von der Stadt her ein junger Mann durch den Wald gegangen, das war ein Lehrer, der machte einen kleinen Spaziergang. Unter einem Busch sah er etwas Rötlichbraunes liegen, und wie er darauf zuging, da war es ein Eichkätzchen, das war von der Kälte ganz verklammt und mochte sich nicht mehr rühren. Nur seine Augen schauten ängstlich auf den jungen Mann. Der hob das Tierchen auf, streichelte das weiche Fell und schob den kleinen Gesellen vorn in seinen Überzieher, da saß er warm. Dann ging er zur Stadt zurück.
Nun war der Hansel bei den Menschen, die er so gerne kennen lernen wollte. Es gefiel ihm ganz gut. Sein Herr hatte zwei Stübchen bei einer dicken, freundlichen Frau, die er Mutter Klassen rief. Diese freundliche Frau hatte eine Vorliebe für den roten Hansel gefaßt und fütterte ihn mit Nüssen, Äpfeln, Kuchen und ähnlichen guten Dingen, und der Hansel ließ es sich gern gefallen. Auch machte sie ihm ein weiches Bettchen in dem Papierkorb seines Herrn, denn den hatte sich Hansel als Schlafgelegenheit ausersehen. Am Tage spielte er in den Zimmern herum oder lief zu Frau Klassen in die Küche, wenn sein Herr ausging, aber abends stieg er in den Papierkorb. Dann wurde erst Ordnung gemacht. Darunter verstand der rote Hansel, daß er alles, was sein Herr am Tage in den Korb geworfen, wieder herauskegelte, wobei es ganz gleichgültig war, wohin die Papierfetzen flogen. Zuletzt zerrte er das Kissen, das Mutter Klassen ihm unten in den Korb gelegt hatte, zurecht, und nun konnte der Schlaf beginnen. Einmal blinzelte der Hansel noch über den Rand nach seinem Herrn, dann rollte er sich zusammen und schlief ein.
Seinen guten Herrn, der ihn vom Erfrieren gerettet hatte, liebte er sehr. Saß der am Schreibtisch, so hüpfte Hansel auf den Schreibtisch und sah ernsthaft zu, wie die Feder in die Tinte tauchte und dann über das Papier glitt. In seinem kleinen Köpfchen machte er sich allerlei krause Gedanken, wozu das wohl gut sein möchte, wenn auf dem weißen Papier all die schwarzen Dinger liefen. Aber er konnte es sich nicht erklären.
Bisweilen sah sein Herr von der Arbeit auf und sagte: »Na, Hansel, alter Kerl, was machen wir denn?«
Sofort hüpfte Hansel ihm auf die Schulter, legte seinen weichen Kopf mit den zierlichen Öhrchen dicht an die Backe des Herrn und streichelte sie mit den Pfötchen. Dann krauelte der Herr ihm das Köpfchen und lachte: »Du bist eine Schmeichelkatze. Na, laß nur, wir beide verstehen uns schon. War doch nur gut, daß ich dich gefunden hab, sonst hätte die Eule am Ende den Hansel gefressen.«
Morgens, wenn der Herr seinen Kaffee trank, oder abends, wenn Frau Klassen mit dem Teetopf kam, hopste Hansel auf den Tisch, schnupperte mit dem Näschen und schaute listig nach der Zuckerdose. Dann fragte sein Herr: »Na, was will denn das Kindchen haben? Zucker? I wo, da bekommt der kleine Hansel ja schlechte Zähnchen. Den mögen wir doch auch gar nicht, was?«
Hansel setzte sich auf die Hinterbeine und bettelte mit den Vorderpfötchen.
»Was? Wir wollen doch Zucker haben? Wenn uns der nur bekommt! Also, dann dieses eine Mal,« damit nahm er den Deckel von der Zuckerdose. Hansel zitterte förmlich vor Verlangen. Sein dicker Schwanz wippte, und die Augen gingen nicht von der Hand seines Herrn. Nun nahm dieser ein Stück Zucker heraus, brach es in zwei Stücke, ein kleines und ein großes, legte beide vor sich hin und fragte: »Welches ist denn nun für den Hansel?«
Wie der Blitz fuhr der kleine Kerl zu, hatte das große Stück in der Pfote und sprang damit auf den Schrank.
»Warte, warte,« drohte sein Herr hinter ihm her, »hat er mir doch wieder das Beste fortgenommen. Komm du mir nur wieder herunter.«
Hansel saß droben und zerbiß mit den blitzenden Zähnen den Zucker, daß es krachte. Wenn das letzte Krümchen verschwunden war, huschte er wieder herunter, setzte sich seinem Herrn auf die Schulter und klopfte ihm mit den Pfoten im Gesicht, dabei gingen die Augen schon wieder nach der Zuckerdose.
Den ganzen Winter blieb Hansel bei seinem Beschützer und der guten Frau Klassen. Draußen fror es, daß die Bäume krachten, und morgens waren dicke Eisblumen an den Fenstern. Das Eichhörnchen hatte nicht unter der Kälte zu leiden, es saß immer im Warmen und war den ganzen Tag vergnügt.
Als der Frühling kam und Frau Klassen eines Tages die Tür zum Balkon öffnete, schoß Hansel an ihr vorüber hinaus, auf das Gitter, vom Gitter auf ein schmales Gesimse, das um das Haus lief, turnte an der Dachrinne in die Höhe und war verschwunden.
Frau Klassen schrie vor Schreck nicht schlecht, und der Lehrer kam heraus aus seinem Zimmer, weil er meinte, es hätte ein Unglück gegeben.
»Der Hansel ist ausgeritscht,« jammerte Frau Klassen. »So 'n Ding ist zu fix. Auf 'n Dach is er rauf und gleich futsch. Nee, nee, was soll nu man aus dem Tierchen werden. Wenn die Jungens ihn fangen, – die sind ja zu grob mit so 'n kleinen Ding?«
Oben über die Dachrinne lugte ein rotes Köpfchen, und eine Schwanzspitze wippte lustig in der Luft. Doktor Mohr, Hansels Herr, erspähte das Köpfchen, und er dachte: »Wart nur, dich wollen wir schon kriegen.« Er ging in die Stube und kam mit der Zuckerdose wieder, die er auf das Balkongitter stellte. Der Schwanz droben auf dem Dach wippte stärker.
Nun fing der Doktor an: »Ob der kleine Kerl wohl ein Stückchen Zucker mag? Ich will mir doch ein Stückchen holen.« Er nahm eins heraus, brach es durch und legte die Stückchen, wie er beim Kaffeetrinken tat, vor sich hin. »Welches ist nun wohl für den Hansel?« Da huschte schon ein kleines Ding vom Dach herab und saß neben der Zuckerdose. Aber der Doktor hatte gut aufgepaßt, und ehe mein Hansel mit seinem Raub entweichen konnte, war er gefaßt und in das Zimmer getragen.
Von da an durfte er nur an einem Kettchen auf den Balkon.
Wieder gingen einige Wochen hin, da fing der Hansel an und schaute immer so traurig zum Fenster hinaus, als hätte er Sehnsucht nach seiner Freiheit. Er schmeichelte noch mit dem Doktor, aber lustig war er nicht mehr dabei, und seine blanken Augen schienen ganz trübe zu werden.
»Ich weiß nicht, Frau Klassen,« sagte der Doktor, »mein kleiner Rotschwanz gefällt mir gar nicht mehr. Ich glaube, er hat Heimweh nach seinem Walde. Es wird mir schwer, mich von ihm zu trennen, aber was bleibt mir übrig? Hier wird er krank. Heute nachmittag gehe ich in den Wald und lasse ihn laufen.«
Und so geschah es. Doktor Mohr nahm Hansel an die Kette und ging mit ihm in den Wald hinaus. Hansel saß auf der Schulter seines Herrn, und als sie zwischen den grünen Bäumen dahin wanderten, wurde er ganz aufgeregt, sprang und zerrte an der Kette.
»Nun so lauf, du kleiner Schelm,« sprach sein Herr und löste ihm die Kette. Hansel fühlte kaum, daß er frei war, da schoß er davon, und eins, zwei, drei saß er auf einer hohen Fichte. Zwischen den grünen Zweigen schaute sein pfiffiges Gesichtchen auf den Doktor herunter, dann flog ein Tannenzapfen nieder als Gruß, und nun war der Hansel verschwunden.
Der Doktor ging noch eine Weile im Walde spazieren, aber es gefiel ihm heute gar nicht so gut wie sonst, und als er auf dem Heimweg war, dachte er, daß es ihm sehr leer vorkommen würde in seinen Zimmern ohne den fröhlichen Kameraden. So kam er an den Ausgang des Waldes, da huschte plötzlich etwas vom Baum herunter und saß ihm auf der Schulter.
»Hansel!« rief der Doktor, »Kerlchen, wo kommst du wieder her?«
Hansel konnte leider nicht in der Menschensprache antworten, sonst hätte er seinem Herrn erzählt, daß er ihn durch den ganzen Wald begleitet hatte, freilich immer hoch droben in den Baumkronen. Weil er aber nicht reden konnte, begnügte er sich damit, seine Nase ganz besonders liebevoll an der Backe des Doktors zu reiben.
Sehr friedlich und einträchtig wanderten die zwei miteinander heim, und Mutter Klassen schlug vor Verwunderung die Hände zusammen: »Nee, Herr Doktor, von selbst is der Hansel wieder mitgekommen? Wat en kluges Tier.«
Seitdem ging der Hansel manches Mal mit in den Wald und sprang vergnügt durch Kiefern und Buchen.
So ging der Sommer hin, und der Winter kam wieder.
An einem Abend war der Doktor noch spät ausgewesen, und als er heimkam, sagte Mutter Klassen: »Ich weiß gar nich, was das mit dem Hansel is, der is nich in seinem Fett. Er hat keine Nuß zum Abendbrot gegessen, und jetzt liegt er in dem Korb und ist so komisch. Gestern trieb er sich so lange auf dem Balkon herum, und es war solch scharfer Ostwind, wenn er sich da man nichts geholt hat?
Ja, der Hansel war krank, recht krank. Im Walde, als er noch mit Eltern und Geschwistern lebte, hatte ihm kein Wetter viel anhaben können, aber jetzt im Zimmer war er verwöhnt und empfindlich geworden.
Am andern Morgen ging der Doktor hin und holte einen Tierarzt. Der meinte, zu solchem Patienten sei er noch nicht geholt worden, aber dem Nashorn im Zoologischen Garten hätte er schon mal einen Zahn gezogen. Allerdings hätte man das Nashorn vorher chloroformiert, sonst hätte es sich die Sache wohl nicht gefallen lassen.
Nun, den Hansel brauchte er nicht zu chloroformieren, der hielt mucksmäuschenstill, als der Doktor ihn in die Hand nahm und behorchte und befühlte.
»Sie haben das Tierchen wohl gern?« fragte der Tierarzt Hansels Herrn.
»Sehr gern,« antwortete der.
»Ist auch ein allerliebstes Dingelchen; aber die kleinen Geschöpfe sind zu zart, und das Leben in der Stadt ist Gift für sie. Der kleine Kerl wird wohl nicht wieder gesund werden.« Damit ging der Tierarzt.
Hansels Herr aber nahm den Patienten auf seinen Schoß und streichelte das weiche Fellchen, und Hansel blickte zärtlich zu ihm auf, doch rühren mochte er sich nicht mehr. Ganz still lag er, und sein Atem wurde immer schwächer, bis er endlich ganz verstummte, da war der kleine rote Hansel tot.
Am nächsten Tag ging sein Herr mit ihm hinaus in den Wald, grub unter der größten Fichte ein Grab und legte das Eichhörnchen hinein. Dann füllte er die Grube wieder mit Erde und steckte einige Zweige mit buntem Herbstlaub darauf. Dann ging er heim, aber es war ihm ganz traurig zu Sinn, denn sein lieber Hansel fehlte ihm nun sehr.
Oben in der Fichte hatte der Rabe gesessen und alles mit angesehen. »So,« sagte er bei sich, »das war doch der kleine Mann, der immer die Menschen kennen lernen wollte. Nun hat er sie kennen gelernt, aber viel Freude scheint er nicht davon gehabt zu haben. Wäre er im Walde geblieben, so lebte er vielleicht noch.« Dann schüttelte er sein Gefieder, schrie: »Pack, Pack, Pack,« und flog tief in den Wald hinein.