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Seit dem Jahre 1802 gab der Peniger Verleger F. Dienemann ein »Journal von neuen deutschen Originalromanen« heraus. Schriftsteller von untergeordnetem Range wie Horn, Küchelbecker, Albrecht u. a. füllten seine ersten Jahrgänge mit wertlosen, heute völlig vergessenen Werken. In dieser wenig ansprechenden, von der Kritik der Zeit meist abgelehnten Nachbarschaft erschien zur Herbstmesse 1804 als 7. Heft der dritten Lieferung jenes seltsame Buch, das Haym, der Geschichtschreiber der deutschen Romantik, zu den geistreichsten Produktionen der Romantik zählte. Vielleicht aber war gerade diese Nachbarschaft nächst dem bald darauf erfolgten Zusammenbruche des Dienemannschen Verlags schuld, daß die »Nachtwachen von Bonaventura« bei der Lesewelt und der zeitgenössischen Kritik nicht die Aufnahme und Beachtung fanden, die sie verdienten. Wohl keiner unsrer Großen hat das Buch je zur Hand genommen.
Nur einer – Jean Paul – las es mit tieferem Interesse, weil er darin Spuren seines Geistes fand. »Lesen Sie doch die Nachtwachen von Bonaventura d. h. von Schelling. Es ist eine vortreffliche Nachahmung meines Giannozzo, doch mit zu vielen Reminiszenzen und Lizenzen zugleich«, schrieb er am 14. Januar 1805 an den ihm befreundeten Thieriot. Dies Urteil konnte die 1904 mit Michels kritischer Ausgabe einsetzende Bonaventuraforschung bestätigen und durch Nachweis zahlreicher Entlehnungen aus andern Werken Jean Pauls erweitern. Gleichwohl wird die Tatsache, daß namentlich das 2. Bändchen des »komischen Anhangs zum Titan«, das des »Luftschiffers Giannozzo Seebuch« enthält, dem Verfasser der Nachtwachen zum Vorbilde diente, uns, die wir erst wieder nach dem Lande der Träume Jean Pauls ausfahren, die Wirkung und Bewertung des Buches nicht verkümmern. Trotz der geistigen Abhängigkeit von Jean Paul erkennen wir in ihm weit mehr als eine »vortreffliche Nachahmung« und vielleicht erfahren wir gleich Jean Paul an uns, daß »es dem Leser viel Kraft verrät und benimmt«, denn die Nachtwachen wollen wie jedes tiefe, nachdenkliche Buch langsam gelesen sein. Sie werden deshalb zum Glück niemals zu den Lieblingen der Vielzuvielen gehören.
In sechzehn Nachtwachen berichtet Bonaventura in der Form der Icherzählung von dem seltsamen Leben des Nachtwächters Kreuzgang. Er macht es uns nicht leicht, denn immer wieder unterbrechen wie bei Sterne und Jean Paul eingelegte »Standreden«, Betrachtungen und lose angegliederte Episoden den Fluß der Erzählung. Eine gewisse Formlosigkeit und Unausgeglichenheit scheint dadurch über dem Ganzen zu liegen. Aber diese Formlosigkeit ist gewollt und entspringt nicht mangelndem Können. »Was gäbe ich doch darum, so recht zusammenhängend und schlechtweg erzählen zu können, wie andre ehrliche protestantische Dichter und Zeitschriftsteller«, heißt es in offenbarer Ironie zu Anfang der 6. Nachtwache.
Aus der stillen Werkstatt eines philosophischen Schuhmachers, wo der Findling Kreuzgang umgeben vom Geiste Hans Sachsens und Jakob Böhmens aufwuchs, tritt er ins Chaos des Lebens hinaus, und das Leben hält ihm, was schon sein Name verspricht. Er teilt die Tragik der Zufrühgekommenen. Sein schwankendes, schwächliches Zeitalter entflammt seinen Zorn und seine Satire. Sie richtet sich gegen die Philosophen und die übrigen gelehrten »Hutmacher«, die die Weisheit gepachtet haben, noch schärfer aber gegen die Juristen und Geistlichen, die nach ihm lieber eine Person ausmachen sollten. Vor seinem durchdringenden Blick fällt von den Menschen die »Maske« ab, so daß sie in Kleinheit und Erbärmlichkeit vor ihm stehen. Mit diesen Kreaturen, an denen er nichts Großes und Erhabenes entdecken kann, einst die lange Ewigkeit teilen zu müssen, erscheint ihm als ein furchtbarer, peinigender Gedanke. Seine Satire wagt sich noch höher hinauf; sie tastet den Fürsten an die Krone und ihren Dienern an die sternbesäte Brust. Für diese unzeitigen Wahrheiten und seine herbe Kritik an der bestehenden Ordnung erschließen ihm Kerker und Tollhaus ihre Pforten. Da ergreift ihn tiefster, bis zum Menschenhaß gesteigerter Ekel, und die alte Weisheit des Koheleth, daß alles eitel ist, verbunden mit der Erkenntnis, daß hinter allen Erscheinungen das Nichts gähnt, ersteht ihm aufs neue. Nachdem er sich als Bänkelsänger, fahrender Dichter, Schauspieler und Hanswurst eines Marionetten-Direktors versucht hat, rettet er die Trümmer seines enttäuschungsreichen Lebens hinüber in die beschauliche Stille des Nachtwächteramts. Dort sucht und findet dieser einsame Tagesverächter die Gesellschaft derer, die gleich ihm die Welt hassen, des verhungernden Poeten und alten Pförtners. Wohl preist er das Lachen. Aber es ist nicht das selige Zarathustralachen, das des Lebens Widerwärtigkeiten vergoldet oder verlöscht. Schrill und gequält mutet sein Lachen uns an. Auch er liebte einst das Leben und der Erde schönsten Schmuck, den Menschen. Nicht leicht wurde es ihm, sich zu der Erkenntnis durchzuringen: »Es ist größer die Welt zu hassen, als sie zu lieben; wer liebt begehrt, wer haßt, ist sich selbst genug, und bedarf nichts weiter als seinen Haß in der Brust und keinen dritten!«
In den funkelnden Mantel romantischer Sprachkunst und Ironie kleidet sich die bittere Weisheit dieses andächtig Blasphemierenden. Alle Stilmittel stehen ihm zur Verfügung. Schlichte und innige Töne wechseln mit grellen und aufpeitschenden. Die Form der Novelle liegt ihm ebensogut wie die politische Rede oder der feierlich getragene Dithyrambus. Die Geschichte einer versonnenen Kindheit steigt aus der Chronik des philosophischen Schuhmachers empor, und des Wahnsinnigen Leben und Lieben schnitzt er in Holz, um ein Marionettenspiel daraus zu gestalten. Mit einer nur von E. T. A. Hoffmann wiedererreichten Meisterschaft malt Bonaventura die Schrecken grausiger Gewitternächte, in denen die Wolken gespenstig am Himmel von lohenden Blitzen zerrissen hineilen, oder das Nahen des Frühlings, das Getümmel am falschen jüngsten Tage und den Wahn seiner lieben Mitnarren. Wer wie er vollends das Erwachen des Blindgeborenen zum Lichte schreiben konnte, zählt wahrlich nicht zur Kaste schwächlicher Nachahmer.
Seltsam wie der Inhalt ist auch die Geschichte der »Nachtwachen«. Es hat lange gedauert, bis die Forschung das geheimnisvolle Dunkel, das über Bonaventura lag, aufhellte. Wohl gestattet das Buch manchen Rückschluß auf seinen Verfasser. Zu seinem Namen und seinem Ich war jedoch auf diesem Wege nicht vorzudringen. Die tiefe Leidenschaftlichkeit aber und das jäh gegen Lug und Schein sich Aufbäumende des Buches lassen vermuten, daß Bonaventura ein junger Dichter war, der von des Lebens Wirrsal mit eiserner Faust geschüttelt einen guten Teil eigenen Erlebens und Leidens in das merkwürdige Buch hineindichtete.
Und gerade dies paßt ebensowenig wie die gesamte pessimistische Grundstimmung des Werkes zu dem Manne, den man fast ein Jahrhundert lang als den Verfasser der Nachtwachen bezeichnete, zum Philosophen Schelling. Dies zuerst nachgewiesen zu haben, ist das unbestrittene Verdienst von Franz Schulz. (Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura, Berlin 1909.)
Es läßt sich heute nicht mehr genau feststellen, in welchen Kreisen das Gerücht entstand. Seine Genesis ist um so deutlicher. Griesebach vermutete mit Recht (Euphorion X. 580), daß man Schelling deshalb die Nachtwachen zuschrieb, weil man ihn, den Dichter dreier mit Bonaventura unterzeichneter Beiträge zum Schlegel-Tieckschen Musenalmanach von 1802, mit dem Autor der Nachtwachen identifizierte. Das Gerücht verbreitete sich unter den literarisch Interessierten weiter, um schließlich in Varnhagen von Ense und Hubert Beckers seine überzeugtesten Nachbeter und Verteidiger zu finden. 1805 kannte es bereits Jean Paul in seinem Briefe an Thieriot, und seit 1821 wurde Schelling in bibliographischen Nachschlagewerken als Dichter der Nachtwachen aufgeführt. Da aber weder damals, noch später – allerdings merkwürdig genug – Schelling dagegen öffentlich Einspruch erhob, sah man nicht mit Unrecht in seinem Schweigen eine leise Bejahung. Überdies waren die Nachtwachen schon damals ein ziemlich seltenes Buch.
Zu den wenigen glücklichen Besitzern eines Originals der Nachtwachen hat auch Rahel Varnhagen gehört. Ihrem Exemplar war es vorbehalten, in der älteren Bonaventuraforschung eine bedeutsame Rolle zu spielen, lernte doch aus ihm ihr Gemahl Varnhagen von Ense 1843 die Nachtwachen kennen, nachdem sie seit Rahels Tode (1833) unbeachtet in seiner Bibliothek gestanden hatten. Wohl damals erst setzte Varnhagen Schellings Namen und seinen eigenen auf das bereits mit Rahels Stempel gezeichnete Titelblatt der Nachtwachen und trug auf der ersten Seite des Vorsatzpapieres die Seiten und Namen: S. 102. S. 154. S. 167. Fichte. Schlegel und S. 213. Goethe ein. In seinem Tagebuche berichtet er von der Lektüre folgendes: »Ich lese den Roman von Schelling »Nachtwachen. Von Bonaventura« (Penig, 1805) und habe ganz den Eindruck davon, als läse ich ein Buch des jungen Deutschlands, eben so unreif, willkürlich, unorganisch, eben so talentvoll, aufblitzend und versprechend, auch an Keckheit fehlt es nicht. Im Ganzen doch ein unglaublich schwaches Erzeugniß, und für Schelling allzu gering. Kein Mensch hier kennt das Buch, und Schelling und seine Freunde verschweigen es mit Fleiß. Man hat es gleichsam entdeckt, durch einen Zufall, denn unter den Büchern Friedrich's von Schlegel, die versteigert wurden, fand sich ein Exemplar, das ihm Schelling geschenkt und in das er sich als Verfasser eingeschrieben hat. Auch in früherer Zeit hab' ich nie von dem Dasein eines solchen Buches gehört.« Die Existenz dieses Widmungsexemplars wird jedoch schon durch das zur Zeit des Erscheinens der Nachtwachen gespannte Verhältnis Schellings und Fr. Schlegels ohne weiteres hinfällig. Besonders auffällig aber ist der Passus vom Schweigen Schellings und seiner Freunde, eine Angabe, die Meißner, der erste Herausgeber der Nachtwachen (1877 und 1881), dahin erweiterte, daß er Schelling durch Antiquare alle erreichbaren Exemplare aufkaufen und vernichten läßt. Zwei Jahre nach Schellings Tode († 1854) teilte Varnhagen weiteres über die Entstehung der Nachtwachen mit, ohne jedoch die Quelle für seine Angaben zu nennen. Sie finden sich in einem Briefe Varnhagens von 1856, den Hubert Beckers in der Festschrift zu Schellings 100. Geburtstage 1875 S. 91 veröffentlichte, ferner in Rudolf Seydels Aufsatz: Schellings Nachtwachen (Z. D. A. 23. 203/5. 1879), wo von einem später verloren gegangenen Zettel mit Notizen von Varnhagens Hand für Prof. Weiße in Leipzig berichtet wird und endlich in Seydels eigenen, bisher noch unbekannten Eintragungen in Rahels Exemplar, die jedoch dasselbe besagen. Darnach hätte Schelling, da er sich zu jener Zeit in einer peinlichen Geldverlegenheit befunden hätte, auf Dienemanns Aufforderung die Nachtwachen in wenigen (bei Seydel heißt es bestimmter »in vier«) Wochen in guter Laune zusammengeschrieben. Dies letzte Zeugnis Varnhagens († 1858) – dem, allerdings in einem Privatbriefe an I. H. Fichte nur, Schellings Sohn Friedrich am 30. April 1858 die Frage entgegensetzte, weshalb dann Schelling in jener peinlichen Geldverlegenheit die 1802/3 in Jena und wohl auch 1804 in Würzburg gelesene »Philosophie der Kunst« nicht herausgegeben habe, wodurch er sich zweifelsohne viel mehr Geld gemacht hätte – dies Zeugnis war für die Folge entscheidend. Schelling wurde damit scheinbar endgültig als Verfasser der Nachtwachen festgestellt, obgleich in seinem Nachlaß keine Spur nach dem Zeugnis seines Sohnes darauf hindeutete. 1871 erklärte sich Köstlin für Schellings Autorschaft, und 1873 folgte der Kirchenhistoriker Karl v. Hase in der 2. Auflage (S. 112/113) seiner Jugenderinnerungen, »Ideale und Irrtümer« seinem Beispiele. All diese Zeugnisse für Schelling faßte Hubert Beckers 1875 in der Festschrift: »Schelling's Geistesentwicklung in ihrem inneren Zusammenhang« zusammen und sprach sich, obgleich er S. 94 gestehen mußte: »Das ist nicht Schelling's durchgängig classischer Styl, konnten wir nicht umhin sagen, so tritt er uns in seinen Schriften nirgends gegenüber,« gleichfalls für Schellings Verfasserschaft aus. Rudolf Hayms vorsichtiges, leises Warnen vom Jahre 1870 (Die romantische Schule, Berlin 1870. S. 636 Anm.) schien ungehört zu verhallen, und mit folgenden Worten leitete 1876 Meißner seinen Neudruck (Lindau 1877) ein: »über den Ursprung des vorliegenden Buches ist unter Literaturkundigen kein Zweifel mehr. Es ist ein dichterischer Versuch J. v. Schellings.« Diese Sicherheit wurde erst 1903 durch einen Aufsatz von R. M. Meyer erschüttert. (Euphorion X. 578–588.) Ihm hatte Wilhelm Dilthey, »der beste Kenner der romantischen Philosophie« erklärt, daß die Nachtwachen unmöglich von Schelling herrühren könnten. Hatte schon Haym 1870 an einen Dichter »halb in der Weise Arnim's und Brentano's, halb in der Weise E. T. A. Hoffmanns« gedacht, so versuchte jetzt R. M. Meyer letzteren als Autor der Nachtwachen nachzuweisen. Seine vorsichtig vorgetragene Hypothese baute G. Thimme (Euphorion 13. 159–184) 1906 in einer Besprechung des inzwischen (l904) erschienenen Neudrucks von Michel durch neue Gesichtspunkte weiter aus. Wären die Nachtwachen wirklich von E. T. A. Hoffmann verfaßt, so hätten wir in ihnen sein erstes Werk. So bestechend aber auch die Gleichsetzung des Gespensterhoffmanns mit Bonaventura war, auf die Dauer konnte diese Hypothese nicht aufrecht erhalten werden. Mit Hermann Michel schien 1904 noch einmal ein wackerer Kämpe einen Speer für Schelling brechen zu wollen. In der Einleitung seiner Ausgabe, die, will man ehrlich sein, die Fundgrube für die weitere Bonaventuraforschung genannt werden muß, wog er sorgfältig alles, was für und gegen Schelling sprach, ab. Man fühlt, Michel ist innerlich von Schellings Autorschaft und der Mitarbeit seiner Gemahlin Karoline überzeugt, aber seine über Schultz' Zweifeln erhabene wissenschaftliche Ehrlichkeit gestattete ihm nicht dort, wo die Lösung für ihn nicht eindeutig blieb, das letzte Wort zu sprechen und so der kommenden Forschung den Weg zu versperren. An ihn knüpfte 1905 Eckertz an (Zeitschrift für Bücherfreunde IX, 6. 234 bis 249). Er sah in den Nachtwachen »ein Spiel mit Schelling und Goethe gegen die Schlegels von Karoline«, obgleich Schellings Schwiegersohn Georg Waitz schon 1871 in der Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Briefen Karolinens die zu unbestimmter Zeit ausgesprochene Vermutung, die Nachtwachen seien ihr Werk, in Abrede gestellt hatte. Den Schlußstein zu dem hundertjährigen Gebäude der Bonaventurafrage setzte 1909 Franz Schultz mit seinem Buche: »Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. Untersuchungen zur deutschen Romantik.« Eine starke, stolze Finderfreude klingt aus seinem Werke heraus, leider vergreift es sich nur allzuoft im Tone, namentlich der verdienstvollen Forschung Michels gegenüber. Im ersten Teile räumt Schultz endgültig mit der alten, durch Varnhagen genährten Überlieferung auf, indem er restlos zeigt, daß Schellings Weltanschauung um 1804 eine andre war, als die des Autors der Nachtwachen. Im zweiten Teile weist er an der Hand zahlreicher überzeugender Parallelen das seltsame Buch dem bis dahin noch so gut wie unbekannten Schriftsteller und Dichter Friedrich Gottlob Wetzel zu. In Bautzen 1779 geboren, studierte Wetzel seit 1799 in Leipzig Medizin. Hier und in Jena führte er das für jene Zeit typisch armselige Literatenleben des mittellosen Studenten. Unter der Menge seiner anonym erschienenen Schriften, deren Titel er später vielleicht selbst nicht mehr wußte, behielten die Nachtwachen allein dauernde Bedeutung. Auffällig jedoch bleibt es, daß Wetzel später, als er in Dresden und Bamberg in geordnetere Verhältnisse gekommen war, mit keinem Worte sich zu seinem genialen Jugendwerke bekannt hat. Vielleicht hätte der 1819 Verstorbene gesprochen, wenn er noch die erste Fixierung der Gleichsetzung von Schelling mit dem Dichter der Nachtwachen (1821) erlebt hätte. Die Wissenschaft hat die in Schultz' Werke und in dem Nachwort zu seinem Neudruck (Insel, 1909) niedergelegten Forschungsergebnisse akzeptiert. (Euphorion 16. 797–800). Mit ihnen war die Bonaventurafrage beantwortet. Da traten 1912 E. Frank und A. Schmits auf Grund eines sprachvergleichenden Verfahrens den Beweis an, daß Clemens Brentano die Nachtwachen 1804 in Marburg verfaßt und in sie einen guten Teil seiner Familien- und Lebensgeschichte hineingelegt habe. (Germanisch-Romanische Monatsschrift IV, 7 1912 und Einleitung zu Franks Ausgabe, Heidelberg 1912.) Diese Annahme lehnte E. Berend entschieden ab (Euphorion 19, 796–813), so daß Wetzels Autorschaft nach dem jetzigen Stande der Forschung nicht als erschüttert gelten kann.
Die vorliegende Ausgabe, die Verwirklichung eines schon in der Studienzeit des Herausgebers gehegten Wunsches, stellt keinen Abdruck des Meißnerschen Textes dar. Ihr wurde vielmehr zum ersten Male das Exemplar aus Rahel Varnhagens Bibliothek (und das der Herzoglichen Bibliothek zu Gotha, bei dessen Lektüre einst in Karl v. Hase frühe Kindheitserinnerungen aufstiegen,) zu grunde gelegt. Rahels Exemplar, in moiriertes Leinen gebunden, mit Lederrückenschild und grünem Schnitt, hatte seit 1879 keinem Forscher oder Herausgeber wieder vorgelegen, und so bestand nur wenig Hoffnung, das Exemplar wieder aufzufinden, obgleich Rudolf Seydels Notiz (Z. D. A. 23. 204) den Weg dazu wies. Ihr folgend, erkundigte ich mich bei den Söhnen des 1892 verschiedenen Leipziger Gelehrten nach dem Verbleib der Nachtwachen. Herr Prof. Dr. Martin Seydel, Leipzig-Leutzsch, in dessen Bibliothek Rahels Exemplar übergegangen war, hatte die Güte, mir dasselbe nebst dem von seinem Vater 1879 gleichfalls erwähnten, bisher noch nicht vollständig gedruckten Briefe Friedrich Schellings, des Herausgebers der Werke des Philosophen Schelling, an I. H. Fichte und der Antwort des letzteren an Weiße für meine Ausgabe zur Verfügung zu stellen. Auf dem unteren Rande des Titelblattes befinden sich Einzeichnungen zur Geschichte des Exemplars von R. Seydels Hand. Sie waren gleichfalls bisher unbekannt und korrigieren Fr. Schultz' Angabe (S. 38), Varnhagen habe das Buch »später verschenkt«. Nach Rudolf Seydels Zeugnis hatte Varnhagen die Nachtwachen Weiße nur geliehen. Als Seydel von Weiße beauftragt, sie Varnhagen 1858 in Berlin zurückgeben wollte, las er die Nachricht von Varnhagens Tode. Er gab das Exemplar Weiße wieder, aus dessen Nachlaß es 1867 laut Eintrag auf der Innenseite des Einbandes in R. Seydels Bibliothek überging. So belanglos diese Angaben manchem auch scheinen mögen, aus ihnen erhellt, daß Varnhagen sich nicht freiwillig der Nachtwachen, dieser vermeintlichen Waffe gegen Schelling, begeben hat.
Ein Brief Rudolf Seydels vom 12. Oktober 1858, den ich in seiner ungemein anziehenden Korrespondenz mit Prof. Weiße auffand, bestätigt den Inhalt des erwähnten Vermerks. Er wird im Anhang mit dem Briefe Fr. Schellings an I. H. Fichte als schlichter Beitrag zur älteren Bonaventuraforschung zum erstenmal veröffentlicht. An die Briefe reiht sich das völlig im Stile der Nachtwachen gehaltene Fragment eines Werkes, das Bonaventura unter dem Titel »Des Teufels Taschenbuch« plante. Michel wies es zuerst 1904 in Nr. 37 der »Zeitung für die elegante Welt« vom 26. März 1805 nach.
Meine Ausgabe der Nachtwachen bietet den Text zum erstenmal wort-, zeilen- und seitengetreu, so daß jede Zeile und Seite genau dem Original entspricht. Auch die Seitenzählung ist dieselbe. Nach reiflicher Erwägung, ob eine Modernisierung der alten Orthographie und Interpunktion statthaft und anzuwenden sei, entschied ich mich doch für die Wahrung der alten Schreibweise. Nur dort, wo offenbare Setzversehen den Sinn stören können, empfahlen sich folgende Änderungen: Sie wurde statt sie geschrieben: S. 124. 4. 11. 22. 125. 1. 2. 5. 7. 15. 18. 128. 16. 20. 160. 21. 169. 2. – Ihnen statt ihnen: S. 125. 13. 17. – wirst statt mirst: S. 26. 9. – gegen statt gegegen: S. 65. 14. – Schmäuchen statt Schmännchen: S. 129. 9. – Darwin statt Darwie: S. 146. 10. 147. 1. 11. – einen statt einem: S. 179. 4. – mir statt wir: S. 271. 8. – Oehlmann statt Oehlmannn: S. 173. 8. Nicht verbessert wurde S. 230. 13. ›meine‹ und S. 195. 14.: ›wieder‹, das bereits in Rahels Exemplar handschriftlich durch: ›minder‹ ersetzt ist. Buchstabensturz im Original wurde ohne weiteres berichtigt. Auf erklärende Anmerkungen glaubte ich verzichten zu können, da eine Belehrung über Koch, Darwin, Weber u. a. kaum die Freude an dem seltsamen Buche vertiefen wird. Dagegen enthält der Anhang ein Verzeichnis der wichtigsten Literatur zur Bonaventurafrage.
Mögen die Nachtwachen in dieser Ausgabe sich viele Freunde erwerben.
Herrn Prof. Dr. Martin Seydel, Leipzig-Leutzsch, spreche ich auch an dieser Stelle meinen ergebensten Dank für die gütige Überlassung des Originals und die Erlaubnis zur Benutzung der väterlichen Korrespondenz aus. Herzlichen Dank schulde ich auch Herrn Prof. Dr. Wolfgang Seydel für manche wertvolle Auskunft. Ferner danke ich der Verwaltung der Herzoglichen Bibliothek zu Gotha, der Universitäts- und Stadtbibliothek zu Leipzig.
Leipzig-Oetzsch, im März 1914.
Dr. Raimund Steinert