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Die Tür des Zimmers öffnete sich. Er hörte es. Hörte auch vier Männer eintreten, die er an ihren Stimmen erkannte. Seine drei Förster waren es und der Verwalter. Sie machten sich nicht weit vom Bette an irgendeinem Gegenstande zu schaffen.
»Ich glaube, es ist besser, wir stellen den Sarg gleich neben das Bett«, hörte Thorgut Christen sagen.
In letzter, übermenschlicher Anstrengung wollte er in die Höhe, wollte sich zur Wehr setzen gegen das Furchtbare. Die Männer waren gekommen, um ihn in den Sarg zu legen! Unten war die Halle zur Leichenfeier geschmückt –! Dann werden sie den Sarg verlöten, werden ihn auf den Friedhof hinaustragen und werden ihn sechs Fuß tief hinuntersenken –! Lebendig begraben werden sie ihn –!
Nein – nein! Dagmar – Dagmar!
Die Männer kamen an das Bett. Wild sprang der Hund gegen sie auf.
»Was ist denn das?« rief der Verwalter.
»Lord – kusch –!« kommandierte Christen.
Pacher, ein großer, starker Mensch, beugte sich vor, um den Hund am Halsband zu fassen. Wie zwei Eisenladen schnappten die Kiefer des Tieres zusammen, und hätte der Förster nicht rasch die Hand zurückgezogen, wäre es um sie geschehen gewesen. Ratlos standen die Männer – vor ihnen der Hund mit jenem leisen gutturalen Knurren, mit dem die großen Tiere seiner Art Kampf auf Tod und Leben ansagen.
Thorgut hörte das alles. Lord – mein guter Lord! Er faßte seine ganze Kraft zusammen, um die unheimliche Fessel zu sprengen, die ihn gelähmt und wehrlos niederhielt. Umsonst – umsonst!
»Wir müssen eine Decke über den Hund werfen«, schlug der Pacher vor.
»Aber wir können doch hier neben dem toten Herrn keine Rauferei mit ihm anfangen«, meinte der alte Christen, dem ohnedies nicht recht geheuer war. Er dachte an die Szene oben auf dem Hirschensprung –.
»Vielleicht holen wir die gnädige Frau?« riet der Verwalter.
Christen lief davon. Die anderen zogen sich zurück und warteten. Der Hund stellte sich zur Schlacht bereit vor das Bett. Mit glühenden Augen starrte er auf seine Gegner. Weiß drohten seine mächtigen Fangzähne.
Dann hörte Thorgut die andern kommen. Hörte seine Frau. Fühlte die Untersuchung des Arztes. Hörte dessen Wort – und schlummerte erleichtert ein.
* * *
Die Nachricht von der beinahe ans Wunderbare grenzenden Errettung Thorguts vor dem furchtbarsten aller Tode erregte natürlich noch größere Sensation als die von seiner Ermordung. Hemmungslos redeten, schrien, fragten alle durcheinander. Dagmar und der Arzt wurden fast in Stücke gerissen. Die Journalisten, von Fiebereifer gepackt, waren die ersten, die davonstürmten. Das kleine Telegraphenamt im Dorf bekam an diesem Tage in einer Stunde mehr zu tun als in den zehn letzten Jahren zusammen.
Dagmar selbst wußte kaum, was um sie herum und mit ihr vorging. Sie drückte alle die Hände, die sich ihr gratulierend entgegenstreckten. Beantwortete alle die törichten Fragen. Tapfer hielt sie aus, bis endlich gegen Abend das Schloß sich leerte.
Aglaia Starnfels und Josefa Lohnstein wollten bei ihr bleiben. Doch sie schickte sie fort.
»Josefa,« sagte sie, »du müßtest eigentlich am schnellsten weg. Zu Hause sitzt Ferry – sage ihm, daß Thorgut nicht tot ist!«
Als der letzte fuhr Liebenstein fort. Bevor er auf seinen Wagen stieg, ließ er sich noch von Dagmar versprechen, daß sie ihn sofort anrief, sobald sie ihn benötigte.
»Und vergessen Sie nicht, Thorgut, wenn er erwacht ist, zu sagen, daß sich von seinen Freunden niemand mehr freut über seine Wiederkunft als ich!« bat er sie noch zum Schluß.
Dann war sie allein.
In der Halle hatten die Diener, noch während die Gäste sich verabschiedeten, den ganzen Trauerschmuck entfernt. Zwar schlich alles noch auf Zehenspitzen umher. Doch auf jedem Gesicht war Freude und frohe Erwartung zu lesen. Fast als Vorwurf gegen sich empfand es Dagmar, daß sie jetzt erst sah, wie lieb die Leute eigentlich Thorgut hatten. Mein Gott, fragte sie sich, wie habe ich denn neben ihm gelebt –?
Sie stieg in das Zimmer hinauf, das jetzt kein Totenzimmer mehr war. Hier hatte bereits Susanne gewaltet. Alles Schwarze, Düstere war verschwunden. Keine Kerzen mehr, keine herabgelassenen Vorhänge. Frei und ungehindert strich die rote Abendsonne in den Raum und legte ihren Schimmer um den Mann, der auf dem Bette lag und mit tiefen, gleichmäßigen Atemzügen den Schlaf der Erholung und Genesung schlief.
Susanne stand mit dem Kinde neben dem Bett. Und Dagmar sah große Tränen in den dunklen Augen des seltsamen Mädchens. Leise trat sie zu ihr hin, und während sie die Linke auf den Scheitel Ellas legte, suchte sie mit der Rechten die Susannes. Kalt und ausdruckslos fühlte sich diese zuerst an. Aber Dagmar umschloß sie mit so warmem, herz- und dankerfüllten Druck, der mehr als alle Worte sagte, daß die Tränen des Mädchens stärker flossen. Wie ein Krampf kam es über Susanne – als Dagmar sie leise an ihre Brust zog, wehrte sie sich nicht mehr. So standen sie lange.
* * *
Doktor Haugh war natürlich der einzige, der zurückblieb. Er aß mit Dagmar ein flüchtiges Abendbrot in der Halle, während Susanne oben am Bett die Wache hielt. Dagmar sollte sie dann um zwei Uhr in der Frühe ablösen. Für den Doktor selbst wurde im Nebenzimmer ein Bett aufgeschlagen, damit er jederzeit zur Hand war.
»Wir müssen damit rechnen, daß er jede Minute aufwacht,« sagte er, »und wir dürfen das Wunder, das geschehen ist, durch nichts gefährden.«
»Ist es denn wirklich ein Wunder?« fragte Dagmar.
Der alte Atheist lächelte verschmitzt.
»Ich weiß nicht, wie es Christus und seine Jünger gemacht haben, als sie Tote wieder aufweckten. Vielleicht haben die von Medizin mehr verstanden, als wir heute alle miteinander. Aber wenn ich in unserem Falle von Wunder spreche, so brauchen Sie das nicht so wörtlich zu nehmen, gnädige Frau. Thorgut ist ein selten starker und gesunder Mensch – das ist wohl die natürliche Hauptbedingung für solch ein Wunder. Eine andere Erklärung noch? Hm – die Kugel ist dicht über dem Herzen eingedrungen, hat sich dann, wie wir ihn gefunden haben, auf das Herz gesenkt und es gedrückt. Dadurch ist eine Lähmung entstanden, die aber wieder behoben wurde, als der Gerichtsarzt und ich gestern morgen das Geschoß extrahierten. Daß sie trotzdem dann noch vierundzwanzig Stunden angedauert hat, glaube ich dadurch erklären zu können, daß sich vielleicht in der Wunde selbst ein starkes Blutgerinsel gebildet und seinerseits auf das Herz einen gewissen Druck ausgeübt hat. Dieser Druck war aber nicht so stark, daß er die langsam wieder einsetzende Pulstätigkeit unmöglich machte. Wir werden ja sehen – ich möchte ihn jetzt nicht stören –, wenn er aufwacht, werde ich die Wunde untersuchen. Das ist natürlich alles Hypothese, und vor einem Kollegium gelehrter Fachgenossen werde ich mich nicht damit heraustrauen.«
Dagmar aber fegte alle seine Erwägungen mit fröhlicher Handbewegung beiseite.
»Was frage ich nach dem Wie und Warum, lieber Doktor! Er ist nicht tot und – nicht wahr, er wird wieder ganz gesund werden?«
Doktor Haugh schenkte ihr und sich ein Glas
Wein ein und sagte:
»Darauf wollen wir anstoßen, Frau Dagmar!«
* * *
Die Frau des Neuhofer saß bis spät am Vormittag oben am Stadl und wartete. Es war Mittag, als sie sich entschloß, ins Dorf zurückzukehren, und auf dem Wege dahin begann sie sich an den Gedanken zu klammern, daß der Poldi vielleicht inzwischen nach Hause gekommen war. Weiß Gott, irgendein Grund mochte ihn am Tag vorher verhindert haben, die Verabredung mit ihr einzuhalten. Vielleicht lag er jetzt daheim im Bett und schlief. So schnell sie konnte, lief sie durch den Wald hinunter.
Doch der Neuhofer war nicht zurückgekehrt.
Was sollte sie tun?
Doppelte Angst quälte sie. Die Angst um das Leben ihres Mannes, die ihr immer stärker zusetzte, und die Furcht, ihm irgendwie zu schaden, wenn sie zum Gendarmen ging und dem ihre Not klagte. Keinen Rat wußte sie sich. So sehr sie sich auch den Kopf zermarterte. Mechanisch tat sie ihre Hauspflichten. Reinigte den Hof, fütterte das Vieh. Doch sie wußte kaum, was sie tat. Immer nur die eine – eine Frage – wo war der Mann; wo war er?
Endlich hielt sie's nicht mehr aus und lief ins Bürgermeisteramt, wo sie den Gendarmen antraf.
»Gestern früh ist er fort, und bis jetzt nicht zurückgekommen? Na, Frau – der Neuhofer ist doch kein kleines Kind! Der sitzt gewiß in Molln und hat sich einen Mordsrausch angetrunken«, meinte der Vertreter der Staatsgewalt im Dorfe.
»Nein, nein – er ist ja gar nicht nach Molln gegangen«, rief die Frau. – »Ich muß es ja jetzt sagen. Wie ich ihm von dem Mord gesagt hab', da ist er gleich aufgestanden, hat sich angezogen und ist fort'gangen. Ich –« sie kämpfte noch einen letzten Kampf mit sich, dann sprudelte sie ihr Geheimnis heraus. – »Ich glaube, er hat den Mann gesucht, der den Herrn Thorgut erschossen hat! Er hat gesagt, er weiß, wer's getan hat!«
Da fuhr der Gendarm wild auf.
»Weibsbild – vertracktes!« schrie er die Frau an. »Warum haben S' das nicht gleich g'sagt? Das gibt der Geschichte ein ganz anderes G'sicht!«
»Ich habe mich halt nicht g'traut, Herr Wachtmeister.«
»Ach was, das kommt davon, wenn man immer ein schlechtes Gewissen hat! Also ganz bestimmt wissen Sie, daß der Neuhofer gesagt hat, er kennt den Mörder?«
»Ja.«
»Na – na – hat er gar nichts angedeutet, wer das sein könnt'? Hat er nicht g'sagt, wohin er geht?«
Die Frau ließ die Arme sinken und schüttelte resigniert den Kopf.
»Nix hat er g'sagt. Und nur g'schafft hat er mir, daß ich ihn am Abend droben am Stadl erwarten soll. Die ganze Nacht bin ich dort gehockt – er ist nicht 'kommen. O du mein Gott – o du mein Gott – am End' hat 'n der Mörder auch umgebracht!«
Der Gendarm fluchte leise vor sich hin.
»Neuhoferin, Sie sind doch kein altes Waschweib! Wir werden ihn schon finden!«
Der Gendarm trommelte sofort ein paar Bauern zusammen, die er nach verschiedenen Richtungen in den Wald hinaufschickte. Er selbst setzte sich aufs Pferd und ritt die ganze Umgegend ab.
Im Dorfe steckten sie die Köpfe zusammen und begannen wieder zu raunen und zu flüstern.
»Sicher, der Lohnstein, der hat ihn umgebracht!«
»Is ja eine Schand' – da lassen's den vornehmen Herrn auf sein Schloß zurück. Unsereinen täten's sofort aufhängen!«
In der Tonart ging es weiter. An dem Abend wurde beim Ochsenwirt unheimlich viel Bier konsumiert, und es wurden furchtbar drohende Reden gehalten.
Am Morgen kehrten der Gendarm und seine Leute zurück – den Neuhofer hatten sie nicht gefunden.
* * *
Ungefähr zur selben Zeit an diesem Morgen war es, daß Thorgut aus seinem tiefen Schlaf erwachte. Dagmar saß gerade neben seinem Bett, als er die Augen aufschlug, und so war der erste Gruß des wiederkehrenden Lebens das süße, glückselige Lächeln seines Weibes. Aber schwach war er noch, sehr schwach. Er wollte die Arme heben, sie an sich ziehen. Doch kaum, daß er die Hände regen konnte. Seine Augen sprachen von seiner Freude und Glückseligkeit, das war alles.
Der Arzt kam herbeigelaufen, Susanne und Brigitte dicht hinter ihm. Ängstlich horchte Haugh den Puls ab, und er nickte befriedigt. Kein Fieber war zu befürchten.
»Haben Sie Hunger?« fragte er.
»Ja!«
Wie ein Hauch kam es über die Lippen Thorguts, aber doch verständlich.
Dagmar rannte aus dem Zimmer, um die Bouillon zu holen, die die ganze Nacht über auf dem Herde bereitgestanden hatte. Susanne trat an ihrer Stelle an das Bett heran –
Thorgut wandte langsam – schwer genug schien's ihm noch zu werden – den Kopf zu ihr hin. Sah sie lange und mit seltsamem Blicke an. Das Herz schlug dem Mädchen bis in die Kehle hinauf –.
»Daß Sie uns wiedergegeben sind, Herr Thorgut!« stammelte sie und beugte sich über seine Hand.
Dagmar brachte die Suppe. Löffel um Löffel flößten sie ihm ein. Dann mußten sie alle das Zimmer verlassen, denn Haugh wollte die Wunde untersuchen. Das war bald geschehen. Und ohne große Mühe gelang es ihm, einen starken Klumpen geronnenen Blutes daraus zu entfernen. Ein Verband wurde angelegt, und Thorgut fühlte sich sichtlich erleichtert.
»Wenn alles gut geht,« sagte der alte Doktor, indem er sich vergnügt die Hände rieb, »ist der von den Toten Auferstandene in ein paar Wochen wieder so lebendig, wie je zuvor. Es geht doch nichts über eine gesunde Konstitution. Die ist mehr wert als alle Doktoren und Apotheken zusammengenommen.«
Still lag Thorgut – schwach und abgezehrt zwar noch –, doch auf den Wangen war nicht mehr die bleiche Wachsfarbe des Todes, und aus den Augen schaute frischer Lebensmut heraus. Dagmar hielt seine Hand –
Plötzlich schien irgendein Gedanke über ihn zu kommen. Er machte eine Bewegung, als wollte er sich erheben.
Doch schnell stürzte Haugh sich auf ihn und drückte ihn zurück.
»Um Gottes willen, Mann! Sie werden noch ein paar Tage liegen müssen, ohne sich zu rühren!«
»Ich muß aber etwas sagen«, flüsterte Thorgut. Sein Blick wurde hart und bestimmt.
»Aber das hat Zeit!« bat Dagmar.
»Nein – nein!« beharrte er. »Unten im Dorfe ist jetzt eine Frau, Dagmar, die sich um ihren Mann so bangt, wie du dich um mich gebangt hast. Die Neuhofer –«
Sie sahen sich untereinander erstaunt an. Sie wußten schon von dem Verschwinden des Neuhofer, denn früh am Morgen war der Gendarm im Schloß gewesen und hatte auch hier nach dem Bauern gefragt. Aber woher wußte Thorgut?
Er mußte einige Minuten still liegen, bis er so weit war, um fortzufahren.