Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Täter Neuhofer?

»Ich war soeben dabei, dies zu erzählen. Frau Thorgut machte mir über mein Benehmen ihrem Manne gegenüber die heftigsten Vorwürfe und stellte mich vor die Wahl, entweder sein Freund zu werden oder ihr Haus auf immer zu meiden.«

»Was antworteten Sie darauf, Herr Baron?« Der junge Mann zauderte einen Moment. Dann aber erhob er den Kopf und schaute den Männern auf der anderen Seite des Tisches offen und ehrlich ins Gesicht.

»Ich gab keine Antwort, sondern bin wütend davongelaufen.«

»Und – Herr Baron –?«

In diesem einen kurzen Worte ballte sich die ganze Gefahr für Lohnstein zusammen. Er mochte das selbst fühlen, denn seine Selbstbeherrschung, seine Sicherheit verließen ihn. Er überlegte, wie er und was er antworten sollte – still wurde es in der Bibliothek. Ganz still –. Alle warteten –.

In diese Stille hinein plötzlich ein Klopfen gegen die Tür. Für alle wie eine Erlösung –. Auf einen Wink des Landesgerichtsrats ging Philipp hin und öffnete. Ein Stallbursche stand draußen und steckte dem Diener einen Brief in die Hand, den dieser erstaunt hin und her drehte.

»Dieser Brief wurde soeben für Sie abgegeben, Herr Graf Liebenstein«, sagte er.

»Für mich?«

Überrascht griff Liebenstein nach dem großen gelben Kuvert.

»Gestatten Sie, Herr Landesgerichtsrat –?«

»Selbstverständlich.«

Liebenstein las und steckte Brief und Kuvert in die Tasche. Achselzuckend ging er dann auf seinen Platz zurück, und das Verhör Lohnsteins konnte weitergehen.

»Und?« wiederholte der Landesgerichtsrat seine Frage. »Wohin haben Sie sich dann von dieser Unterredung begeben?«

»Ich bin herumgeritten – ich weiß selbst nicht wo, und bin schließlich so um zwei oder drei Uhr morgens nach Hause gekommen. Ich habe mein Pferd selbst in den Stall gebracht und bin dann schlafen gegangen. Mehr kann ich bei Gott nicht sagen, Herr Landesgerichtsrat!«

Zum dritten Male erschien das Gewehr.

»Kennen Sie diese Waffe?«

»Nein.«

»Der Förster Christen hat dieses Gewehr oben in einem Tümpel am Hirschensprung gefunden, Herr Baron. Jemand aus dem Hause hat es aus dem Waffenschrank in der Halle genommen und damit Herrn Thorgut erschossen –«

»Ich war nicht in der Halle –« rief Lohnstein. »Sie können sich doch denken, daß ich das nicht gewagt haben würde! Ich hatte mein Pferd drüben im Walde angebunden und bin zu Fuß zum Obstgarten gekommen. Dort habe ich gewartet.«

Wieder tauschten Landesgerichtsrat und Staatsanwalt leise ihre Meinung aus.

»Wir danken vorläufig, Herr Baron!« sagte der erstere.

Dagmar wurde herbeigerufen. Leise, aber mit einer Würde, der sich auch die Männer des Gerichtes nicht entziehen konnten, bestätigte sie Wort für Wort die Aussagen Lohnsteins. Und sie fügte noch hinzu:

»Wenn Sie Fräulein Warren nochmals vernehmen wollten, meine Herren, so wird Ihnen die Dame bestimmt etwas sehr Wichtiges sagen.«

So trat denn Susanne Warren nach ihr vor den Tisch der Kommission, die interessiert aufhorchte, als sie ihr von dem geheimnisvollen Geräusch auf dem Korridor und der geöffneten Tür in der Halle berichtete.

»Herr Thorgut selbst kam in die Halle?« fragte der Staatsanwalt.

»Jawohl, Herr Richter. Der Hund war unruhig geworden –.«

»Ich muß gestehen,« sagte der Landesgerichtsrat, »daß die Angelegenheit immer verwickelter wird. Je tiefer wir nachforschen, desto mehr verwirren sich die Fäden. Nur noch eine Frage, Fräulein Warren, warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Ich hatte meine persönlichen Gründe dafür, Herr Richter!« lautete die Antwort. Herb, hart und abweisend.

Liebenstein kam naher.

»Gestatten Sie die Frage, meine Herren, ob Sie uns noch benötigen? Wir waren seit gestern morgen nicht zu Hause. Und ich habe soeben einen dringenden Brief von meinem Verwalter bekommen –

Der Richter nickte.

»Wir glauben, die Herren vorläufig entlassen zu können. Pardon, Herr Baron Lohnstein, Sie müssen wir ersuchen, hierzubleiben.«

Die Wangen des jungen Mannes färbten sich dunkelrot, und die Adern auf seiner Stirn schwollen gefährlich an. Einen Moment lang schien es, als wollte er sich auf die beiden Beamten stürzen. In ihrer Herzensangst stieß Dagmar einen halblauten Schrei aus, und der rief ihn zurück. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, um ihr nervöses Zucken zu verbergen, und biß die Zähne tief in die Lippen.

Gelassen warteten die Beamten, der Landesgerichtsrat mit einer Miene, in der sich warmes Mitgefühl ausprägte. Er war ein alter Mann, dieser Kreisrichter aus Steyr, hatte viel Menschenleid in den dreißig Jahren seiner Arbeit an sich vorüberkommen sehen und sich Empfindung und Warmherzigkeit bewahrt. Oder er hatte sie vielleicht mit seinen weißen Haaren wiedergefunden –.

»Wir möchten noch einige Fragen an Sie richten, Herr Baron«, sprach er. »Und wir wollen die anderen Herrschaften alle nicht mehr aufhalten.«

Lohnstein blieb also allein zurück.

Der Richter setzte sich nicht wieder an seinen Platz, sondern ging langsam, die Hände unter seinem abgetragenen Rock verschränkt, auf und nieder. Er mußte den jungen Mann einer Prüfung unterwerfen, die so schwer war, daß sie eigentlich der direkten Anklage des Mordes gleichkam. Sie hatten oben, so wie Thorgut, die Fußspuren gemessen. Hatten auch den Abdruck des Knies gefunden. Mehr noch – sie hatten den Rückweg ausfindig gemacht, den der Mörder nach seiner Tat genommen hatte. Er war nicht über die Lichtung zurückgegangen – dort lag ja der Mann, den er niedergeschossen hatte. Um die Lichtung herum längs des Randes war er zum Waldweg zurückgeschlichen – und just in einem der kleinen Tümpel dort hatte er die Mordwaffe versenkt. Nun sollten die Maße, die man oben auf dem Hirschensprung festgestellt hatte, an die Stiefel Ferrys angelegt werden! Was blieb da noch zu sagen?

Lange würgte der Richter an seinen Worten. Dann, mit ruckartigem Entschlusse vor Lohnstein stehenbleibend, redete er ihn an:

»Herr Baron, Sie sind ein Mann und müssen den Dingen ins Auge sehen – so, wie sie sich und zum Teil – ich spreche hier ausdrücklich nur von der geheimen Zusammenkunft im Garten – durch Ihre Schuld gestaltet haben. Vielleicht ist es aber möglich, die Wolken mit einem Schlage zu zerstreuen. Wir haben oben auf dem Hirschensprung Abdrücke gefunden, die uns zu elegant geschnittenen Reitstiefeln zu passen scheinen. Wenn wir –«

Ferry Lohnstein lachte höhnisch.

»Also soweit ist es schon mit mir! Sie verdächtigen meine Reitstiefel? Bitte – nehmen Sie ihre Maße! Vielleicht auch noch ein paar Fingerabdrücke gefällig?«

Die Beamten erwiderten nichts auf diesen Hohn, der ja nur der Ausdruck wilder, wehrloser Verzweiflung war. Der Gerichtsschreiber holte aus seiner Tasche mehrere Stücke Bindfaden hervor, die genau nach dem Maße der Abdrücke auf der Mordstätte zurechtgeschnitten waren. Sie paßten.

Nun war der Landesgerichtsrat beinahe noch ratloser als zuvor. Lohnstein war der Sohn eines der ältesten Familien des ganzen Kreises, ja des ganzen Landes. Sollte er ihm jetzt schon die Hand aus die Schulter legen und ihn in die Schmach des Untersuchungsgefängnisses schicken? Die Verantwortung, die er von allem Anfang an gefürchtet, erdrückte ihn fast. Hilfesuchend blickte er zum Staatsanwalt hinüber. Doch auch der – bei allem seinem Ehrgeiz – zauderte. Indizien sind schließlich Indizien – nicht mehr.

»Herr Baron,« wendete sich der alte Mann zu Lohnstein zurück, sichtlich von dem Bestreben geleitet, unnötige Demütigung zu vermeiden, »wir fürchten, daß die Umstände so, wie sie sich jetzt darstellen, uns zwingen werden, alle Ihre Angaben noch naher zu prüfen. Wollen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, sich auf Schloß Lohnsburg jederzeit zu unserer Verfügung zu halten?«

Der ganze Trotz Lohnsteins schwand vor dieser Frage, aus der die Güte eines einfachen Menschenherzens klang. Mit wenigen Schritten war er vor dem Richter und griff nach seiner alten, verknöcherten Hand.

»Ich weiß, was Sie für mich tun, Herr Landesgerichtsrat«, stammelte er. »Ich – ich schwöre Ihnen, ich habe Thorgut nicht erschossen. Als Mann zu Mann schwöre ich das. Aber tun Sie Ihre Pflicht, Sie werden mich jederzeit bei mir zu Hause finden –

Vor dem Schlosse entstand Unruhe. Stimmen ertönten. Die Freunde Dagmars verließen Sternkron. Liebenstein wollte Josefa Lohnstein nach Hause bringen; Pyrker nahm sich Aglaia Starnfels' an. In langsamem Trab ritten sie über die Wiesen zum Parktore hinaus.

Thorgut folgte ihnen. Hielt gleichen Schritt mit ihnen. Selbst dann, als sie auf der Straße in einen leichten Galopp übergingen.

* * *

Die Frau des Neuhofer bereitete sich darauf vor, ihren Mann aufzusuchen. Sie hatte eine kräftige Suppe gekocht, ein festes Stück Schweinefleisch gebraten – denn sie wußte nicht, ob der Poldi den Tag über etwas zu essen gehabt hatte. Auf jeden Fall wollte sie nicht mit leeren Händen kommen. Den Nachmittag über hatte sie so im Dorf herumgehorcht, was alles gesprochen wurde. Hatte aufmerksam darauf geachtet, ob man auch den Namen ihres Mannes nannte.

Doch von dem wurde nur wenig geredet. Die Leute flüsterten ausschließlich von dem vornehmen Herrn, dem das Gericht den Mord schon nachgewiesen hätte. Ferry Lohnstein war auch nicht gerade beliebt unter den Bauern. Er war hochmütig und jähzornig; und hatte so manchen, den seine Heger beim Wildern erwischt, mitleidlos ins Zuchthaus geschickt. Jetzt fielen Wut und Schadenfreude über den verhaßten Aristokraten her. Darin sind die Bauern auf dem Lande nicht anders als die vornehmen Leute in der Stadt. Ein hungriges Wolfspack zerfleischt seine Beute nicht blutgieriger als Menschen, die die Ehre und das Schicksal eines Unglücklichen in den Händen halten. Die Kultur macht da keinen Unterschied.

Die Neuhoferin hörte sich das Tratschen, Raunen und Geifern mit an, redete kein Wort und wartete geduldig, bis von den Bergen die langen Schatten ins Dorf fielen. Dann tat sie das Essen in einen kleinen Korb und drückte sich über ihren Hof hinauf in den Wald. Kein Mensch sah sie.

Sie mußte lange steigen, denn der Stadl, eine kleine Jägerhütte, lag droben am Rimmelbach. Es war eigentlich nicht mehr als ein Verschlag, unter dessen weit vorspringendem Dach im Winter für das Hochwild Futter gestreut wurde. Dort hatte der Neuhofer sein Standquartier. Die Förster kamen, da die Schlucht des Rimmelbaches ziemlich entlegen war, im Sommer wenig an diese Stelle, und so fühlte sich der Wilderer hier am sichersten.

Zehn Uhr mochte es sein, als die Frau am Stadl ankam. Das Hüttchen lehnte an der Felswand, und vor ihm dehnte sich eine schmale Lichtung aus, über die gerade der Mond heraufkroch, als die Neuhoferin auf die Jagdhütte zuschritt.

Sie wunderte sich nicht, daß ihr Mann sich nicht zeigte, daß auch kein Rauch aus dem kleinen Schornstein aufstieg. Er mochte wohl in der Hütte stilliegen, ängstlich darauf bedacht, daß er seine Anwesenheit nicht verrate. Wie würde er aber aufatmen, wenn sie ihm erst sagte, daß man den Mörder bereits am Kragen hatte. Sie freute sich geradezu auf diesen Moment –.

Die Tür war angelehnt. Die Neuhoferin trat ein und blieb auf der Schwelle stehen. Es war dunkel in dem kleinen Raum und totenstill. Jähe Angst befiel sie. So stark und mutig sie war – sie fing auf einmal zu zittern an.

»Poldi – Poldi!« rief sie mit halblauter Stimme.

Keine Antwort. Irgendwo in der Ecke hinterm Herd raschelte eine Maus.

»Poldi – hörst denn nicht? Ich bin da! Ich hab' dir was zum essen mit'bracht!«

Sie wartete mit verhaltenem Atem, stand dicht an der Tür und wagte sich nicht zu rühren. Ihr Mann war ein schwerer Schläfer – sie wollte ihn nicht erschrecken. Vielleicht war er auch gar zu müd' –. Jedoch, so sehr sie sich anstrengte, sie hörte nichts, gar nichts. Nur das Rascheln der Maus –.

Sie warf die Tür auf, so daß etwas Licht hereinkam, und blickte um sich. Die Hütte, die nur einen einzigen Raum besaß, war leer. Die Neuhoferin stand und schüttelte den Kopf. Möglich, daß der Poldi noch aufgehalten worden war und erst später kam. Der Gedanke flößte ihr Mut ein, und sie lachte über ihren Schrecken von vorhin. Den Korb mit dem Essen stellte sie auf den kleinen Tisch und ging wieder hinaus. In der Hütte mochte sie nicht warten – sie setzte sich auf die Bank davor. Aber müde vom Steigen, dauerte es nicht lange, und sie schlief ein.

Sie erwachte, als kaltes Frösteln ihr an die Glieder griff. Mit stumpfen Augen schaute sie zuerst um sich, bis sie sich erinnerte, daß sie ja eigentlich dasaß und auf ihren Mann wartete. Der Morgen konnte schon nicht mehr fern sein – denn der Himmel war heller, und fahler die Sterne. Der Mond war schon verschwunden. Vielleicht war der Poldi gekommen, hatte sie schlafen sehen und sich an ihr vorbei in die Hütte geschlichen? Solche Rücksichtnahme war zwar nicht seine Gepflogenheit, aber die Angst ließ sie es doch hoffen. Sie erhob sich, streckte sich, steif vom Sitzen auf der harten Bank und spähte durch die Tür in die Hütte. Der Korb stand noch da, wie sie ihn hingestellt – der Poldi war nicht gekommen.


 << zurück weiter >>